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Arnold Böcklin (1827-1901) gilt als Zivilisationsflüchtling und als Maler der mythologischen Landschaft; nach einem ingeniösen Ausspruch Hugo von Hofmannsthals als einer, der »Poussin vergröbert und sentimentalisiert« hat.  [1] Mit dem Begriff der »Sentimentalisierung« dürfte dabei die Tatsache gemeint sein, dass es dem Maler über die Mythologisierung der Landschaft gelungen sei, deren Stimmungswert in den Griff zu bekommen.
Einer spezifischen Form der Mythologisierung bei Böcklin will ich mich in diesem Beitrag widmen. Ich würde sie vorläufig »anthropomorphisierende Projektion« nennen und damit auf ein Gestaltungsprinzip verweisen, dessen Bedeutung im Rahmen einer durchaus genereller aufzufassenden ästhetischen und psychologisch-philosophischen Konstellation des 19. Jahrhunderts noch kaum erkannt wurde.  [2] Es soll sich nämlich zeigen, dass unter veränderten Bedingungen Mythologisierungen im Gewand der Kunst auch in der Moderne noch möglich sind und eine präzise zu benennende Funktion erfüllen. Denn sie sollen – so die These – ein im Zug der Modernisierung verschüttetes menschliches Potential präsent halten bzw. wieder in Erinnerung rufen. Die Kunst Böcklins wird sich dabei als ein janusköpfiges Phänomen erweisen: Radikal rückwärtsgewandt in seiner am Mythos orientierten Malerei, kann man ihn gleichzeitig im Horizont avanciertester wissenschaftlicher Theorien der Zeit interpretieren.

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»Anthropomorphisierende Projektion« meint hier die bei Böcklin nicht seltene Praxis, eine natürliche Formation durch intensive, versunkene und fast ans Halluzinatorische grenzende Beobachtung zu verlebendigen, ihr menschliche Formen zu geben. Der Begriff des »Halluzinatorischen« ist dabei bewusst gewählt und soll später mit Blick auf zeitgenössische psychologische Theorien wieder aufgegriffen werden. Zunächst einige Beispiele. Im Münchener Pan erschreckt einen Hirten haben wir es mit einem Frühwerk aus dem Jahr 1860 zu tun (Abb. 1). Vergleichen will ich es mit dem etwa zwei Jahre zuvor entstandenen gleichnamigen Bild in Basel (Abb. 2).

1 Arnold Böcklin: Pan erschreckt einen Hirten, 1860,
Öl/Leinwand, 134,5 x 110,2 cm,
Schack-Galerie, München

2 Arnold Böcklin: Pan erschreckt einen Hirten, ca. 1858,
Öl/Leinwand, 78 x 64 cm, Kunstmuseum, Basel

Tritt im Baseler Bild die Pan-Gestalt am oberen Rand des Bildes unvermittelt aus dem Bergmassiv hervor, so ändert sich das in signifikanter Weise in dem späteren Werk. Die Figur ist in diesem Fall in ihren Umrissen und farblich stärker den umgebenden Felsen angeglichen, sie wirkt wie ein verlebendigter Fels.

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Dann der Baseler Kentaurenkampf von 1872/73 (Abb. 3), der auf einen kurz zuvor entstandenen anderen Kentaurenkampf in Privatbesitz folgt (Abb. 4).

3 Arnold Böcklin: Der Kentaurenkampf, 1872/73,
Öl/Leinwand, 105 x 195 cm, Kunstmuseum, Basel

4 Arnold Böcklin: Der Kentaurenkampf, 1872,
Öl/Leinwand, 99 x 187 cm, Privatbesitz

Steht hier der Betrachter dem Geschehen auf gleicher Höhe gegenüber, so schaut er in dem späteren Bild leicht von unten auf eine auf einem Bergrücken angesiedelte mythische Kampfszene, die von einem dramatischen Wolkenhimmel hinterfangen ist. In suggestiver Weise deutet Böcklin damit eine Konfiguration an, die sinnfällig als Anthropomorphisierung eines dramatischen Bergrückens mit mehreren Spitzen erscheint. Ich hoffe, dass meine Vergleichsabbildung des Wilden Kaisers in Tirol ähnlich suggestiv ist, insofern diese Spitzen miteinander zu kämpfen scheinen (Abb. 5). Immerhin ist schon der Ausdruck »Wilder« Kaiser Beispiel für eine sprachliche Anthropomorphisierung, die für meine später folgende, an der Einfühlungsästhetik und der zeitgenössischen Mythentheorie orientierte Lektüre von hohem Interesse ist. Und wenn man genau hinhört, ist auch schon der Berg›rücken‹ eine Anthropomorphisierung. Denn seit wann haben Berge Rücken? Doch wohl eben genauso wenig, wie sie ›wild‹ sind.

5 Der Wilde Kaiser, Tirol, Fotografie

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Und zuletzt der schon dem Spätwerk angehörende Darmstädter Prometheus aus dem Jahr 1885 (Abb. 6), der wiederum auf ein drei Jahre vorher entstandenes Prometheus-Bild in italienischem Privatbesitz folgt (Abb. 7). In beiden Fällen ist die leidende Heldenfigur als Extension des Bergrückens aufgefasst, im späteren Bild aber noch suggestiver, insofern sich der liegende Prometheus nur schemenhaft von der Gesteinsformation absetzt und erst bei intensiverem Hinsehen erkennbar wird. Er wächst so gleichsam im Sehprozess aus dem Berg heraus, ja der Rücken des Helden verschmilzt mit dem des Berges. Und wenn wir eine noch frühere Prometheus-Darstellung aus dem Jahr 1858 heranziehen (Abb. 8), so ergibt sich fast eine teleologische Reihe: In dem ältesten Bild nämlich kann von einer Verschmelzung von Prometheus-Figur und Berg noch gar nicht die Rede sein.

6 Arnold Böcklin: Der gefesselte Prometheus, 1885,
Öl/Holz, 98,5 x 125 cm, Hessisches Landesmuseum, Darmstadt

7 Arnold Böcklin: Der gefesselte Prometheus, 1882,
Öl/Leinwand, 116 x 150 cm, Privatbesitz

8 Arnold Böcklin: Der gefesselte Prometheus, Supraporte (Fragment), 1858, Öl/Baumwolle, 100 x 180 cm, Privatbesitz

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Gehen wir einen Schritt weiter und wenden uns Aussagen Böcklins und seiner Interpreten über seine Verfahrensweisen zu. Böcklins Witwe Angela berichtet: »Wenn er nämlich abends an dem nahen Mugnone spazieren ging, hatte er das gewaltige Massiv des Monte Morello vor sich, der ihm, wenn er dunkles Gewölk auf seinem Haupte gesammelt hatte, das Urbild vom 1882 gemalten Prometheus gab.«  [3] Passender noch wäre es gewesen, wenn Frau Böcklin diese Beobachtung auf den 1885er Prometheus bezogen hätte. Hier nämlich scheint die mythische Gestalt tatsächlich eine anthropomorphische Kristallisation des »dunklen Gewölks« zu sein, in jedem Fall aber bestätigt sich die These, dass es sich an dieser Stelle um eine künstlerische Projektionsleistung handelt.

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Aufschlussreich sind zudem Aussagen von Böcklins Kommentatoren: (In San Terenzo, einem von Böcklin gerne aufgesuchten Ort an der Ligurischen Küste) »hat auch Böcklin Stunden und Tage lang gesessen und im Anblick des rauschenden Meeres seinen geliebten Homer oder Ariost gelesen; hier hat er geschaut und immer wieder geschaut, und den Gischt der Brandung, die Farbenerscheinung des Meeres, der Felsen und der Haine so tief in sich aufgenommen, bis sich die beobachtete Natur in ihm zu den Visionen verdichtete, die wir aus seinen Bildern kennen.«  [4] Entscheidend ist natürlich die Schlusspassage, die hier dem Meer gewidmet ist, der neben der Bergwelt zweiten zentralen Projektionsfläche Böcklins. Der Künstler versetzt sich so weit in die Natur hinein, dass sie sich ihm unter dem inspirierenden Einfluss der Lektüre visionär verklärt. An vielen anderen Stellen wird betont, wie überzeugend es Böcklin gelungen sei, sich in die beobachteten Dinge »hineinzuleben«.  [5] Das klingt topisch, muss aber durchaus ernst genommen werden, weil es, wie wir gleich sehen werden, präzise einer psychologisch akzentuierten künstlerischen Gestaltungstheorie entspricht. Und selbst folgende Beschreibung ist aufschlussreich: »Schon oft (hat) er, vor einem Glase Wein sitzend, dem Rauche seiner Zigarre zuschauend, glückliche Visionen gehabt und Bilder konzipiert, die sich nachher bei der nüchternen Konzipierung und Durchprüfung als brauchbar erwiesen (haben).«  [6] Gerade die Unbestimmtheit der sich wandelnden Formen des Zigarrenrauches ermöglicht die Projektion von eigenen künstlerischen Vorstellungen, sie ist auslösendes Moment der Imagination. Die extreme Unbestimmtheit einiger Böcklinscher Zeichnungen etwa fordert den konkretisierenden Betrachter ein und sie können als künstlerisches Korrelat des Zigarrenrauches gelten.  [7]

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Nun also ein weiterer Schritt, mit dem ich versuchen will, das bei Böcklin Benannte in einem weiteren theoretischen Kontext zu verorten, der der künstlerischen Leistung des Malers erst ihren Stellenwert vermittelt. Dabei sei hier keine kausale Beziehung zwischen den beiden Bereichen postuliert, geschweige denn, dass eine Kenntnis der Theorie auf Seiten des Malers anzunehmen ist. Vielmehr möchte ich die Parallele als eine wohl kaum zufällige Konstellation begreifen, die Aufschluss gibt über sehr grundsätzliche Funktionsweisen von Kunst am Beginn der Moderne.

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Als Friedrich Theodor Vischer den Maler 1859 in seinem Münchener Atelier besucht, hat dieser gerade den zweiten Pan im Schilf auf der Staffelei. Vischer ist des Lobes voll und sieht in dem Pan »eine natürliche Konkretion der feuchtwarmen, brütenden Luft über dem stillen Teich«. Danach verallgemeinert Vischer diese These insofern, als er in den Böcklinschen Staffagefiguren »nur eine Personifikation von Naturpotenzen, sozusagen nur eine leichte, schwebende Gerinnung der Landschaft selbst zu persönlicher Form« erblickt.  [8] Er ist damit zweifellos der erste, der das Prinzip der anthropomorphisierenden Projektion vor einem Werk Böcklins beschreibt. Interessant ist aber vor allem, dass Vischer hier eigentlich einem Ansatz verpflichtet ist, der ihn als einen der Gründerväter der im späteren 19. Jahrhundert ausgesprochen einflussreichen Einfühlungsästhetik ausweist. Deren zentraler Ansatz muss als Teil einer die Wissenschaftstheorie des neuzeitlichen Konstruktivismus fundamental bestimmenden Projektionslehre verstanden werden.  [9]

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»Und – mehr im Einzelnen – erfüllt uns das gedrückte oder emporgerichtete, das geneigte oder gebrochene Gepräge einer Erscheinung mit einem geistig gedrückten, deprimierten oder stolzgehobenen, mit einem nachgiebig milden oder zerrissenen Stimmungstone. [...] Blitzschnell werden diese Zeichen in ihre menschlich entsprechende Gehaltsbedeutung übersetzt. Die Wand dieses Felsens scheint Fronte zu machen und die Stirn zu bieten; wir erblicken daher einen geistigen Trotz in ihr.«  [10] Robert Vischer, der Sohn Friedrich Theodor Vischers, bezieht sich nicht durch Zufall auf eine visuelle Konfiguration aus der Bergwelt. Denn diese ist in ihren verschiedenen, häufig ausgesprochen dramatischen Formationen ideal geeignet, menschliche Gefühle in sie hineinzuprojizieren. Und die Projektion menschlicher Leiblichkeit in das Beobachtete hinein kann als Grundannahme der Einfühlungsästhetik bezeichnet werden. Ästhetisch befriedigend ist in der Vorstellung ihrer Vertreter, die den Eindruck von Schönheit subjektivieren und ganz in die Einfühlungskraft des Betrachters verlegen, immer nur das, was Anlass gibt, sich selbst im Betrachteten wiederzufinden. Genau das aber passiert ganz ausdrücklich in Böcklins Visionen – bei der Transformierung des Berges in die Panfigur, bei den die Umrisse des Berges aufnehmenden kämpfenden Kentauren und beim Prometheus, auch wenn letzterer eher als Anthropomorphisierung der Wolken gelten muss, die sich über den Bergrücken gelegt haben. Und wenn man die eindrucksvollen Theorien der Einfühlungsästhetiker weiter durchgeht – neben Robert Vischer wären hier vor allem Heinrich Wölfflin mit seiner architekturtheoretischen Dissertation, Johannes Volkelt und Theodor Lipps zu nennen – so stellt man fest, dass sie sich immer wieder auf die Berge bezogen, wenn sie beweisen wollten, dass nur die Projektion von menschlicher Subjektivität als Begründung für ästhetische Befriedigung herhalten könne.  [11]

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Glaubt man seinem Biographen Gustav Floerke, so hat Böcklin in der Welt der Projektion die eigentliche Welt des Menschen gesehen, nicht in der realen: »Da die vorgestellte Welt diejenige ist, in der man lebt, und nicht die wirkliche, so muss man überall Rücksicht nehmen auf unsere Vorstellungen.«  [12] Und die Vorstellungen sind fast weniger von den Beobachtungen als von den Erinnerungen geprägt, die Böcklin vor allem aus seinen extensiven Lektüren der klassischen Dichter bezogen hat. Poetisierung der Natur wird damit zu einem Motto der Böcklinschen Kunst, er hat sie gegen eine Objektivierung der Natur gewendet, wie sie sich im Zuge der modernen Verwissenschaftlichung und Industrialisierung überall durchzusetzen begann. Ja, man kann sagen, dass seine Flucht nach Italien auch eine Flucht in die Sphäre der Vergangenheit und des Mythos gewesen ist, mit der er die Präsenz des prosaischen Fortschritts zu negieren trachtete. Mein Interesse hier ist aber zu belegen, dass Böcklin nicht nur das Äußere des Mythos suchte, sondern dass man seine eigene künstlerische Phantasie als eine im Kern mythische begreifen muss.

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Gegen die rationale Naturbetrachtung der Moderne setzt Böcklin also die Poesie des Traums, die sich bis zur Halluzination steigern kann. Und zwar dann, wenn dieser – in den Worten der zu Böcklins Zeiten ausgesprochen intensiv betriebenen medizinisch-psychologischen Illusionsforschung gesprochen – im Sinneseindruck die Gedächtniselemente gegenüber den Empfindungsbestandteilen dominieren ließ.  [13] Was anderes tat Böcklin, von dem wir wissen, dass ihn die naturalistische Kunst seiner Zeit kalt ließ? Und der von Gabriele d'Annunzio einmal als »ein Mensch aus dem Norden [beschrieben wurde], der nostalgische Halluzinationen von der Welt der Mythen hat.«  [14] Eines Tages soll der Maler von seinem Auftraggeber, dem Grafen Schack, vor dem Bild einer Waldlandschaft überrascht worden sein, und »er fuhr wie aus einem tiefen Traume auf und gestand dem Grafen, dass er seit Tagesanbruch so sitze und in diesem Zauberwald der Armida alle Wunder hineinträume, die Tasso ersonnen hat.«  [15] Otto Lasius berichtet dann im gleichen Zusammenhang »manche behaupten noch heute, er habe ›im Traume gemalt‹, eine Art Hellseherei [...]«.  [16] Die Beobachtung ist signifikant. Um so mehr, als sie sich erneut in die einfühlungsästhetische Theorie einfügt. Denn deren Vertreter behaupteten immer wieder, dass die Einfühlung als eine Macht zu gelten habe, die neben der objektivierenden Rationalität eine Grundpotenz des Menschen sei. Und sie sei in der Frühzeit der phylogenetischen Entwicklung des Menschen genauso dominant gewesen wie gegenwärtig nur noch in der poetischen Wirklichkeit des Traumes – der dann künstlerisch fruchtbar gemacht werde. Wenn man außerdem noch hinzunimmt, dass das halluzinatorische Potential in der psychologischen Wahrnehmungsforschung der Zeit häufig mit extremen klimatischen Bedingungen intensiver Sonnenbestrahlung in Zusammenhang gebracht wird, die dann beispielweise zu Luftspiegelungen führen können, so darf man sich auch wieder an Böcklin erinnert fühlen. 1880 schreibt er in einem Brief: »Ich tue weiter nichts als am Meer und auf Felsen sitzen. [...] ob's die Luft ist, ob die Monotonie des Meeres, ob die Hitze, ich weiß es nicht, aber ich verstehe jetzt sehr gut, wie ein Einsiedler 100 Jahre in der Wüste verbringen kann, ohne die Geduld zu verlieren. Wenn man an nichts denkt, so schläft, glaube ich, das Gehirn.«  [17]

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Das Feld öffnet sich hier immer weiter, und es wäre jetzt eigentlich notwendig, die ausgesprochen interessante Traumforschung des 19. Jahrhunderts zu diskutieren. Diese hat schon vor Sigmund Freud den Traum häufig als eine Leibreaktion des Menschen beschrieben, welche sich in den Schlafphasen gegenüber der Wach-Vernunft wieder in den Vordergrund schiebt. Hier nur noch einmal ein Verweis auf Robert Vischer, der sich wiederum auf eine Studie Karl Scherners über Das Leben des Traumes bezieht: »Besonders die Stelle über die ›symbolischen Grundformationen für die Leibreize‹ schien mir ästhetisch verwertbar. Hier wird nachgewiesen wie der Leib im Traum auf gewisse Reize hin an räumlichen Formen sich selber objektiviert. Es ist also ein unbewusstes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich ›Einfühlung‹ nenne.«  [18] Traum und Kunst geraten hier in eine Parallele, die schon lange vorher vermutet worden war. Bei den Einfühlungsästhetikern geschieht dies gleichsam naturwissenschaftlich gestützt, hergeleitet aus dem menschlichen Nervenleben.

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Aber auch wenn es hier nicht möglich ist, die zeitgenössische Erforschung des Traumes weiter zu verfolgen, deren enge Verzahnung mit der Einfühlungsästhetik immerhin deutlich geworden sein sollte, so bleibt doch noch ein weiterer Schritt zu tun: Denn wie der Traum, so wird auch der Mythos bei den psychologisch orientierten Anthropologen der Zeit gleichzeitig dekonstruiert und rehabilitiert. Ein etwa von Aby Warburg intensiv rezipierter Vertreter dieser Richtung ist der Italiener Tito Vignoli, der 1879 einen dann auch ins Deutsche übersetzten Traktat über Mito e scienza veröffentlichte.  [19]

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»In dem Punkt der Personificirung von Vorstellungen trifft daher die Entstehung des Mythus mit der der Träume zusammen«, heißt es bei Vignoli.  [20] Personificirung ist für ihn – darin steht er den Einfühlungsästhetikern nahe – die zentrale mythenbildende Aktivität des Menschen, die im Laufe seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung von abstrahierender Intellektualität abgelöst werde und in die moderne Wissenschaftlichkeit münde.  [21] Wie das Tier, das allerdings aufgrund seiner mangelhaften cerebralen Ausstattung auf dieser Entwicklungsstufe verharrt, identifiziert der Mensch den Außeneindruck nicht als unbewegte Sache, sondern als eigenaktive Macht, die er sich zu Nutze machen kann oder vor der er sich fürchten muss. Die ›Sachen‹ der Außenwelt werden zu virtuell lebenden und handelnden Gegenständen; Vignoli zählt eine Reihe von anthropomorphisierenden sprachlichen Ausdrucksformen auf, die diese These belegen und die an unseren Bergrücken erinnern. »›Häupter, Rücken, Fuß‹ der Berge, ›Meerbusen, Meeresarm, Landzungen‹, ›Schlund‹ der Höhlen und Vulkane, ›Schoß‹ der Erde, ferner ›Talsohle‹, ›Auge‹ des Himmels.«  [22] Interessant ist dabei vor allem, dass Vignoli diese fundamentalen Projektionsleistungen ebenfalls als Ursprungspunkt der künstlerischen Aktivitäten des Menschen postuliert.  [23] Auch die antiken Götter sind für ihn nichts anderes als der Ausweis einer frühmenschlichen anthropomorphisierenden Mythisierungstendenz, in der »der Mensch in die Typen nicht nur seine Geisteskräfte, sondern in noch höherem Grade sein ganzes körperliches Äußere[s]« hineinprojiziert.  [24] Und das Tier als ein dem Ursprung nie entwachsenes Lebewesen wird wenig später zur Identifikationsfigur für eine avantgardistische Kunstpraxis.

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Böcklins mythische Kunstpraxis, die nicht nur den Mythos zum Thema macht, sondern selber mythisierend agiert, ist wiederum von den Zeitgenossen klar benannt worden. »Er besaß die Fähigkeit, aus seiner genialen und immer zugleich naiven Erfindung die Natur recht eigentlich aus sich selbst heraus neu zu gebären, mit einer Naivität und einer Sicherheit der Intuition, mit einer Gestaltungskraft, die mit der Mythenbildung des griechischen Altertums das meiste gemein hat.«  [25] Mit dem Begriff der Naivität wird hier Böcklin gleichsam als wiedergeborener Frühmensch gekennzeichnet.

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Mit seiner mythisierenden Malerei steht Böcklin am Beginn einer modernen primitivistischen Kunstpraxis, die die poetischen Fähigkeiten des Menschen als ein Potential verteidigt, das in der Modernisierung zurückgedrängt wurde. Dass er dies nicht ungebrochen tut und seine Werke immer wieder mit burlesken und ironischen Elementen versieht, weist ihn dann letztlich aber doch wieder als einen sentimentalischen Naiven aus. Als einen, der die mythische Welt ästhetisch evoziert, ohne sich über ihren grundsätzlichen Vergangenheitscharakter Illusionen zu machen.

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Arnold Böcklin stellt sich in der von mir gewählten Perspektive nicht als Überbleibsel aus einer klassischen Kunst dar, die spätestens mit der Moderne ihre Bedeutung verliert. Vielmehr ist er ein Künstler, der der Moderne ihre entscheidenden Stichworte vermitteln kann, wenn auch in einer Sprache, die dann mit dieser Moderne obsolet wird. Wenn ein Franz Marc in der Zeit der Avantgarde den Blickwinkel des Tieres einzunehmen versucht, um damit die im Zuge der technischen Modernisierung immer stärker empfundene Subjekt-Objekt-Trennung aufzuheben, weil er im Tier eine ursprüngliche Einheit von Ich und Welt vermutet, so kann er – auch wenn es paradox klingen mag – auf Vorgaben Böcklins sowie der Einfühlungsästhetik und der Mythentheorie des späteren 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Böcklins erstaunliches Revival im Surrealismus des 20. Jahrhunderts darf hierfür wenn nicht als Beleg, so doch als Symptom herhalten.

Bildnachweis

Abb. 1-8: Archiv des Autors



[1] Vgl. Rolf Andree: Arnold Böcklin: die Gemälde, Basel 1977, S. 396.

[2] Vgl. etwa Günther Kleineberg: Die Entwicklung der Naturpersonifizierung im Werk Arnold Böcklins (1827-1901). Studien zur Ikonographie und Motivik in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971. Der Autor wendet sich eigentümlicherweise mehrfach gegen den Begriff der Anthropomorphisierung.

[3] Arnold Böcklin: Memoiren. Tagebuchblätter von Böcklins Gattin Angela, Berlin 1910, S. 228.

[4] Albert Fleiner: Mit Arnold Böcklin, Frauenfeld 1915, S. 126.

[5] Fleiner 1915 (wie Anm. 4), S. 136.

[6] Fleiner 1915 (wie Anm. 4), S. 147.

[7] Vgl. Peter Märker: »Nachahmung« und »Vorstellung« der Wirklichkeit. Zu Feuerbachs und Böcklins zeichnerischem Verhalten, in: Die Kunst der Deutschrömer: »In uns selbst liegt Italien«, hg. v. Christoph Heilmann, München 1987, S. 111-119, hier S. 117.

[8] Vgl. Winfried Ranke: Muß ein »Deutsch-Römer« Idealist sein? Vorläufige Gedanken über einige späte Bilder Arnold Böcklins, in: Die Kunst der Deutschrömer: »In uns selbst liegt Italien«, hg. v. Christoph Heilmann, München 1987, S. 70-79, hier S. 77.

[9] Vgl. Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg 2005, v.a. S. 214 ff.

[10] Robert Vischer: Über das optische Formgefühl, Leipzig 1873, S. 21.

[11] Der exorbitante Einfluss der Einfühlungspsychologen auf den (Münchener) Jugendstil wird thematisiert in Erich Franz (Hg.): Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner, Ausst.kat. Westfälisches Landesmuseum, Münster, Bönen 2007.

[12] Gustav Floerke: Zehn Jahre mit Böcklin: Aufzeichnungen und Entwürfe, hg. v. Hanns Floerke, München 1901, S. 252. Vgl. Märker 1987 (wie Anm. 7), S. 115.

[13] Vgl. etwa Wilhelm Specht: Wahrnehmung und Halluzination, Berlin/Leipzig 1914, S. 86.

[14] Vgl. Gianna Piantoni: Böcklin und die römische Kultur Ende des 19. Jahrhunderts, in: Die Kunst der Deutschrömer: »In uns selbst liegt Italien«, hg. v. Christoph Heilmann, München 1987, S. 133-145, hier S. 141.

[15] Vgl. Franz F. Leitschuh: Das Wesen der modernen Landschaftsmalerei, Straßburg 1898, S. 165. Vgl. auch Jochen Poetter: Studien zum Mythos im Werke Arnold Böcklins, München 1978, S. 4 und passim. Außerdem Floerke 1901 (wie Anm. 12), S. 98: »Bei all dieser Wirklichkeitsnähe sollte man sich auch an die ungeheure (allerdings unbewußte und ganz unkontrollierte) Realität des Traumes erinnern«.

[16] Otto Lasius: Arnold Böcklin. Aus den Tagebüchern, Berlin 1903, S. 38.

[17] Arnold Böcklin an seine Frau Angela, Ischia, 16 août 1880, in: Arnold Böcklin: Neben meiner Kunst. Flugstudien, Briefe, Persönliches, hg. v. Ferdinand Runkel/Carlo Böcklin, Berlin 1909, S. 227 ff. Vgl. auch Konrad Wernicke: Pan, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, hg. v. W. H. Roscher, Leipzig 1887 ff. (Nachdruck Hildesheim 1965), Bd. III.1, Sp. 1397: »Es kommt noch hinzu der eigentümliche Glaube, daß, wie die anderen Götter und Dämonen, so auch der Hirtengott Pan gerade in der Mittagszeit umgehe und sich den Sterblichen bald zu ihrem Heil, bald zu ihrem Unheil offenbare. Diese merkwürdige Vorstellung ist ganz natürlich aus den sozusagen unheimlichen oder dämonischen Eindrücken erwachsen, welche die heißen, von glutvollen Sonnenstrahlen durchleuchteten Landschaften des Südens zur Mittagszeit auf jeden phantasievollen Bewohner ausüben.« Vgl. auch Böcklins Frau (Runkel/Böcklin 1909, wie oben), S. 39: »Die Umgebung von Palestrina ist ja außerordentlich reich, gerade ein Punkt, Le Querci genannt, zog ihn besonders an. Es waren dort trockene Felsen, die gewaltig aufstrebten und heiß in der Sonne glühten.«

[18] Vischer 1873 (wie Anm. 10), S. VII.

[19] Tito Vignoli: Mito e scienza, Mailand 1879, dt. Mythos und Wissenschaft. Eine Studie, Leipzig 1889.

[20] Vignoli 1889 (wie Anm. 19), S. 247.

[21] Vignoli 1889 (wie Anm. 19), S. 142.

[22] Vignoli 1889 (wie Anm. 19), S. 114.

[23] Vignoli 1889 (wie Anm. 19), S. 271.

[24] Vignoli 1889 (wie Anm. 19), S. 86.

[25] Vgl. Fleiner 1915 (wie Anm. 4), S. 38 f.

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Empfohlene Zitierweise

Kohle H.: Arnold Böcklins Halluzinationen. Malerei im Zeitalter der Psychologie. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2009-8 (urn:nbn:de:0009-23-24595).  

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