Jerusalem im Geiste. Die Konzeption einer geistlichen Pilgerfahrt


Bachelorarbeit, 2012

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Sionpilger
2.1. Konstitution von Fortbewegung und Raum
2.2. Definition geistlicher und körperlicher Pilgerfahrten
2.3. Tag 24 - 61
2.4. Exkurs: das Fliegen
2.5. Tag 63

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Pilgerreisen erfreuten sich im Mittelalter großer Beliebtheit. Einerseits erfuhren ferne Länder, durch literarischen Austausch zunehmend bekannter gemacht, gesteigertes Interesse, andererseits wollte man als gläubiger Christ an einer heiligen Stätte für sein Seelenheil beten und dort Ablass erhalten. Es begaben sich vermutlich mehr Menschen auf Pilgerfahrt, als man, aufgrund der schwierigen Bedingungen, annehmen dürfte. Zu solchen Bedingungen gehörten ausreichende finanzielle Mittel für Proviant und Reisekosten; aber auch die Erlaubnis eines hohen Geistlichen war erforderlich. Zu den Unannehmlichkeiten zählten hingegen Krankheiten, Überfälle, Unwetter, Geldnot sowie die unbequeme Transportsituation. Auch Diskriminierung im Ausland durch hohe Zölle, unsaubere oder überfüllte Unterkünfte und lange Wartezeiten vor den Heiligtümern, waren gängige Probleme. Vielen Menschen jedoch blieb die Möglichkeit auf Wallfahrt zu gehen verwehrt, wie beispielsweise Frauen, auch Nonnen, Arbeitenden und Armen. Das Genre der geistlichen Pilgerfahrten, zu dessen Vertretern Die Sionpilger des Ulmer Dominikaners Felix Fabri gehört, entstand, damit auch diesen Menschen der Erhalt des Ablasses möglich gemacht werden konnte.

Die Sionpilger ist eine geistliche Pilgerreisebeschreibung, die nicht nur die Reise wiedergibt, sondern speziell für mental Reisende konzipiert wurde. In diesem Text werden Fahrten nach Jerusalem, Santiago de Compostela und Rom beschrieben. Da Fabri selbst in Jerusalem war und darüber auch einen körperlichen Reisebericht verfasst hat, werden in dieser Arbeit zwei prägnante Textstellen aus der Jerusalemreise in Die Sionpilger untersucht. Fabri passt darin seinen Text dem speziellen Publikum durch eine bestimmte Konstitution der Beschreibung an. Während der Rezeption der mentalen Reisebeschreibung entstehen zwei Körper. Der eine Körper ist der des Lesers, der an Ort und Stelle verweilt; der andere ist der Körper des Pilgers, der sich mental auf die Reise begibt und nur auf dieser Ebene präsent ist, wodurch eine spezielle Wahrnehmung und, dadurch bedingt, ein besonderes Verhalten hervorgerufen wird. Es gibt viele Untersuchungen zu Pilgerreisen, das Subgenre der geistlichen Pilgerfahrten ist bisher aber nur oberflächlich behandelt worden. Den Vorschlag, „eine Textgruppe ‚geistlicher Pilgerfahrten’ zu etablieren,“1 hat Carls anhand einiger weniger Pilgerfahrtsberichte getätigt. Diese zeichnen sich durch die Gemeinsamkeit der Imagination und Aufforderung zur Reise aus:

Rezipienten [werden] dazu aufgefordert […], sich gemeinsam oder allein zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, im Geist auf die Reise zu weit entfernten Heilsstätten zu machen, um auf dem Wege dieser Ersatzhandlung der Segnungen jener imaginieren [sic!] Orte teilhaftig zu werden.2

Der Korpus dieser Textsorte ist nicht sehr umfangreich, da viele der Texte nicht von realen Pilgerberichten unterschieden wurden. Eine genaue Untersuchung inwiefern diese Texte ebenfalls eine Anleitung zum mentalen Pilgern geben können - vor allem in Hinsicht auf die Imaginationsaufforderung und die spezielle Konzeption der Heiligtümer auch schon bearbeiteter Pilgerberichte - steht noch aus.

Da die geistlichen Pilger sich nicht wirklich bewegen, ist keine Varianz in der Verwendung der Fortbewegungsverben oder der Transportmittel nötig, für deren Darstellung der Teil der Jerusalemreise untersucht wird, in der die Pilger auf einem Schiff von Venedig nach Ioppen reisen und von dort aus nach Jerusalem weiter ziehen. Ein weiteres Augenmerk liegt darauf, ob Fabri in diesem Teil Prüfungen für die Pilger eingebaut hat, mit deren Bestehen sie sich als würdig für den Erhalt des Ablasses beweisen können.

In einem Exkurs wird eine Fortbewegungsart von besonderem Interesse untersucht: Das Fliegen. Diese spezielle und phantastische Fortbewegungsart ist eine singuläre Besonderheit, die Fabri in seinem Text beschreibt.

Im letzten Teil der Arbeit liegt der Fokus auf der Wahrnehmung der mentalen Pilger, welches am Beispiel der Grabeskirche in Jerusalem dargestellt wird. Durch das Fehlen körperlicher Ausdehnung und dadurch mangelnde Orientierung im Raum, kann Fabri sich bei seiner Beschreibung mehr Freiheiten erlauben, dass heißt er muss die Kirche nicht getreu wiedergeben, da sein Text vermutlich nicht real als Reiseführer benutzt wird. Trotz dessen könnte Fabri versuchen, eine Art mentaler Karte aufzubauen, die die Pilger abgehen können, welches seinen Text doch zu einem stofflich brauchbaren Reiseführer machen könnte. Da er Die Sionpilger aber speziell für mental Pilgernde geschrieben hat, wird sich auch seine Kirchenbeschreibung durch Besonderheiten in der Beschreibung der Wahrnehmung auszeichnen. Zudem nutzt Fabri eine Erzählerfigur, die austauschbar bleibt und in die sich Rezipienten leicht hinein versetzten können, um ihnen ein möglichst nahes Leseerlebnis zu ermöglichen.

Um die einzelnen Ergebnisse zu verdeutlichen wird Bezug auf zwei weitere Pilgerreisebeschreibungen genommen: die Peregrination in terram sanctam von Bernhard von Breydenbach3 und Fabris Pilgerbuch4 , in der Übersetzung von Sollbach. Bernhard von Breydenbach besuchte, ebenso wie Fabri, Jerusalem und weitere Wallfahrtsorte persönlich, zwischenzeitlich reisten sie sogar zusammen.5 Bernhard schrieb über seine Reise mithilfe von Martin Rath6 ein umfangreiches Werk und ließ es durch Erhard Reuwich aufwendig mit Holzschnitten bebildern.7 Die Peregrinatio eignet sich insofern für einen Vergleich, da beide Texte auf denselben Grundlagen basieren und unter gleichen Rahmenbedingungen verfasst worden sind, denn sie entstanden in zeitlicher Nähe zueinander und sind beide in deutscher Sprache verfasst. Zudem weisen sie Ähnlichkeiten bezüglich der Reiseroute auf und beschreiben die verschiedenen Orte auf den temporal selben Beschreibungsgrundlagen fußend. Da Fabri die Pilgerberichte von Ludolf von Sudheim und Hans Tucher kannte, also ein Austausch unter Pilgerberichtsautoren durchaus stattfand, ist es möglich, dass er auch Breydenbachs Bericht kannte.8

Nur an besonders prägnanten Stellen soll auf Sollbachs Übersetzung von Fabris Pilgerbuch Bezug genommen werden, denn da es sich um eine nichtkritische Edition als Leseausgabe handelt, kann kein wissenschaftlicher Anspruch geltend gemacht werden. Mit diesem Vergleich kann Fabris spezielle Konzeption des Textes für mental Pilgernde aber anschaulicher dargestellt werden, da es sich um eine körperliche Pilgerreisebeschreibung des selben Autors handelt. Differenzen und Ähnlichkeiten werden aufgezeigt, um deutlich zu machen, ob Fabri für seine Sionpilger eine eigene Welt aufbaut, ob er seine Beschreibungen anders konstruiert und sie somit seinem speziellen Zielpublikum anpasst.

Doch zuerst wird die Konstitution von Fortbewegung und Raum beschrieben, also die Wahrnehmung eines Subjektes bezüglich dieser beiden Größen. Danach werden Pilgerreisebeschreibungen und deren Subgenres, die geistliche und körperliche Pilgerfahrt, definiert und auch Die Sionpilger kurz umrissen.

2. Die Sionpilger

2.1. Konstitution von Fortbewegung und Raum

Laut Habel und von Stutterheim bilden hauptsächlich „Prozesse der visuellen Verarbeitung […] die repräsentationelle Grundlage, auf die bei einer entsprechenden Verbalisierungsintention zugegriffen wird.“9 Um also einen Ort oder eine ganze Reise beschreiben zu können, muss die Grundlage dafür erst wahrgenommen werden. Doch diese Wahrnehmung ist gerade bei den mentalen Pilgern eingeschränkt, so ist ihnen die visuelle Erfassung nicht möglich. Hallet und Neumann stellen fest, dass „<Raum> ohne <Bewegung> nicht denkbar ist,“10 da „Verortungen im Raum so gut wie immer mit orientierenden bzw. explorierenden Bewegungen verbunden sind, mittels derer Räume aktiv in Anspruch genommen, vermessen und durchquert, Raumgrenzen ausgelotet und überschritten werden.“11 Und wie Böhme spezifiziert, entsteht Raum erst durch Eigen- oder Fremdbewegung. Die Erfahrung oder Erfühlung des Raumes ist es, die ihn konstituiert. Doch auch der „körperliche[…] Kontakt“12, den der Pilger mit den Reliquien herstellen muss, um den Ablass zu erhalten, ist den Sionpilgern nicht möglich. Trotz dessen gesteht Fabri ihnen dieses Privileg zu, wozu sie aber in besonderem Maße Mühen auf sich nehmen müssen, um das Fehlen der Körperlichkeit auszugleichen.

Jahn unterscheidet Stationenräume und Kontinuitätsräume.13 Beide Räume können beschrieben und bis zu einem gewissen Punkt eingesehen werden. Dabei sind Stationenräume betretbar, während Kontinuitätsräume nur aus der Ferne eingesehen werden können. Einen solchen Kontinuitätsraum stellt in Die Sionpilger das Meer dar, das sich durch einen starken Grenzcharakter auszeichnet, den die Pilger überwinden müssen. Es eignet sich außerdem als Bewährungsprobe, denn, wie Carls feststellt, sind „Gefahren und Entbehrungen wesentliche Bestandteile einer Pilgerreise,“14 da es sich um größtenteils unbekanntes Terrain und einen scheinbar nur mit Wasser gefüllten Raum handelt. Auch Haupt stellt fest: „Nicht nur das Ziel der Reise war dabei bedeutsam, sondern auch der Weg dorthin, und zwar im konkreten Sinn eben der Reise, aber auch im übertragenen Sinn als spirituelle Praxis.“15 Die Seereise ist also nicht nur ein typisches Merkmal eines Pilgerberichtes, sondern zudem eine Möglichkeit für Fabri, den Sionpilgern zusätzliche Mühen aufzuerlegen, damit diese sich den Ablässen als würdig erweisen können. Auch die wichtigsten Pilgerstädte werden auf diese Weise instrumentalisiert. „’Jerusalem’ ist nicht die Bezeichnung für eine lebende, funktionierende Stadt mit Märkten, Bädern etc., sondern eine Art Freilichtmuseum,“16 stellt auch Jahn anhand Tuchers Reisebericht fest. Hier erfährt der Leser nichts über die geographische Ausdehnung, Heiligtümer, die Herrschersituation oder die Menschen. Für einen Pilgerbericht ist Jerusalem nur ein weit entfernter Ort, zu dem hinzugelangen nicht einfach ist, der angefüllt ist mit Heiligtümern und welchen es daher dringend zu erreichen gilt.

Um einen Stationenraum handelt es sich bei der Grabeskirche in Jerusalem. Die Kirche stellt einen geschlossenen Raum dar, der für das Subjekt betretbar ist. Für Dennerlein baut sich ein Raum durch die Wahrnehmung des Menschen auf, wobei der Körper das Subjekt bildet und damit die Position im Raum einnimmt, von der jegliche Wahrnehmung ausgeht.17 Sie beschreibt den Raum als Container, der die „aktuelle Umgebung“18 darstellt. Die Lage eines Objekts im Raum wird laut Vorwerg und Rickheit durch seine Orientierung, Positionierung und Entfernung zu anderen Objekten ausgedrückt.19 Das Objekt ist in diesem Falle der Erzähler, in welchen sich jeder Sionpilger hinein versetzen soll.

Die dreidimensionale Wahrnehmung vom Subjekt aus und die Achsen, durch die diese beschreibbar wird, nennt Dennerlein die Vertikale, die erste Horizontale (Sagittale) und die zweite Horizontale (Transversale).20 Die Vertikale geht dabei durch die Vertikale des Körpers, durchschneidet ihn also von oben nach unten (oder umgekehrt). Die Sagittale durchstößt Rücken und Brust des Menschen von hinten nach vorne. Die Transversale durchzieht die Schultern von der einen Seite zur anderen. Die Ausrichtung der Achsen führt zu einer bestimmten Wahrnehmung und wirkt sich auf die Beschreibung eines Raumes durch ein Subjekt aus.21 Die Achsen rufen spezielle Beschreibungsmöglichkeiten hervor, die allgemein verständlich sind und Präpositionen, wie vorne, hinten, neben, unter und auf und Richtungsangaben wie links und rechts benötigen. So wird ein Raum beschreibbar gemacht.

2.2. Definition geistlicher und körperlicher Pilgerfahrten

Ganz-Blättler bezeichnet eine Pilgerreise als ein „kulturübergreifendes und durchaus zeitloses Konzept des Unterwegsseins als spirituelle Übung.“22 Diese Definition bezieht sowohl körperliche als auch geistliche Pilgerfahrten mit ein. Carls betont jedoch einen weiteren Aspekt der geistlichen Pilgerfahrt, denn sie „muß erzähltypisch als ein Reiseführer gesehen werden, wobei der Mitteilungsschwerpunkt nicht auf pragmatischen Aspekten des Reisens liegt, sondern auf der Imaginierbarkeit des Dargestellten.“23 Die geistliche Pilgerfahrt grenzt sich von der körperlichen Pilgerreisebeschreibung durch den Anspruch ab, dass sich der Leser in das Buch hineinversetzen kann, und sich mit dem Dargestellten eine Welt imaginieren lässt, durch die der Leser wirklich reisen und an die er glauben kann. Die Sionpilger ist mehr als bloßer Reisebericht; er ist Anleitung bzw. Meditationshilfe für Menschen, denen es nicht möglich war, eine lange Pilgerfahrt zu unternehmen.

Fabri schrieb dieses Werk 1492, zwei weitere körperliche Reisebeschreibungen früher, namentlich das 1500 Seiten umfassende Evagatorium und das Pilgerbuch, bei dem laut Feilke „der gesamte gelehrte Teil, der den Reiz des Werkes ausmacht, […] zu Gunsten einer lapidaren Reisebeschreibung weg [fiel].“24 Darin verarbeitete er seine Pilgerfahrten nach Rom (1476), Venedig (1486 und 1487) und zwei weitere in das heilige Land (1480 und 1483/84). Das Konzept der Imitatio Christi zeigt sich nicht nur im Nachvollzug des Leidensweges Christi, sondern auch in der Anlehnung an schon vorhandene Pilgerberichte, denn „[man] reiste so, wie es in den Schriften der Vorgänger beschrieben stand. Und man schrieb vor allem so, wie es die Konventionen des Genres Pilgerschrift verlangten.“25 Fabris Berichte sind also selbst erlebt, aber durchaus durch andere Quellen legitimiert. Die Sionpilger ist eine Beschreibung einer geistlichen Pilgerfahrt, in der Reisen nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela beschrieben werden. Zudem ist sie, ähnlich wie viele Pilgerberichte, chronologisch aufgebaut und nach Tagesreisen unterteilt.

Zu Beginn seines Textes stellt Fabri zwanzig Regeln auf, in denen er Anleitungen zur Rezeption seiner Reise gibt, die deutlich machen, dass er seine Beschreibung einem speziellen Gebrauch angepasst hat.

Fabri führt in der ersten Regel den Begriff der geistlichen Pilgerfahrt ein und setzt dem die „libliche[…] bilgerfahrt“26 gegenüber; dort benennt er auch die Pilger:

Die lÿblichen bilgrin die z denen hailigen stetten ber mer ziehen werden gehaissen Ritter bilgrin in dem biechlin vnd die gaistlichen bilgrin die nit lÿblich ziehen · aber gaistlich mit dem gemiet · werden genent Sÿon bilgrin. 27

Die pragmatische Vorbereitung schließt die Einstimmung auf den nächsten Tagesabschnitt am Abend zuvor mit ein. Zudem gehören auch weitere Bestimmungen, wie das nach Geschlechtern getrennte Reisen in Gruppen, aber auch die Unterstützung Leseunkundiger durch Gebildete. Auch wenn Fabri Ulm zum Anfangpunkt der Reise bestimmt, ist eine private Rezeption im eigenen Zimmer ebenfalls denkbar, wenn nicht sogar eher davon auszugehen ist.28 Diese durchaus real umzusetzenden Regeln verdeutlichen, dass dieser Text nicht nur beiläufig gelesen werden sollte, sondern durchaus dieselbe Vorbereitung und Reflektion erfordert, wie eine leibliche Pilgerfahrt, wodurch sie dieser in der mit ihr einzugehenden Verpflichtung gleich kommt. Zudem beschreibt Fabri die vielen Vorteile der Sionpilger und stellt ihnen zu diesem Zweck die Ritterpilger gegenüber: so brauchen diese keine Erlaubnis, um eine Wallfahrt zu unternehmen, ebenso wie sie nicht auf Geld oder Proviant angewiesen sind. Auch dürfen sie ihre Wallfahrt unterbrechen und dann später an derselben Stelle fortführen „as wer er die will kranck gewesen.“29 Des Weiteren werden die Sionpilger weder durch das Wetter oder Krankheiten, noch durch Zölle oder Nichtchristen am Besuch Jerusalems gehindert; sie können sich unbegrenzt Zeit lassen, während die Ritterpilger ständigem Zeitdruck unterworfen sind; hier wird die schnellere und unbehinderte Reise der Sionpilger deutlich. In der siebten Regel beschreibt Fabri, dass Ritterpilger durch eine Wallfahrt durchaus in ihren Glaubensverpflichtungen behindert werden können, auch warnt er vor dem Vorbild heidnischer Unfrömmigkeit.

Die vielen Vorteile des mentalen Pilgerns sieht auch Leahy: „Die Befreiung des Individuums von seinem erniedrigenden, körperlichen Gefängnis hebt das Ich auf eine rein geistige, göttliche Ebene.“30 Somit ist auch eine textuelle Reise eine echte Reise, die aber durch keinerlei reale Hindernisse erschwert wird. Ähnliches findet sich bei Böhme. Er stellt den Menschen, der durch seine eigene Wahrnehmung geozentrisch beschränkt und immer den physikalischen Gesetzen der Erde unterworfen ist, den Objekten außerhalb der Atmosphäre gegenüber. „Die Himmlischen indes sind dadurch charakterisiert, daß ihr Sein und ihre Bewegung antigrav sind […]. Sie operieren in einem Raum >ohne Gewicht<.“31 Dadurch, dass die Pilger von ihrer schweren körperlichen Hülle befreit reisen können, ist eine geistliche Pilgerreise vermutlich die überlegenere Art, eine Wallfahrt zu unternehmen, denn die Sionpilger sind so vor jeglicher Ablenkung geschützt und können sich ganz auf die demütige Wallfahrt konzentrieren.

Fabri geht jedoch auch auf eine wichtige pilgertypische Erzählkomponente ein: die Mühe oder Prüfung. Die vielen Vergünstigungen, die Fabri seinen Sionpilgern zugesteht, stehen einer leidvollen Imitatio Christi diametral gegenüber. So dürfen die Sionpilger keine Reittiere oder Wagen benutzen, wie die Ritterpilger, sondern müssen gehen: „Aber der S on bilgrin mßes als selbs durch gan.“32 Aber Fabri beschreibt auch die Leiden der Ritterpilger und erklärt: „Doch nimpt er [der Sionpilger] im selbs her das ellend der ritter bilgrin as wer es sin aigen lÿden vmb des verdienes wegen.“33 Der mental Pilgernde muss also die Leiden eines Ritterpilgers nachempfinden, um Ablass erhalten zu können.

Auch den Erhalt des Ablasses regelt Fabri: die Sionpilger empfangen ihn direkt von Gott, der mehr wert als der der Ritterpilger ist, aber dessen Erhalt sie nur erhoffen können. Trotzdem erlangen die Sionpilger Ablass, obwohl sie das Heilige Land nicht real betreten.

[...]


1 Felix Fabri, Die Sionpilger. Hrsg. von Wieland Carls. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1999. S. 42. Im Folgenden: Fabri, 1999.

2 Fabri, 1999. S. 42.

3 Bernhard von Breydenbach: Peregrinatio in terram sanctam. Eine Pilgerreise ins Heilige Land. Hrsg. von Isolde Mozer. Berlin/ New York: Walter de Gruyter Verlag 2010. Im Folgenden: Breydenbach, 2010.

4 Sollbach, Gerhard E.: In Gottes Namen fahren wir. Die Pilgerfahrt des Felix Faber ins Heilige Land und zum St. Katharina-Grab auf dem Sinai A.D. 1483. Kettwig: Phaidon Verlag 1990. Im Folgenden: Sollbach, 1990.

5 Vgl. Fabri, 1999. S. 20.

6 Vgl. Breydenbach, 2010. S. XXVI.

7 Vgl. Breydenbach, 2010. S. XIII.

8 Vgl. Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie. Teil 1: Deutsche Reiseberichte bearbeitet von Christian Halm. Hrsg. von Werner Paravicini. 2. Auflage. Frankfurt/ Main: Lang Verlag 2001. S. 219. Im Folgenden: Paravicini, 2001. Breydenbachs Bericht wurde 1486 geschrieben, also sechs Jahre vor Fabris Die Sionpilger.

9 Habel, Christopher; Von Stutterheim, Christiane: Räumliche Konzepte und sprachliche Strukturen - Eine Einleitung. In: Räumliche Konzepte und sprachliche Strukturen. Hrsg. von Christopher Habel, Christiane von Stutterheim. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2000. S. 1-8, hier: S. 1.

10 Hallet, Wolfgang; Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial-Turn. Hrsg. von Wolfgang Hallet, Birgit Neumann. Bielefeld: transcript Verlag 2009. S. 11-32, hier: S. 20. Im Folgenden: Hallet, 2009.

11 Hallet, 2009. S. 21.

12 Sigal, Pierre-André: Der mittelalterliche Pilger. In: Auf den Wegen Gottes. Die Geschichte der christlichen Pilgerfahrten. Hrsg. von Henry Branthomme. Paderborn: Bonifatius Verlag 2002. S. 141-153, hier: S. 148. Im Folgenden: Sigal: Pilger, 2002.

13 Vgl. Jahn, Bernhard: Raumkonzepte in der frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt/ Main: Lang Verlag 1993. S. 57. Im Folgenden: Jahn, 1993.

14 Fabri, 1999. S. 33.

15 Haupt, Barbara: Einleitung. In: Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von Barbara Haupt, Wilhelm

G. Busse. Düsseldorf: Droste Verlag 2006. S. 7-14, hier: S. 8.

16 Jahn, 1993. S. 81.

17 Vgl. Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes. Berlin: Walter de Gruyter Verlag 2009. S. 175. Im Folgenden: Dennerlein, 2009.

18 Dennerlein, 2009. S. 175.

19 Vgl. Vorwerg, Constanze; Rickheit, Gert: Repräsentation und sprachliche Enkodierung räumlicher Relationen. In: Räumliche Konzepte und sprachliche Strukturen. Hrsg. von Christopher Habel, Christiane von Stutterheim. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2000. S. 9-44, hier: S. 9.

20 Vgl. Dennerlein, 2009. S. 175.

21 Dennerlein möchte den Raum durch die Wahrnehmung eines Subjektes beschreiben, der Brustkörper allerdings ist kein primäres Wahrnehmungsorgan. Da Dennerlein die Richtung der Sagittale als die Blickrichtung der Augen beschreibt, sollte diese auch dort angesiedelt sein. Zusätzlich ist die Wahrnehmung dort, durch den drehbaren Kopf, verstärkt. Auch führt der Höhenunterschied zwischen Brust und Kopf zu einer größeren Übersicht. Diese Faktoren erzeugen eine andere Wahrnehmung, als eine Blickrichtung starr nach vorn.

22 Ganz-Blättler, Ursula: „Ich kam, sah und berührte“ Jerusalem als Pilgerziel im ausgehenden Mittelalter. In: Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von Barbara Haupt, Wilhelm G. Busse. Düsseldorf: Droste Verlag 2006. S. 15-30, hier: S. 18. Im Folgenden: Ganz-Blättler, 2006.

23 Fabri, 1999. S. 36.

24 Feilke, Herbert: Felix Fabris Evagatorium über seine Reise in das Heilige Land. Eine Untersuchung über die Pilgerliteratur des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt/ Main: Lang Verlag 1976. S. 7. Im Folgenden: Feilke, 1976.

25 Ganz-Blättler, 2006. S. 25.

26 Fabri, 1999. S. 86.

27 Fabri, 1999. S. 78.

28 Vgl. Rapp, François: Wandlungen und Schwierigkeiten der Wallfahrt im Spätmittelalter. In: Auf den Wegen Gottes. Die Geschichte der christlichen Pilgerfahrten. Hrsg. von Henry Branthomme. Paderborn: Bonifatius Verlag 2002. S. 156-173, hier: S. 167. Im Folgenden: Rapp, 2002.

29 Fabri, 1999. S. 82.

30 Leahy, Caitríona: Reisen in einem Zimmer. Oder: die Wände hochgehen. In: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmodern; Tagungsakten des Internationalen Symposions zur Reiseliteratur, University College Dublin vom 10.-12. März 1994. Hrsg. von Anne Fuchs, Theo Harden. Heidelberg: Winter Verlag 1995. S. 87-101, hier: S. 90.

31 Böhme, Hartmut: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hrsg. von Hartmut Böhme. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2005. S. IXXXIII, hier: S. XVII.

32 Fabri, 1999. S. 78.

33 Fabri, 1999. S. 83.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Jerusalem im Geiste. Die Konzeption einer geistlichen Pilgerfahrt
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
34
Katalognummer
V272319
ISBN (eBook)
9783656672937
ISBN (Buch)
9783656672869
Dateigröße
532 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
jerusalem, geiste, inszenierung, raum, fortbewegung, felix, fabris, sionpilger
Arbeit zitieren
Antonia Riedel (Autor:in), 2012, Jerusalem im Geiste. Die Konzeption einer geistlichen Pilgerfahrt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272319

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