Warum Fachgeschichte nicht das selbe wie Wissenschaftsgeschichte ist und Kunsthistoriker keine Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte schreiben sollten

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Dieser Beitrag war zunächst als kurzer Kommentar gedacht, aber nun ist er doch etwas allgemeiner geworden. Ich möchte hier vor allem für eine grundsätzliche Unterscheidung plädieren: Zwischen einer »Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte« und dem, was Hubert Locher in seinem Beitrag eine »wissenschaftshistorisch argumentierende Kunstgeschichte« nennt. Die neuere Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass das zwei sehr verschiedene, ja vielleicht sogar unvereinbare Dinge sind. In einigen Beiträgen zum Forum »Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte« sind dazu bereits Aspekte angeführt worden.  [1] Meine Feststellung, dass Kunsthistoriker keine Wissenschaftsgeschichte ihrer eigenen Disziplin schreiben sollten, ist dabei natürlich als Provokation gedacht und nicht ganz wörtlich zu nehmen.

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Das Bedürfnis eines Faches, die eigene Geschichte zu schreiben, ist erst einmal leicht nachvollziehbar. Schließlich bestimmt das Bewusstsein über die eigene Fachgeschichte auch die aktuelle Forschungspraxis. Bis vor wenigen Jahrzehnten war das vielleicht die Hauptfunktion der Wissenschaftsgeschichte, wie sie vor allem in den Naturwissenschaften betrieben wurde: Sie legitimierte Forschungsfelder, konnte in ihrer kritischen Variante neue Methoden begründen, diente aber vor allem der Selbstvergewisserung. Und dabei war es eigentlich ziemlich egal, ob sie affirmativ oder kritisch auftrat. Wenn Newton ein Apfel auf den Kopf fiel und er daraufhin das Gravitationsgesetz formulierte, stand die Möglichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts, die Größe des menschlichen Geistes und die Erfolgsgeschichte der Physik jedermann sichtbar vor Augen. Bezeichnenderweise war und ist eine so verstandene Wissenschaftsgeschichte meist an den Instituten selbst angesiedelt: die Geschichte der Physik am Physikalischen Institut, der Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Fakultät. Und die Geschichte der Kunstgeschichte wird natürlich von Kunsthistorikern geschrieben, schon weil es gar keine eigenen Lehrstühle dafür gibt.

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So kann man an der aktuellen Diskussion über die Öffnung der Kunstgeschichte hin zu nicht-künstlerischen Bildern sehr schön verfolgen, welche wichtige Rolle die ständige Neu-Schreibung der Fachgeschichte hat: Wer die Bildwissenschaften gut findet (um es mal sehr zu verkürzen), der versucht zu zeigen, dass die Kunstgeschichte ›schon immer‹ Bildwissenschaft war, und macht z.B. Aby Warburg zu einer der einflussreichsten Figuren des Fachs oder führt Panofskys Arbeiten zum Film und zur Rolls-Royce-Kühlerfigur als prägend an. Wer die Bildwissenschaften hingegen nicht so gut findet, wird versuchen, andere Traditionen und Figuren in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen oder zu zeigen, dass Warburg zwar Bilder aus allen Bereichen benutzte, aber letztlich eben doch an der Deutung von Kunstwerken interessiert war. An der eigenen Geschichte zu schreiben, ist für jedes Fach unumgänglich. Man braucht seine Helden, seine Klassiker, seine Gegner. Aber ist das schon Wissenschaftsgeschichte? Es ist wohl vor allem erst einmal Legitimationsgeschichte. Interessant ist sie als solche wohl höchstens für spätere Historiografen – und natürlich für die paar Fachvertreter selbst, die darin ihre Grabenkämpfe austragen.

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Im Bereich der Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften ist aber in den letzten Jahrzehnten ein bemerkenswerter Wandel eingetreten: Es gibt neue Fragen, neue Gegenstände, man scheint wie befreit zu sein vom alten Legitimationszwang. Woran liegt das? Im Wesentlichen wohl daran, dass die Wissenschaftsgeschichte auch im deutschsprachigen Raum zur eigenen Disziplin geworden ist. Sie wird betrieben von Forschern, die zwar oft genug aus den Fächern kommen, über die sie arbeiten, die nun aber gewissermaßen außerhalb des Betriebs stehen – vor allem institutionell. Erst durch diesen Blick von außen konnten offenbar Fragen entstehen, die von anderen Interessen geleitet sind als denjenigen der Fächer selbst. Wer sich durch die Geschichtsschreibung nicht auch ständig selbst positioniert, bekommt den Blick frei für ganz andere Problemstellungen. Die Fragen nach der Historizität wissenschaftlicher Objekte; nach den Repräsentationspraktiken der Laborforschung; nach den instrumentellen Bedingungen der Beobachtung – sie alle wurden erst möglich, als die Wissenschaftshistoriker von der engen Anbindung an ihre Fächer befreit waren. Und damit rückt eine weitere wichtige Veränderung in der Wissenschaftsgeschichte in den Blick: Die neuere Wissenschaftsgeschichte schreibt keine Disziplinengeschichte mehr. Stattdessen zielt sie auf eine Geschichte des Wissens und auf die Bedingungen von Erkenntnis. Man sehe sich einmal den großen Wurf von Lorraine Daston und Peter Galison zur Geschichte der Objektivität an. Hier fällt Newton kein Apfel auf den Kopf, stattdessen wird seine Rolle als Idealperson bei der Formierung eines »wissenschaftlichen Selbst« (und damit einer bestimmten Epistemik) untersucht. Wie die Wissenschaftler zu verschiedenen Zeiten Newton (oder andere Idealpersonen) sahen, so könnte man die These verkürzen, war entscheidend für die Art und Weise, wie geforscht wurde.  [2] Es wäre sicherlich aufschlussreich, sich beispielsweise Aby Warburg einmal unter diesem Blickwinkel zu nähern. Deutlich wird zudem noch einmal der Unterschied zwischen Fachgeschichte und Wissenschaftsgeschichte: Als integraler Bestandteil von Wissenschaft ist die Fachgeschichte nicht mehr als ein Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte.

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In der Kunstgeschichte allerdings hat man manchmal den Eindruck, dass hier Newton immer noch der Apfel auf den Kopf fällt. Man muss es vielleicht einmal ganz deutlich sagen: Den Einfluss der Wiener Schule zu untersuchen, ist an sich noch keine Wissenschaftsgeschichte. Zu zeigen, dass die Kunstgeschichte schon immer vielfältige Bezüge zu den Nachbarwissenschaften pflegte, bleibt trotzdem Fachgeschichte. Winckelmann vom Gründersockel der Disziplin zu stürzen, wird wahrscheinlich nie Wissenschaftsgeschichte sein. Und eine »wissenschaftshistorisch argumentierende Kunstgeschichte« ist überhaupt keine Wissenschaftsgeschichte.

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Wie also müsste eine Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte aussehen, wenn sie keine Legitimationsgeschichte mehr sein will? Man kann ja nicht die Gründung eines Max-Planck-Instituts für die Geschichte der Geisteswissenschaften abwarten. Aber das ist vielleicht auch gar nicht notwendig, wenn man sich klar zu machen bereit ist, dass es ein großer Unterschied ist, ob man Kunstgeschichte betreibt oder Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte. Viele Beiträge im Forum zeigen ja schon auf, wie man die Praktiken und epistemologischen Voraussetzungen von kunstgeschichtlicher Forschung in den Blick nehmen könnte: Etwa, indem man den Umgang mit Objekten untersucht, wie dies Anke te Heesen und Angela Matyssek vorgeschlagen haben.  [3] Mein Plädoyer wäre, solche Ansätze in der weiteren Diskussion zu verfolgen – und die Fachgeschichte sich selbst zu überlassen. Und vielleicht würde es ja auch nicht schaden, mal einen wissenschaftshistorisch geschulten Astrophysiker oder Literaturwissenschaftler in die Diskussion mit einzubeziehen.



[1] Siehe u.a. Matthew Rampley: Einige Bemerkungen über die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-14; Johannes Rößler: Jenseits der großen Erklärungen. Für eine Geschichte kunsthistorischer Epistemologien, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-15.

[2] Lorraine Daston u. Peter Galison: Objektivität, Frankfurt 2008, hier S. 228 f.

[3] Anke te Heesen: Das Fach als Objektwissenschaft, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-8; Angela Matyssek: Beim Arbeiten. Für eine Geschichte von Theorien und Ästhetiken der Praxis, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-20.

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Empfohlene Zitierweise

Brevern J.v.: Kommentar zu Hubert Locher: Im Rahmen bleiben - Plädoyer für eine wissenschaftsgeschichtlich argumentierende Kunstgeschichte (Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-18). In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-27 (urn:nbn:de:0009-23-18197).  

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