Rezension: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen deutschen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985

rezensiert von Jonathan Voges

‹1› Der Untersuchungszeitraum der bundesrepublikanischen Zeitgeschichtsforschung dehnt sich immer weiter aus: Nach den Modernisierungsleistungen der 1950er und den Wandlungen der 1960er Jahre, tritt nun vermehrt auch die Epoche „nach dem Boom“1) in den Fokus der Betrachtungen. Zum einen seien die 1970er und 1980er Jahre durch tiefgreifende Wandlungen in der wirtschaftlichen Struktur westlicher Gesellschaften bestimmt gewesen, die ihrerseits auf soziale und kulturelle Gegebenheiten zurückgewirkt hätten. Auf der anderen Seite prägten Individualisierungserfahrungen und die Ausprägung einer alternativen Kultur gerade diese Jahrzehnte der unmittelbaren Vorgeschichte der Gegenwart. Gleichzeitig erschienen Publikationen zum Kalten Krieg, die sich dem „radikalen Zeitalter“2)vor allem aus globalgeschichtlicher Perspektive näherten und die international Handelnden zu analysieren suchten.3)

‹2› Susanne Schregel versucht nun in ihrer 2010 an der Technischen Universität Darmstadt angenommenen Dissertation eben die Alternativkultur und den Kalten Krieg zusammenzudenken.

‹3› Äußerst überzeugend gelingt es ihr dabei, Ansätze aus raumtheoretisch ausgerichteten Erklärungsangeboten mit Konzepten einer kulturwissenschaftlich inspirierten Politikgeschichte aufeinander zu beziehen: Sie geht davon aus, dass die Akteure der neuen Friedensbewegung bewusst eine Strategie des downscaling betrieben hätten. Dabei sei es ihnen vor allem darum gegangen, globale Prozesse – wie eben die Atomrüstung – im lokalen Raum erfahrbar zu machen, um so die Bevölkerung in verstärktem Maße gegen die Aufrüstung zu mobilisieren. Der als abstrakt wahrgenommenen internationalen Diplomatie sollte so eine konkret erfahrbare Dimension entgegengestellt werden. Dahinter stecke – so die Autorin – ein relationales Verständnis von Macht: Anders als in einem Ursprungsbegriff von Macht, in dem „alle Macht auf einen Anfangspunkt zurückgeführt werden [kann]“4), interpretiert ein relationaler Machtbegriff Macht als auf Beziehungen gründend. Proteste gegen die Aufrüstung, die sich im lokalen Raum manifestierten, nahmen ein „flexibles Kräfteverhältnis“5) an, richteten sich nicht allein an die politischen Entscheidungsträger, sondern zielten auf die Gesamtbevölkerung. Nicht allein politische Entscheidungen der Mächtigen, sondern das gesellschaftliche Klima sollte im Sinne der Friedensprogrammatik beeinflusst werden.

‹4› Um ihre Thesen zu belegen, hat Schregel zahlreiche Publikationen der lokal organisierten Gruppen der Friedensbewegung ausgewertet und sie auf ihre gemeinsamen Argumentationsmuster hin analysiert. Dankenswerterweise wurden einige der verwendeten Bildquellen abgedruckt, sodass es möglich ist, die Schlüsse der Autorin nachzuvollziehen; zuweilen wirken die vergleichsweise umfangreichen Bildbeschreibungen allerdings redundant, da die Quellen dem Leser vorliegen. Hinzu kommen Zeitungs- und Zeitschriftenberichte sowohl aus der lokalen Tagespresse als auch aus nationalen Periodika wie dem SPIEGEL. Auch der atomkriegskritische Jugendroman Die letzten Kinder von Schewenborn von Gudrun Pausewang wird auf die darin enthaltenen Raumkonstruktionen hin befragt.

‹5› Die postulierte Nahraumorientierung untersucht die Autorin anhand verschiedener Beispiele: Zunächst geht es ihr darum aufzuzeigen, wie die Mitglieder der Friedensbewegung sich darum bemühten, militärische Anlagen in ihrem unmittelbaren Umfeld auszumachen. Sie verfolgten dabei die Annahme, dass erst die Sichtbarkeit des Militärischen im Alltag und damit der Verstoß gegen das von den staatlichen Stellen ausgehende Geheimhaltungsgebot Rüstung diskutierbar und kritisierbar machte.

‹6› Im zweiten Teil geht es Schregel um die Entwürfe von Atomkriegsszenarios durch lokale Akteure der Friedensbewegung. In Form von Broschüren wurde von diesen die Frage aufgeworfen, welche Folgen ein Atomschlag gerade in ihrer Region gehabt hätte, wie die Zerstörungen vor Ort aussähen, sollte es zum Schlimmsten kommen. Gerade eine positive Umdeutung des Heimat-Begriffs innerhalb der neuen Friedensbewegung ließ eine derartige Argumentation gegen die Aufrüstung erfolgversprechend erscheinen, nahm man doch gerade die Zerstörung der (eigenen) Heimat als automatische Folge möglicher atomarer Katastrophen an.

‹7› Des Weiteren beschreibt Schregel diesem Muster folgend die Auseinandersetzungen um Bunkerräume und „atomwaffenfreie Zonen“6), in denen jeweils lokalspezifische Folgen von Aufrüstungen zum Thema gemacht werden. Indem man anhand der lokalen Einwohnerzahl nachwies, dass die vorhandenen Bunkerplätze in keinem Fall auch nur annähernd ausreichten, um im Gefahrenfall Schutz zu bieten, wurde wiederum durch die Heranziehung kommunaler Beispiele auf das Zerstörungspotential eines möglichen Atomkriegs aufmerksam gemacht. Durch die Deklaration auch kleinster Räume als „atomwaffenfrei“7) (Wohnung, Arbeitsplatz, ja Spielplatz oder Kinderwagen) wurde gerade den apokalyptischen Szenarien der allgegenwärtigen Bedrohung eine Idylle des Friedens entgegengestellt – ein Verhalten, dem sowohl auf Seiten von Atomwaffenkritikern als auch -befürwortern spöttisch weitgehende Nutzlosigkeit attestiert wurde.

‹8› Ein wenig außerhalb des Gesamtkonzepts des Bandes erscheint allerdings das Kapitel über „Körper-Räume“8). Zwar ist es durchaus einsichtig, dass und in welcher Form der eigene Körper zum Protest gegen Rüstung Verwendung fand (die-ins, Schweigekreise bis hin zu Hungerstreiks und Selbstverbrennungen), die Einbettung in das Konzept eines räumlich orientierten Interpretationsschemas erscheint hier aber wenig hilfreich oder aber arg metaphorisch. So ließe sich das inszenierte Massensterben auf der Straße (die-in) durchaus auch in das Kapitel zu den Atomkriegsszenarios einordnen. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass dieses Kapitel jeglichen Erkenntnisgewinns entbehrte, nur scheint es zuweilen etwas unverbunden neben den anderen Abschnitten zu stehen.

‹9› Dies ist allerdings auch der einzige, wirklich ernst zu nehmende Kritikpunkt dieser Dissertation. Insgesamt bewältigt die Autorin ihr Thema mehr als gelungen und sie liefert dem Leser sowohl einen historiographischen Einblick in die Arbeitsweise der neuen sozialen Bewegungen als auch einen lokalgeschichtlich geerdeten Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges.

‹10› Gerade Studierende der jüngsten Zeitgeschichte, die sich fragen, wie sie trotz 30jährigen Archivsperrfristen weiterführende und spannende Ergebnisse vorlegen können, bietet der Band viele Handreichungen und Anregungspotentiale. Warum nicht einmal nach der Friedensbewegung im Heimatort oder am Universitätsstandort fragen? Die friedensbewegten Gruppen der 1980er haben häufig derart viele schriftliche Quellen jenseits irgendwelcher Sperrfristen produziert, die quellenkritisch gelesen und mit einer geeignete Fragestellung durchaus innovative Studien ermöglichen sollten.

Rezensiert wurde:

Schregel, Susanne: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür: eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985. Frankfurt am Main [u. a.] 2011. (Historische Politikforschung, Bd. 19) (Zugl. Diss. 2010) ISBN: 3-593-39478-2

Fußnoten

  1. Doering-Manteuffel, Anselm / Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. »
  2. Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947-1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters. München 2011. »
  3. So zum Beispiel das Vorgehen der beiden Großmächte im Rüstungswettlauf oder deren außenwirtschaftliche Aktivitäten in der Dritten Welt. »
  4. Schregel, Susanne: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970-1985. Frankfurt am Main 2011, S. 24. »
  5. Schregel, S. 25. »
  6. Schregel, S. 267–328. »
  7. Schregel, S. 277ff. »
  8. Schregel, S. 226–266. »
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Autoreninformation

Jonathan Voges ist Student der Geschichte und der Germanistik an der Leibniz Universität Hannover im Studiengang Master of Education.

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Jonathan Voges: Rezension: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen deutschen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985, in: Skriptum 2 (2012), Nr. 1, URN: urn:nbn:de:0289-2012050384, Abs. XY [Datum des Zugriffes].