Einführung: EGO | Europäische Geschichte Online – Anspruch und Umsetzung. Eine Zwischenbilanz

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Dr. Joachim Berger, Forschungskoordinator, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz. Idee & Grundkonzept sowie Koordination der Umsetzung von "EGO | Europäische Geschichte Online".

In den knapp drei Jahren seit der Freischaltung von "EGO | Europäische Geschichte Online" (3.12.2010) bis zum Symposium (4.11.2013) verzeichnete die Website http://www.ieg-ego.eu über eine halbe Million Besuche mit 1,4 Millionen einzelnen Seitenaufrufen. Für ein hochspezialisiertes fachwissenschaftliches Sammelwerk ist dieser Zuspruch mehr als zufriedenstellend. Doch wie sieht die inhaltliche Bilanz aus – lassen sich die Nutzerzahlen zu einem wissenschaftlichen "Gewinn" des Unternehmens in Beziehung setzen? Seit der Freischaltung haben Herausgeber und Redaktion auf verschiedenen Wegen Rückmeldungen zu Europäische Geschichte Online erhalten: von Fachherausgebern und Autoren, von den internationalen Stipendiaten und Gastwissenschaftlern des IEG, von externen Nutzern via E-Mail, Kommentare und Blogeinträge, und über konventionelle fachwissenschaftliche Foren in Form von Rezensionen.1 Wie bei einem Werk mit über 200 thematisch, räumlich und zeitlich weitgespannten Beiträgen nicht anders zu erwarten, sind diese Rückmeldungen von unterschiedlichen fachlichen, nationalen und persönlichen Blickwinkeln geprägt. Es war uns daher ein Anliegen, die verstreuten Einschätzungen zu bündeln und einen Meinungsaustausch über Europäische Geschichte Online zu organisieren. Die Zeit dazu schien auch deshalb gekommen, da Idee und Grundkonzept von EGO schon vor einigen Jahren (zwischen 2004 und 2007) entwickelt worden waren, und seitdem einige "turns" über die Geisteswissenschaften hinweggezogen sind. In dem hier dokumentierten Symposium sollten daher die Umsetzung – und damit auch die Prämissen und das Konzept – von Europäische Geschichte Online überprüft werden.

"EGO | Europäische Geschichte Online" ist eine auf Kommunikation und Transfer fokussierte Geschichte Europas in zentralen menschlichen Lebensbereichen und Handlungsfeldern.2 Zugrunde liegt eine Vorstellung von "Europa" als Kommunikationsraum, dessen Grenzen, Zentren und Peripherien an die jeweiligen zeitlich-thematischen Zusammenhänge gebunden sind. Dieses "Europa der fließenden Grenzen" soll statischen Europabildern entgegenwirken, welche den Anspruch erheben, die "Essenz" oder eine zwangsläufige bzw. notwendige Entwicklung Europas zu repräsentieren. Die Geschichte Europas, so der Anspruch von EGO, soll nicht aus der Perspektive eines Faches und nicht aus einem bestimmten nationalen Blickwinkel erzählt werden. Querverbindungen zwischen Orten, Akteuren und den sie beschäftigenden Themen sollen durch Verlinkungen und Mehrfachzuordnungen der Beiträge erschlossen werden.

EGO erhebt die Multiperspektivität zum Programm: Ein Gemeinschaftswerk, an dem über 200 Autoren über Länder- und Fächergrenzen hinweg mitwirken, kann keine geradlinige, thesenhafte Gesamtdeutung der europäischen Geschichte bieten. Und anders als ein gedrucktes Buch hat Europäische Geschichte Online keinen Anfang und kein Ende. EGO ist jedoch auch kein Handbuch und keine Enzyklopädie, die "kanonisiertes" Wissen über die Geschichte Europas unter weitgehendem Verzicht auf neue Thesenbildung aufbereitet. Vielmehr fließen neue Forschungserträge in die EGO-Beiträge ein, denen die spezifische Forschungsperspektive von Kommunikation und Transfer zugrunde liegt. Diese soll die Beiträge fokussieren und aufeinander beziehen. Eine Fokussierung fordert auch die Gliederung in zehn Themenstränge, die Grundlagen von Kommunikation und Transfer, Mittler und Agenten sowie Medien des Transfers und schließlich komplexere Transfersysteme behandeln. Der Zuschnitt der Themenstränge ist transdisziplinär und multithematisch. Sie sind zudem diachron angelegt, das heißt, sie behandeln Phänomene, welche – mit bestimmten Entwicklungsschüben und Verdichtungen – prinzipiell in der gesamten europäischen Neuzeit zu beobachten sind.

In dieser Multiperspektivität sind gleichwohl bestimmte Perspektivierungen privilegiert. Das hier dokumentierte Symposium wurde von der Frage geleitet, wie die Multiperspektivität von Europäische Geschichte Online praktisch umgesetzt wird. Drei Dimensionen von Perspektivität rücken ins Zentrum: (1.) Die disziplinäre Verortung von Fachherausgebern und Autoren, (2.) ihre Verankerung in nationalen und nationalsprachlich bestimmten Forschungstraditionen sowie (3.) die Chancen und Herausforderungen des Mediums Internet für eine "vernetzte", multimediale Geschichte Europas.

Die drei thematischen Sektionen werden jeweils durch einen Impuls einer der EGO-Fachherausgeber eingeleitet. Diese verantworten als Mitglieder des Editorial Boards jeweils ein bestimmtes Themenfeld, stehen also einerseits auf Seiten der "Macher" von Europäische Geschichte Online. Andererseits zeichnen sie nur für einen fachlich-disziplinär, zeitlich und geographisch umgrenzten Bereich verantwortlich und sind daher in der Lage, von der Innen- in die Außensicht zu wechseln und kritische Fragen zu stellen. Dies gilt umso mehr für die externen Kommentatoren, die bewusst in keiner institutionellen Verbindung zum "Leibniz-Institut für Europäische Geschichte" stehen. Anschließend diskutieren die Referenten mit weiteren Fachherausgebern sowie mit Autoren und Nutzern von Europäische Geschichte Online.

Sektion 1: (Multi-/Inter-/Trans-) Disziplinarität

Wer hinter dem knappen Titel Europäische Geschichte Online einen Hoheitsanspruch der Geschichtswissenschaft(en) vermutet, der irrt. "Geschichte" im Sinne von EGO ist die Summe ihrer Teilbereiche – sowohl in den historischen Gegenständen als auch bezüglich der sie erforschenden Disziplinen. EGO will signifikante "transkulturelle" Ausschnitte der europäischen Religions-, Politik-, Sozial-, Wissenschafts-, Rechts, Kunst-, Musik-, Literatur-, Wirtschafts-, Technik- und Militärgeschichte bieten. Die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven sollen dabei in ihrem Eigenrecht belassen, jedoch unter dem übergreifenden Blickwinkel von Kommunikation und Transfer zusammengeführt werden. Alle EGO-Autoren sind daher gehalten, in ihren Beiträgen

a) die Perspektive der Akteure zu berücksichtigen, das heißt solche Mittler oder Agenten in Transferprozessen zu behandeln, die Transferinhalte transportieren und verändern,         
b) die Medialität von Transferprozessen zu reflektieren und     
c) Akteure sowie Ausgangs- und Zielsysteme räumlich zu verorten.

Methodisch leitend ist das in der vergleichenden Literaturwissenschaft (Komparatistik) entwickelte Konzept der transferts culturels. Dieses ist in den verschiedenen Fächern "in der Sache" eingeführt: Nach Austausch und Abgrenzung, Aneignung und Abwehr über sprachliche, politische, wirtschaftliche oder religiöse Grenzen hinweg zu fragen, ist beispielsweise für die Technik- oder die Kunstgeschichte seit Jahrzehnten Standard. Je nach disziplinärer Verankerung liegt der Schwerpunkt eher bei den Transferinhalten (z.B. in der Religions- oder der Rechtsgeschichte), bei den Akteuren (wie in der Migrationsgeschichte) oder bei den strukturellen Gegebenheiten (wie in der Wirtschaftsgeschichte). Die erste Sektion geht daher von der Frage aus, wie die Autoren mit diesem übergreifenden Anspruch umgegangen sind, und welche spezifischen Perspektiven ihrer Fächer sie in EGO eingebracht haben.

In seinem Impulsreferat begreift Helmuth Trischler EGO eher als multi- denn als interdisziplinäres Projekt, das die spezifischen Perspektiven der Disziplinen mobilisiere, die für die historische Europaforschung relevant seien. Als (ein) Indikator dient ihm die disziplinäre Herkunft der Fachherausgeber, die das weite Spektrum der historisch arbeitenden Disziplinen gut abdeckten, wobei die in verschiedene Teildisziplinen ausdifferenzierten Geschichtswissenschaften naturgemäß stark vertreten seien. Dass die Perspektiven und Ergebnisse der beteiligten Disziplinen in EGO weniger integriert als aggregiert werden, sei angesichts der Dimension des Unternehmens verständlich. Dessen Grenzen erwiesen sich insbesondere dann, wenn man an EGO die Kriterien eines erweiterten Verständnisses von Transdisziplinarität anlege – Transdisziplinarität als Prinzip integrativer Forschung, die Wissenschaft mit Gesellschaft und wissenschaftliches Wissen mit praktisch-lebensweltlichem Wissen verknüpft. Hierbei konzediert Trischler, dass es wohl eines (unverhältnismäßig, Anm. d. Verf.) großen Aufwands bedürfe, um die interaktiv-dialogischen Räume zu schaffen, die eine solche wechselseitige Osmose ermöglichten. Dieser Skepsis schließen sich mehrere Diskussionsteilnehmer an, zumal EGO, so Andreas Gestrich (London), eben nicht als public history, sondern für den akademischen Raum konzipiert sei; in diesem begrenzten und spezialisierten Adressatenkreis sei das Interesse an interaktiv-partizipatorischen Debatten eher gering.

Für Immacolata Amodeo (Loveno di Menaggio) steht Europäische Geschichte Online für eine Konjunktur komparatistischer und transfergeschichtlicher Zugänge, die in EGO anstelle nationalgeschichtlicher Perspektiven treten. Anders als Trischler sieht sie durchaus eine disziplinäre Öffnung des geisteswissenschaftlich dominierten Unternehmens EGO in Richtung ökonomischer oder politikwissenschaftlicher Ansätze. Insgesamt gingen die verschiedenen historisch arbeitenden Disziplinen, die in EGO zusammenwirken, eher in einer allgemeinen Kulturgeschichte auf. Als "Transdisziplinarität" könne man einen "jenseits der Disziplinen" stehenden Ansatz auffassen, den die Beschäftigung mit Europa als einer wissenschaftlichen Querschnittsaufgabe erfordere. Auch bestimmte Themenkomplexe in EGO, wie etwa die europäischen Migrationen, erforderten disziplinenüberschreitende Forschungen. Bei aller Würdigung der disziplin- und grenzüberschreitenden Umsetzung von EGO sieht Amodeo, aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Forschungsschwerpunkte, einige inhaltliche Desiderate bei transfergeschichtlich bedeutsamen Gegenständen aus dem Bereich der Musik, des (Musik-)Theaters und der Literatur. Diese Lücken seien, so EGO-Fachherausgeberin Fridrun Rinner (Aix-en-Provence) in der Diskussion, nicht konzeptionell bedingt, sondern erklärten sich aus Rückständen in der Gewinnung von Autoren für diese Themengebiete. Auf die Frage der EGO-Hauptherausgeberin Irene Dingel (IEG Mainz), ob man einem großen Spektrum unterschiedlicher Disziplinen überhaupt ein bestimmtes Frageraster (nach Akteuren, Medien und räumlichen Verortungen) vorgeben könne, plädiert Trischler, die Spannung zwischen Multiperspektivität und Kohärenz im Zweifelsfall zugunsten der Kohärenz aufzulösen. Um das gesamte Spektrum von Themen und Disziplinen abzudecken, seien enzyklopädische Vorhaben geeigneter, so Amodeo.

Sektion 2: (Multi-/Inter-/Trans-) Nationalität

Europäische Geschichte Online erhebt den Anspruch, in einer länderübergreifenden Zusammenarbeit von Autoren und Fachherausgebern mit ihren unterschiedlichen akademischen und nationalen Prägungen den Blick auf die europäische Geschichte zu dezentrieren. Zugleich hatte das "Leibniz-Institut für Europäische Geschichte" als herausgebende Einrichtung früh die (wissenschaftspolitische) Entscheidung getroffen, in EGO das Deutsche gleichberechtigt neben die global etablierte Wissenschaftssprache Englisch zu setzen. Dies hatte zur Folge, dass die Fachherausgeber, wenn sie nicht ausschließlich auf Englisch schreibende Autoren gewinnen wollen, auch auf Deutsch eingereichte Beiträge zu begutachten haben. Dementsprechend setzt sich das Herausgebergremium mehrheitlich aus deutschsprachigen Fachleuten zusammen, die an der Auswahl der Themen mitwirkten. Und natürlich spielt es eine Rolle, dass EGO in einem deutschen, wenn auch europäisch ausgerichteten Forschungsinstitut konzipiert wurde. Welche Geschichte Europas ist nun dabei entstanden? Welche anderen Gewichtungen hätten ein skandinavisches, ein hispanoamerikanisches oder ein ostasiatisches Herausgeberteam vorgenommen? Wie "funktionieren" die englischen Übersetzungen deutscher dialektischer Wissenschaftsprosa bei englischen Muttersprachlern oder Wissenschaftlern anderer Herkunft, die Englisch als Lingua franca nutzen? Hätte die erwünschte Dezentrierung auch durch ein Konzept erreicht werden können, das zu einem bestimmten Thema mehrere Beiträge von Autoren aus unterschiedlichen nationalsprachlichen Hintergründen nebeneinander gesetzt hätte? Diese Fragen bilden den Problemhorizont der zweiten Sektion.

Als Einstieg liefert László Kontler (Budapest) einen statistischen Überblick über die nationale und regionale Zusammensetzung des Editorial Board und über die geographische Verteilung der Autoren (nach ihrer institutionellen Anbindung). Letztere sind aus 16 Ländern (auf drei Kontinenten) von den EGO-Fachherausgebern rekrutiert worden, die ihrerseits in acht verschiedenen europäischen Ländern arbeiten. Insgesamt konstatiert Kontler ein Übergewicht der deutschsprachigen Forschung, aus der drei Viertel der bisher publizierten Beiträge stammen. Die Fachherausgeber rekrutierten zudem gut 60 Prozent der Autoren aus ihrem (Sitz-)Land, also in der Regel aus ihrer eigenen nationalen akademischen Kultur. Diesen quantitativen Befund einer begrenzten Internationalität relativiert Kontler sogleich: Es spreche prinzipiell nichts dagegen, Kollegen aus dem eigenen Land oder auch der eigenen Universität anzusprechen, wenn sie als Experten für die betreffenden Themen ausgewiesen seien. Entscheidend seien letztlich die Substanz der Beiträge und ihre inhaltliche Vernetzung. Für eine künftige Generationen von Studierenden, die über ihre eigenen national(sprachlich)en Grenzen hinausdenken möchten, seien gerade die grundlegenden EGO-Beiträge zu Theorien und Methoden einer transkulturellen Geschichte Europas wertvoll – unabhängig vom Grad der formal-institutionellen Inter- bzw. Transnationalität bei ihrer Entstehung. Im Übrigen müsse man die akademische Ausbildung und Erfahrung der Autoren mit Blick auf ihre internationale Prägung untersuchen. In der Diskussion unterstreicht Wolfgang Schmale (Wien) dieses Argument: Die meisten EGO-Autoren hätten in mehreren Ländern gearbeitet, sprächen mehrere Sprachen und nähmen daher nicht von vornherein eine bestimmte, national geprägte Perspektive ein. Diese Internationalität erweise sich, so Claudine Moulin (Trier), auch über die – in der Regel vielsprachigen – Literaturverzeichnisse der Beiträge. Die Annahme, nichtdeutsch(sprachig)e Autoren nähmen per se eine inter- oder transnationalere Perspektive ein, sei daher zu hinterfragen, so Jürgen Wilke (Mainz) und Immacolata Amodeo. Aufschlußreich seien dafür z.B. die in den Beiträgen behandelten geographischen Orte.3

Auch Marco Jorio (Bern) sieht in seinem Kommentar in der Nationalität und der Herkunftssprache der Autoren prinzipiell kein Hindernis für eine gesamteuropäische Betrachtung der jeweiligen Gegenstände. In der Praxis wirke freilich die "nationale Optik" häufig auf die Darstellung ein. Im Zentrum seines Referats steht die mit einer mehrsprachigen Wissenschaftspublikation verbundene Herausforderung der "Interkulturalität". Jorio knüpft hier an Kontler an, der die "programmatische Zweisprachigkeit" der EGO-Beiträge in erster Linie pragmatisch sieht – Forschung, die global wahrgenommen werden wolle, müsse global zugänglich sein, und dies sei nur auf Englisch möglich. Eine programmatische Signalwirkung hat für Kontler hingegen die Entscheidung, die meisten EGO-Beiträge auch auf Deutsch zu publizieren, denn die Pflege nichtenglischer akademischer Diskurse und Kulturen sei für die Aufrechterhaltung einer globalen Kommunikation unabdingbar. Jorio vertieft die Frage der Interkulturalität mit Beispielen aus seiner langjährigen Erfahrung als Chefredakteur des drei- bzw. viersprachigen Historischen Lexikons des Schweiz.4 Die unterschiedlichen kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Strukturen der Schweizer Sprachregionen böten zum Teil unüberwindliche Hürden, einen bestimmten Sachverhalt adäquat in drei oder vier Sprachen zu beschreiben. Jorio beschreibt mehrere Lösungswege: Man könne solche "sprachrevelanten" Differenzen (1.) in einem Artikel offen thematisieren, sie (2.) in mehreren Artikel vergleichend gegenüberstellen oder (3.) die verschiedenen Perspektiven in einem Artikel (durch Co-Autorschaft) integrieren. Als Autoren seien bevorzugt solche zu wählen, die "sprachübergreifend" forschen könnten; die Beiträge sollten von Experten für unterschiedliche Sprachregionen begutachtet werden. Schließlich wirkten auch die Übersetzungen häufig korrigierend auf die Originalartikel zurück – die Einträge des HLS werden in neun Richtungen übersetzt. Einen ähnlich umfassenden Anspruch an Europäische Geschichte Online mit seiner gesamteuropäischen Dimension anzulegen, sei, so Jorio, illusorisch. Allerdings könnten EGO-Beiträge für spätere Neuauflagen von Spezialisten aus bestimmten Sprachregionen gegengelesen und durch ihre Kommentare ergänzt werden. In der Diskussion werden diese Anregungen in verschiedene Richtungen erweitert (etwa mit den Vorschlägen, ausgewählte Beiträge auf Französische anzubieten oder verschiedene didaktische Ebenen des Nutzerbezugs einzuziehen).

Sektion 3: (Multi-/Inter-/Trans-) Medialität

Die Konzeption von Europäische Geschichte Online ist an Hypertextualität und Multimedialität, die das Internet bzw. World Wide Web bieten, gebunden. Im Format eines Online-Publikationssystems lassen sich Komplexität und Dynamik der europäischen Kommunikationsbeziehungen und Transferprozesse angemessen repräsentieren – so die Prämisse. Es stellt sich die Frage, ob die inhaltlichen Fokussierungen in den Themensträngen und die Verlinkungen zwischen den Beiträgen diese Dynamik tatsächlich abbilden. Die Konzeption von EGO war von der Hoffnung geleitet, dass externe Forscher bzw. die Nutzer gerade über die Verknüpfungen verschiedener Elemente und Themen solche "Knotenpunkte" der Geschichte Europas erkennen können, die bisher nicht als solche erkannt worden sind. Blickt man auf die Umsetzung, stellt sich die Frage, ob die – redaktionell gesetzten – Verlinkungen tatsächlich bisher unterbelichtete "Knoten" der europäischen Geschichte sichtbar machen, oder ob sie nur einmal mehr zeigen, dass eben vieles mit vielem zusammenhängt. Zu bedenken ist ferner, dass die EGO-internen Vernetzungen von den Präferenzen, dem Vorwissen und den pragmatischen Eselsbrücken der zweiköpfigen Redaktion abhängig sind. Offen ist zudem die Frage, ob sich aus den Personennormdaten und Geonormdaten, mit denen alle EGO-Beiträge systematisch ausgezeichnet werden, personelle und geographische Cluster und Netzwerke konstruieren lassen, die bestehende Geschichtsbilder korrigieren – oder ob sie vorrangig die mental maps der EGO-Autoren abbilden.

Schließlich hat EGO den Anspruch erhoben, das multimediale Potential des Internets "auszuschöpfen", indem Textbeiträge mit Abbildungen, Quellentexten, Statistiken, Karten sowie Ton- und Filmdokumenten vernetzt werden. Doch wie wirken die wissenschaftlichen Texte mit den visuellen und auditiven Elementen tatsächlich zusammen? Wo erweisen sich die multimedialen Elemente als eher illustrativ, wo führen sie auch argumentativ weiter? Schreiben die Autoren bereits mit Blick auf die Möglichkeiten von Hypertextualität und Multimedialität? Entstehen in EGO andere Texte als in gedruckten Überblicksdarstellungen, oder ist wissenschaftliche Erkenntnis, allen hypertextuellen Ansprüchen zum Trotz, nur in Form linearer Texte zu vermitteln? In diesem Problemzusammenhang stehen die Referate und Diskussionen der dritten Sektion des Symposiums.

Jürgen Wilke (Mainz) unterscheidet in seinem Impuls zunächst zwischen zwei Dimensionen von Medialität in Europäische Geschichte Online – einer inhaltlichen, die Medien als Faktoren historischer Prozesse begreift, und einer instrumentellen, die sich auf die multimedialen Möglichkeiten des Internet bezieht, mit denen diese historischen Prozesse erschlossen werden sollen. Ferner differenziert Wilke zwischen einem engen und einem weiten Medienbegriff; letzterem folgten die meisten Beiträge in Europäische Geschichte Online. "Medialität", also die Frage, über welche Kanäle bestimmte Inhalte (Ideen, Techniken, Praktiken) transferiert und dadurch verändert wurden, sei für die verschiedenen EGO-Beiträge unterschiedlich relevant. Daher sei auch ihr Medienbezug teils intensiv, teils peripher. EGO-Beiträge seien im Kern diskursive wissenschaftliche Abhandlungen in einem inhaltlich vorstrukturierten Textformat. Die multimedialen Elemente ergänzten die Texte, ohne sie zu dominieren. Auch diese Zusätze seien unterschiedlich zahlreich und vielfältig. In der Regel "traditionellen" historischen Quellen entnommen, erfüllen sie – nach Wilkes nicht statistisch erhärtetem Eindruck – vorwiegend eine illustrative Funktion. Es gebe jedoch auch Beiträge, in denen die multimedialen Elemente den Gedankengang aufnähmen und weiterführten. Die Visualisierungsstrategien seien wesentlich von der fachlichen Herkunft der Autoren abhängig. Eine offene Frage sei, wie sie die Wahrnehmung der Beiträge beeinflussen.

Alexander Badenoch (Paris/Utrecht) führt Wilkes Beobachtungen zur Multimedialität weiter. Die Kerneinheit von EGO entstamme der print culture: der akademische Aufsatz mit einer linearen, textbasierten Argumentation, mit Zitaten und Anmerkungen sowie einem externen Begutachtungsprozess. Eine Website wie EGO könne gerade durch ihre Herkunft aus der print culture die unüberschaubare Fülle digital aufbereiteter und verfügbarer wisssenschaftlicher Ressourcen in einem Interpretationsrahmen zum Sprechen bringen, wenn sie Sinnzusammenhänge (re-)konstruiere und neu herstelle. Der multimedialen Umsetzung in EGO nähert sich Badenoch mit einer Typologie der Funktionen digitaler historischer Objekte, die als Artefakte gesellschaftlicher Prozesse und Beziehungen, als Repräsentationen, als Gegenstände historischer Sammlungen und vor allem als Quellen in historischen Narrativen erscheinen können. Letztere Funktion könnten sie dann nicht einnehmen, wenn sie vorwiegend illustrativ "außerhalb des Texts" eingesetzt seien. Badenoch regt für die Zukunft an, die Beziehungen zwischen Text, Bild und Bildunterschrift zu stärken, die Objekte deutlicher als Repräsentationen mit unterschiedlichen Rezeptionsstrategien einzuführen, ihre Entstehungs- und Sammlungskontexte stärker zu berücksichtigen und die multimedialen Elemente untereinander zu vernetzen. Dazu könnten die Autoren noch stärker in den Prozess der Auswahl multimedialer Inhalte eingebunden werden – idealerweise in einem kollaborativen Prozess zwischen Autoren verschiedener Disziplinen und, nach der Erstpublikation, im Dialog mit den Nutzern.

In der Diskussion bemerkt Jürgen Wilke, das Publizieren im Internet übe generell einen "Bildzwang" aus, hingegen bezögen wohl die wenigsten Autoren schon beim Schreiben die (audio-)visuellen Logiken ein. Irene Dingel bestätigt, dass multimediale Elemente häufig durch die (zweiköpfige) Redaktion im IEG hinzugefügt werden. Allerdings könne diese in die Thematik von 200 höchst unterschiedlichen Beiträgen nicht gleichermaßen intensiv eindringen; allein die jeweiligen Autoren könnten eine argumentative Wechselwirkung zum Text herstellen. Dass sich die Redaktion häufig für Kupferstiche oder andere gemeinfreie zeitgenössische Reproduktionen entscheide, erklärt Joachim Berger mit den häufig kostspieligen und zeitlich begrenzten Lizenzen von Museen und Bildagenturen für Gemälde. Der Charakter dieser Objekte als Reproduktionen von Reproduktionen begünstige ihren illustrativen Einsatz. Marco Jorio vermutet bei den in EGO stark vertretenen Autoren aus der Geschichtswissenschaft eine gewisse "ikonographische Verspätung" gegenüber bildaffinen Disziplinen wie der Kunstgeschichte oder der Archäologie, was Wolfgang Schmale angesichts längst geführter Diskussionen um die historischen Kulturwissenschaften als "Bildwissenschaften" verwundert. Aus Autoren- und Nutzerperspektive berichten der Historiker Thomas Weller (IEG Mainz) und die Theologin Britta Müller-Schauenburg (Frankfurt/Main), dass sich ihre Recherche nach Bildern, die Einbindung von Personennormdaten und weiteren externen Links sehr wohl erkenntnisfördernd auf den Forschungs- und Schreibprozess ausgewirkt habe. Für die Nutzer sei es, betont Weller ebenso wie Dingel, durchaus bereichernd und abwechslungsreich, Bilder, sofern nicht inflationär eingesetzt, zur Illustration des Gelesenen ansehen zu können. Wolfgang Schmale sieht in einem assoziativen, interpretativ nicht zu stark gelenkten Umgang mit Bildern sogar dezidiert eine Chance des Online-Publikationsmodus.

Fazit

Aus Sicht der Veranstalter haben die Referate und Diskussionen des Symposiums eine Reihe wertvoller Anregungen erbracht, die, über die drittmittelgeförderte Projektphase hinaus, für den weiteren Beitrieb von Europäische Geschichte Online relevant sind. Sicherlich sind einigen Wünschen durch den finanziellen Rahmen des Dauerbetriebs, in dem Pflege und Aktualisierung des bisher Erreichten vorrangig sind, Grenzen gesetzt. Und manche Idee, die andere konzeptionelle Voraussetzungen erfordert, muss weiteren Projekten vorbehalten bleiben. Zudem war allen Beteiligten von vornherein klar, dass dieser Meinungsaustauch, der Natur des Unternehmens entsprechend, nur eine Momentaufnahme sein kann. Doch da EGO als living document konzipiert ist, das Veränderungen nicht nur zulässt, sondern auch fordert, sind wir zuversichtlich, sukzessive weitere Anregungen aufnehmen und so weit als möglich umsetzen zu können.

Joachim Berger, Mainz5

Anhang

  1. ^ Vgl. z.B. Choice 48/12 (2011), 2286f.; Church History 81 (2012), 977–979.
  2. ^ Zur Konzeption vgl. Berger, Joachim / Willenberg, Jennifer / Landes, Lisa: EGO | Europäische Geschichte Online: Eine transkulturelle Geschichte Europas im Internet, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: https://www.ieg-ego.eu/introduction-2010-de URN: urn:nbn:de:0159-20101025223.
  3. ^ Diese geographischen Schwerpunkte sind pro EGO-Beitrag über ein Ortsregister samt Karte auf einen Blick erkennbar.
  4. ^ http://www.hls-dhs-dss.ch.
  5. ^ Dr. Joachim Berger, Forschungskoordinator, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz, Deutschland (berger@ieg-mainz.de). Idee & Grundkonzept sowie Koordination der Umsetzung von "EGO | Europäische Geschichte Online".

Redaktion: Claudia Falk

Zitierempfehlung

Berger, Joachim: Einführung: EGO | Europäische Geschichte Online – Anspruch und Umsetzung. Eine Zwischenbilanz, in: Ders. (Hg.), EGO | Europäische Geschichte Online – Bilanz und Perspektiven, Mainz 2013-12-15. URL: https://www.ieg-ego.eu/bergerj-2013-de URN: urn:nbn:de:0159-2014021715 [JJJJ-MM-T].

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