Der Aspekt der Moral bei Bullying und Mobbing

Gibt es alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede beim Verhalten von Kindern und Jugendlichen?


Examensarbeit, 2017

71 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Bullying
2.2 Moral Disengagement

3 Hypothesen
Hypothese
Hypothese
Hypothese 3 und

4 Methode
4.1 Studiendesign
4.2 Erhebungsinstrument – KARB on/off
4.3 Statistische Methode
4.4 Stichprobe

5 Untersuchungsergebnisse
5.1 Hypothese
5.2 Hypothese
5.3 Hypothesen 3 und

6 Diskussion
6.1 Einordnung der Studienergebnisse
6.2 Limitationen und zukünftige Studien
6.3 Implikationen für die Praxis

Anhang

Anhang I (Anfrage- und Informationsschreiben an die Schulleitungen)

Anhang II (Elternbrief mit Informationsschreiben und Einverständniserklärungen)

Anhang III (Fragebogen – KARBon/off)

Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Die Wissenschaft hat bereits mehrfach die eigene moralische Loslösung, das Moral Disengagement, im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten belegt. Ziel der vorliegenden Studie war es, im Kontext Bullying, alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede in den Ausprägungen des kognitiven Prozesses zu untersuchen. Hierzu wurde eine probabilistische Stichprobe (n=255) in den Klassenstufen sechs und acht an drei verschiedenen Gymnasien in Baden-Württemberg, Deutschland, gezogen. Diese wurde mittels deskriptiver und inferenzstatistischer Testverfahren auf vier differente Unterschiedshypothesen hin untersucht. Die Studie zeigt, dass Jungen, unabhängig ihres Alters, eine höhere Ausprägung Moral Disengagements aufweisen als Mädchen. Der Geschlechtsunterschied zeigte sich in Klassenstufe sechs respektive acht gleichermaßen. Ebenso zeigte sich der Stufenunterschied bei Jungen wie auch Mädchen gleichermaßen. Nicht nachgewiesen werden konnte eine geringere Ausprägung Moral Disengagements bei Schülerinnen und Schülern[1] der Klassenstufe acht im Vergleich zu denen der Klassenstufe sechs.

Schlüsselworte

Bullying, Moral Disengagement, alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede, Klassenstufe sechs und acht

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1. Mechanismen durch welche die moralischen „self-sanctions“ an unter-schiedlichen Punkten im selbstregulatorischen System einzeln aktiviert und von schäd-lichem Verhalten losgelöst werden (Bandura, 1986). 20

Abbildung 2. Geschlechterverteilung in der Stichprobe

Abbildung 3. Teilnehmerverteilung in der Stichprobe

Abbildung 4. Migrationshintergrund in der Stichprobe

Abbildung 5. Ausprägung MD unter den getesteten Sechstklässlern (n=128)

Abbildung 6. Ausprägung MD unter den getesteten Achtklässlern (n=127)

Abbildung 7. Vergleich der beiden altersspezifischen Ausprägungen

Abbildung 8. Ausprägung Moral Disengagements bei Jungen (n=104)

Abbildung 9. Ausprägung Moral Disengagements bei Mädchen (n=148)

Abbildung 10. Geschlechtsspezifische Ausprägung Moral Disengagements

Abbildung 11. Ausprägung des Geschlechts- und Stufenunterschieds von Moral Disengagement

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1. Beschreibung der im Karb on/off verwendeten Konstrukte ( exklusiv MD)

Tabelle 2. Itemstatistiken

Tabelle 3. Skala-Statistiken

Tabelle 4. Mittelwerttabelle Moral Disengagement in Klassenstufe 6 und

Tabelle 5. Mittelwerttabelle Moral Disengagement bei Jungen und Mädchen

Tabelle 6. Mittelwerttabelle Moral Disengagement für alters- und geschlechtsspezifische Werte

1 Einleitung

Internationale Untersuchungen haben gezeigt, dass Schüler regelmäßig Bullying-Vorkommnisse beobachten und diese auch melden (Eslea et al., 2003). Obwohl die Thematik des Bullyings kein neues Phänomen unter Kindern und Jugendlichen darstellt, so wurde ihm jedoch ein erhöhtes, globales Interesse erst während der letzten Jahrzehnte beigemessen (Jimerson, Swearer & Espelage, Dorothy, L., 2010). Teuschel und Heuschen (2013) weisen hierbei auf die Möglichkeit von signifikanten Unterschieden innerhalb der einzelnen Länder hin, die nicht zuletzt auf die mangelnde definitorische Eingrenzung des Begriffes „Bullying“ zurückzuführen sind. Auf Grund der hohen Schwankungsbreite, die sich sowohl durch die erwähnten Unterschiede in der Begriffsdefinition als auch in Bezug auf Altersstufen und Schulformen zurückführen lässt, kann ungefähr von einer halben bis einer Million betroffener Kinder und Jugendlicher gesprochen werden. Die beiden Autoren beziehen sich (S.81) hierbei auf Kindergartenkinder, wie auch auf Schüler innerhalb Deutschlands.

Ein Fokus der wissenschaftlichen Fachliteratur liegt auf dem Zusammenhang von Moral und Bullying. Speziell das moralische Abkoppeln, das Moral Disengagement (MD), wurde bereits mehrfach in Verbindung mit aggressivem Verhalten gebracht (vgl. (Gini, Pozzoli & Hymel, 2014). Die meisten Kinder empfinden Bullying als höchst unmoralisches Verhalten (Menesini et al., 1997; Thornberg, 2010).

Der Leidensdruck für Opfer, Täter, aber auch umstehende Beteiligte ist enorm und erhöht das Risiko psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die wiederum die schulische Entwicklung stark beeinträchtigen können (Jantzer, Haffner, Parzer & Resch, 2012). Um die Effektivität von Präventions- und Interventionsmaßnahmen möglichst zu steigern, sind individuelle Herangehensweisen sinnvoll. Ziel dieser Arbeit ist es, alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ausprägung von Moral Disengagement im Zusammenhang mit school bullying zu untersuchen. Es soll aufgezeigt werden, inwieweit sich diese entlang der beiden Klassenstufen 6 respektive 8, sowie bei beiden Geschlechtern erkennen lassen. Dabei erfolgt ein fundierter Einblick in theoretische Hintergründe und den aktuellen Forschungsstand, die einen vertieften Einblick in die Thematik geben sollen. Angelehnt an bereits bestehende Erkenntnisse wurden zwei Hypothesen aufgeworfen. Zum Einen wird angenommen, dass Schüler der Klassenstufe 8 eine geringere Ausprägung MDs aufweisen als die der Klassenstufe 6. Zum Anderen wird die Annahme überprüft, dass Jungen, unabhängig ihres Alters, eine höhere Ausprägung MDs aufweisen als Mädchen. Hinzu kommen zwei weitere Hypothesen, die explorativ die Subgruppen beider vorangehender Hypothesen untersuchen. Die hieraus gewonnenen Forschungsergebnisse sollen schlussendlich in den Schulalltag übertragen werden und so einen adäquaten Beitrag für die Praxis liefern.

Die vorliegende Arbeit selbst gliedert sich in fünf Bereiche. Den Anfang bilden die theoretischen Grundlagen in Kapitel 1. Diese beleuchten die beiden Hauptschwerpunkte, Bullying und Moral Disengagement, näher. Zusätzlich wird deren, an Hand von Studien bereits belegte, Verbindung aufgezeigt. Daraus hervorgehend werden in Kapitel 2 die für die Studie entwickelten Hypothesen dargelegt. Nachfolgend wird in Kapitel 3 die in der quantitativen Querschnittstudie angewandte Methode vorgestellt. Hierbei wird auf das Studiendesign, das Erhebungsinstrument KARB on/off sowie die Stichprobe eingegangen. Weiterführend werden die verwendeten statistischen Methoden aufgeführt. Im Anschluss daran finden sich in Kapitel 4 die gewonnenen Ergebnisse in Bezug auf die jeweilige Hypothese beschrieben und graphisch dargestellt. Abschließend werden in Kapitel 5 jene Erkenntnisse eingeordnet und diskutiert. Des Weiteren sind an dieser Stelle ebenso Limitationen der durchgeführten Studie, aber auch deren mögliche Implikationen für die Praxis erläutert.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Bullying

2.1.1 Begriffsdefinition und –abgrenzung

Bezugnehmend auf die in der Einleitung bereits erwähnte Relevanz der Begriffsdefinition soll dieses Kapitel einen Einblick in die sich häufig auch überlappenden Definitionen geben. Zu Beginn erfolgt eine Abgrenzung der Begrifflichkeiten „Mobbing“ und „Bullying“, da diese von vielen oftmals simultan verwendet werden.

Beide Terminologien stammen aus dem Englischen. Während „to mob“ beispielsweise für den deutschen Begriffe „anpöbeln“ steht, so beschreibt „to bully“ eher das Tyrannisieren beziehungsweise Einschüchtern (Gebauer, 2009; Teuschel & Heuschen, 2013). Prinzipiell sehr ähnliche Repräsentanten und dennoch muss festgehalten werden, dass im angloamerikanischen das Wort „mobbing“ im schulischen Kontext nicht verwendet wird, sondern auf den Begriff des „bullying“ verwiesen wird (Teuschel & Heuschen, 2013). In Deutschland fand keine eigene Begrifflichkeit Anwendung, weshalb daher hierzulande und in europäischen Studien häufig beides synonym verwendet wird (Hanewinkel & Knaak, 1997; Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003).

Entgegen einer daraus resultierenden Meinung, „ Mobbing “ beschreibe das gleiche Phänomen wie „Bullying“, führen Teuschel und Heuschen (2013) die Terminologie auf den schwedischen Arbeitspsychologen Leymann zurück, welcher ihn im Bereich des Arbeitsplatzes ansiedelt. Grundsätzlich werden hierbei Schikanen und, in Anlehnung an Olweus (1991), negative soziale Handlungen beschrieben. Diese werden generell durch feindseliges und gezielt destruktives Verhalten gegen eine Einzelperson klassifiziert. Jene Interpretation sickerte so in den allgemeinen europäischen Sprachgebrauch, wird seither eher unspezifisch verallgemeinert und auf diverse andere Situationen übertragen, so die Autoren weiter. Vertiefend sei zu ergänzen, dass selbst der Konflikt am Arbeitsplatz noch weiter differenzierbar sei, wie zum Beispiel durch den Begriff „Bossing“, welcher explizit die Schikane eines Mitarbeiters durch seinen Chef beschreibt (Goldfuß, 2002). Die Einführung des Terminus „ Bullying “ kann auf Heinemann 1973 zugeführt werden (Smith, Cowie, Olafsson & Liefooghe, 2002). Da jedoch in vielen wissenschaftlichen Werken beide Begrifflichkeiten gleichwertig verwendet werden, wird in der weiterführenden Arbeit von einer distinkten Unterscheidung abgesehen.

Einen viel zitierten Definitionsansatz stellt der skandinavische Psychologe Olweus (Scheithauer et al., 2003; Spröber, Schlottke & Hautzinger, 2008; Teuschel & Heuschen, 2013). So vereint er vielschichtige Ansätze in folgender Erläuterung: „Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausgesetzt oder wird gemobbt, wenn er oder sie wiederholt und über längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist“ (Olweus, 2006, S. 22). Hieraus geht auch hervor, wie im nachfolgenden Kapitel weitergehend ausgeführt wird, dass jene „negativen Handlungen“ nicht allein von Einzelpersonen ausgehen, sondern sogar weitaus häufiger als Teil eines gruppendynamischen Prozesses in Erscheinung treten (Schubarth, 2013). „Negative Handlungen“ liegen laut Olweus dann vor, wenn eine oder mehrere Personen einer anderen bewusst Verletzungen oder Unannehmlichkeiten zufügt. Diese können entweder verbaler oder körperlicher Art sein, sowie in Form von Grimassen schneiden auftreten (Olweus, 2006). Näherer Ausführungen bedarf es weiterhin auch der Wortwahl Olweus. So weisen Teuschel und Heuschen (2013) darauf hin, dass der verwendete Gewaltbegriff durchaus irreführend zu verstehen sein kann und damit einhergehend, von subtileren Formen des Bullyings ablenken könnte.

Das soziale Phänomen kann viele Gesichter annehmen. Wie Olweus (2006) bereits konstatierte zählen hierzu die physische und verbale Variante. Unter physische Gewalt fallen Handlungen wie Schlagen oder Treten. Dadurch entsteht eine große Ähnlichkeit zum Gewaltbegriff, die jedoch unter den Aspekten der Häufigkeit und des zeitlichen Faktors, im Falle von Bullying, darüber hinausgehen (Scheithauer et al., 2003). Im Gegensatz dazu beinhaltet das verbale Mobbing verletzende Spitznamen oder fiese Anspielungen (Wachs, Hess, Scheithauer & Schubarth, 2016). Gleichermaßen sind aber auch soziale und, im Zeitalter der Medien, elektronische Möglichkeiten wie Cyber-Bullying zu nennen (Hymel, Schonert-Reichel, Bonanno, Vaillancourt & Henderson, 2010). Die spezifische Ausprägung des Cyber-Bullyings wird in dieser Arbeit jedoch nicht näher betrachtet, da sich der empirische Teil dieser Arbeit ausschließlich auf das Bullying im schulischen Kontext bezieht, ohne dabei explizit auf die elektrische Variation einzugehen. In den Bereich der sozialen Ausprägung, auch relationales Mobbing genannt, fallen Handlungen wie das bewusste Herausekeln Anderer aus Gruppen oder die Manipulation von Außenstehenden, um gleiches Verhalten derer anzustreben (Wachs et al., 2016). Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die eben genannte Ausprägungen von Aggressionen, insbesondere das relationale Mobbing, tief durchzogen sind von interpersonellen Vorurteilen wie Diskriminierung auf Grund von bspw. Rasse, Geschlecht oder sexueller Orientierung (Kowalski, 2000). Zusätzlich darf nicht vergessen werden, dass Bullying nicht einfach die Konsequenz aus adaptierten Vorurteilen darstellt. Für den Bully genügt es bereits, dass das ausgewählte Opfer Verletzlichkeit ausstrahlt. Diese Person zu dominieren generiert hierbei den Reiz für ihn, völlig unabhängig welchen Geschlechts oder Gruppe er oder sie angehört (Rigby, 2007). Nicht selten korrelieren die einzelnen Formen auch miteinander. So gehen physische Einschüchterungen zum Beispiel mit verbaler Beschimpfung einher (Rigby, 2007).

Weitere Abgrenzungen müssen auch zu anderen Verhaltensmustern gezogen werden. So ist nicht jedes Necken als Bullying einzustufen. Ähnlichkeiten, aber keine Übereinstimmungen sind in folgenden Verhaltensphänomenen charakterisiert – Tobspiele (rough-and-tumble-play), Necken (teasing), Belästigungen (harassment), Zurückweisungen durch Gleichaltrige (peer rejection) und Viktimisierung durch Gleichaltrige (peer victimization) (Scheithauer et al., 2003, S. 20). Während peer rejection lediglich die ablehnende Handlung einer Gruppe gegenüber einem Einzelnen beschreibt, so manifestiert sich die peer victimization in tatsächlichen antipathischen Handlungen (Mohr, 2000).

Die Wissenschaft präsentiert diverse Erklärungsansätze. Kurz zusammengefasst beschreibt der von Olweus erstellte Teufelskreis des Bullyings bspw. den Zusammenhang der einzelnen Faktoren zwischen genetischer Veranlagung, Gewalttat, kurzfristiger Reaktionen sowie Folgereaktionen (Spröber et al., 2008). Weiterführend nennen Spröber et al. (2008) noch das Modell der sozialen Informationsverarbeitung, wie auch das schulische Umfeld, welches insbesondere den Einfluss der Peer-Group und Lehrer thematisiert. Abschließend wird auf den Einfluss der Eltern aller Beteiligten eingegangen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es in der Forschung einige Ansätze zur Definition des Phänomens „Bullying“ gibt, diese jedoch häufig an die des scheinbaren Pioniers auf diesem Gebiet, Olweus (1991), anlehnen. Die Relevanz des Abgrenzungsbedarf in Bezug auf Erscheinungsformen und der Begrifflichkeit des Bullyings selbst wurde ebenso deutlich. Insbesondere in Bezugnahme auf deren Einfluss in etlichen internationalen Studien. Trotz dessen Olweus (1991) sich ebenso für die dyadische Möglichkeit, sprich ausgehend von einer Einzelperson sowie gleichermaßen gegen ein Individuum gerichtet, ausspricht, deuten die Ausführungen vieler Autoren stärker auf dessen Vorkommen als dynamischer Gruppenprozess hin (Scheithauer et al., 2003; Schubarth, 2013; Spröber et al., 2008; Teuschel & Heuschen, 2013).

2.1.2 Participant-Role-Ansatz

Die Folgen Bullyings sind im Einzelnen nur schwer nachweisbar (Dambach, 2002). Die Angst als resultierender Faktor ist allerdings nicht nur bei den Opfern erkennbar. Ebenso kann das Gefühl lang anhaltender Angst auch unter den weiteren, beteiligten Gruppenmitgliedern vertreten sein, so der Autor weiter. Dies lässt sich durch das fast tägliche Erleben einer gnadenlosen Vorgehensweise des Täters erklären. Die Beteiligten fürchten selbst in die Opferrolle geraten zu können, was mitunter eine lebenslange Prägung für sie mit sich ziehen kann (Dambach, 2002).

Schulklassen repräsentieren sogenannte „Zwangsgruppen“, da die Involvierten nicht einfach austreten können, wie es beispielsweise in einem Verein möglich wäre. Hieraus ergibt sich automatisch eine Hierarchie innerhalb der Gruppe (Dambach, 2002). Während der Pädagoge jene hierarchischen Strukturen lediglich trichotom unterteilt – Gruppenführer, Mitläufer, Außenseiter – so spezifizieren Salmivalli und Kollegen (1996) in einer finnischen Studie unter Sechstklässlern (n=573) sechs verschiedene Rollen innerhalb der Bullying-Gruppendynamik. An dieser Stelle anzumerken ist jedoch, dass generell eine strikte Trennung der Rollen nur schwer möglich ist, da häufig auch ein Wechsel der Gruppendynamik eine Verschiebung der Machtausübung zur Folge haben kann (Gebauer, 2009). Ausgehend von den 49 Verhaltensweisen, die in der Originaluntersuchung von Salmivalli et al. (1996) mittels eines Fragebogens erfasst wurden, ergaben sich auch in der englischen Untersuchung, mit nur 21 Items und daher etwas gekürzt, von Sutton und Smith (1999) fünf Skalen, die extrahiert werden konnten. Nachfolgend werden diese, in Anlehnung an Schäfer und Korn (2004), kurz zusammengefasst.

Täter-Skala. Mit jener Initiative übernehmenden Rolle, die ebenso aktives, führungsorientiertes Bullying-Verhalten impliziert, konnten sich 8% der teilnehmenden Schüler identifizieren.

Assistenten-Skala. Sich am aktiven Bullying-Verhaltens des Täters orientierend, konnten hierbei 17% der Probanden der Assistentenrolle zugeordnet werden.

Verstärker-Skala. Als Verstärker, oder auch reinforcer, wurde klassifiziert, wer durch seine Verhaltensweisen die Aktivitäten des Täters bewusst verstärkt. Hierunter fanden sich 20% der von Salmivalli und Kollegen (1996) untersuchten Sechstklässler.

Verteidiger-Skala. Als Verteidiger wurden alle Kinder eingestuft, deren Verhaltensweisen das Opfer unterstützen, was im Falle der Studie 17% aller ausmachte.

Außenstehenden-Skala. Die Erfassung hier belief sich auf Schüler, die sich raushalten bzw. deren Verhaltensweisen das „Nichts tun“ als Reaktion auf Bullying-Verhalten aufzeigen. Der Prozentsatz Außenstehender glich hierbei dem der Opfer, mit 12%.

Eine überwiegende Übereinstimmung fand sich zudem zwischen der Selbstnominierung sowie der Mitschülernominierung. Dies deutet darauf hin, dass die Schüler ihre eigene Rolle sehr gut einschätzen konnten (Schäfer & Korn, 2004). Innerhalb dessen korrelierten also selbsteingeschätze aggressive Verhaltensweisen mit fremdeingeschätzten durchweg positiv, so Schäfer und Korn weiter (2004). Auffallend war zudem, dass sich unterschiedliche Geschlechtsverhältnisse entlang der Rollenverteilung abzeichneten (Salmivalli et al., 1996; Schäfer & Korn, 2004; Scheithauer et al., 2003; Sutton & Smith, 1999). Demnach fand sich eine eher männliche Dominanz bei Bullies, Verstärkern und Assistenten, wohingegen die weiblichen Probanden eher in den Verteidiger- und Outsider-Rollen vorherrschend waren. Sutton und Smith (1999) bestätigten innerhalb einer adaptierten Version von Salmivalli et al. (1996) die Ergebnisse ihrer Studie im Rahmen einer englischen Untersuchung. Gleiches gilt für eine deutsche Erhebung, durchgeführt von Schäfer und Korn (2004). Salmivalli et al. (1996) gelang es 87% der Schüler[2] eine Rolle zuzuweisen. Weiterhin konnten soziale Netzwerke nachgewiesen werden, die sich entlang der einzelnen Rollen bilden. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass eine sich gegenseitig verstärkende Sozialisationswirkung untereinander auftritt. Die eben erwähnten Netzwerke treten sowohl zwischen Opfern und Verteidigern als auch zwischen Bullies, Verstärkern und Assistenten auf.

Sobald das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit in „das Selbst“ einer Person übergeht können Einschätzungen und Emotionen, die eigentlich an ein individuelles, selbst-regulatorisches System gebunden sind, psychologisch an die Situation innerhalb der Gruppe und deren Schicksal gebunden werden (Smith, 1999). Faktisch sind daher Bullies nicht die einzigen Gruppenmitglieder, die Tendenzen von Moral Disengagement aufweisen können (Hymel et al., 2010). Nähere Ausführungen zu „Selbstregulation“ und „Moral Disengagement“ finden sich in Kapitel 1.2. .

2.1.3 Korrelate von Bullying

Bezugnehmend auf den Hauptunterscheidungsfaktor dieser Arbeit, der alters- und geschlechtsspezifischen Unterscheidung, wird im Folgenden ein kurzer Einblick in unterschiedliche Studienergebnisse, die im Zusammenhang mit beiden Korrelaten erhoben wurden, gegeben.

Geschlechtsunterschiede. Vorreiter in jenem Bereich stellt Olweus dar, der sich an Hand einer norwegischen Studie von 16,380 Mädchen und Jungen, die ungefähr gleichmäßig über die Klassenstufen 4 bis 10 verteilt waren, mit der Thematik befasste (Olweus, 2010). Er unterschied hierbei zwischen einer allumfassenden Skala, einer verbalen, einer Isolations-Skala und einer Gerüchte-Skala. Bezugnehmend auf die allumfassende Skala wird deutlich, dass weibliche Probanden seltener Opfer von Bullying wurden als männliche. Darüber hinaus geht aus der von Olweus (2006) erwähnten Bergen-Studie hervor, dass Jungen einen großen Teil der Gewalt ausüben, der die betroffenen Mädchen ausgesetzt sind. Ergänzend ist der Unterschied in der Art der angewandten Gewalt zu nennen. Beziehungen zwischen Jungen sind generell härter und robuster als unter Mädchen (Maccoby, 1986). Olweus (2010) führt jene Unterschiede auf biologische und gesellschaftliche Faktoren zurück. So ging ebenso hervor, dass physische Gewalt unter Jungen stärker und damit häufiger vertreten ist als bei Mädchen. Diese zeichnen sich eher durch verdeckte und raffinierte Schikanen, wie die Verbreitung von Gerüchten, aus. Dennoch weist Olweus (2010) darauf hin, dass die Gewalt durch nichtphysische Mittel auch die häufigste Prävalenz unter Jungen darstellt. Deckungsgleichheit, die Ergebnisse betreffend, herrscht auch in Bezug auf eine deutsche Studie (Scheithauer et al., 2003). Hierbei wurde eine Erhebung mit dem von Olweus entwickelten Fragebogen unter 1,353 Schülern der Klassen 5 bis 10 in Niedersachen durchgeführt. Gleichermaßen bestätigt sich die häufigere Prävalenz physischer und verbaler Formen von Bullying bei Jungen in einer weiteren Erhebung von Card et al. (2008).

Altersunterschiede. Während die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den diversen Altersstufen ungefähr gleich bleiben, so ist dennoch ein genereller Abfall der von Schikane betroffenen Schüler entlang der Klassenstufen erkennbar (Olweus, 2010). Während der Anteil in den Klassen 2-6 noch 11,6% betrug, waren es in den Klassenstufen 7-9 nur 5,4%. Ebenso rückläufig ist der Trend zur physischen Gewalt in höheren Klassenstufen. Die Entwicklung des Täteranteils verläuft nicht ganz so systematisch wie die der Opferverteilung. Erkennbar ist, dass der Anteil der Mädchen in Klasse 2 (5,2%) noch geringfügig höher ist als in Klasse 9 (2,1%). Wohingegen Jungen der 2. Klasse 9,8% Täterprävalenz demonstrieren, in Klassen 5-6 einen Anstieg verzeichnen (11,7%), jedoch einen Rückfall in Klasse 8 auf 8,1% anzeigen. Dennoch ist auch hier in Klassen 8-9 (12,8 - 12,7%) wieder ein deutlicher Anstieg sichtbar und somit auch im Vergleich zu Klasse 2 eine Zunahme erkennbar. Hierbei wurde kein näherer Bezug auf die diversen Arten von Bullying genommen. Absolut betrachtet reduziert sich die Prävalenz von Bullying mit zunehmendem Alter an den Schulen (Olweus, 2006; Rigby, 2007). Dies repliziert sich auch in weiteren Studien. Aus ihnen geht eine Zunahme des Bullying-Verhaltens von der Grundschule bis hin zur weiterführenden Schule, mit einem Höchstwert im Zeitraum des Schulwechsels, hervor. Der weitere Verlauf zeigt nachfolgend jedoch wieder einen sukzessiven Rückgang dessen (Pellegrini & Long, 2002; Pepler et al., 2006).

2.2 Moral Disengagement

2.2.1 Social Cognitive Theory nach Bandura

Die social cognitive theory des kanadischen Psychologen Albert Bandura (1986) beschreibt die dynamische, aber auch reziproke triadische Interaktion zwischen Mensch, Umwelt und Verhalten. In einer seiner späteren Arbeiten geht der Wissenschaftler einer etwas anderen Perspektive auf seine bisherige Arbeit ein und nimmt unter der sogenannten „agentic perspective“ (2001) Bezug auf die Theorie. In Anlehnung an diese Ausführungen werden im weiteren Verlauf des Abschnitts einige Passagen vorgestellt.

Die Fähigkeit des Menschen, Kontrolle über die Qualität und die Art seines Lebens auszuüben, bildet laut des Psychologen die Quintessenz der Menschlichkeit. Diese von ihm als „human agency“ oder, bezogen auf den Einzelnen, auch als „personal agency“ beschriebene Befähigung eines jeden Individuums, ist durch vier zentrale Eigenschaften gekennzeichnet – Intentionalität, Voraussicht, Selbst-Reaktivität und Selbst-Reflexion. Das „Selbst“ ist nicht nur eine Art Leitsystem für sozio-strukturelle Einflüsse, obwohl das „Selbst“ sehr wohl sozial begründet ist. Es nimmt eigenständig Einfluss auf sich und lässt „human agents“ sowohl generativ als auch proaktiv statt rein reaktiv handeln. Dies formt wiederum den Charakter ihres sozialen Umfelds. Als Folge der eben beschriebenen, sogenannten „agentic“ Vorgänge, werden Menschen damit nicht nur zum Konsumenten, sondern auch zum Produzenten innerhalb des sozialen Systems. Hierbei agieren die persönliche agency sowie die soziale Struktur interdependent.

Intentionalität. Der Terminus „agency“ bezieht sich auf Handlungen die intentional, also bewusst, vorgenommen werden. Jeder Einzelne hat die Wahl sich der Situation entsprechend zu Verhalten. Sei es sich anpassungsfähig zu zeigen oder im Zuge der eigenen Einflussnahme das Verhalten zu ändern. Wie Davidson (1971) gleichermaßen erläutert, muss das dabei entstehende Resultat nicht zwangsläufig mit der mit der Handlung einhergehenden Absicht übereinstimmen. Ganz im Gegenteil. Oftmals können Taten, die einen bestimmten Zweck verfolgen, sich gänzlich von der eigentlichen Absicht unterscheiden. Daraus hervorgehend haben sich einige soziale Grundsätze, die mit gut gemeinten Intentionen versehen waren, als schlecht herausgestellt, da deren schädigenden Wirkungen schlichtweg nicht vorhersehbar sein konnten.

Voraussicht. Die zeitliche Erweiterung der „agency“ übersteigt die zukunftsorientierte Vorausplanung. Menschen setzen sich Ziele, erwarten die am wahrscheinlichsten daraus resultierenden Konsequenzen ihrer potentiellen Handlungen und wählen, beziehungsweise kreieren den Verlauf ihrer Taten so, dass möglichst die gewünschten Ausgänge erzielt und schwerwiegende Folgen vermieden werden (Bandura, 1991a). Durch die Voraussicht motivieren sich die Menschen selbst und lenken somit ihre Handlungen unter Vorfreude auf bevorstehende Geschehnisse. Jene vorausschauende Perspektive ist nicht nur richtungsweisend, sondern liefert auch Zusammenhänge bzw. gibt dem Leben eine Bedeutung. Zukünftige Geschehnisse selbst können offensichtlich nicht Grund jetziger Motivation und Handlung sein, da sie zum Zeitpunkt der Überlegungen noch nicht präsent sind. Allerdings werden sie im Hier und Jetzt kognitiv vergegenwärtigt und demnach augenblicklich in Motivationsfaktoren und Regulatoren von Verhalten umgewandelt.

Selbst-Reflexion. Menschen sind nicht nur „agents“ ihrer eigenen Handlungen, sondern beobachten gleichermaßen die eigene Arbeits- bzw. Funktionsweise. Die metakognitive Fähigkeit sich selbst zu reflektieren und die Adäquanz der eigenen Gedanken und Taten, repräsentiert eine weitere zentrale Eigenschaft der „human agency“. Durch die Reflektion des eigenen Bewusstseinsempfindens bewertet eine Person ihre Motivation, Werte und die Bedeutung ihrer Bestrebungen im Leben. Bei auftretenden Konflikten innerhalb der motivationalen Anreize reagiert der Mensch auf eben jenem hohen Level der Selbst-Reflexion und entscheidet, zu welchen Gunsten zukünftige Handlungen ausfallen werden. Innerhalb dieser metakognitiven Eigenschaft beurteilt eine Person auch die Richtigkeit ihrer vorausschauenden Gedanken anhand der Resultate ihrer Handlungen. Die wahrgenommene, eigene Wirksamkeit nimmt eine entscheidende Rolle in der kausalen Struktur der social cognitive theory ein. Die Überzeugung der Selbstwirksamkeit spielt aber auch eine zentrale Rolle in der oben bereits erwähnten Selbstregulierung von Motivation durch herausfordernde Zielsetzung und die eigene Erwartungshaltung an spezifische Resultate. Es ist auch teilweise nach dem Glauben an die Wirksamkeit gerichtet, wie Menschen entscheiden, welche Herausforderungen sie annehmen, wie viel Mühe sie in dieses Unterfangen investieren möchten, wie lange sie sich im Angesicht von Hindernissen und Misserfolgen erhalten und ob Versagen zur Motivation oder Demoralisierung wird.

Selbst-Reaktivität. Der Mensch kann nicht nur Planer oder Vorausdenker sein. Er muss sich auch motivieren und zudem selbst regulieren können. Daher gilt es nicht nur die Fähigkeit zu besitzen, Entscheidungen und Handlungen abzuwägen. Vielmehr zählt die Eignung, angemessene Handlungsweisen zu formen und deren Ausführung anzuregen, aber auch zu steuern. Diese facettenreiche Selbststeuerung wird via „self-regulatory processes“, sprich mit Prozessen zur Selbstregulation, mit Gedanken und Handlungen verknüpft und ausgeführt. Die eigene Regulierung von Motivation, Affekt und Handlung wird durch ein Set selbstbezogener Unterfunktionen gesteuert. Dieses umfasst die eigene Überwachung, also selbst angeleitete Performance durch persönliche Maßstäbe und korrigierende „self-reactions“ (Bandura, 1986, 1991a).

„Moral agency“ bildet einen wichtigen Teil der genannten Selbststeuerung. Eine umfassende Betrachtungsweise der Theorie zu „moral agency“ muss das Wissen über die Moral selbst mit der Logik von moralischem Verhalten verknüpfen. „Moral reasoning“ wird durch selbstregulatorische Mechanismen in Handlungen überführt. Die Regulierung umfasst die moralische Beurteilung von richtigem und falschem Verhalten. Diese wird wiederum gegen persönliche Maßstäbe, situationsbedingte Umstände und eigenen Sanktionen innerhalb der Ausführung der „moral agency“ abgewägt (Bandura, 1991b). Die Standards zur Selbstregulierung sind in sozialem wie auch moralischem Verhalten stabil. Menschen ändern ihre Ansichten, ob etwas als gut oder böse bewertet wird, nicht wöchentlich. Nachdem ein Mensch ein moralisches Grundkonzept implementiert hat, werden die eigenen Sanktionen angepasst und dienen den daraufhin regulierenden Einflüssen (Bandura, 1991a). Somit werden negative Sanktionen bei Handlungen aktiviert, die die eigenen Standards verletzten. Positive hingegen greifen dann, wenn das Verhalten getreu der eigenen Maßstäbe verläuft. Jene Sanktionen sorgen dafür, dass das Verhalten in Übereinstimmung mit den persönlichen Ansprüchen verläuft. Die Ausführung von „moral agency“ beinhaltet zwei Erscheinungsformen – die hemmende und die proaktive (Bandura, 1999). Während die hemmende Variante sich in der Fähigkeit manifestiert, Abstand vom eigenen unmenschlichen Verhalten zu nehmen, äußert sich die proaktive Form der Moral genau darin, dass die Fähigkeit, sich menschlich zu verhalten, zum Ausdruck gebracht wird.

Die meisten der psychologischen Theorien zur Moral fokussierten sich bisher stark auf dem formalen Charakter der moralischen Argumentation, um das Vernachlässigen von moralischem Handeln zu erklären (Bandura, 2002). Für Bandura (1999, 2002) jedoch umfasst die Regulierung menschlichen Verhaltens weitaus mehr als die reine moralische Argumentationsweise. Eine allumfassende Theorie muss das moralische Wissen mit den eigenen Schlussfolgerungen aus moralischem Verhalten verknüpfen. „In the social cognitive theory of the moral self (Bandura, 1986, 1991a), moral reasoning is linked to moral action through affective self-regulatory mechanisms by which moral agency is exercised” (Bandura, 2002).

Hierbei fungieren moralische Werte nicht als starre, interne Regularien des eigenen Verhaltens (Bandura, 2002). Mechanismen zur Selbstregulation werden ebenso wenig automatisch ausgelöst, sie müssen aktiviert werden. Es gibt etliche psychosoziale Vorgänge, die intrinsisch ablaufen und bei denen moralische „self-sanctions“, im Deutschen könnte man von „Eigenmaßnahmen“ oder „eigenen Sanktionen“ sprechen, von unmenschlichem Verhalten losgelöst werden können (Bandura, 2002).

2.2.2 Mechanismen Moral Disengagements

Die im vorherigen Abschnitt beschriebene, selektive Aktivierung und damit Abgrenzung (Disengagement) der natürlich auftretenden Sanktionen führt zu unterschiedlichem Verhalten in Menschen, die ansonsten gleiche moralische Standards teilen. Die nachfolgende Grafik veranschaulicht den Prozess moralischer Selbstkontrolle und verdeutlicht, an welchen Stellen die eigens hervorgerufene Zensur von verwerflichem Verhalten abgekoppelt werden kann. Desweiteren geht Bandura (1999, 2002) darauf ein, dass das sogenannte Disengagement seinen zentralen Punkt in der Neudefinierung von schädlichem Verhalten findet, in dem es unter anderem moralisch gerechtfertigt (moral justification) wird. Weiterführend verkleinern die Täter häufig auch ihren eigenen Rollenanteil bei der Verursachung destruktiven Verhaltens gegenüber Anderen, in dem bspw. das Verantwortungsgefühl auf Andere abgeschoben (displacement of responsibility) wird. Ebenso kann eine Verzerrung oder Minimierung des zugefügten Schadens auftreten. Allerdings ist auch die vollständige Abkopplung, die zur Entmenschlichung (dehumanisation) des Opfers führt bzw. in eine Schuldzuweisung (victim blaming) übergeht, möglich. In weiterer Anlehnung an Bandura (1999, 2002) wird nachfolgend auf die einzelnen Ebenen des Moral Disengagements näher eingegangen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1. Mechanismen durch welche die moralischen „self-sanctions“ an unterschiedlichen Punkten im selbstregulatorischen System einzeln aktiviert und von schädlichem Verhalten losgelöst werden (Bandura, 1986).

Moral Justification . Ein Teil des Moral Disengagement Prozesses umfasst den Bereich der Veränderung des Verhaltens an sich. Menschen handeln nicht in schädlicher Absicht bis sie es als moralisch rechtzufertigen ansehen. Vielmehr wird jenes Verhalten während des Moral Justification-Prozesses als sowohl individuell wie auch gesellschaftlich akzeptabel dargestellt. Es besitzt somit gesellschaftlichen Wert bzw. moralische Zwecke. Somit können sich die betreffenden Menschen als sogenannte „moral agents“ sehen, da ihr Handeln scheinbar der Notwendigkeit dient.

In vergleichender Darstellung nimmt Bandura (2002) Bezug auf die kognitive Umprogrammierung von Soldaten, die ihre Gewalttaten höheren Zielen, wie zum Beispiel dem Schutz des Vaterlandes oder der Erhaltung des Friedens widmen, und somit ihr Tun moralisch rechtfertigen und damit fortschreiten können. Selbst schon Papst Urban entzog sich jeder Sünde, als er die Kreuzzüge im Namen Jesu Christi anordnete.

Euphemistic Labelling. Sprache formt gedankliche Muster auf deren Basis unsere Taten aufgebaut sind. Je nach Benennung können Handlungen also in unterschiedlichem Licht erscheinen. Eine beschönigende Sprache (euphemistic labelling) ist ein weit verbreitetes Mittel, um negatives Verhalten als angesehen erscheinen zu lassen und das persönliche Verantwortungsgefühl zu minimieren (Lutz, 1987). Beschönigung kann zu einer gefährlichen Waffe werden, da Menschen wesentlich grausamer agieren, wenn deren Angriffe von negativen Aspekten befreit sind anstatt sie als Aggression zu bezeichnen (Diener, Dineen, Endresen, Beaman & Fraser, 1975).

Bezugnehmen auf Gambino (1973) beschreibt Bandura (2002) die unterschiedlichen Erscheinungsformen euphemistic labellings. Eine Art ist die sogenannte „sanitising language“ (reinigende Sprache, eine Sprache frei von Negativem). So werden zivile Opfer, die bei Militäraktionen getötet werden, in einen „Kollateralschaden“ umformuliert. Ein weiteres Beispiel bildet das sogenannte „Friendly Fire“, wenn ein Soldat aus den eigenen Reihen aus Versehen einen anderen umbringt.

Eine andere Weise der Beschönigung findet sich in der „agentless passive voice“ (körperlose Passivstimme). Sie soll eigenes Handeln rechtfertigen, in dem das verwerfliche Handeln von einer namenlosen Macht und nicht einer Person selbst vorgenommen wird (Bolinger, 1982). Als Beispiel wird die Erklärung eines betrunkenen Fahrers genannt, wonach der Telefonmast auf ihn zugekommen sei, er deshalb versucht habe auszuweichen, es aber nicht mehr schaffte.

Advantageous Comparison / Palliative Comparison. Wie Verhalten angesehen wird, ist davon abhängig, mit was es verglichen wird. Wenn der Kontrast geschickt ausgenutzt wird, so können schändliche Taten auch als rechtschaffend erscheinen. Je abscheulicher die verglichene Grausamkeit, desto wahrscheinlicher ist es, dass das eigene destruktive Verhalten als wohlwollend oder gütig erscheint. Bandura (2002) nimmt hier beispielsweise Bezug auf die Rechtfertigung der Zerstörung Vietnams durch die Amerikaner. Diese konstatierten, dass der Akt den Menschen galt, um sie von der Sklaverei des Kommunismus zu befreien. Tiefergreifend können sich manche Vergleiche bis hin zu historischen Vorfällen erstrecken, in denen einige Politiker eine Rechtfertigung in der brutalen Machtübernahme sehen, nachdem andere Nationen wie Frankreich oder die USA in gleicher Weise gegründet wurden.

Die entlastenden Vergleiche stützen sich hauptsächlich auf moral justification durch utilitaristische Standards. Gewalt anhand der utilitaristischen Perspektive zu rechtfertigen wird durch zwei Arten der Beurteilung ermöglicht. Zum Einen die gewaltfreie Option, die jedoch als ineffektiv zur Erreichung des gewünschten Wechsels bewertet wird. Dies führt dazu, dass sie überhaupt nicht erst in Betracht gezogen wird. Zum Anderen bekräftigt eine utilitaristische Analyse negatives Verhalten dahingehend, dass letztlich mehr Menschen vor Leid bewahrt werden als jene Handlungen verursachen.

Die kognitive Neustrukturierung schädlichen Verhaltens durch moral justification, beschönigende Sprache und entlastender Vergleiche vereint sich zur effektivsten Kombination der psychologischen Mechanismen. Die Rechtfertigung durch moralische Zwecke eliminiert nicht nur die eigene Zensur, sie ermöglicht auch ein Handeln ohne persönliches Leid oder moralische Hinterfragungen. Jene Rechtfertigungen fördern das Gefühl der Selbstgefälligkeit und können dahingehend sogar bis hin zur Grundlage für die eigene Wertbestimmung dienen.

Displacement of Responsibility. Moralische Kontrolle tritt dann am stärksten auf, wenn sich Menschen der folgenschweren Bilanz ihrer Handlungen bewusst werden. Das zweite Set des Moral Disengagements wird dann tätig, wenn die eigene Rolle im Zuge des verursachten Schadens verschleiert oder minimiert wird. Menschen fangen an sich so zu verhalten, wie sie es unter normalen Umständen eigentlich ablehnen würden, wenn eine Autoritätsperson die Verantwortung für die Folgen ihrer Handlungen übernähme (Milgram, 1974). Unter „ausgelagerter Verantwortung“ (Displacement of Responsibilty) werden demnach Taten verstanden, die von legitimen Autoritäten stammen bzw. beordert wurden, anstatt persönlich Verantwortung übernehmen zu müssen. Da somit nicht eigenverantwortlich über Handlungen bestimmt wird, kann sich folglich auch der eigenen Verurteilung entzogen werden.

Milgrams Experiment (1974) veranschaulichte deutlich, dass eine größere Legitimierung und Nähe durch die Aufsichtsperson eine stärkere Ausprägung von gehorsamer Aggression zur Folge hatte. In jenem Experiment wurde den Probanden erklärt, dass sie bestrafende Maßnahmen an anderen Personen auszuführen haben, die volle Verantwortung jedoch bei den Auftrag gebenden Autoritätspersonen liegt.

Allerdings differiert das Alltagserleben von der in Milgrams Experiment geschaffenen Umgebung. Einerseits, da Verantwortung selten als etwas so Offenes wahrgenommen wird. Keine Führungspersönlichkeit würde sich öffentlich für die Autorisierung von destruktiven Handlungen verantwortbar machen. Stattdessen werden interne Wege gefunden, um bewusst von einzelnen Informationen nichts zu erfahren und demnach „sauber“ zu bleiben. Andererseits schiebt kaum einer jegliche Art von Verantwortung restlos von sich ab, um dann als gedankenlose Puppe seines Vorgesetzten bzw. seiner höher gestellten Autoritätsperson zu fungieren.

Diffusion of Responsibility. Als weiteres Glied des zweiten Mechanismus zur moralischen Abkopplung eines Menschen nennt Bandura (1999, 2002), in Anlehnung an Kelman (1973), die soziale Streuung von Verantwortung (Diffusion of Responsibility). Dies kann auf verschiedenen Wegen passieren. Einer davon ist die Arbeitsaufteilung. Unterteilte Arbeitsaufträge können in sich als völlig harmlos erscheinen. Aus diesem Grund wird die Aufmerksamkeit der Menschen auf die spezifischen Einzelheiten des Ihnen zugeteilen Jobs gerichtet.

Eine andere Variante bieten die Gruppenentscheidungen. Individuen, die in der Regel als rücksichtsvoll gelten, werden hierbei verleitet schnelle Teilhaber einer unmenschlichen Entscheidung zu werden. Wenn jeder Verantwortung trägt, fühlt sich niemand wirklich verantwortlich. Im Alltag kann dies beispielsweise immer wieder während öffentlicher Vorkommnisse beobachtet werden. Die Bereitschaft zur Zivilcourage sinkt merklich, sobald mehrere Menschen zur gleichen Zeit vor Ort sind. Die eigene Verantwortung kann auf andere verteilt werden – „Warum ich, wenn jeder andere hier auch etwas tun könnte?“ (Mühl & Jauer, 2009, FAZ am 16.11.2009). Für den Fall der aktiven Entscheidungsfindung innerhalb einer Gruppe stellt die Anonymität einen entscheidenden Faktor dar. Der Einzelne kann sich hinter der Gruppenentscheidung verstecken und muss sich somit nicht selbst für die jeweilige Grausamkeit verantwortlich machen (Zimbardo, 1995).

[...]


[1] Im Folgenden wird von einer Differenzierung der Geschlechtsformen abgesehen. In den Personenbezeichnungen werden beide Geschlechter gleichberechtigt impliziert.

[2] Vgl. ein ähnliches Ergebnis innerhalb der deutschen Studie, 88%, von Schäfer und Korn (2004)

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Der Aspekt der Moral bei Bullying und Mobbing
Untertitel
Gibt es alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede beim Verhalten von Kindern und Jugendlichen?
Hochschule
Pädagogische Hochschule in Schwäbisch Gmünd
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
71
Katalognummer
V379290
ISBN (eBook)
9783668646636
ISBN (Buch)
9783956872242
Dateigröße
1231 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bullying, Moral Disengagement, alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede, Klassenstufe sechs und acht, Mobbing, Studie, Schulkonflikte
Arbeit zitieren
Kristina Müller (Autor:in), 2017, Der Aspekt der Moral bei Bullying und Mobbing, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/379290

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Aspekt der Moral bei Bullying und Mobbing



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden