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Die evangelische Gustav-Adolf-Kirche in Frei-Weinheim

von Barbara Reif

Im Industriezeitalter entwickelte sich auch Frei-Weinheim zu einen Arbeiterwohnort. Die Baufälligkeit der alten Kirche und größerer Raumbedarf machten 1909/10 den Neubau einer Evangelischen Kirche anstelle der vormals reformierten Kirche von 1739 notwendig. Die Architekten Ludwig Mahr und Georg Darkwort aus Darmstadt setzten sowohl bei der äußeren Form der Kirche als auch bei der Innenraumgestaltung viele Elemente des Landkirchenbaus im Heimatstil von Friedrich Pützer, ihres Lehrmeisters, um. So passt sich die Gustav-Adolf-Kirche von ihrer äußeren Gestalt her eher unauffällig in ihre Umgebung ein. Sie wurde mit heimatlichen Baumaterialien errichtet, der Kirchenraum als Saalbau aus Kalkbruchsteinen gebaut, das Dach wurde mit rheinischem Schiefer gedeckt. Sowohl der Hautzugang über die breite Treppe mit Säulenportikus als auch der Vorraum zum eigentlichen Kirchenraum bieten Raum, um sich zu versammeln und ins Gespräch zu kommen. Gemeinderaum und Funktionsräume sind im Untergeschoss untergebracht. Bei der Innenraumgestaltung ließen sich die Architekten sowohl vom Wiesbadener Programm als auch von Jugendstilelementen inspirieren. Der Kirchenraum präsentiert sich als Saal mit gebrochener, trapezförmiger Holzdecke und tonnengewölbtem Chor. Die Blicke der Gläubigen sind durch die Ausrichtung des festmontierten und bemalten Holzgestühls nach vorne gerichtet. Der Chorraum mit Rundfenster enthielt ursprünglich einen gemauerten Altar, die Kanzel war seitlich links integriert. Bei der Restaurierung 1993 im Sinne des Jugendstils entwarf Architekt Heinz Beck einen passenden neuen Altar und eine neue Kanzel, die sich an der Ornamentik der Originaleinbauten (Holzgestühl) orientiert. Die Holzarbeiten der Innenausstattung, der Kirchenbänke und Brüstung sind mit zueinander passendem bemaltem Schnitzwerk versehen. Die Orgel ist - wahrscheinlich des fehlenden Platzes wegen - nicht im Chorraum, sondern auf der Südempore - mit ebenfalls bemalter Holzbrüstung untergerbacht. Im Original von 1910 gab es einen dunkelgrünen Korklinoleumboden, dem der neue Boden nachempfunden ist. Durch die Wiederherstellung der Bemalung der Frankfurter Kirchenmaler Otto (1876 – 1961) und Rudolf Linnemann(1874 – 1916), die um die Jahrhundertwende 1900 viele Kirchen in Rheinhessen ausgemalt haben, „... entsteht ein Raumeindruck, der seine künstlerische Herkunft aus dem Darmstädter Jugendstil nicht verleugnen kann“[Anm. 1]. Die zueinander passende Bemalung von Chor, Chorbogen, Fensterlaibungen und Kirchengestühl wirkt warm und leuchtend. Geschwungene Linien und florale Elemente finden sich ebenso wie geometrische Formen des Wiener Jugendstils. Gemalt wurde mit Schablonen. Die Jugendstilkünstler hatten Musterbücher mit Schablonen und Farbhinweisen entwickelt, sodass sich viele Motive und Farben immer wieder finden. Bevorzugt wurden warme Grün- und Rottöne für florale Motive, blau für die Darstellung des Himmels.

Niemand kann die Innenraumbemalung durch die Gebrüder Linnemann einfühlsamer beschreiben als der Restaurator Vitus Wurmdobler (geb. 1945), der 1993 für die Wiederherstellung der in den 60er Jahren weiß übertünchten Malereien, verantwortlich war. „Die ruhigen, braunen Holztöne erlauben eine desto buntere Farbigkeit. Hier in Ingelheim haben wir einen blauen Chor, auf dem wie bei einem wertvollen Damast im dunkleren Blau vasenförmige Ornamente und Blumen aufgemalt sind. Der Chor erscheint als edler Teppich, in dem das ovale Fenster wie ein Edelstein leuchtet. Der Chorbogen selbst ist mit einer floralen Dekoration versehen, es scheint, als wüchsen zu beiden Seiten des Bogens in Spiralformen Blumen empor, die sich in der Bogenmitte vereinigen. Begleitet ist der Bogen von einem sich wiederholenden Spiralmuster, das sich in Sockelhöhe um das ganze Kircheninnere zieht. Da haben wir nun einen blauen Chor, einen blühenden Chorbogen mit grau und grün und mit leuchtend roten Einschlüssen. Dazu komponiert Linnemann einen in ockergelb gehaltenen Wandton, der mit orangen Farbtupfern übersät ist. Der Sockel ist grau mit dunkelblau strukturiert. Man hat den Eindruck eines blau-grauen Steinsockels. In den Fensterlaibungen nimmt er die gesamte Farbigkeit vom Chorschiff und Chorbogen noch einmal auf und dekoriert sie mit Spiral- und Kreuzmustern. Auf eine farbige Betonung der Pilaster verzichtet er, lediglich die Kapitelle sind in orange und grau abgesetzt........“ Vitus Wurmdobler (1993).

Nachweise

Verfasserin: Barbara Reif, Kultur- und Weinbotschafterin Rheinhessen

Redaktionelle Bearbeituung: Dominik Kasper

Verwendete Literatur:

  • Bouillon, Jean-Paul: Der Jugendstil in Wort und Bild. Stuttgart 1985.
  • Buchholz, Kai / Bahnschulte-Friebe, Ina: Centenarium - Einhundert Jahre Künstlerkolonie Mathildenhöhe Darmstadt 1999 - 2001, Darmstadt 2003.
  • Franzke, Irmela: Jugendstil. Battenberg Antiquitäten-Kataloge. München 1987.
  • Göbel, Paul-Gerhard: Baudenkmal Gustav-Adolf-Kirche Frei-Weinheim. Eine Dokumentation anläßlich der Innenrenovierung der Orgel anno domini 1993. Ingelheim 1993.
  • Herbig, Bärbel / Schröder, Doris: Die Darmstädter Mathildenhöhe. Architektur im Aufbruch zur Moderne. Zwei Spaziergänge zu den Bauten der Jahrhundertwende. Darmstadt, 2. Aufl. 2003.
  • Krienke, Dieter: Landesamt für Denkmalpflege. Mainz 2007.
  • Linnenkamp, Rolf: Jugendstil. München 1973.
  • Sembach, Klaus-Jürgen: Jugendstil. Die Utopie der Versöhnung. Köln 1990.
  • Shaper, Michael: Deutschland um 1900. Von Bismarck bis Wilhelm II.: Aufstieg und Fall des Kaiserreichs. In: GEO Epoche 12 (2004), passim.
  • Sterner, Gabriele / Bangert, Albrecht: Jugendstil – Art Deco. Battenberg Antiquitäten-Kataloge. München 1979.
  • Wikipediartikel: Jugendstil, Wiesbadener Programm, Gustav-Adolf-Werk, Friedrich Pützer, Otto Linnemann, Rudolf Linnemann

Erstellt: 19.04.2011

 

Anmerkungen:

  1. Dr. Joachim Glatz, Landeskonservator Rheinland-Pfalz, geb. 1950 Zurück