Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Wahnsinn und Literatur
2. Wahnsinn in der Literatur - theoretische Ansätze
2.1 Wahnsinn in der Sprache bei Foucault
2.2 Lektüre des Wahnsinns bei Descourvières
3. ›Lenz‹ im Zeichen des Wahnsinns
3.1 Zeichen des Wahnsinns
3.2 Der Schrei des Wahnsinns im Schweigen des Textes
4. Wahnsinn und ›Lenz‹
1 Einführung
Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm,daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. […] er suchte nach etwas,wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. (Lenz1, S. 9)
2. WAHNSINN UND LITERATUR
In den Begriffen Literatur und Wahnsinn scheint sich auf den ersten Blick eine klare Antinomie aufzutun; Literatur ist die Möglichkeit einer Verbalisierung - denn in ihr manifestieren sich die sprachlichen Artikulationsmöglichkeiten. Der Wahnsinn kann zwar annähernd beschrieben werden, zumindest seine Symptome, da er sich über diese konstituiert - eine Literarisierung des Wahnsinns erscheint dagegen nicht möglich.
Diese Ausgangsthese soll zunächst die semantische Entfernung der beiden Antipoden heraus- stellen und schon im selben Zuge die Möglichkeiten und Dimensionen der künstlerischen Dis- kursivität hinterfragen. Wozu ist Kunst - im Speziellen die Literatur - fähig? Wo sind ihre Grenzen? Gerade der Wahnsinn wirft derlei Fragen auf. Foucault widmete sich diesem Feld intensiv und formulierte zunächst bezüglich des gesellschaftlichen Umgangs mit der Krank- heit: »Der Wahnsinn hingegen ist die seltene Gefahr, ein Zufall, der kaum ins Gewicht fällt verglichen mit den Ängsten, die er hervorruft, und den Fragen, die man ihm stellt. Wie kann in einer Kultur eine so unwahrscheinliche Möglichkeit eine derartige Macht offenbarenden Schreckens innehaben?«2
Kann dann aber eine Kunstform das fassen, wozu sich die Gesellschaft kaum imstande fühlt?
Daher auch diese befremdliche Nachbarschaft von Wahnsinn und Literatur, der man nicht den Sinn einer endlich bloßgelegten psychologi- schen Verwandtschaft unterstellen darf. Entdeckt als eine in ihrer Selbst-Überlagerung verstummenden Sprache, zeigt der Wahnsinn weder die Entstehung eines Werks (…); er bezeichnet die leere Form,aus der dieses Werk kommt, das heißt den Ort, von dem her es nicht aufhören wird, abwesend zu sein, in dem man es niemals finden wird, weil es sich niemals darin gefunden hat. Dort, in dieser fahlen Region, in diesem wesentlichen Versteck enthüllt sich die zwillingshafte Un- vereinbarkeit von Werk und Wahnsinn; dies ist der für beide jeweils bestehende blinde Fleck ihrer Möglichkeit und ihrer wechselseitigen Ausschließung.3
Zwar ist es eines der Kunst inhärenten Anliegen, das Innen- bzw. Seelenleben des menschlichen Individuums durch das Kunstwerk zu vermitteln, aber das vom Künstler Offerierte, der Außenwelt Angetragene wird in diesem Zusammenhang eher Gefahr laufen, die Dimensionen und die Möglichkeiten der Literatur zu überschreiten.
Eine Annäherung von Literatur und Wahnsinn ist nach Foucault durchaus möglich: »Wir staunen darüber, dass wir zwei Sprachen miteinander kommunizieren sehen (die des Wahnsinns und die der Literatur), deren Unvereinbarkeit durch unsere Geschichte aufgebaut wurde.«4 Diese Kommunikation sieht Foucault aber vor dem 20. Jahrhundert stattfinden. Schon Hartmann von Aues »Iwein« (um 1200) war wahnsinnig. Der Wahnsinn dient hier allerdings wie in vielen anderen Werken allenthalben als Motiv, wenn auch als prägnantes. Wird der Wahnsinn, die psychische Erkrankung, zum Gegenstand von Literatur, so kann sich die Frage nach der oben genannten Kommunikation stellen. Georg Büchners ›Lenz‹ ist ein solches Werk, es kann als Stellungnahme angesehen werden
zu zwei um 1835 aktuelle[...] Debatten: zum moralischen und psychischen Charakter des jungen Genies der 1770er Jahre, dabei vor allem zum Fall des Dichters Lenz, und zur Entstehung und Beurteilung psychischer Krankheiten, dabei vor allem zur sogenannten »religiösen Melancholie«, also einer Spielart depressiver Störungen in Verbindung mit Wahnvorstellungen religiöser Art.5
Es verhandelt aber vor allem den Wahnsinn seines Protagonisten auf spezifische Weise und wirft für die Literaturwissenschaft bedeutsame Fragen auf, die hier betrachtet werden sollen: Wie schlägt sich der Wahnsinn in diesem literarischen Text nieder? Wie wird er darin sichtbar gemacht?
2. WAHNSINN IN DER LITERATUR - THEORETISCHE ANSÄTZE
2.1 Wahnsinn in der Sprache bei Foucault
Michel Foucault zeichnet in seinem 1964 erstmals veröffentlichten Aufsatz »La folie, l'absence d'œuvre« ein recht pessimistisches Bild von dem Verhältnis zwischen Sprache und Wahnsinn, demnach sich die beiden »Sprachen« zukünftig immer stärker voneinander entfernen werden. In seiner perspektivischen Analyse wird aber nicht nur der Verlust dessen sichtbar, was er für durchaus wertvoll erachtet - die Zeichen des Wahnsinns in der Sprache - Foucault macht auch kenntlich, wodurch sich der Wahnsinn überhaupt abzeichnete. Hier gibt er wichtige Hinweise für eine mögliche Relektüre von Büchners ›Lenz‹.
Das Verhältnis zum Wahnsinn (und nicht irgendein Wissen über die Geisteskrankheit oder irgendeine dem geisteskranken Menschen ge- genüber eingenommene Haltung) wird, und zwar für immer, verloren sein. […] Man wird nicht behaupten, wir seien auf Distanz zum Wahnsinn, sondern vielmehr, wir seien in der Distanz des Wahnsinns gewesen.6
Foucaults pessimistische Sichtweise offenbart, dass die Entfernung zum Wahnsinn auch einmal geringer- und seine gesellschaftliche Akzeptanz größer war. Interessant ist dabei, dass er eine bedeutsame Verbindung zwischen Wahnsinn und (relativer) Wahrheit sieht, etwa wenn er vom Untergang des wahnsinnigen » homo dialecticus - das Wesen des Aufbruchs, der Rückkehr und der Zeit, das Tier, das seine Wahrheit verliert und sie erleuchtet wiederfindet, das sich selbst Fremde, das mit sich wieder vertraut wird«7, spricht. Dessen Untergang wie auch der des Verhältnisses zum Wahnsinn finde in unserer Sprache statt. Dieser Ausblick rekurriert gleichzeitig aber darauf, dass es diesen homo dialecticus gab, dass es die Möglichkeit eines solchen gab, der seine innere Wahrheit erkannte.
Der Wahnsinn werde zukünftig also abgespalten, während er in der Vergangenheit hingegen kostbare Hinweise und Kenntnisse, womöglich eine Wahrheit geliefert habe. Erst seit dem 19.
[...]
1 Büchner, Lenz. Text nach der Studienausgabe von Hubert Gersch, München 1999.
2 Foucault, Michel: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes. In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur, hgg. von Defert, Daniel und Ewald, François, Frankfurt/Main 2003, S. 178.
3 Foucault, Michel: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes, Frankfurt/Main 2003, S. 183.
4 Ebd., S. 184.
5 Dedner, Burghard: Nachwort. In: Büchner, Lenz. Text nach der Studienausgabe von Hubert Gersch, München 1999, S. 62.
6 Foucault, Michel: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes, S. 177.
7 Ebd.
- Arbeit zitieren
- René Ferchland (Autor:in), 2011, "Lenz" im Zeichen des Wahnsinns , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203689
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