Rezension: Elite des „Führers“? Mentalitäten im subalternen Führungspersonal von Waffen-SS und Fallschirmjägertruppe 1944/45 – Frederik Müllers

rezensiert von Christoph Schmieder

‹1›Die Waffen-SS ist seit ihrer Einstufung als ‚verbrecherische Organisation‘ im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher Objekt zahlreicher Diskussionen in Forschung und Öffentlichkeit. Aus Sicht der ehemaligen Wehrmachtssoldaten ‚berufsmäßige Mörder‘, bezeichneten sich die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS als rein militärische Elite. Als solche gilt die Waffen-SS weithin. Auch ihre Verstrickung in zahlreiche Kriegsverbrechen ist zweifelsfrei belegt.

‹2›Inwiefern aber gab es gruppenspezifische Denk- und Deutungsmuster bei den Soldaten der Waffen-SS? Waren die Angehörigen der Waffen-SS die ‚weltanschaulich gefestigten Kämpfer‘, als die sie teilweise von den Amerikanern behandelt wurden? Mithilfe einer empirischen Mentalitätsgeschichte versucht Frederik Müllers, Mitglied im Arbeitskreis Militärgeschichte und Lehrbeauftragter der JGU Mainz, in seiner im be.bra Wissenschaft Verlag erschienenen Examensarbeit diese Fragen zu beantworten. Die Arbeit wird dabei um eine große Zahl abgedruckter Quellen ergänzt.

‹3›Um das Spezifische der Waffen-SS zu beleuchten, stellt Müllers ihr eine vermeintliche Elitetruppe der Wehrmacht gegenüber: die Fallschirmjäger der Luftwaffe. Dabei liegt der Fokus weder auf dem einfachen Mannschaftssoldaten, noch auf der Generalität. Vielmehr steht das subalterne Führungspersonal, von der Gruppe bis etwa auf Kompanieebene, im Mittelpunkt der Untersuchung. Als Quelle zieht er dabei einen von seinem Betreuer Prof. Dr. Sönke Neitzel gehobenen „Schatz“1) heran: Die Protokolle aus dem amerikanischen Abhör- und Verhörlager Fort Hunt in Virginia. Diese seit 2008 im Rahmen eines Forschungsprojektes erfassten Dokumente gaben bereits Anlass zu einigen Publikationen, wobei vor allem die Arbeit von Sönke Neitzel und Harald Welzer zur Mentalität der Soldaten2) herausragt. An diese Forschungsarbeit knüpft Müllers mit seiner Untersuchung an. Im Gegensatz zu sozialgeschichtlichen Arbeiten zur Waffen-SS3) kann dabei dank der neuen Quellen die Verinnerlichung der nationalsozialistischer Ideen durch die Soldaten im Mittelpunkt stehen.

‹4›Seine „Samples“4), d. h. die Stichproben, bestehen aus jeweils 40 Soldaten beider Formationen, wobei als Auswahlkriterium der Umfang des Aktenmaterials dient. Die untere Grenze liegt bei zehn abgehörten Gesprächen. Ein erstes Kapitel widmet Müllers der Vorstellung dieser Samples, deren Zusammensetzung er soziobiographisch analysiert. Die Samples bestehen aus je 20 Offizieren und Unteroffizieren, zumeist im Range eines Unteroffiziers, Leutnants oder Oberleutnants.5) Jedoch wird der Begriff des subalternen Führungspersonals im Bezug auf die Fallschirmjäger recht weit ausgelegt, da die Spanne an Dienstgraden hier vom Oberst bis zum Unteroffizier reicht.

‹5›Auf die Präsentation der Samples folgt die Betrachtung der insgesamt drei Gesprächstopoi. Der erste Topos widmet sich den Gesprächen über den Krieg und dem Selbstverständnis der Soldaten allgemein. Ein großer Teil der Soldaten der Waffen-SS hatte selbst in der Gefangenschaft noch einen irrealen Glauben an den deutschen Sieg. Dies traf jedoch nur auf einen relativ geringen Teil der Fallschirmjäger zu. Die Analyse deutet darauf hin, dass diese Zuversicht wohl den Erfahrungen der Soldaten geschuldet war. Bei den Fallschirmjägern fällt vor allem die lange Fronterfahrung der Siegesgläubigen auf, bei den Angehörigen der Waffen-SS zusätzlich ihr Alter und die Freiwilligkeit ihres Eintritts in die Formation. Je früher der freiwillige Eintritt in die Kampfformation erfolgte, desto größer die Wahrscheinlichkeit auf einen Glauben an den Sieg – selbst noch im Frühjahr 1945. Darüber hinaus zeigen die Quellen, dass sich die Soldaten selbst nicht als Angehörige einer Eliteeinheit verstanden; zumindest taucht diese Einschätzung in den Gesprächen während der Gefangenschaft selten auf.

‹6›Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit einem zweiten Topos, der als der eigentliche Kern des Buches gesehen werden kann: den Gesprächen über den Nationalsozialismus. Die Führung der Waffen-SS um Heinrich Himmler war schon früh bemüht, die bewaffnete SS zu einer Truppe zu formen, die den Nationalsozialismus nicht nur kennt, sondern „lebt“6). Um zu untersuchen, welchen Erfolg diese Bemühungen zeitigten, werden drei Teilaspekte der NS-Ideologie in den Mittelpunkt gestellt: Die Positionierung zur Person Hitlers, zum „NS-System“7) und zum Antisemitismus.

‹7›Kritik an Hitler ist in den Gesprächen eine Ausnahme. Sowohl unter Fallschirmjägern als auch unter den Kämpfern der Waffen-SS überwiegt ein positives Bild des militärischen und politischen ‚Führers‘. Darüber hinaus belegen einige Aussagen eine starke Verinnerlichung nationalsozialistischer Denkmuster bei Fallschirmjägern, die nicht nur weitverbreitete antikommunistische Ressentiments widerspiegeln, sondern diese auch mit einer rassistischen Komponente verbinden. Auffällig ist auch eine Gleichsetzung von Deutschtum und Nationalsozialismus. Einer Mehrheit des Samples der Fallschirmjäger attestiert Müllers eine „unverkennbare Nähe“8) zum nationalsozialistischen System, wobei etwa ein Viertel in besonders signifikantem Ausmaß explizite Zustimmung zu zahlreichen Aspekten der NS-Ideologie demonstriert habe. Zur Herstellung von Vergleichsmöglichkeiten mit der Waffen-SS teilt Müllers die Soldaten in relative Kategorien ein. Diese reichen von „größter Identifikation“ über abwägende Identifikation“ und „abwägende Opposition“ bis zu „größter Opposition“. Mehr als die Hälfte der untersuchten Angehörigen der Waffen-SS gehören zur ersten Kategorie, wobei heraussticht, dass über den Führerglauben hinaus eine breitere Zustimmung zum NS-System existierte.9) Diese wird durch die Übernahme einer existentiellen Philosophie, totalitärer Denkmuster, einer Kongruenz von Deutschtum und Nationalsozialismus und Verinnerlichung des Stereotyps des Juden als ‚heimtückischer Verführer‘ gekennzeichnet. Die Untersuchung derjenigen, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden, offenbart daraufhin, dass sich diese Ablehnung häufig schon vor Gefangenschaft entwickelt hatte, dass die Freiwilligenquote in dieser Gruppe niedrig war und es sich, zumindest bei der Waffen-SS, überwiegend um sogenannte ‚Volksdeutsche‘ (Österreicher, Sudetendeutsche, Elsässer) handelte.

‹8›Das letzte Kapitel widmet sich den Gesprächen der Gefangenen über Verbrechen. Die abgehörten Soldaten, sowohl der SS wie auch der Fallschirmjägertruppe, sehen ihre Taten bzw. diejenigen ihrer Kameraden nicht als verbrecherische Handlungen, sondern als angemessene Verhaltensweisen und Reaktionen auf Aggression seitens ihrer Kriegsgegner. Bei Befragungen durch die Amerikaner gaben vor allem die SS-Männer an, wenig gewusst zu haben oder nicht beteiligt gewesen zu sein. Ebenso sticht heraus, dass die Exkulpationsstrategien sowohl der Wehrmachts- als auch der SS-Soldaten, die nach dem Krieg breite Anwendung finden sollten, schon in der Gefangenschaft entwickelt wurden. Die Verantwortung für Gräueltaten wurde von den Wehrmachtssoldaten auf die Waffen-SS, von dieser auf die Sonderkommandos abgewälzt.

‹9›In seiner Gesamtheit hinterlässt das Buch einen überzeugenden Eindruck. Neben der grundsätzlich gelungenen Sachuntersuchung und Darstellung von Müllers hilft das sehr umfangreiche, abgedruckte Quellenmaterial, welches beinahe die Hälfte des Umfangs der Publikation ausmacht, die Schlussfolgerungen nachzuvollziehen und verschafft dem Lesen, über einzelne Zitate im Text hinaus, einen guten Einblick in die Denkmuster der Gefangenen.

‹10›Als inhaltlicher Schwachpunkt kann allerdings das letzte Kapitel gelten, welches die Verbrechen thematisiert. Die Gespräche über Verbrechen scheinen kaum ein wirklich gruppenspezifisches Denk- und Verhaltensmuster zu offenbaren. Die etwa zeitgleich veröffentlichte Arbeit von Harald Welzer und Sönke Neitzel berücksichtigt stärker den Referenzrahmen des soldatischen Handelns im Krieg. Verbrechen und der Umgang der Täter, Helfer und Mitwisser mit ihrem Wissen seien demnach keine Eigenheit der Elitesoldaten der Waffen-SS und der Fallschirmjäger, auch kein Anzeichen für eine breite Verinnerlichung nationalsozialistischer Denkstrukturen, sondern eine im Referenzrahmen des Krieges normale Reaktionen auf eine als solche wahrgenommene Aggression.10)

‹11›Zudem ist die Umsetzung von der Examensarbeit zur endgültigen Publikation nicht fehlerfrei gelungen. Oftmals hätte man sich im Rahmen der empirischen Studie eine größere Anzahl an Grafiken und Tabellen gewünscht. Einige Fußnoten weisen zudem noch auf Grafiken hin, die in der vorliegenden Fassung nicht mehr vorhanden sind.11)

‹12›Aufgrund der eher kleinen empirischen Basis ist durch die Auswertung der Abhörprotokolle nur ein erster, allerdings bedeutender Schritt einer umfassenden Mentalitätsgeschichte der Waffen-SS gemacht. Wegen der Spezifik des Themas richtet sich das Werk jedoch vornehmlich an ein Fachpublikum. Studierenden, die sich für den Zweiten Weltkrieg interessieren und in der Thematik ein gewisses Vorwissen besitzen, ist ein Blick ins Buch jedoch durchaus zu empfehlen.

Rezensiert wurde

Müllers, Frederik: Elite des „Führers“? Mentalitäten im subalternen Führungspersonal von Waffen-SS und Fallschirmjägertruppe 1944/45. be.bra Wissenschaft Verlag, Berlin 2012. ISBN 978-3-95410-003-3.

Fußnoten

  1. Neitzel, Sönke/ Welzer, Harald: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten, Sterben. Frankfurt am Main 2011. S. 8. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung. »
  2. Siehe Anm. 1. »
  3. Rohrkamp, René: „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“. Die Soldaten der Waffen-SS 1933–1945. Organisation – Personal – Sozialstrukturen. Paderborn 2010 (= Krieg in der Geschichte, Bd. 61). »
  4. Müllers, S. 16. »
  5. Bei der SS Unterscharführer bzw. Unter- und Obersturmführer. »
  6. Bei der SS Unterscharführer bzw. Unter- und Obersturmführer. »
  7. Müllers, S. 51 Anm. 131. Müllers hat den Begriff bewusst sehr vage gehalten. Er versteht darunter die Beurteilung der NSDAP und ihrer Unterorganisationen, des Nationalsozialismus auf staatlicher Ebene sowie nationalsozialistischer Führungspersönlichkeiten. »
  8. Müllers, S. 56. »
  9. Vgl. Ebenda, S. 57. Die Amerikaner schätzten damals, dass fünf bis 15 Prozent der Wehrmachtsangehörigen hochgradig nationalsozialistisch geprägt seien. »
  10. Vgl. Ebenda, S. 85; Neitzel/Welzer, S. 115–133. »
  11. Vgl. Müllers, S. 22 Anm. 38. »
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Christoph Schmieder ist Student der Mittleren und Neueren Geschichte, der Alten Geschichte sowie der Rechtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Studiengang Magister Artium.

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Christoph Schmieder: Rezension: Elite des „Führers“? Mentalitäten im subalternen Führungspersonal von Waffen-SS und Fallschirmjägertruppe 1944/45 – Frederik Müllers, in: Skriptum 2 (2012), Nr. 2, URN: urn:nbn:de:0289-2012110267, Abs. XY [Datum des Zugriffes].