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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Die Versorgungssituation als komplexes adaptives System am Beispiel der Palliativversorgung

Meeting Abstract

  • Farina Hodiamont - Klinikum der Universität München, München, Germany
  • Eva Schildmann - Klinikum der Universität München, München, Germany
  • Claudia Bausewein - Klinikum der Universität München, München, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV193

doi: 10.3205/17dkvf153, urn:nbn:de:0183-17dkvf1536

Published: September 26, 2017

© 2017 Hodiamont et al.
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Text

Hintergrund: Die palliative Versorgungssituation ist eine komplexe Problemstellung. Als solche weist sie wechselseitige, nicht-lineare Beziehungen auf, ist nicht statisch und geht daher mit Ambiguität und Unsicherheit einher. Beim Umgang mit komplexen Problemstellungen ist eine situationsgerechte Problemlösungsmethodik entscheidend. Der Systemgedanke bietet einen Rahmen, in dem Problemstellung und Lösung verortet werden können. Ein umfassender theoretischer Ansatz ist die Theorie komplexer adaptiver Systeme (KAS). Ein KAS besteht aus selbstständig handelnden Agenten, deren Verhalten nicht immer vorhersehbar ist und deren Handlungen in Beziehung stehen. Die Handlung eines Agenten kann somit das Verhalten anderer Agenten und des gesamten Systems verändern. Ein KAS ist offen und damit immer im Kontext seiner Umwelt zu sehen. Es ist Teil eines übergeordneten Systems, in dem es mit anderen Systemen in Beziehung steht. Das KAS ist nach außen nicht geschlossen und empfänglich für Impulse aus der Systemumwelt, auf die es reagiert und sich anpasst. Ein KAS besteht selbst aus Subsystemen, die wiederum in Interaktion stehen.

Fragestellung: Anhand welcher Merkmale lässt sich die Komplexität einer palliativen Versorgungssituation beschreiben und wie lässt sie sich als komplexe Problemstellung in einem KAS verorten?

Methode: Qualitative Interviewstudie mit semistrukturierten Experteninterviews. Der Einschluss erfolgte über Expertise in/mit der Leistungserbringung/-bereitstellung von Palliativversorgung. Audioaufnahmen der Interviews wurden transkribiert und nach der Framework Methode in NVivo analysiert. Der thematische Framework wurde induktiv entwickelt, Kategorien vor dem Hintergrund der KAS Theorie subsumiert und in Verbindung gesetzt.

Ergebnisse: 27 Interviews mit klinischen und 15 mit wirtschaftlich/politischen Experte/innen von 6-10/2015. Das KAS der palliativen Versorgungssituation besteht aus drei Subsystemen: dem System Patient/in, dem sozialen System und dem System des behandelnden Teams. Die Agenten des Systems Patient/in lassen sich weiteren Subsystemen auf Patientenebene zuordnen: dem physischen (körperliche Symptome, Grunderkrankungen, therapeutische Maßnahmen), dem seelischen (psychische Faktoren und Komorbiditäten, spirituelle Situation) und dem soziokulturellen (Migrationshintergrund, Sprachbarrieren, finanzielle Situation). Während das System Patient/in auf Individuums-Ebene organisiert ist, sind das soziale System (Angehörige) und das System Team (Teammitglieder) eine Ansammlung sozialer Agenten. Diese wirken als Träger bestimmter Merkmale, Rollen und Beziehungen auf das KAS der Versorgungssituation ein. Im sozialen System sind Merkmale: Belastung und Informationsstand Angehöriger, Gesundheitszustand pflegender Angehöriger; Rollen: von/m Patient/in gepflegte Angehörige, minderjährige Kinder; Beziehungen: schwierige familiäre Ausgangssituation, unterschiedliche Ansichten von Patient/in und Angehörigen, erschwerte Team-Angehörigenkommunikation. Im System Team sind Merkmale: Qualifikation und Belastung im Team; Beziehungen: Qualifikation Externer, Kooperation mit externen Leistungserbringern, divergente Einschätzungen durch Team und Betroffene. Umweltfaktoren, die Auswirkungen auf das Systemverhalten haben sind bspw. Versorgungssetting, regionales Versorgungsangebot, Aufnahmekriterien für Versorgung, Finanzierungssysteme. Agenten innerhalb der einzelnen Subsysteme als auch die Subsysteme selbst stehen auf allen system-hierarchischen Ebenen in Interaktion und gestalten das Systemverhalten der komplexen Versorgungssituation.

Diskussion: Faktoren, die von den Expert/innen als komplexitätsbeschreibend genannt wurden, können im KAS verortet werden. Die herausgearbeiteten Systemelemente und Beziehungen geben Einsicht in Verhaltensmöglichkeiten des KAS der palliativen Versorgungssituation und zeigen auf, dass einzelne Elemente nicht losgelöst von der Gesamtsystem-Situation zu sehen sind.

Praktische Implikationen: International und national wird der Komplexitätsbegriff zur Differenzierung von Patient/innen hinsichtlich ihres palliativen Versorgungsbedarfs herangezogen. Bis heute gibt es jedoch keine valide und evidenzbasierte Systematik, die Komplexität von Patient/innen-Bedürfnissen zu differenzieren und Patient/innen ihrem Versorgungsbedarf entsprechend zu screenen. Die Identifikation der Elemente, die Komplexität bestimmen und das Verständnis ihres systemischen Wirkens sind ein notwendiger Schritt hin zu einer entsprechenden Systematik.

Die Anwendung der Theorie KAS ermöglicht das notwendige Verständnis für die Entwicklung situationsgerechter Problemlösungsmethodiken – nicht nur im Palliativversorgungs-Kontext. Die Ergebnisse bilden das KAS einer spezifischen Problemstellung ab und zeigen beispielhaft, wie auch andere Fragestellungen der Gesundheitsversorgung im Systemgedanken verortet werden können.

Die Forschung ist Teil eines, durch eine private Stiftung finanzierten, unabhängigen Forschungsprojekts.