Zwischen Konformität und Innovation

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Im Jahr 1846 veröffentlichte Charles Baudelaire im Rahmen seiner Salonkritik einen Aufsatz mit dem Titel Pourquoi la sculpture est ennuyeuse, in dem er das bildhauerische Schaffen seiner Zeitgenossen äußerst heftig kritisierte.  [1] Als einer der wichtigsten Repräsentanten der progressiv orientierten Elite im Frankreich des 19. Jahrhunderts richtete Baudelaire sein Urteil in erster Linie gegen das Regelwerk der zu jener Zeit äußerst einflussreichen Académie des Beaux-Arts und attackierte deren strikte Ausrichtung an klassizistischen Normen sowie die daraus abgeleiteten Erwartungen an die Kunst. Bezeichnenderweise bezieht sich Baudelaires Kritik ausschließlich auf die Gattung Plastik. Während die französische Malerei sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend vom Formenkanon des Klassizismus gelöst hatte, war die Plastik Mitte des 19. Jahrhunderts noch fest in den Traditionen der Académie verhaftet.  [2] Jean-Baptiste Carpeaux (1827-1875) gilt heute als einer der ersten Bildhauer, die das Regelwerk durchbrachen. Zunächst hatte auch er die klassische Laufbahn eines an der École des Beaux-Arts geschulten Bildhauers eingeschlagen. Hektor und sein Sohn Astyanax, das Werk, das ihm 1854 den begehrten Grand Prix de Rome einbrachte, entsprach noch zutiefst den von Baudelaire in Frage gestellten akademischen Grundsätzen. Schon 15 Jahre später jedoch brüskierte Carpeaux mit seiner schwungvoll-dynamischen Skulptur La Danse (1865-1869) die Vertreter der Académie auf radikale Weise. Dass La Danse in unmissverständlicher Opposition zu den gestalterischen Konventionen des 19. Jahrhunderts steht, ist hinlänglich bekannt und untersucht. Weniger Beachtung hat die kunsthistorische Forschung bislang Carpeaux’ ein Jahrzehnt früher entstandener, lebensgroßer Bronzevollplastik Ugolino und seine Söhne (1857-1861, Abb. 1) geschenkt, obgleich sich gerade in diesem Werk der Wendepunkt in Carpeaux’ Schaffen zu manifestieren scheint.  [3]

1 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne, 1857-1861,
Bronze, 194 cm,
Musée d’Orsay, Paris

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Im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht die These, dass Carpeaux’ Ugolino in bewusster Auseinandersetzung mit der französischen Malerei der Romantik entstanden ist und daher sowohl im Umgang mit Material und Technik als auch in Bezug auf die Sujetwahl Merkmale aufweist, die mit jener Richtung vergleichbar sind und schließlich zu einem innovativen und unkonventionellen Zusammenspiel von Form und Aussage führen. Insbesondere in der Gegenüberstellung mit Delacroix’ Dantebarke von 1822 und Théodore Géricaults Floß der Medusa von 1819 ergeben sich bezüglich einer möglichen künstlerischen und geistigen Verwandtschaft wichtige Anhaltspunkte.

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Zum Zeitpunkt der Entstehung der Bronze war Carpeaux als Stipendiat an der Académie Française à Rome tätig. Er befand sich also gegenüber den autorisierten, französischen Institutionen des 19. Jahrhunderts in einem Abhängigkeitsverhältnis und musste sich im Grunde, wollte er als Bildhauer anerkannt und gefördert werden, an gewisse, von der im Hinblick auf Stil und Ästhetik seinerzeit äußerst reaktionär und repressiv agierenden Académie festgelegte Regeln halten. Und doch zeugen beispielsweise die Korrespondenzen von Victor Schnetz, dem damaligen Leiter der Académie de France à Rome, von einer renitenten Haltung Carpeaux’ gegenüber den allgemeinen Prinzipien und Vorgaben.  [4] So beklagt sich Schnetz auffallend häufig über »infractions au règlement«  [5] von Seiten des Stipendiaten Carpeaux, »qui ne sait rien faire comme tout le monde et qui oublie toujours qu’il est soumis ici à des règlements«.  [6] Es ist daher sinnvoll, Ugolino und seine Söhne im kunsttheoretischen Spannungsfeld von konservativen und progressiven Strömungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Auf diese Weise soll geklärt werden, inwiefern die Bronze als ausdrückliche Befürwortung von Wegen und Zielen französischer Romantiker zu verstehen ist und ob sich Carpeaux somit gegen das Regelwerk der Académie wendet, sich gar von jenem befreit. Mit dieser Problemstellung eng verknüpft ist die Frage nach der inhaltlichen Inszenierung und Außenwirkung des auf einer Passage aus Dantes Göttlicher Komödie von 1321 beruhenden Sujets, zumal das Ugolino-Motiv bereits im 18. Jahrhundert eine dezidiert politische Symbolik erhalten hatte und seitdem als Sinnbild des Unterdrückten gesehen wurde.  [7]

Die Ugolino-Bronze

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Bereits drei Jahre bevor Carpeaux mit der Ausführung des Ugolino begann, äußerte er in einem Brief an Bruno Chérier: »Une statue pensée par le chantre de La Divine Comédie [...], ce serait un chef-d’œuvre de l’esprit humaine.«  [8] Gerade die Ugolino-Passage, die zuweilen als dramatischer Höhepunkt der Göttlichen Komödie bezeichnet wird,  [9] scheint Carpeaux’ ausgeprägtem Interesse an Dramatik und Ausdruck offenbar besonders entsprochen zu haben. Die betreffenden Verse handeln von der historisch belegten Person des Grafen Ugolino della Gherardesca, der in den 1280er Jahren in die Fehde um die Pisaner Herrschaftsverhältnisse geraten war. Als Verräter gefangen genommen, wurde er gemeinsam mit seinen Söhnen in einem Turm eingeschlossen. Dort starb die Familie schließlich den Hungertod. Dantes Göttliche Komödie greift diese historischen Ereignisse im 33. Gesang des Inferno auf: Mit Vergil durch die Höllenkreise wandernd, trifft das lyrische Ich auf Ugolino. Dieser berichtet den Besuchern sein Martyrium und gesteht, aus Hunger und Verzweiflung schließlich seine eigenen Kinder gegessen zu haben.  [10]

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Carpeaux’ plastische Realisierung des Ugolino-Motivs entstand in den Jahren von 1857 bis 1861 als Abschlussarbeit des Romstipendiums. Die lebensgroße, freistehende Bronzevollplastik Ugolino und seine Söhne setzt sich aus insgesamt fünf männlichen, unbekleideten Figuren unterschiedlichen Alters zusammen und erreicht eine Höhe von 194 cm.  [11] Während Dante neben der Gefängnissituation auch die zur Bestrafung des Ugolino führenden Umstände beschreibt, konzentriert sich Carpeaux’ Plastik allein auf die Gefangenschaft, wobei die Figuren von der in der Göttlichen Komödie beschriebenen Umgebung isoliert werden: Keinerlei Elemente deuten einen Turm oder das Gemäuer eines Kerkers an, allein Ugolino wird durch einen Ring zu seinen Füßen als gefesselt dargestellt. Dennoch wird durch die enge Gruppierung der Söhne um den Vater die schicksalhafte Verbundenheit der Figuren in die plastische Form übertragen.

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Carpeaux zeigt Ugolino umgeben von seinen Söhnen,  [12] die kompositionell sämtlich auf die zentrale Figur bezogen sind. Beine, Arme, Oberkörper und Rücken des Ugolino sind naturalistisch genau und in vollständiger Berücksichtigung der menschlichen Anatomie wiedergegeben. Jede einzelne Sehne, jeder Muskel scheint dargestellt, selbst der Verlauf einzelner Adern kann nachvollzogen werden. Im Gegensatz hierzu wirken Kopf- und Gesichtspartie stilisierter. Der starre Blick unter der horizontalen Linie der nach außen hin geschwungenen Augenbrauen dominiert die Züge. Im Zusammenspiel mit der leicht übergroßen Darstellung der zum Mund geführten Hände und Finger gelangt der Künstler bezüglich dieser Partie zu einer von der Natur abweichenden, äußerst ausdrucksstarken Darstellungsweise.

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Ugolinos Körper ist in sämtlichen Bereichen von einer starken Anspannung gezeichnet. Auf dem gebeugten Rücken treten die einzelnen Muskelpartien deutlich hervor, auch Zehen und Finger sind krampfhaft verzerrt (Abb. 2 und 3). Insbesondere letztere wirken in ihrer extremen Spreizung beinahe krallenartig. Verbunden mit dem Ausdruck der Gesichtspartie, vor allem den wie im Schmerz verzogenen Lippen, mündet die Darstellungsweise in eine drastische Verkörperung von Schmerz, Verzweiflung und aufkeimendem Zorn. Diese spezifische Ausarbeitung des Ugolino, sein Gesichtsausdruck, sein Knochengerüst und die Muskulatur sind als Bedeutungsträger zu sehen: Sowohl Schmerz und Angst als auch Wahnsinn, bevorstehender Kannibalismus und Schuld gegenüber den Kindern werden ablesbar. In Anbetracht einer Tendenz zur Verherrlichung des Ugolino in der Kunst früherer Jahrhunderte  [13] gelingt Carpeaux somit eine höchst eigenständige Interpretation des Themas, welche Grauen und Dramatik der Danteschen Textvorlage zuspitzt und sogar Brutalität sowie Bedrohung durch den Vater explizit werden lässt. Offensichtlich wollte Carpeaux mit Ugolino und seine Söhne ein besonders hohes Maß an Expressivität realisieren und so vor allem die Körperlichkeit und das dramatische Moment der Gruppe hervorheben.

2 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne,
Detail: Ugolino, Rücken, 1857-1861, Bronze, 194 cm,
Musée d’Orsay, Paris

3 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne,
Detail: Ugolino, Kopf, 1857-1861, Bronze, 194 cm,
Musée d’Orsay, Paris

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Diese Fokussierung wird bereits in früheren Etappen des Werkprozesses deutlich. Bereits die grafischen Skizzen und Vorstudien zum Ugolino zeugen von einem betont expressiven Arbeitsstil (vgl. Abb. 10 und 11), der sich in einem energischen Strich und kontrastreichen Schraffuren manifestiert.

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Als Material wurde eine sehr dunkle, schwarzbraune Bronze gewählt, deren glatt polierte Oberfläche das Licht auf mannigfaltige Weise reflektiert. Bestimmte Partien des Körpers, wie beispielsweise die Muskeln auf Rücken und Oberarmen der zentralen Figur, kommen somit besonders zur Geltung. Die Oberfläche erscheint folglich umso buckeliger, ein Charakteristikum, dessen Wirkungsweise Carpeaux bereits in den Bozzetti zum Ugolino erprobt hatte (Abb. 4-7). Stellenweise ergibt sich bei der Bronzegruppe eine Art Blendwirkung, weshalb gewisse Details, zum Beispiel die Augenpartie des Ugolino, nur mit Mühe erkennbar sind.

4 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne,
Bozzetto, Gips, 54 cm,
Musée des Beaux-Arts, Valenciennes

5 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne,
Bozzetto, Gips, 54 cm,
Musée des Beaux-Arts, Valenciennes

6 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne,
Bozzetto, ca. 1860, Terrakotta, 56 cm,
Musée d’Orsay, Paris

7 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne,
Bozzetto, ca. 1860, Gips mit Wachs überzogen, 63 cm,
Collection Galerie Fabius Frères, Paris

Ugolino und seine Söhne und das ›Malerische‹ in der Plastik

<10>

Carpeaux’ gesamter Werdegang ist von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Malerei geprägt.  [14] Die Affinität zu dieser Gattung hat direkten Einfluss auf sein plastisches Werk genommen, so dass darin bisweilen gar ein »painterly realism«  [15] erkannt wurde. Bislang bezogen sich derartige Beobachtungen in erster Linie auf Werke Carpeaux’, die, wie zum Beispiel die Porträtbüsten der 1870er Jahre, deutlich später als Ugolino und seine Söhne entstanden sind.  [16] Jedoch kann schon in Bezug auf diese vergleichsweise frühe Plastik von augenfällig ›malerischen‹ Aspekten gesprochen werden.  [17] Heinrich Wölfflin beschreibt das ›Malerische‹ in seiner 1915 erschienenen Publikation Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst als ein »Sehen in Massen«, wobei »die Dinge als Fleckenerscheinungen das Primäre des Eindrucks sind. Es ist dabei gleichgültig, ob solche Fleckenerscheinungen als Farbe sprechen oder nur als Helligkeiten und Dunkelheiten.« Hierin liegt laut Wölfflin der Unterschied zum ›Linearen‹, das sich auf die Konturen konzentriert, also im Gegensatz zum ›Malerischen‹ »Sinn und Schönheit der Dinge zunächst im Umriss« sucht.  [18]

<11>

Die stark glänzende Bronzeversion des Carpeaux’schen Ugolino lässt die Binnenstrukturen der Plastik tatsächlich wie »Fleckenerscheinungen« wirken. Zahlreich auftretende, vom Lichteinfall und vom Standpunkt des Betrachters abhängige Blendeffekte überspielen Details und Linienführungen und steigern die schon in den vielfältigen Vertiefungen angelegte, unruhige und belebte Oberflächenwirkung. »[...] die Form fängt an zu spielen, Lichter und Schatten werden zu einem selbständigen Element, sie suchen sich und binden sich [...],« schreibt Wölfflin über das ›Malerische‹. Weiter heißt es: »[...] das Ganze gewinnt den Schein einer rastlos quellenden, nie endenden Bewegung. Ob die Bewegung flackernd und heftig sei oder nur ein leises Zittern und Flimmern: sie bleibt für die Anschauung ein Unerschöpfliches.«  [19] Obgleich sich Wölfflin hierbei auf die italienische Kunst des 17. Jahrhunderts bezieht, ist diese Beschreibung augenscheinlich auch auf den Ugolino anwendbar.

Hell-Dunkel- und Materialwirkung

<12>

Bereits auf rein formaler Ebene können also deutliche Bezüge zur Gattung Malerei beobachtet werden. Es ist nun zu klären, inwiefern dies sowohl genuin künstlerisch als auch geistig ideell mit romantischen Strömungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang steht.

<13>

Zwischen Delacroix’ Dantebarke von 1822 (Abb. 8) und Carpeaux’ Ugolino besteht schon allein in der Themenwahl eine Verwandtschaft: Mit der Verbildlichung des achten Gesanges des Inferno, in dem geschildert wird, wie Dante und Vergil vom Fährmann Phlegias über den Unterweltfluss Styx gebracht werden, legt auch Delacroix seinem Werk eine Episode aus der Göttlichen Komödie zu Grunde. Auf die Bedeutung Dantes wird später genauer eingegangen. Zunächst soll gezeigt werden, dass sich zwischen der Dantebarke und Ugolino und seine Söhne bezüglich der künstlerischen Mittel über die Gattungsgrenzen hinweg Parallelen nachweisen lassen.

<14>

Delacroix’ Gemälde wird zu Recht als eine besondere Auseinandersetzung mit der Wirkung von Licht und Farbe verstanden.  [20] Wie in gleißendes Licht getaucht, hebt sich das helle, ungesund wirkende Inkarnat der Verdammten vom überwiegend dunklen Hintergrund und dem sie umgebenden Wasser ab und unterstreicht gleichsam die Morbidität ihrer unnatürlich verdrehten Gliedmaßen. Zudem bewirkt die gezielte Verwendung von komplementären Farben frappante Wirkungen: Geradezu grell erscheint der Farbakzent der roten Kopfbedeckung Dantes vor dem grau-grünen Hintergrund.

<15>

Diesen verschiedenartigen Kontrasten entspricht in gewisser Weise die Hell-Dunkel-Wirkung der Bronzeversion von Ugolino und seine Söhne, insbesondere die mannigfaltigen Lichtreflexe auf der dunkel glänzenden, zerklüfteten und vielfach gewölbten Oberfläche der Plastik. In beiden Fällen gelangen die Künstler durch die spezifische Verwendung von Kontrasten zu einer Steigerung des Ausdrucks. Während Delacroix’ Dantebarke durch Farb- und Helligkeitskontraste eine beunruhigende, regelrecht verstörende Wirkungsweise erzielt, tragen bei Carpeaux die Lichteffekte der Plastik zu einer Intensivierung der Dramatik, zu einer betonten Expressivität bei. Die künstlerischen Mittel werden folglich in beiden Werken zu selbständigen Bedeutungsträgern.

8 Eugène Delacroix: Die Dantebarke, 1822,
Öl auf Leinwand, 189 x 246 cm, Musée du Louvre, Paris

<16>

Der Einsatz von Licht und Schatten lässt jedoch nicht nur eine allein auf formaler Ebene stattfindende Steigerung der Dramatik erkennen, sondern auch eine Übertragung der Psyche der Dargestellten auf die Leinwand bzw. in die plastische Form. Laut Rubin treibt in der Dantebarke »das scharfe Nebeneinander von Hell und Dunkel auf ihren Leibern [den Leibern der Verdammten, Anm. d. V.] den Eindruck einer Kälte hervor, die ihrem Seelenzustand« entspricht.  [21] Gerade dies lässt sich auch hinsichtlich der besonderen Ausdrucksqualität der Licht- und Schattenzonen auf Carpeaux’ Ugolino beobachten. Die gleichsam bewegt erscheinende Oberfläche übersetzt die innere Bewegung des Dargestellten in eine spezifische, künstlerische Wirkungsweise.

<17>

Es ist hinreichend bekannt, dass Eugène Delacroix’ Auffassung vom Umgang mit Licht und Farbe seinerzeit von Seiten der Académie höchst argwöhnisch beobachtet wurde. Zahlreiche Mythen ranken sich noch heute um den fast feindseligen Zwist zwischen den künstlerischen ›Gegenspielern‹ Ingres und Delacroix. Seine von Ingres und den Vertretern der Académie wenig geschätzte Vorgehensweise hat Delacroix mehrfach in seinen Tagebüchern dargelegt. »Maler, die nicht aus der Farbe heraus arbeiten, sind bloße Ausmaler,« schreibt er zum Beispiel 1852.  [22] Die lockeren Pinselstriche und der pastose Farbauftrag der Dantebarke können als ein bewusstes Inszenieren, als eine Aufwertung des Materials selbst verstanden werden. Hier ergibt sich eine weitere Parallele zu Carpeaux, der sein Werk Ugolino und seine Söhne bewusst in unterschiedlichen Werkstoffen (neben Bronze auch in Marmor und Terrakotta) ausgeführt hat.  [23] Die eklatanten Unterschiede in der Wirkungsweise dieser Werke sind zu offensichtlich, als dass angenommen werden könnte, Carpeaux habe sie nicht bewusst intendiert.  [24] Dass außerdem bestimmte Bereiche des Ugolino, wie zum Beispiel der Haarschopf der zentralen Figur, nicht übermäßig geglättet, sondern, an Werke Michelangelos erinnernd, geradezu als ›non-finito‹ belassen wurden, ist ein weiterer Hinweis auf ein besonderes Interesse des Künstlers an der Eigenwirkung des Werkstoffes.

<18>

Das Material wird bei Carpeaux also nicht einer allein abbildenden Funktion untergeordnet. Vielmehr weist der Bildhauer ihm innerhalb der Gesamtwirkung eine eigene Rolle zu und beschreitet so, ähnlich wie Delacroix, neue und zukunftsweisende Wege. Die von der Académie befürworteten klaren und scharf abgegrenzten Formen der in klassizistischer Tradition stehenden Werke ihrer Zeitgenossen negieren beide Künstler folglich in mehrerlei Hinsicht und auf durchaus vergleichbare Weise.

Sujetverwandtschaft

<19>

Auch jenseits von formal ›malerischen‹ Wirkungsweisen lassen sich hinsichtlich des Ugolino Bezüge zu Werken der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts feststellen. Verglichen mit Théodore Géricaults Floß der Medusa (Abb. 9) bestehen diese sowohl im Bereich der Komposition als auch in der Motivwahl.  [25] Bereits einige grafische Studien zum Ugolino scheinen die Bildidee der wie übereinandergetürmt gezeigten Figuren auf Géricaults monumentalem Gemälde aufzugreifen (Abb. 10 und 11). Es ist denkbar, dass sich Carpeaux während des Formfindungsprozesses von diesem Werk inspirieren ließ. So erinnern die in der lebensgroßen Plastik gezeigten Verschlingungen der Körper an Géricaults Komposition, auch der pyramidale Aufbau mit der leicht nach rechts verschobenen Spitze lässt Assoziationen mit dem Floß der Medusa zu.

9 Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1819,
Öl auf Leinwand, 491 x 716 cm, Musée du Louvre, Paris

10 Jean-Baptiste Carpeaux: Entwurf für ein Flachrelief, ca. 1858,
Bleistift auf weißem Papier, 11,7 x 14,6 cm,
École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Paris

11 Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino, über die Körper seiner Kinder kriechend,
schwarze Kreide, Feder und Lavierungen auf blauem Papier, 14 x 21,4 cm,
Musée de Beaux-Arts, Valenciennes

<20>

Auch motivisch bestehen Bezüge zu Géricaults Gemälde. Obwohl sich dieses, anders als Ugolino und seine Söhne, auf ein aktuelles Vorkommnis, das Schicksal einer Gruppe von Schiffbrüchigen des Jahres 1816, bezieht,  [26] hat es mit Carpeaux’ Ugolino einige Motive gemein: Géricaults Darstellung des auf dem Floß verzweifelt um seinen toten Sohn trauernden Vaters nimmt eine, wie zahlreiche vorbereitende Skizzen zeigen, zentrale Rolle innerhalb des Bildfindungsprozesses ein (Abb. 12) und ist direkt mit Carpeaux’ vor Schmerz rasender Vaterfigur vergleichbar. Dies scheint umso bedeutsamer als Dantes Ugolino-Episode gerade im 19. Jahrhundert ausführlich rezipiert wurde.  [27] Caso sieht letztere gar als »l’un des thèmes qui ont le plus fasciné le romantisme européen [...]«.  [28]

12 Thédore Géricault: Studie für die Vater-Sohn-Gruppe, 1818/19,
Feder und braune Tusche, 24,7 x 29,5 cm,
Kunstmuseum Düsseldorf

<21>

Sowohl Carpeaux’ als auch Géricaults künstlerisches Schaffen zeugen in dieser Hinsicht von einem dezidierten Interesse an den Extremzuständen der menschlichen Psyche. Géricaults Auseinandersetzung mit Schmerz und Wahnsinn wird besonders anhand seiner Studien von Insassen einer psychiatrischen Anstalt deutlich.  [29] Auch das Floß der Medusa veranschaulicht das Bemühen des Malers um eine bildliche Darstellung gefährlicher, irrationaler und geradezu ›unmenschlicher‹ Handlungen. Vorstudien zeigen, dass Géricault ursprünglich eine direktere Darstellung des Kannibalismus, auf welchen Carpeaux’ Ugolino schließlich ebenfalls anspielt, in Erwägung zog (Abb. 13). Beide Künstler wagen also eine ungeschönt realistische Darstellung von Extremsituationen menschlichen Leidens, indem sie in ihren Werken Themen wie räumliche Einschränkung, Hunger, Grausamkeit, Tod und psychische Belastung verbildlichen. Sowohl im Floß der Medusa als auch bei Ugolino und seine Söhne lastet über der Szenerie die Bedrohung durch den Menschen selbst, hier wie dort treiben ihn seine Fehlbarkeit und sein Unvermögen regelrecht in den Wahnsinn.  [30] Folgende, die romantische Komponente im Werk Géricaults beschreibende Ausführung, lässt sich daher auch auf Carpeaux beziehen: »Car dans le discours [...] du romantisme [...] l’horrible, le difforme et le grotesque qui engendrent la terreur, laquelle s’associe au sentiment du sublime, deviennent les émissaires d’une esthétique moderne, fondée sur le réel.«  [31]

13 Théodore Géricault: Kannibalismusszene auf dem Floß der Medusa,
Detail, 1818/19, schwarze Kreide, Gouache, Feder
und Lavierungen auf beigem Papier, 28 x 38 cm,
Musée du Louvre, Paris

<22>

Carpeaux verlässt die Traditionen der Académie mit seiner spezifischen Darstellung von Wahnsinn und Verzweiflung nicht vollständig: Der Einfluss von Le Bruns Traktat Méthode pour apprendre à dessiner les passions von 1702, an welchem die Académie im 19. Jahrhundert uneingeschränkt festhielt, ist im Ugolino durchaus erkennbar. Bis auf die Blickrichtung und eine gewisse Übersteigerung gleicht der Ausdruck des Vaters Le Bruns Forderungen für L’Extreme Desespoir (Abb. 14): »Il se peut exprimer par un homme qui grince les dents [...] & qui se mord les lèvres, qui aura le front ridé par des plis qui descendent du haut en bas, les sourcils seront abaissés sur les yeux, & fort pressés du côté du nez. [...] la lèvre de dessous sera grosse & renversée [...].«  [32] Carpeaux war sich gewisser ›Regeln‹ also durchaus bewusst. Die Verknüpfung mit dem Biss in die krallenartigen Hände und der Bezug zu den hilflos-unschuldigen Kindern übersteigert den Ausdruck der Le Brun’schen Vorgabe jedoch in Richtung einer realistischen Darstellung von äußerster psychischer Belastung, die sich in einer Art Wahnsinn manifestiert.

14 Charles Le Brun: Extreme Desespoir (Ausdrucksstudie),
in: Méthode pour apprendre à dessiner les passions, Amsterdam 1702
(Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1982, Abb. 33)

<23>

An dieser Stelle soll ein weiteres Mal auf Carpeaux’ Verhältnis zur Kunst Delacroix’ eingegangen werden. Obgleich Carpeaux hinsichtlich der Gestaltung des Ausdruckes regelkonform auf Le Bruns Vorgaben zurückgreift, bestehen hinsichtlich dieser Partie Bezüge zur Dantebarke (Abb. 8). Die links an der Barke hängende Figur weist bezeichnenderweise ähnlich furchterregende Charakteristika wie Carpeaux’ Ugolino auf. Die Hand zum Gesicht geführt, beißt sie sich mit dämonisch zusammengezogenen Augenbrauen am Bootsrand fest. Delacroix hat also etwa 40 Jahre vor Carpeaux ähnliche Wege zur Überzeichnung der Le Brun’schen Ausdrucksstudien gewählt. Es ist daher durchaus denkbar, dass Ugolinos Gesichtszüge nicht allein auf der Auseinandersetzung mit Le Brun beruhen, sondern auch als ein der Dantebarke entnommenes Zitat gelten können. Zwar ist das Beißen in Carpeaux’ Plastik bereits durch Dantes Textvorlage vorgegeben.  [33] Mit der Wahl des Augenblicks und der spezifischen Darstellung des Ugolino könnte Carpeaux jedoch bewusst eine Assoziation mit der Figur aus der Dantebarke einkalkuliert haben.

Ugolino und seine Söhne als Provokation

<24>

Anne Middleton Wagner und Dirk Kocks haben anschaulich bewiesen, dass die Genese von Carpeaux’ Ugolino von einer intensiven Beschäftigung mit Werken früherer Künstler und Zeiten geprägt ist.  [34] Darüber hinaus lässt sich jedoch, wie ich dargelegt habe, anhand eines Vergleiches mit Delacroix’ Dantebarke und Géricaults Floß der Medusa zeigen, dass Carpeaux die Mittel zur Steigerung der Expressivität seines Sujets nicht nur im Epochenrückgriff erarbeitet, sondern sie mit der zeitgenössischen Malerei des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang stellt.

<25>

Dass Carpeaux’ Ugolino und seine Söhne derart offenkundig Assoziationen mit den französischen Malern der Romantik nahe legt, muss meiner Ansicht nach als Parteinahme verstanden werden: Indem der Künstler die Bronzegruppe ›malerisch‹ wirken lässt und die Wirkung des Lichts thematisiert, nimmt er Bezug auf Delacroix’ Einsatz für die Farbe, also auf dessen künstlerische Opposition zur offiziellen Kunstauffassung der Académie.

<26>

Inhaltlich und motivisch kann ebenfalls von einer offenkundigen Anlehnung an Delacroix und Géricault gesprochen werden, zumal auch deren Schaffen von Dante geprägt ist.  [35] Jenem mittelalterlichen Dichter kommt, so Rubin, »in der modernen romantischen Ästhetik eine Schlüsselrolle zu«,  [36] die in Opposition zu den Auffassungen der Académie stand.  [37] An den Schriften Dantes bewunderten die Künstler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die Inszenierung des Schrecklichen und suchten dies in ihre Kunst zu übertragen. Es kann als Verdienst von Malern wie Delacroix und Géricault gesehen werden, dass Motive aus Dantes Œuvre schließlich Eingang in die französische Kunst fanden. Im Zusammenhang mit dem generellen Innovationswillen jener Maler kann dies als bewusste Auflehnung gegen die von einem klassizistischen Regelkanon dominierte Kunstauffassung der Académie interpretiert werden. Entsprechend kann auch Carpeaux’ Bezugnahme auf Géricault und Delacroix als bewusstes Befürworten der Erneuerungsversuche jener Künstler gewertet werden, insbesondere hinsichtlich des Versuches einer Auflösung der klassizistischen Prinzipien der Académie des Beaux-Arts.  [38] Es stellt sich daher die Frage, inwieweit das Werk Ugolino und seine Söhne selbst als ein Affront gegenüber den Lehren und Richtlinien der Académie zu verstehen ist.

<27>

Eingedenk der schon erwähnten, seit dem 18. Jahrhundert mit der Figur des Ugolino verknüpften Symbolik des Unterdrückten ist es naheliegend, die Verbildlichung von Dantes Ugolino-Passage als prinzipiellen Ausdruck einer Kritik an bestehenden Regeln und Zwängen zu verstehen. Yates’ auf die Literaturgeschichte bezogene Erläuterung des Dante’schen Ugolino als »a model to follow in the effort to break the tyranny of strict classicism«  [39] ist somit auf den Bereich der bildenden Künste übertragbar. Vor diesem Hintergrund scheint es bezeichnend, dass Carpeaux vehement auf der plastischen Realisierung der Dante’schen Ugolino-Episode beharrte.  [40] Entsprechend den Vorschriften der Académie musste das ›sujet de dernière année‹ des Rom-Stipendiums der antiken Geschichte oder der Bibel entnommen sein und eine übersichtliche Figurenanzahl beinhalten.  [41] Keine dieser Regeln berücksichtigte Carpeaux für Ugolino und seine Söhne: Das Sujet entlehnte er der mittelalterlichen Literatur und er war zudem, wie die Genese des Werks belegt, regelrecht bemüht, alle fünf in der Textvorlage erwähnten Figuren darzustellen.  [42]

Rezeption und Kritik der Zeitgenossen

<28>

Diese Vorgeschichte sowie die augenscheinliche Anlehnung an die Maler der französischen Romantik berücksichtigend, stellt sich die Frage, ob Carpeaux’ Interpretation und künstlerischer Realisierung von Ugolino und seine Söhne eine explizite Deutung des Dante-Ugolino als »anti-tyrannical part [...] against [...] tyranny of classical rules«  [43] zu Grunde liegt. Die Kunstauffassung der Académie des Beaux-Arts war im 19. Jahrhundert stark geprägt von einer Vorbildhaftigkeit der Antike, insbesondere den Bereich der Plastik betreffend. Klassizistische Prinzipien wie ausgewogene Proportionen, Harmonie, Klarheit und Ruhe wurden in der Tradition von Quatremère de Quincy (1755-1849) als primäre Richtlinien gesehen und rigoros verteidigt.  [44] Das gesamte Jahrhundert galten der Académie die 1805 von Émeric-David postulierten »règles fondamentales sur lesquelles repose ›l’art statuaire‹« als maßgeblich:  [45] So sah man in der Berücksichtigung einer »vérité de l’imitation«, einer »beauté des formes« sowie in der Ausführung von »passions tempérées par la sagesse« die Grundlagen gelungener Plastik.  [46]

<29>

Inwieweit wurde Ugolino und seine Söhne von Carpeaux’ Zeitgenossen nun tatsächlich als non-konforme Provokation wahrgenommen? Aus den in Reaktion auf Carpeaux’ Ugolino ab 1863 sehr zahlreich erschienenen, sich zum Teil stark ähnelnden Äußerungen habe ich eine exemplarische Auswahl getroffen und stütze mich im Folgenden auf die Kritiken von Mantz und Chesneau. Die Komposition von Ugolino und seine Söhne hat auf den zeitgenössischen Betrachter offenbar zunächst ›akademisch‹ gewirkt: So sah Ernest Chesneau 1864 die »forme pyramidale tant recommandée par l’école« im Ugolino durchaus aufgegriffen.  [47] Auch die Rückseite der Gruppe zeigt eine, den Erwartungen der Académie entsprechende, ruhig und klar wirkende Symmetrie. Die dynamische Linienführung der Figurenanordnung in der Frontansicht allerdings, die sich zunächst äußerst verworren präsentierenden Verschlingungen der Gliedmaßen scheinen mit der Forderung nach Klarheit der Komposition nicht vereinbar. In der Tat störte sich die Kritik vor allem an der Gruppierung der Figuren. So heißt es bereits in Paul Mantz’ Salonkritik von 1863 über Carpeaux’ Ugolino: »[Le groupe] ne parle que [...] lorsque l’œil est parvenu à débrouiller l’enchevêtrement trop confus des figures entassées.«  [48]

<30>

Hinsichtlich der Ausführung der einzelnen Figuren äußerte man hingegen durchaus Lob. So wurde die Realisierung der Söhne von Chesneau und Mantz als besonders gelungen herausgestellt.  [49] Tatsächlich scheinen die feingliedrigen Kinderkörper, die zwar schwach aber dennoch wohlproportioniert und im Falle des ältesten Sohnes gar athletisch wirken, die Grundsätze der Académie zu realisieren. In dieser Hinsicht bleibt Carpeaux also den Regeln ein weiteres Mal treu, zumal die Textvorlage durchaus die Inszenierung von nicht nur geschwächten, sondern auch völlig abgemagerten Körpern zugelassen hätte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade diese von Seiten der Académie als positiv herausgestellt wurden: »Je louerai sans réserve, dans cette vaste composition, le sentiment qui a inspiré l’attitude des trois enfants morts ou mouvants aux pieds d’Ugolin: l’exécution en est excellente, le mouvement des lignes [...] est plein des justesse, de vérité. [...] ces trois jeunes corps [ont] une simplicité presque classique.«  [50]

<31>

Im Gegensatz dazu wurde im 19. Jahrhundert die Ausführung der zentralen Figur allgemein als misslungen angesehen. Deren in den Gesichtszügen ausgedrückte »exagération des forces expressives« mindere »la valeur de l’Ugolin de M. Carpeaux«, so Chesneau.  [51] Mantz äußerte sich in ähnlicher Weise: »Le geste de l’affamé portant ses doigts à ses lèvres n’est guère admissible en sculpture, il est plus bizarre que rationnel, et il n’explique pas clairement la situation du personnage.«  [52] Mantz nutzte seine Kritik schließlich sogar, um dezidiert die Orientierung an einer klassizistischen Kunstauffassung zu fordern: »Quoi que nous entreprenions, gardons-nous toujours de la laideur, c’est la règle essentielle et la loi suprême.«  [53] In der Tat mussten der verkrampfte Körper und der grimassenartige Gesichtsausdruck, durch welche Schmerz, Angst und Wahnsinn gleichermaßen in die plastische Form übertragen werden, in ihrer grauenvoll-bedrohlichen Wirkung der ›akademischen‹ Kunstauffassung des 19. Jahrhunderts zutiefst widersprechen. Entsprechend kritisch und zurückhaltend fällt die offizielle Stellungnahme der Académie des Beaux-Arts aus: »On doit regretter tout d’abord [...], que la figure d’Ugolin ne soit pas surtout animée du sentiment paternel si fortement tracé par le poète et qui est l’âme du sujet.«  [54] Gerade Ugolinos gekrümmte Haltung, sein buckeliger Rücken und die furchterregende Verbindung von Händen und Gesicht waren mit Émeric-Davids Postulat der »beauté des formes« oder der Forderung nach einem gemäßigten Ausdruck von Emotionen nicht in Einklang zu bringen. Statt moralische und körperliche Schönheit widerzuspiegeln, evoziert die Gestaltung der zentralen Figur Bedrohung, Sünde und Schuld an den Kindern. Carpeaux’ Interpretation des Motivs zeigt Ugolino nicht als positiven Helden. Die spezifische Inszenierung des Gemütszustandes scheint gleichsam die Realisierung der dunklen, gar ›bösen‹ Seiten der menschlichen Psyche in der Kunst zu befürworten und macht eine Form von Wahnsinn greifbar, die in dieser Weise wohl zuvor in keine der uns bekannten Ugolino-Darstellungen Eingang gefunden hatte.

Schlussbetrachtung

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Obwohl Carpeaux den klassischen Ausbildungsweg der École des Beaux-Arts durchlaufen hat, kann sein am Ende dieser Phase stehendes Werk Ugolino und seine Söhne als vorsätzlicher Versuch verstanden werden, traditionelle Kriterien in Frage zu stellen: Sämtliche von Carpeaux’ Zeitgenossen als unzureichend kritisierten Komponenten können auch als bewusst eingesetzte, bedeutungsschaffende Elemente interpretiert werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass kurz nach Ankunft des Originalgipses in Paris innerhalb der Académie des Beaux-Arts Stimmen laut wurden, die quasi zensierend eine Modifikation von Ugolino und seine Söhne forderten, welche auszuführen Carpeaux sich jedoch hartnäckig weigerte.  [55] Die Vermutung, der Künstler habe bewusst die Konnotation des Sujets als »anti-tyrannical« einkalkuliert,  [56] scheint somit bestätigt.

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Die unkonventionelle Komposition, die besondere Expressivität des von Carpeaux’ Zeitgenossen als hässlich empfundenen Ugolino, also die Übertragung einer inneren Anspannung in die plastische Form, und nicht zuletzt die Thematisierung eines psychischen und moralischen Scheiterns präsentieren sich in Opposition zu den traditionell an die Gattung Plastik gerichteten Erwartungen. Ugolino und seine Söhne distanziert sich damit von den dominierenden Vorgaben und Auffassungen der Académie des Beaux-Arts. Entsprechend kann die Figurengruppe sowohl in Bezug auf die Wahl des Sujets als auch auf dessen Ausführung als beabsichtigte Provokation gedeutet werden. Carpeaux reihte sich damit in die Gruppe derer ein, die den Regelkanon der die Kunstwelt des 19. Jahrhunderts beherrschenden Institutionen in Frage stellten und sich von ihm zu befreien suchten. Mit Ugolino und seine Söhne gelang ihm eine neuartige, dramatisch-expressive Realisierung des Sujets, die er mit freieren Arbeitsmethoden und einem besonderen Sinn für den Umgang mit dem Material verband. So beschritt Carpeaux trotz seiner Abhängigkeit von der Académie des Beaux-Arts letztlich in mehrerlei Hinsicht unkonventionelle, eigenständige und innovative Wege. Die augenscheinliche Anlehnung an die Vertreter der französischen Malerei der Romantik unterstreicht dabei das ›rebellische‹ und provokative Potenzial der Gruppe.

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Gleichwohl ermöglichten die erwähnten formalen Zugeständnisse an die Erwartungen der Académie, dass Ugolino und seine Söhne trotz der harschen Kritik nie gänzlich abgelehnt wurde. Gerade dadurch stellte Carpeaux sicher, dass sein Werk von einer breiten Öffentlichkeit dauerhaft rezipiert werden konnte: An exponierter Stelle, von 1863 bis 1903 im Tuileriengarten der allgemein bewunderten Laokoon-Gruppe gegenübergestellt,  [57] vermochte es gerade im Vergleich Diskussionen über die Möglichkeiten von Plastik anzuregen.

Bildnachweis

Archiv der Autorin: Abb. 4 und 5.

Collection Galerie Fabius Frères, Paris: Abb. 7.

Reproduktionen nach:

Géricault. La folie d’un monde, Ausst.kat. Lyon 2006 (wie Anm. 29), Abb. 91 = Abb. 9, Abb. 93 = Abb. 13, Abb. 100 = Abb. 12.

Kocks 1981 (wie Anm. 14), Abb. 318 = Abb. 11, Abb. 340 = Abb. 6.

Le Brun 1702/1982 (wie Anm. 32), Abb. 33 = Abb. 14.

Néret, Gilles: Eugène Delacroix, Köln 2000, S. 10 = Abb. 8.

Wagner 1989 (wie Anm. 3), Tafel II = Abb. 1, Tafel III = Abb. 2, Abb. 160 = Abb. 10, Abb. 170 = Abb. 3.



[1] Charles Baudelaire: Œuvres complètes, Paris 1969, S. 257.

[2] Vgl. Ursula Merkel: Das plastische Porträt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildhauerei in Frankreich und Deutschland, Berlin 1995, S. 66.

[3] Allein Anne M. Wagner geht ausführlich auf Ugolino und seine Söhne ein. Vgl. Anne Middleton Wagner: Jean-Baptiste Carpeaux. Sculptor of the Second Empire, New Haven 1989, S. 133-174.

[4] Gaston Varenne: Carpeaux à l’École de Rome et la genèse d’Ugolin, in: Mercure de France, Nr. 71, Paris 1908, S. 577-593.

[5] Schnetz in einem Brief vom 20. Juli 1857, zitiert nach Varenne 1908 (wie Anm. 4), S. 580.

[6] Schnetz in einem nicht datierten Brief, zitiert nach Varenne 1908 (wie Anm. 4), S. 581.

[7] Vgl. Frances Yates: Transformations of Dante’s Ugolino, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14, 1951, S. 98-101.

[8] Jean-Baptiste Carpeaux, zitiert nach Louise Clément-Carpeaux: La vérité sur l’œuvre et la vie de Carpeaux, Paris/Nemours 1934-1935, Bd. 1, S. 78.

[9] Vgl. Walter Jens (Hg.): Kindlers neues Literaturlexikon, München 1998, Bd. 1, S. 314: »In der Geschichte des Grafen Ugolino della Gherardesca, der zusammen mit seinen Söhnen im Hungerturm des Erzbischofs von Pisa grausam zu Grunde gegangen ist, erreicht die Dramatik ihren Höhepunkt.«

[10] Vgl. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (1321), Stuttgart 2000, S. 127f.

[11] 1863 wurde Ugolino und seine Söhne durch die Werkstatt Victor Thiébaut in Bronze gegossen. Von 1863 bis 1903 befand sie sich in den Pariser Tuilerien, heute wird sie im Musée d’Orsay aufbewahrt.

[12] ›Ugolino‹ in kursiver Schrift wird im Folgenden der Verwendung des Titels Ugolino und seine Söhne gleichgesetzt. Nicht kursiv geschrieben bezeichnet ›Ugolino‹ die zentrale Figur der Gruppe.

[13] Vgl. Yates 1951 (wie Anm. 7), S. 108.

[14] Eine ausführliche Darstellung der Zeichnungen nach Raffael, Rubens, Rembrandt und Watteau bietet Dirk Kocks: Jean-Baptiste Carpeaux. Rezeption und Originalität, Sankt Augustin 1981, bes. S. 28-60 und S. 115f. Zudem schuf Carpeaux selbst einige Ölgemälde; vgl. z.B. Bal aux tuileries, Öl/Leinwand, Musée d’Orsay, Paris, in: Laure de Margerie: Carpeaux. La fièvre créative, Paris 1989, S. 56f.

[15] Fritz Novotny: Painting and Sculpture in Europe 1780-1880, New Haven/London 1995, S. 408.

[16] Vgl. Novotny 1995 (wie Anm. 15), S. 409.

[17] Eine anschauliche Darstellung der im 19. und 20. Jahrhundert stattfindenden Diskussion über das ›Malerische‹ bietet Sabine Felder: Barocke Reliefs. ›Malerisch‹ oder ›pittoresk‹?, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich, Nr. 6, Zürich 1999, S. 175-189.

[18] Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, S. 20. Wölfflin bezieht sich bei seiner Definition des Begriffspaares ›Linear – Malerisch‹ in erster Linie auf die italienische Kunst des 17. Jahrhunderts.

[19] Wölfflin 1915 (wie Anm. 18), S. 21.

[20] Rautmann bezeichnet Delacroix’ Tagebuch-Einträge zum Thema Licht und Schatten als »nachträgliche Fixierung der Gedanken, die ihn [Delacroix] bei der Dantebarke beschäftigt haben«. Peter Rautmann: Eugène Delacroix, München 1997, S. 42.

[21] James Rubin: Eugène Delacroix. Die Dantebarke. Idealismus und Modernität, Frankfurt a. M. 1987, S. 7.

[22] Zitiert nach Elise Guignard (Hg.): Eugène Delacroix. Briefe und Tagebücher, München 1990, S. 143.

[23] Die 1867 angefertigte Marmorskulptur befindet sich heute im Metropolitan Museum of Art, New York; die 1873 entstandene Terrakottaplastik wird in der Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen, aufbewahrt.

[24] Im Gegensatz zur Bronze ist das Marmorexemplar äußerst stumpf bearbeitet, die Konturlinien wirken ungleich weicher. Der schweren und dunklen Wirkung der Bronzesilhouette scheint der Marmor daher diametral entgegengesetzt. Auf wieder andere Weise präsentiert sich die Terrakottaplastik. Hier kommt eine Bandbreite von verschiedenen, warmen Farbtönen zum Tragen.

[25] Darüber hinaus ist auch bei Géricault eine besondere Betonung von Hell-Dunkel-Kontrasten feststellbar: Novotny spricht von einem »Caravaggesque lightening«, Novotny 1995 (wie Anm. 15), S. 146. Carpeaux und Géricault könnten also auch unter diesem Aspekt miteinander verglichen werden. Aufgrund der diesbezüglich bereits erörterten Parallelen zu Delacroix wird hier jedoch darauf verzichtet.

[26] Eine ausführliche Schilderung unter Berücksichtigung von Augenzeugenberichten findet sich bei Denise Aimé-Azam: Géricault und seine Zeit, München 1967, S. 153-157.

[27] Kocks bezeichnet Géricaults »Gruppe des Vaters mit dem toten Sohn [...] als Übermaß menschlichen Leidens im Verständnis Ugolinos«, Kocks 1981 (wie Anm. 14), S. 56.

[28] Jacques de Caso: Jean-Baptiste Carpeaux, in: Médecine de France, Nr. 161, Paris 1965, S. 22f.

[29] Vgl. z.B. Théodore Géricault: Le monomane du vol, 1819/20, Öl/Leinwand, 61,2 x 50,2 cm, Museum voor schone Kunsten, Gent, in: Géricault. La folie d’un monde, Ausst.kat. Musée des Beaux-Arts de Lyon, Paris 2006, Abb. 154.

[30] Géricault allerdings lässt durch das zum Horizont hin gerichtete Winken der dunkelhäutigen Figur einen gewissen Hoffnungsschimmer aufkommen. Carpeaux’ Ugolino hingegen hat keinen Ausweg.

[31] Nina Athanassoglou-Kallmyer: Géricault. Politique et esthétique de la mort, in: Régis Michel (Hg.): Géricault, Bd. 1, Paris 1996, S. 134.

[32] Charles Le Brun: Méthode pour apprendre à dessiner les passions, Amsterdam 1702, Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1982, S. 30.

[33] Im 33. Gesang des Inferno berichtet die Figur des Ugolino: »Da biß ich mich vor Schmerz in beide Hände [...].« Alighieri 1321/2000 (wie Anm. 10), S. 128.

[34] Sei es die angespannte Muskulatur des antiken Torso vom Belvedere, seien es die Verschlingungen der Laokoon-Gruppe, die Körperhaltungen von Michelangelos Skulpturen oder die Expressivität von Pugets plastischen Werken der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – stets scheinen Präfigurierungen und Formeln aufgegriffen. Diese übersteigert Carpeaux auf höchst eigenständige Weise und gelangt so zu einem von möglichen Vorbildern unabhängigen Ausdruck. Insbesondere Pugets Milon von Kroton (1672-1683) ist, wie ich 2006 in meiner Magisterarbeit (Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne, Philipps-Universität Marburg) gezeigt habe, in mehrfacher Hinsicht mit Carpeaux’ Ugolino ›verwandt‹.

[35] Caso bezeichnet Carpeaux’ Ugolino beiläufig als »une réflexion [...] sur les inventions thématiques [...] des grands peintres novateurs de l’école française du début du siècle, particulièrement Géricault et Delacroix«. Caso 1965 (wie Anm. 28), S. 23.

[36] Rubin 1987 (wie Anm. 21), S. 38.

[37] Vgl. Rubin 1987 (wie Anm. 21), S. 34: »[...] Dante galt [...] als Inbegriff eines Poeten von höchster Originalität und sublimer Erhabenheit, und eben dies wurde für exzentrisch und gefährlich befunden. Dante [wurde] von den klassizistischen Kritikern Frankreichs als [Beispiel] geistiger Ausschreitung verspottet und zugleich wegen [seiner] zunehmenden Popularität gefürchtet.«

[38] Vgl. Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 553: »Die romantische Generation der französischen Maler mit Gros, Géricault und Delacroix an der Spitze setzte sich in Theorie und Praxis für eine freiere, von den verknöcherten Regeln befreite Kunst ein [...].«

[39] Yates 1951 (wie Anm. 7), S. 101.

[40] Vgl. die briefliche Korrespondenz von Victor Schnetz, von 1841 bis 1844 sowie von 1853 bis 1866 Leiter der Académie de France à Rome, in: Gaston Varenne: Carpeaux à l’École de Rome et la genèse d’Ugolin, in: Mercure de France, Nr. 71, Paris 1908, S. 580.

[41] Vgl. Sculptures de Carpeaux à Rodin, Ausst.kat. Musée de Mont-de-Marsan, Mont-de-Marsan 2000, S. 43.

[42] Die drei vorhandenen Bozzetti zu Ugolino und seine Söhne verdeutlichen, dass die Gruppierung der Söhne offenbar die Hauptproblematik darstellte. Während der frühe Villa Medici-Bozzetto lediglich drei Söhne zeigt, taucht im späteren Orsay-Entwurf bereits das vierte Kind hinter dem ältesten der Söhne auf, hat jedoch noch eine von der Bronzestatue abweichende Haltung inne. Der meiner Meinung nach als letzter der drei Bozzetti entstandene Entwurf nimmt schließlich die endgültige Form der lebensgroßen Bronze in den wichtigsten Zügen vorweg.

[43] Yates 1951 (wie Anm. 7), S. 103.

[44] Vgl. Bo Wennberg: French and Scandinavian Sculpture in the Nineteenth Century, Stockholm 1978, S. 194.

[45] Philippe Durey: Le Néo-classicisme, in: La sculpture française au XIXe siècle, Ausst.kat. Galeries nationales du Grand Palais, Paris 1986, S. 292.

[46] Vgl. Durey 1986 (wie Anm. 45), S. 288ff.

[47] Ernest Chesneau: L'art et les artistes modernes en France et en Angleterre, Paris 1864, S. 294.

[48] Paul Mantz: Carpeaux, in: Gazette des Beaux-Arts, 2. Pér., 18, 1876, Nr. 13, S. 603.

[49] Vgl. Mantz 1876 (wie Anm. 48), S. 604, und Chesneau 1864 (wie Anm. 47), S. 294.

[50] Chesneau 1864 (wie Anm. 47), S. 294.

[51] Chesneau 1864 (wie Anm. 47), S. 294.

[52] Paul Mantz: Salon de 1863, in: Gazette des Beaux-Arts 5, 1863, Nr. 15, S. 51.

[53] Mantz 1863 (wie Anm. 52), S. 51.

[54] Zitiert nach Margerie 1989 (wie Anm. 14), S. 46.

[55] Henry Courmont schrieb 1862 in seiner Funktion als Chef de la Division des Beaux-Arts an den Direktor der Académie Française à Rome, Victor Schnetz : »[...] [la Commission Consultative des Beaux-Arts] a exprimé le vœu que cette reproduction [en bronze] n’eût lieu qu’après que M. Carpeaux aurait fait son modèle des modifications.« Schnetz übermittelte daraufhin: »[...] [M. Carpeaux] attache une certaine importance à ce que ce modèle soit exécuté dans son état actuel.« Zitiert nach Wagner 1989 (wie Anm. 3), S. 294f., Anm. 136.

[56] Yates 1951 (wie Anm. 7), S. 103.

[57] Vgl. Kocks 1981 (wie Anm. 14), S. 69.

Lizenz

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Empfohlene Zitierweise

Feuchtinger S.: Expressivität und Provokation – Jean-Baptiste Carpeaux’ Bronzeplastik »Ugolino und seine Söhne« und der Einfluss der französischen Malerei der Romantik. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2010-6 (urn:nbn:de:0009-23-24589).  

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