Rezension: Paul Noltes „Demokratie – Die 101 wichtigsten Fragen“

rezensiert von Niclas Pillong

‹1› In Zeiten von Politikverdrossenheit und antidemokratischer Strömungen in Europa hat die Demokratie und die Sozialdemokratie im Speziellen einen schwierigen Stand. Intransparente Handelsabkommen, doppelmoralische Verträge mit undemokratischen Staaten und eine basisferne europäische Politik haben insbesondere in der jüngsten Vergangenheit das Konzept als blasse Hülle erscheinen lassen. Die Demokratie, so könnte man meinen, wenn man sich sinkende Wahlbeteiligung und das Erstarken populistischer Kräfte vor Augen führt, befindet sich in einer Abwärtsspirale. Doch Paul Nolte, Professor für Neue Geschichte an der FU Berlin, versucht mit dieser Vorstellung aufzuräumen. Nach seiner recht umfangreichen Abhandlung „Demokratie – Geschichte und Gegenwart“ aus dem Jahr 2012 ist das neueste Werk wesentlich kürzer gehalten und leitet wie der Titel verspricht im Frage-Antwort-Stil durch die Geschichte der Demokratie. Bereits zu Beginn baut er im Spannungsfeld zwischen Lust und Frust auf Demokratie, „Statt einer Einleitung“ (S. 11), den treibenden Leitgedanken auf, der „Demokratie – Die 101 wichtigsten Fragen“ stets begleitet. Befindet sich „Demokratie im Abstieg?“ oder muss man doch eher „Demokratie neu durchdeklinieren, neu denken[?]“ (S. 14). Im Verlauf seines 160 Seiten umfassenden Fragen- und Antwortenkatalogs versucht der Autor zunächst mit Fragen wie „Was heißt Demokratie?“(S. 15) ein grundlegendes Verständnis für das Thema zu schaffen, um anschließend wichtige Bestandteile der Regierungsform zu nennen und zu analysieren. In der Auflistung und Kategorisierung der Fragen geht Nolte chronologisch vor und nähert sich ausgehend von antiken athenischen über moderne Vorstellungen von europäischer Demokratie zunehmend Problematiken der Gegenwart an, beispielsweise: „Ist die Frauenquote undemokratisch?“. Abschließend bietet er dem Leser einen kurzen Überblick bezüglich heutiger Herausforderungen der Demokratie sowie einen Ausblick in ihre Zukunft und liefert mittels eines umfangreichen Literaturanhangs die Möglichkeit, sich über das Buch hinaus mit dem Thema zu beschäftigen. Neben bereits häufig abgearbeiteten Fragen, wie der Etymologie oder dem Verhältnis zwischen Staat und Demokratie, eröffnen sich in Noltes Buch immer wieder durchaus interessante Fragen, die sogar philosophisch anmuten, etwa ob der Nationalstaat einer wahren Demokratie im Weg stehe oder welches das wichtigste aller Rechte sei. Der Historiker schafft es somit ein komplexes Thema für ein breites Publikum aufzubereiten, ohne dabei in die Belanglosigkeit abzudriften. Als Leser wünscht man sich jedoch gelegentlich, dass Nolte alternative Handlungsweisen aufzeigt. So erklärt er beispielsweise, was Diäten sind (S. 34) und stellt fest, dass diese sich erheblich von den Löhnen anderer Berufsgruppen unterscheiden. Die Möglichkeit einer Anpassung der Diäten an das deutsche Durchschnittseinkommen und Wirtschaftswachstum findet jedoch keine Erwähnung.

‹2› Bei seinen Erläuterungen greift Nolte, als Experte für deutsche, amerikanische und vergleichende Politik- und Sozialgeschichte, häufig auf Beispiele der amerikanischen Geschichte zurück, wobei er sich gelegentlich wiederholt. So verwendet er den Auszug „We, the people...“ aus der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Bei den Fragen „Wie demokratisch war die Amerikanische Revolution?“ und „Beruht Demokratie auf Volkssouveränität?“ dient das Zitat als überflüssige Referenz.

‹3› Kritisch betrachtet sind einige der Fragen bereits negativ behaftet. Wenn Nolte fragt, „Mit wie viel sozialer Ungleichheit ist Demokratie vereinbar?“ oder „Was ist so schlimm am Populismus?“, wird die Existenz einer Klassengesellschaft vorausgesetzt oder eine direkte Wertung in die Fragestellung einbezogen ohne dies historisch herzuleiten oder zu reflektieren. Zusätzlich erscheinen einzelne Fragen, etwa „Wie definierte Abraham Lincoln die Demokratie?“ (S.51) oder „Hat Demokratie eine Architektur?“ als überflüssig und fügen sich nicht in das Gesamtbild des überwiegend gut ausgewählten Fragenkatalogs. Darüber hinaus arbeitet der Autor vor allem im ersten Teil des Buches häufig nur mit Beispielen für demokratische Prozesse und Leitideen aus der Neuzeit, insbesondere aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Die wenigen aktuellen Bespiele beschränken sich auf eine kurze Erwähnung des Arabischen Frühlings oder die europäische Herausforderung durch die „Flüchtlingskrise“. Themen wie der Aufstieg der rechtspopulistischen AFD werden nur im Nebensatz erwähnt (S. 142). Zwar weist Nolte auf einzelne Trends hin, bleibt letztlich jedoch hinter den Lesererwartungen zurück. Mit Begriffen wie „Flüchtlingsströme“(S. 59), verwendet er ferner bisweilen ein Vokabular, das eine negative Wertung mit sich bringt. Insbesondere die beiden letzten Kapitel beschäftigen sich mit aktuellen Problemen wie Lobbyismus (S. 86), dem Einfluss der Massenmedien (S. 87) und sozialer Ungleichheit (S. 85). Demokratie steht vor vielen Herausforderungen und muss sie überwinden, um das Vertrauen in sie, in einer Zeit, in welcher der demokratische Begriff von rechtspopulistischen Parteien ad absurdum geführt wird, wiederherzustellen.

‹4› „Demokratie – Die 101 wichtigsten Fragen“ lässt sich, dank Noltes unkompliziertem Schreibstil, gut nebenbei lesen, doch viele der Aussagen des bekennenden Neokonservativen dürfen nicht unreflektiert ohne weiteres als Fakten hingenommen werden. Wenn Nolte von Populismus schreibt, dann bezieht er sich auf Aussagen ultrakonservativer Strömungen (S. 142), verschweigt jedoch, dass insbesondere die etablierten Parteien CDU/CSU und SPD in jüngster Vergangenheit häufig zum gleichen Mittel gegriffen haben. Somit liefert die besprochene Publikation mehr Denkanstöße als Antworten, die zu dem führen sollen, was sich Nolte vermutlich wünscht: Demokratie soll diskutiert und neudefiniert werden, um einen Rückfall in antidemokratische Zeiten zu verhindern. Für Nolte, so ist zwischen den Zeilen erkennbar, ist Demokratie keine Option, sondern der einzige Weg in die Zukunft.

‹5› In Anbetracht des überschaubaren Umfangs dient Noltes neuestes Werk für eine breite Leserschaft und kann als Einstieg oder Wiedereinstieg in das Thema „Demokratie“ zur Hand genommen werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass, wenn Noltes eigentliches Ziel das Anregen zum Nachdenken ist, dies durch den Frage-Antwort-Stil unter Umständen unterbunden wird und zu einer eindimensionalen Betrachtungsweise führt. So besteht die Gefahr, dass ein tatsächlicher Diskurs durch ein promptes Annehmen der Expertenmeinung vielmehr ausbleibt. Des Weiteren wäre es wünschenswert, dass der Autor, als Professor für Zeitgeschichte, einen größeren Fokus auf aktuelle politische Entwicklungen und Herausforderungen legt, um gerade Lesern und Leserinnen mit wenig Vorkenntnissen die historische Relevanz von Demokratie und Politik vor Augen zu führen. „Demokratie – Die 101 wichtigsten Fragen“ ist somit eine kurzweilige und interessante Lektüre, die zum Nachdenken anregen kann, jedoch nicht zwingend dazu einlädt.

Rezensiert wurde:

Paul Nolte: Demokratie – Die 101 wichtigsten Fragen. München 2015, ISBN: 978-3406673689.

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Autoreninformation

Niclas Pillong studiert Geschichte und Englisch für das Lehramt an Gymnasien an der Universität des Saarlandes.

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Zitationshinweis:

Niclas Pillong: Rezension: Paul Noltes „Demokratie – Die 101 wichtigsten Fragen“, in: Skriptum 6 (2017), Nr. 1, URN: urn:nbn:de:0289-2017051172, Abs. XY [Datum des Zugriffes].