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22. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V.

Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V.

24. - 26.02.2021, digital

Restlebenserwartung als Kriterium bei der Allokation knapper intensivmedizinischer Ressourcen – eine juristische Bestandsaufnahme

Meeting Abstract

  • Joachim Hübner - Universität zu Lübeck, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Lübeck, Deutschland
  • Denis Martin Schewe - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin I, Kiel, Deutschland
  • Alexander Katalinic - Universität zu Lübeck, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Lübeck, Deutschland; Universität zu Lübeck, Institut für Krebsepidemiologie, Lübeck, Deutschland
  • Fabian-S. Frielitz - Universität zu Lübeck, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Lübeck, Deutschland

Who cares? – EbM und Transformation im Gesundheitswesen. 22. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. sine loco [digital], 24.-26.02.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. Doc21ebmV-2-01

doi: 10.3205/21ebm006, urn:nbn:de:0183-21ebm0061

Published: February 23, 2021

© 2021 Hübner et al.
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Text

Hintergrund/Fragestellung: Die Covid-19-Pandemie hat die Frage aufgeworfen, nach welchen Grundsätzen knappe Intensivkapazitäten zugeteilt werden sollen. Zweifelhaft ist insbesondere, ob eine Rolle spielen darf, wie viele Lebensjahre bei verschiedenen in Betracht kommenden Allokationsentscheidungen jeweils gerettet werden. Insoweit konkurrieren utilitaristische Überlegungen mit dem Prinzip der Lebenswertindifferenz. Wir haben juristische Aspekte dieser Frage untersucht.

Methoden: Selektive Recherche in juristischer Fachliteratur, Rechtsprechung und Bekanntmachungen relevanter Institutionen

Ergebnisse: Der Ausbruch der Pandemie hat zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für Rechtsprobleme des rechtfertigen Notstandes (§ 34 StGB) und der rechtfertigenden Pflichtenkollision geführt. Der Ertrag ist bislang gering. Die wohl herrschende Meinung beruft sich auf das Bundesverfassungsgericht, nach dem Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG gebietet, jedes menschliche Leben als gleich wertvoll zu erachten. Es darf danach „keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung […] unterworfen werden“. Nicht hinreichend beachtet wird in diesem Zusammenhang, dass die Grundrechte zunächst nur den Staat verpflichten. Ärztinnen und Ärzte üben jedoch keine staatlichen Funktionen aus. Übergeordneter Maßstab ihrer Berufsausübung sind ihr Gewissen, die Gebote der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit (§ 2 Abs. 1 MBO-Ä 1997). An diesem Maßstab gemessen erscheint es den Autoren in einer Situation „katastrophaler Knappheit“ (Ethikrat) zumindest bei gleichen Erfolgsaussichten der Behandlung zulässig, einen jüngeren Menschen gerade wegen der altersbedingt größeren Restlebenserwartung gegenüber einem älteren zu bevorzugen. Akzeptiert man diese Sichtweise, stellen sich zwei weitere Fragen, die bislang nicht geklärt sind: 1. Darf eine deutlich höhere Restlebenserwartung die Allokationsentscheidung auch dann beeinflussen, wenn die Erfolgsaussichten nicht gleich sind? 2. Engt es den Ermessensspielraum ein, wenn bei einem der konkurrierenden Patienten die intensivmedizinische Behandlung bereits begonnen wurde?

Schlussfolgerung: Die erfolgreiche Kontrolle des Krankheitsgeschehens in der Covid-19-Pandemie hat dafür gesorgt, dass tragische Priorisierungsentscheidungen am Krankenbett in Deutschland nicht notwendig wurden. Dass dies bei einer zweiten Welle oder einer anderen Pandemie auch so sein wird, kann man nur hoffen. Eine Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen ist im Interesse der behandelnden Ärztinnen und Ärzte dringend zu wünschen.

Interessenkonflikte: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Literatur

1.
Hübner J, Schewe DM, Katalinic A, Frielitz FS. Rechtsfragen der Ressourcenzuteilung in der COVID-19-Pandemie. Zwischen Utilitarismus und Lebenswertindifferenz. Dtsch Med Wochenschr. 2020;145(10): 687-692