Die Umdeutung des antiken Mythos Minotaurus bei Dürrenmatt


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Sage vom Minotauros

3 Die Undeutung des antiken Minotauros-Mythos
3.1 Die Herkunft des Minotaurus
3.2 Das Labyrinth als Gefängnis und Schutzraum
3.2.1 Das Labyrinthische im Wesen des Minotaurus
3.2.2 Die Wirkung des Spiegellabyrinths auf den Minotaurus
3.3 Das Erkennen des „Dus“
3.3.1 Das (Be)greifen des „Dus“
3.3.2 Der Verlust des „Dus“
3.4 Das neue „Du“
3.4.1 Die Vernichtung des Minotaurus
3.5 Die Entstehung eines Feindbildes
3.5.1 Die Besiegung des Feindbildes
3.6 Das Schattenlabyrinth – Erkenntnis des „Ichs“
3.7 Das Labyrinth hat seine Funktion erfüllt - verloren

4 Fazit

5 Literatur

1 Einleitung

Die Literatur des 20. jahrhundert scheint mit einer besonderen Vorliebe den alten griechischen Minotauros-Mythos und dementsprechend auch das Labyrinth-Mythem aufzugreifen.

Über die Faszination des Labyrinth für den Menschen schrieb Dürrenmatt: „Er entdeckt es immer wieder, es ist ein Abbild dessen, dass er in einer Welt lebt, die er sich selber schafft und in der er sich zurechtfindet.“ Die Tatsache dafür, dass die Affinität dazu in unserem Jahrhundert zugenommen hat, sieht Dürrenmatt darin begründet, dass der Mensch „heute immer mehr labyrinthisch“ lebt, dass die Technik „eine labyrinthische Welt erschaffe. Diese Meinung ist fast allgemein verbreitet. Die mittelalterliche Vorstellung der Welt als Labyrinth, deren Erlösung Christus-Theseus verkörpert, scheint in die Metapher der Welt als Labyrinth umgedeutet worden zu sein. Bei manchen Autoren ist diese Deutung so offensichtlich – besonders auch bei Dürrenmatt – dass sie zu Schlüsselmetapher ihrer Werke wird.[1]

Dürrenmatts Umgang mit dem mit dem antiken Minotauros-Mythos weist den Charakter einer eigenartigen und eigenwilligen Interpretation auf. Dürrenmatt äußert sich dazu: „Ich habe die Ballade ganz bewusst auf das Thema der Vereinzelung angelegt, auf den Einzelnen, der nie zu seinem Gegenüber kommt.“[2]

Wie in der Forschungsliteratur festgestellt wurde, sind die fiktionalen Texte des Autors explizit und implizit als Parabeln intendiert. Dürrenmatt betont jedoch die Mehrdeutigkeit seiner Gleichnisse, sodass er seine Texte offen für verschiedene Auslegungen hält und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass seine Modelle nicht rein naturwissenschaftlicher sondern künstlerischer Art sind und sich Kraft ihrer Vielschichtigkeit jeder Festlegung auf eine einzige Bedeutungsebene entziehen. Entsprechend unterschiedlich fallen dann auch die zahlreichen Interpretationen in der Dürrenmatt-Literatur aus, die – wenn sie zeitgeschichtliche oder religiöse Analogien aufzeigen wollen – sich der Parabeldeutung widmen und Dürrenmatts kritisch-skeptische Sicht der Welt den künstlerischen Eigenwelten entnehmen.[3]

In der vorliegenden Arbeit sollen die von Dürrenmatt in der Ballade „Minotaurus“ vorgenommenen Veränderungen des antiken Minotauros-Mythos und deren Deutungsmöglichkeit herausgearbeitet werden. Eine Orientierungshilfe wird hierbei der antike Minotauros-Mythos liefern. Anhand der Entwicklungsstationen des Minotaurus wird das wechselnde Verhalten des Protagonisten untersucht und in Bezug zu den zentralen Bildern der „Ballade“ - Labyrinth, Spiegel und Tanz - gesetzt werden. Des Weiteren soll herausgestellt werden, was die Entwicklung des Minotaurus ausmacht und bewirkt.

2 Die Sage vom Minotauros

Theseus, der nach vielen Abenteuern in Athen eingetroffen war, hörte von dem Tributopfer, das die Athener an König Minos in Knossos zu leisten hatten. Der Grund für dieses Opfer war der Tod seines Sohnes Androgeos. Dieser wurde durch eine Hinterlist im attischen Gebirge getötet. Um den Tod des Sohnes zu rächen, hatte Minos die Athener in einem Krieg besiegt und daraufhin verlangt, dass alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta zu schicken seien. Sie wurden dann in das Labyrinth geführt und dem Minotauros geopfert.

Der Minotauros mit dem Kopf eines Stieres und dem Körper eines Menschen war aus einer Verbindung zwischen Pasiphae, Gattin des König Minos, und einem Stier hervorgegangen. Dieser Stier war eigentlich ein Opfer für den Meeresgott Poseidon, von Zeus geschickt und von Minos unterschlagen - er tauschte ihn gegen einen anderen aus seiner Herde aus. Poseidon, der den Frevel bemerkte, bewirkte, dass sich Pasiphae in den Stier verliebte. Um das widernatürliche Begehren zu verwirklichen, half ihr Dädalus, der gefeierte Künstler und Architekt am Hofe des Minos. Er konstruierte eine hölzerne Kuh, in die Pasiphae hineinschlüpfte. Der Stier erlag der Täuschung, und es kam zur Vereinigung beider. Minos ließ daraufhin von Dädalus das Labyrinth bauen, um den Minotauros darin zu verbergen. Als er allerdings erfuhr, dass Dädalus bei der Zeugung geholfen hatte, sperrte er auch diesen und dessen Sohn Ikarus in das Labyrinth. Von dort entkamen beide durch die Luft, indem Dädalus Flügel aus Wachs, Federn und Fäden herstellte. Ikarus stürzte bei der Flucht ins Meer, weil er sich zu sehr der Sonne näherte; Dädalus gelangte nach Sizilien, wo König Kokalos ihn aufnahm.

Als die Zeit für das dritte Tributopfer gekommen war, begann eine große Unzufriedenheit die Athener zu ergreifen. Sie beschuldigten Ägeus, den Vater Theseus' und König in Athen, der Untätigkeit. So meldete sich Theseus freiwillig, um als eines der Opfer nach Knossos zu gehen und den Minotauros zu besiegen. Dort angekommen, versuchte Minos, eine der Jungfrauen zu vergewaltigen. Theseus schritt dagegen ein und Ariadne, die Tochter des Minos, verliebte sich in ihn. Mit einem Wollknäuel, einem Geschenk des Dädalus, und einem Schwert half sie Theseus, das Labyrinth-Abenteuer zu bestehen.

Denn der konnte nun zusammen mit den anderen Jünglingen und Jungfrauen das Labyrinth betreten, den Minotauros töten und mit Hilfe des abgewickelten Knäuels den Ausgang wieder finden. Wieder am Ein- bzw. Ausgang, floh Theseus mit den anderen und mit Ariadne nach Naxos. Dort ließ er Ariadne zurück und segelte nach Delos, wo er zu Ehren Apolls den Kranichtanz einführte, der die labyrinthischen Windungen auf einer Tanzplatte nachzeichnete. Auf dem Weg nach Athen vergaß Theseus allerdings, statt der schwarzen die weißen Segel, die eine erfolgreiche Wiederkehr bedeuteten, zu hissen, so dass sich sein Vater Ägeus vor Verzweiflung von einem Felsen in die Tiefe des Meeres stürzte.

3 Die Undeutung des antiken Minotauros-Mythos

Untrennbar mit dem Labyrinth ist bei Dürrenmatt der Minotaurus als Bewohner dieses unübersichtlichen Bauwerks, der in der „Ballade“ vom Minotaurus die Position des Einzelnen in der labyrinthischen Welt einnimmt, in der kein Kontakt zum Du möglich wird.[4]

Der Begriff des Einzelnen bei Dürrenmatt entstand zunächst aus seinen philosophischen Studien, wurde jedoch früh mit der mythologischen Vorstellung vom Labyrinth verbunden, wie die Rückblicke des Autors zur Entstehung seiner Werke zeigen (Stoffe I-III).

Die Figur des Minotaurus verleiht dem zunächst abstrakten Vergleich von Welt und Labyrinth die tief empfundene menschliche Realität, wie sie in der von Dürrenmatt selbst bebilderten „Ballade“ eindrücklich zur Darstellung kommt.

In der Mischgestalt eines Mannes mit Kopf und Oberkörper eines Stieres steht der Minotaurus im krassen Gegensatz zu seiner ganz und gar menschlichen Mutter Pasiphaë. Ihr Gegenüber erscheint der Minotaurus als Ungetüm tierisch-triebhaften Charakters.[5]

Dürrenmatt ändert den antiken Mythos radikal. Der Leser liest die Geschehnisse zu meist aus der Sicht des Minotaurus, welcher in der „Ballade“ zum ersten Mal im Labyrinth erwacht.

Während im traditionellen Mythos der Minotauros als teuflischer Menschenfresser und Theseus als heroischer Held dargestellt wird, tauscht Dürrenmatt die vorgegebenen Rollen. Unfähig rational zu denken, ist der seinem Instinkt folgende Minotaurus doch halb Mensch. Dass es dem Minotaurus an Moral mangelt ist nicht seine Fehler. Genauso gut könnte er auch mit einem menschlichen Kopf und einem tierischen Körper geboren worden sein, ähnlich wie bei einem Zentauren. Er erscheint bei Dürrenmatt sanfter, fast kindlich, trotz seines wilden Charakters. Er entwickelt sich und zeigt Gefühle, die außerhalb seines instinktiven Wesens stehen.

Die Selbsterkennung ist die erste Herausforderung, die der Minotaurus zu bestehen hat, dabei wird seine Separation von anderen Lebewesen ein Problem darstellen, da er der einzige Minotaurus auf der ganzen Welt und allein im Labyrinth ist.[6]

Die „Ballade“ beschreibt nun die verschiedenen Stufen der Bewusstwerdung des „Wesens“, das in einem Spiegellabyrinth gefangen ist, bis zur Erkenntnis des anderen (Theseus), der es tötet.

3.1 Die Herkunft des Minotaurus

Über die Herkunft und das Heranwachsen des als „Wesen“ (429) bezeichneten Minotaurus wird berichtet, dass es sich „nach langen Jahren eines wirren Schlafes, währenddessen es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs, auf den Boden des Labyrinths“ (429) vorfand.

Der Minotaurus wächst folglich ohne Kindheit, Geborgenheit und Beziehung zu Mutter und Vater auf. Der Bezug zum „Du“ bleibt ihm damit von Anfang an verwehrt, sodass auch die Selbsterkenntnis des „Wesens“, aber auch die Kenntnis von der Welt um sich herum ausbleibt.

Die Verbannung des Minotaurus in das Labyrinth bedeutet für ihn Gefangenschaft und Isolation zugleich. Er wird für sein Dasein bestraft, obwohl er für seine Entstehung nicht verantwortlich ist. Bereits in seiner „Dramaturgie des Labyrinths“ betont Dürrenmatt die Unschuld des Minotaurus.[7]

[...]


[1] Jambor, Jan: Labyrinth, Spiegel Tanz – drei zentrale Bilder in Dürrenmatts Minotaurus. Berlin: Brücken-

Verlag, 1997, S. 293

[2] Jambor, S. 294

[3] Alami, Marita: Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt. Köln: Böhlau Verlag 1994, S. 71

[4] Altwegg, Jürgen: Das Monstrum als Symbol der Vereinzelung. Friedrich Dürrenmatt als Dichter und Zeichner des Minotaurus-Motivs. In Keel, Daniel (Hg): Über Friedrich Dürrenmatt. 3. Auflage. Zürich: Diogenes-Verlag , 1986, 342

[5] Alami, S. 73-74

[6] Crockett,Roger, S. 168

[7] Dürrenmatt, Friedrich: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Stoffe I-III. Zusammenhänge. Zürich: Diogenes Verlag, 1988, S. 89

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Umdeutung des antiken Mythos Minotaurus bei Dürrenmatt
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V40144
ISBN (eBook)
9783638387286
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Umdeutung, Mythos, Minotaurus, Dürrenmatt
Arbeit zitieren
Juliane Meyer (Autor:in), 2004, Die Umdeutung des antiken Mythos Minotaurus bei Dürrenmatt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40144

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