Evolutionisierung der Kunstgeschichte – Evolutionäre Kunstwissenschaft

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Gut ein Jahrzehnt sei es her, dass »der Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin eine existentielle Krise attestiert wurde«, schreibt Johannes Grave (Abs. 1). Hans Belting hatte schon 1983 die Frage nach einem »Ende der Kunstgeschichte« geäußert und ausdrücklich bejaht und festgestellt, dass der »Rahmen«, der die Einheit und den Zusammenhang der Disziplin bislang gesichert habe, zerbrochen sei.  [1] Das Fach Kunstgeschichte mag vor dem Hintergrund dieser Diagnose »beinahe als intellektueller Bankrotteur« erscheinen, schreibt Grave. Aber es stelle sich die Frage, »was aus der Konkursmasse zu retten ist« (Abs. 1).

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Kritisiert werden heute Blickverengungen im kunstwissenschaftlichen Nachdenken über Bilder, Kunst und Kunstgeschichte – nicht allein von der Neuroästhetik, insbesondere auch von VertreterInnen der Kunstwissenschaft, die einen Weg zu heutigen ›bildwissenschaftlichen‹ Fragen weisen und eine ›andere Kunstgeschichte‹ durchzusetzen versuchen (Errungenschaften der jüngeren Kunstgeschichte; New Art History). Grave spricht von der »verhängnisvollen Geschichte eines fehlgeleiteten Blicks auf Bilder« (Abs. 3). Es gibt »tatsächlich gute Gründe, die Geschichte der Kunstgeschichte auf Versäumnisse, Blindstellen und problematische Verengungen hin zu befragen« (Abs. 7).

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Eine ›Evolutionisierung‹ der Kunstgeschichte ist zu fordern  [2] : Das Thema ›Schönheit in Natur und Kunst – Zur Debatte um Evolutionäre Ästhetik als Erkenntnisästhetik‹  [3] sollte in der New Art History als anderer Kunstgeschichte thematisiert werden. Als fortschrittliches und exemplarisches Beispiel erweist sich zum Darwin-Jahr das Aufgreifen des Themas Evolution und Kunst(Geschichte): Erst mit der Frankfurter Schirn-Ausstellung der Kuratorin Pamela Kort (»Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen«, 5.2.-3.5.2009) kommt innovativer Wind in das Fachgebiet.  [4]

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Grave lehnt die Einordnung des Kunstwerks in eine Kunstgeschichte, die analog zur Naturgeschichte konzipiert wurde, ab: Weil angeblich »konstitutive raum-zeitliche Komplikationen im Verhältnis zwischen Bild, Bildgenese und Bildrezeption nicht in den Blick kommen« könnten. Das als Kunstwerk verstandene Bild werde »gleichsam ›gebändigt‹, indem alles, was zu befremden oder verstören vermochte, historisch abgeleitet und in eine linear und homogen konzipierte Geschichte eingeordnet wurde.« Behauptet wird: »Nur auf diese Weise konnte die frühe Kunstgeschichte dazu beitragen, einen fragwürdig gewordenen Begriff von Kunst zu sichern« (Grave, Abs. 7).

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Die Entwicklung des Fachs Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft wäre in einer zu fordernden Evolutionären Kunstgeschichte nicht als Abfolge großer Forscher-Persönlichkeiten und ihrer Werke, sondern als Geschichte hoch entwickelter Kulturen im Umgang mit Bildern zu beschreiben. Ob Evolution in den ›Kanon‹ der Kunstgeschichte eingehen wird und sich eine Evolutionäre Ästhetik (Erkenntnis-Ästhetik) einmal in der New Art History erfolgreich etablieren werden, muss abgewartet werden. Auf jeden Fall brauchen wir im Fach Kunstgeschichte so etwas wie eine historisch-evolutionär fundierte, systematische Bildforschung.



[1] Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, 2. Aufl. München 2002, S. 23.

[2] Vgl. Werner Hahn: Zum 30. Deutschen Kunsthistorikertag 2009: Kunstbetrieb, Markt & Kanon (›Stil‹) – Evolutionisierung der Kunstgeschichte?, in: ZEIT Online vom 09.04.2009
(http://kommentare.zeit.de/user/wernerhahn/beitrag/2009/04/09/zum-30-deutschen-kunsthistorikertag-2009-kunstbetrieb-markt-amp-k).

[3] Siehe meinen gleichnamigen Aufsatz in Werner Hahn: Documenta-Demokratisierung: Wege zu einer Hessischen documenta-Akademie mit d12-Kritik, Gladenbach 2007, S. 83-107.

[4] Vgl. ausführlich Werner Hahn: Vergessen im Darwin-Jahr? Ernst Haeckels 175. Geburtstag & J.-B. Lamarck – erster Begründer der Evolutionstheorie, in: ZEIT Online vom 16.02.2009
(http://kommentare.zeit.de/user/wernerhahn/beitrag/2009/02/16/vergessen-im-darwinjahr-ernst-haeckels-175-geburtstag-amp-jb-lama).

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Empfohlene Zitierweise

Hahn W.: Kommentar zu Johannes Grave: Die Kunstgeschichte als Unruhestifter im Bilddiskurs. Zur Rolle der Fachgeschichte in Zeiten des Iconic Turn (Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-6). In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-32 (urn:nbn:de:0009-23-19162).  

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Kommentare

  1. Grave, Johannes | 04.05.2009

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