„Der Stechlin“- Ein politischer Roman


Hausarbeit, 2009

41 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Die politische Thematik im „Stechlin“
1.1 Die politische Wahl in Rheinsberg- Wutz als Auseinandersetzung zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“
1.2 Die Rolle der Sozialdemokratie und des Vierten Standes im „Stechlin“

2 Der Stechlinsee als Symbol der politischen Synthese von Altem und Neuem
2.1 Der Stechlinsee als Leitmotiv des „Stechlin“
2.2 Der Stechlinsee als bedeutendes Gesprächsthema, oder: Von der Natursymbolik zur Revolutionsproblematik
2.3 Die Interpretation der politischen Botschaft des Stechlinsees durch Melusine

3 Der Stechlin- ein politischer Roman!
3.1 Der politische Gehalt der scheinbar unpolitischen Liebesgeschichte zwischen Armgard und Woldemar
3.2 Adel, wie er ist- Adel wie er sein sollte: Die Gegenüberstellung von Adelheid und Melusine
3.2.1 Melusine als Verkörperung des Adels, wie er sein sollte
3.2.2 Melusine als Repräsentantin des „Neuen“ oder: „Der revolutionäre Diskurs“

4 Der Stechlin- ein unpolitischer Roman?

5 Schlusswort

6 Literaturverzeichnis

Einleitung

Das Thema dieser Hausarbeit ist das Politische im Roman „Der Stechlin“ von Theodor Fontane.

Im Zuge dieser Hausarbeit werden die folgenden Fragen beantwortet:

1.) Wie wird die Auseinandersetzung zwischen „Altem“ und „Neuem“ in politischer Hinsicht im „Stechlin“ dargestellt?
2.) Welcher Bedeutung kommt dabei auf symbolischer Ebene dem Stechlinsee zu?
3.) Inwiefern ist der „Stechlin“ Fontanes als „politischer Roman“ einzuschätzen?

Im ersten Teil dieser Hausarbeit wird zuerst dargestellt, in welcher Weise das Politische überhaupt Thema des Romans ist, nämlich unter Bezugnahme auf die Wahl in Rheinsberg- Wutz sowie die Rolle der Sozialdemokratie und des vierten Standes im „Stechlin“.

Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem symbolischen Gehalt des Stechlinsees und der politischen Interpretation seiner Botschaft durch die Gräfin Melusine von Barby.

Im dritten Abschnitt wird die These vertreten, dass der Stechlin ein politischer Roman ist. Abschließend wird im vierten Teil der Arbeit Conrad Wandreys Behauptung dargestellt, dass der Stechlin kein politischer Roman sei und einer kritischen Betrachtung unterzogen.

Diese Arbeit beginnt mit der Beschreibung der Wahl und der Rolle des vierten Standes sowie der Sozialdemokratie, da sowohl die genannte Wahl als auch dem vierten Stand sowie der Sozialdemokratie eine wesentliche Bedeutung im Hinblick auf die im dritten Abschnitt dieser Arbeit vertretene These, dass der Stechlin ein politischer Roman ist, zukommt.

Die Auseinandersetzung mit dem symbolischen Gehalt des Sees Stechlin ist im Hinblick auf die politische Thematik und die These, dass der Stechlin ein politischer Roman ist, von großer Bedeutung: Denn erstens ist dieser See das Leitmotiv des gleichnamigen Romans und zweitens ist die Deutung der Botschaft des Stechlinsees durch Melusine nicht zuletzt auch eine politische, sodass die Symbolik des Sees bezüglich des politischen Gehalts des „Stechlin“ von großer Relevanz ist.

1 Die politische Thematik im „Stechlin“

1.1 Die politische Wahl in Rheinsberg- Wutz als Auseinandersetzung zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“

Das Politische im Stechlin wird explizit anhand der Wahl im Wahlkreis Rheinsberg-Wutz dargestellt. Hier fällt auf, dass aber dem eigentlichen Wahlakt nur ein Kapitel der insgesamt vier mit dem Titel „Wahl in Rheinsberg-Wutz“ überschriebenen Abschnitte gewidmet ist.

Ein Großteil der jeweiligen Kapitel beschäftigt sich also mit anderen Fragen als denen der politischen Wahl.

Inwiefern ist die Wahl aber als Auseinandersetzung zwischen dem Alten und dem Neuen zu verstehen?

Es handelt sich hierbei um eine Auseinandersetzung zwischen dem Alten und dem Neuen auf mehrfacher Ebene:
Erstens hat man es hier mit der Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Sozialdemokraten auf politischer Ebene zu tun.

Aber zugleich geht es auch um den Konflikt zwischen dem Alten und dem Neuen auf historischer Ebene- nämlich diejenige zwischen der Feudalaristokratie und dem Vierten Stand.

Dabei repräsentieren die Konservativen das Alte, insofern diese Teil einer veralteteten, überkommenen Feudalaristokratie sind.

Dagegen stehen die Sozialdemokraten insofern für das Neue, als diese nicht nur soziale Hilfen für den aufkommenden Vierten Stand (die Arbeiterschaft) bewirken wollen, sondern vielmehr eine rechtliche und soziale Gleichstellung des Vierten Standes (der Arbeiterschaft) mit den anderen Ständen intendieren.[1]

Ihre Programmatik orientiert sich dabei an der politischen Theorie Marxens.

In Bezug auf die Darstellung der Wahl im „Stechlin“ ist festzuhalten, dass die genannten gegnerischen Parteien in gegensätzlicher Weise beschrieben werden:

So werden zwar die Vertreter beider Parteien satirisch porträtiert, aber den Vertretern der Konservativen werden doch deutlich mehr individuelle Züge verliehen, als denen der Sozialdemokraten.

So tritt der Wahlsieger der sozialdemokratischen Partei, Feilenhauer Torgelow, im Gegensatz zum Kandidaten der konservativen Partei, Dubslav von Stechlin, persönlich nie auf, sondern wird lediglich erwähnt:

Die Wahlresultate lagen noch keineswegs sicher vor; es ließ sich aber schon ziemlich deutlich erkennen, daß viele Fortschrittlerstimmen auf den sozialdemokratischen Kandidaten, Feilenhauer Torgelow, übergehen würden, der trotzdem er nicht persönlich zugegen war, die kleinen Leute hinter sich hatte.“[2]

Hinsichtlich der Wahlversammlung der Konservativen ist festzustellen, dass diese einen Querschnitt durch die damalige Gesellschaft darstellt:

„Die Vertrauensmänner waren meist wohlhabende Stechliner Bauern, untermischt mit

halboffiziellen Leuten aus der Nachbarschaft:

Förster und Waldhüter und Vormänner von den verschiedenen Glas- und Teeröfen. Zu diesen gesellte sich noch ein Torfinspektor, ein Vermessungsbeamter, ein Steueroffiziant und schließlich ein gescheiterter Kaufmann, der jetzt Agent war, und die Post besorgte.“[3]

Diese Nennung der Vertreter der unterschiedlichsten Berufsschichten ist hier insofern von großer

Bedeutung, als es sich hierbei um eine der Programmatik des poetischen Realismus gemäße Darstellung der unterschiedlichen Berufsstände der damaligen Zeit handelt.

Im Folgenden werden diejenigen Figuren charakterisiert, denen bei dieser Wahlversammlung eine tragende Rolle zukommt. So wird z.B. die Figur Schulze Kluckhuhns beschrieben, welche die Sozialdemokratie in sinnbildlicher Weise mit dem feindlichen, dänischen Schlachtschiff „Rolf Krake“ im 64er Krieg vergleicht:

Ich sag´euch was sie jetzt die soziale Revolution nennen, das liegt neben uns wie damals Rolf Krake; Bebel wartet bloß, und mit eins fegt er dazwischen.“[4]

Diese Äußerung Schulze Kluckhuhns zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie als Repräsentantin des Neuen nicht vorwiegend sachorientiert, sondern in emotionaler Weise geführt wird. Dementsprechend fehlt auch jegliche sachliche Begründung, inwiefern die Sozialdemokratie bzw. die soziale Revolution denn tatsächlich mit dem dänischen Schlachtschiff Rolf Krake vergleichbar ist.

Dieser Vergleich suggeriert nämlich, dass die Sozialdemokratie nicht bloß für soziale Veränderungen eintritt, sondern dass deren Einflussnahme auf die besagten Veränderungen eintritt, sondern dass deren Einflußnahme auf die besagten Veränderungen unbeherrschbar wird, sobald diese die politische Macht innehat.

Es handelt sich hierbei also um eine spezifische Rhetorik, die dazu dient, Furcht vor der Sozialdemokratie zu erregen, mit dem Ziel die Konservativen in ihrer Einstellung gegenüber derselben auf einen Nenner zu bringen.

Dubslav von Stechlin, der sich nur widerwillig als Kandidat der Konservativen hatte aufstellen lassen, nimmt die Wahl als politischen Vorgang nicht ernst:

Na, lassen wir´s. Sie wissen ja auch Bescheid. Und dann sind das schließlich auch keine Betrachtungen für heute, wo ich gewählt werden und den Triumphator spielen soll.
Übrigens geh´ ich einem totalen Kladderadatsch entgegen. Ich werde nicht gewählt.“[5]

Diese Perspektive auf die Wahl als einer nicht ernstzunehmenden, bloß formalen Prozedur teilen auch die Anhänger der Konservativen:

„ Es traf ihn bei dieser Prozedur der Blick des alten Zühlen, der ihm in einer Mischung aus Feierlichkeit und Ulk sagen zu wollen schien: „Ja, Stechlin, das hilft nu mal nicht; man muß die Komödie mit durchmachen.“[6]

So weist auch Cartland auf das politische Desinteresse Dubslavs hin, und unterstreicht dessen Einstellung gegenüber der Wahl als einer bloß formellen Prozedur:

Unquestionably, Dubslav von Stechlin is essentially apolitical in nature. He does allow his name to be entered as the conservative candidat for election to the Diet, but he only goes through the motions of this political process. He disclaims active campaigning because he expects people to know him and what he stands for.“[7]

Es ist aber zu fragen, inwiefern mit Recht gesagt werden kann, dass Dubslav von Stechlin seiner Natur nach apolitisch sei- und zuerst, was dies denn überhaupt bedeutet.

Diese These Cartlands ist dann einleuchtend, wenn man eine apolitische Person als ein Individuum definiert, dass sich keiner politischen Theorie und/oder Partei vollkommen verschreibt. Diese Definition trifft zwar auf den Kandidaten der Konservativen zu, aber dieser ist dennoch nicht völlig apolitisch, insoweit er ein ausgeprägtes Interesse an seinen Mitmenschen und schließlich auch an sozialen Fragen zeigt. Wenn man das Politische also in einem weiteren Sinne versteht, nämlich als Merkmal des Verhaltens einer Person gegenüber ihren Mitmenschen und einer auf soziale Fragen hin orientierten Ethik, dann ist Dubslav von Stechlin durchaus als politische Person zu charakterisieren. So kommt die soziale Einstellung Dubslavs von Stechlins in der folgenden Beschreibung seiner Person zum Ausdruck :

Er hörte gerne eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. „Ich bin nicht klug genung, selber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn´s andre tun; es ist doch immer was drin. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“[8]

Sein politisches Desinteresse im engeren Sinne ist also darauf zurückzuführen, dass er nicht an letztgültige Wahrheiten glaubt, wie sie in politischen Theorien und Parteiprogrammen ihren Ausdruck finden.

Aber seine politische Natur im weiteren Sinne wird doch gerade daran offensichtlich, dass er nicht nur bereit ist, andere Ansichten zur Kenntnis zu nehmen, sondern deren Äußerung sogar willkommen heißt. Dies ist jedoch insofern eine politische Einstellung, als sich darin eine Ethik der Anerkennung der Differenz des Anderen offenbart.

Dieses politische Desinteresse im engeren Sinne gegenüber der Wahl als einer demokratischen Errungenschaft, zu der die feudalen Schichten keinerlei Verhältnis haben, wird auch an der Reaktion der Konservativen auf die Wahlniederlage Dubslavs offenbar:

Dubslav nahm es ganz von der heiteren Seite, seine Parteigenossen noch mehr, von denen eigentlich ein jeder dachte: „Siegen ist gut, aber Zu-Tische-Gehen ist noch besser.“[9]

Hier wird auch die mit dem politischen Disengagement einhergehende Prinzipienlosigkeit der adeligen Vertreter der konservativen Partei deutlich, denn der sinnliche Genuß wird letztlich über die politische Prinzipien gestellt.

Da der Kandidat der Sozialdemokraten anonym bleibt, und dessen Anhänger sowie dieser selbst vorwiegend auf eine neutrale bzw. sogar sehr kritische Art dargestellt werden, kann es zu keiner Identifikation des Lesers mit den Sozialdemokraten kommen, obwohl diese die Sieger der Wahl sind.

Unter allen politischen Parteien jedoch, die vor, während und nach den Wahlkapiteln eine Rolle spielen, wird der künftige politische Erfolg der Sozialdemokraten trotz und gerade wegen des momentanen Wahlsieges am meisten in Frage gestellt.“[10]

So zieht Dubslav den Sieg der Sozialdemokraten in Zweifel, wenn er folgendes äußert:

„Nu kann Torgelow zeigen, daß er nichts kann. Und die andern auch. Und wenn sie´s alle gezeigt haben, na, dann sind wir vielleicht wieder dran und kommen noch mal obenauf.“[11]

Die antisozialdemokratische Einstellung Duslavs kommt allerdings auch in dessen Begegnung mit dem Teerofenarbeiter Tuxen zum Ausdruck:

Hier hilft Dubslav dem volltrunkenenen Arbeiter zwar wieder auf die Beine zu kommen, aber er nutzt diese Situation zugleich aus, um den Sozialdemokraten Torgelow zu kritisieren und den Teerofenarbeiter hinsichtlich seiner Lebensführung zu belehren:

So fragt Dubslav ihn aus, für wen er denn bei dieser Wahl gestimmt habe, und Tuxen antwortet, dass er den Kandidaten der Sozialdemokraten Torgelow gewählt habe.

Daraufhin stellt Dubslav die zynische Frage, ob dieser denn inzwischen schon etwas für die Arbeiter getan habe. Als Tuxen dies verneint, fragt er weiter, warum er dies bisher noch nicht getan

Joa, se seggen joa, he will wat för uns duhn un is so sihr für de armen Lüd. Un denn kriegen wie joa´n Stück Tüffelland. Un se segggen ook, he is klöger als de annern sinn.“[12]

Dass dies der Fall sei, räumt sogar Dubslav ein, aber sein Zugeständnis bezüglich der Klugheit Torgelows wird letztlich doch relativiert:

„Wird wohl. Aber er is doch noch lange nich so klug, wie ihr dumm seid.“[13]

Dies ist aber nicht nur eine Relativierung der Behauptung Tuxens, sondern hier handelt es sich zugleich um eine Beleidigung des alten Teerofenarbeiters, da diese Aussage schließlich besagt, dass Tuxen eine ziemlich dumme Person sei.

Hier wird deutlich, dass Dubslav zwar sozial handelt, aber dieses soziale Handeln nicht auf der Anerkennung demokratischer Prinzipien fundiert ist, sondern seiner patriarchalischen Fürsorgepflicht entspringt:

Der Blick Dubslavs aber, der auf das Elend fällt, ist der des christlich- patriarchalischen Feudalherren. In der Tuxen- Episode wurde deutlich, daß Dubslav zu einer herrischen Haltung durchaus fähig ist, wenn sie sich auch in die versöhnliche Form des Humors zu kleiden weiß.[14]

Dubslav handelt sozial, da er dem volltrunkenen Teerofenarbeiter Tuxen hilft. Schließlich erkennt er diesen aber nicht als ein mit gleichen Rechten ausgestattes Individuum an, was an seinem Tonfall gegenüber Tuxen sowie den entsprechenden Vorhaltungen, die er Tuxen bezüglich seiner Lebensführung und seines Wahlverhaltens macht, offenbar wird.

1.2 Die Rolle der Sozialdemokratie und des Vierten Standes im „Stechlin“

Die Sozialdemokratie spielt im Stechlin aber nicht nur in Bezug auf die politische Wahl im Stechlin eine Rolle, sondern sie wird -unabhängig von dieser- immer wieder zum Gesprächsgegenstand im Laufe des Romans.

Nicht zuletzt erscheint die Symbolfarbe rot (die zugleich auch die Farbe der Sozialdemokratie ist), gleich zu Beginn des Romans- nämlich in Verbindung mit dem Stechlinsee als Merkmal des in seiner Tiefe wohnenden Hahnes, der seine revolutionäre Botschaft in die Lande hinauskräht, wenn Umstürze sich ankündigen.

Dementsprechend wird auch das soziale Thema im Stechlin immer wieder thematisiert. Hier ist aber zu betonen, dass die brutale Wirklichkeit des Vierten Standes, wie beispielsweise die Industriearbeiterproblematik nicht dargestellt wird, wie überhaupt der Schwerpunkt des Romans auf der Darstellung des Lebens bestimmter Personen der Adelsschicht liegt.

Es ist Fontane hier also nicht um die Darstellung eines bestimmten Milieus zu tun:

„Fontane schildert das Milieu bestimmter Menschen, auf die es ihm ankommt, der Naturalismus im programmatischen Sinne des Wortes schildert Menschen eines bestimmten Milieus.“[15]

So werde auch im Stechlin der soziale Konflikt sehr aus der Perspektive der oberen Schichten gesehen, und es könne keinesfalls auch nur von einem Ansatz der Identifikation des Autors mit den Angehörigen des Vierten Standes die Rede sein, so Strech .[16]

Dennoch sei Fontane hinsichtlich der Darstellung der Nöte des Vierten Standes nie zuvor so weit gegangen wie im „Stechlin“.[17]

Auch Strech gelangt aber zu dem Ergebnis, dass Fontane die gravierenderen Konflikte der Fabrikarbeiterschaft in dieser Darstellung nicht benenne[18], zugunsten der Schilderung der Dienstbotenmisere, dargestellt am Beispiel der Portierstochter Hedwig, die von den Lebensbedingungen, mit denen sie in den Familien der oberen Schichten konfrontiert ist, spricht[19] : „Und nun macht man die Tür auf und schiebt sich in das Loch hinein, ganz so wie in einen Backofen. Das is, was sie ´ne Schlafegelegenheit nennen.“[20] Noch drastischer scheint aber die Beschreibung Hedwigs zu sein, die sie von einer anderen Schlafstätte gibt:

„Aber ´ne Badestube ist nie ´ne Badestube. Wenigstens hier nicht. Eine Badestube ist ´ne Rumpelkammer, wo man alles unterbringt, alles, wofür man sonst keinen Platz hat.

Und dazu gehört auch ein Dienstmädchen. Meine eiserne Bettstelle, die abends aufgeklappt wurde, stand immer neben der Badewanne, drin alle alten Bier- und Weinflaschen lagen. Und nun drippten die Neigen aus. Und in der Ecke stand ein Bettsack, drin die Fräuleins ihre Wäsche hineinstopften, und in der anderen Ecke war eine kleine Tür.“[21]

Mit diesen Worten bringt das Dienstmädchen Hedwig die Misere, nämlich die menschenunterwürdigen Verhältnisse, in denen es lebt sowie die Ausbeutung, die mit seiner Arbeit als Dienstmädchen verbunden ist, zum Ausdruck.

In Hedwigs Rede wird das Verhalten der Angehörigen der oberen Schichten gegenüber ihren Dienstboten einer scharfen Kritik unterzogen, wie an der Formulierung „Eine Badestube ist ´ne Rumpelkammer, wo man alles unterbringt, alles wofür man sonst keinen Platz hat. Und dazu gehört auch ein Dienstmädchen “ ersichtlich wird.

Das heißt wiederum, Hedwig hat ein Bewußtsein davon entwickelt, dass sie aus der Sicht der neueren Oberschicht ungefähr genauso viel zählt wie ein Gegenstand.

Bisher hatte Hedwig auf diesen unerträglichen Arbeitsbedingungen immer so reagiert, dass sie kündigte und sich eine neue Stelle suchte. Mittlerweile haben die besagten Erfahrungen aber einen Lernprozeß bei ihr in Gang gesetzt:

„Mein Onkel Hartwig, wenn ich ihm so erzähle, daß man nicht schlafen kann, der sagt auch immer: „Kenn´ ich, kenn´ich; der Bourgeois tut nichts für die Menschheit. Und wer nichts für die Menschheit tut, der muß abgeschafft werden.“[22]

Es ist also festzuhalten, dass bei Hedwig ein Bewußtsein ihrer Klassenzugehörigkeit erwacht, und dass sie inzwischen auch zu der Ansicht gelangt ist, dass der Bourgeois – also letztlich auch die bürgerliche Klasse- abgeschafft gehört, da dieser – gemessen an den eigenen Maßstäben- vollkommen versagt: Denn dieser tut nichts für die Allgemeinheit, sondern nur all das, was für ihn und seine Klasse von Interesse ist.

Die Entwicklung eines politischen Bewußtseins im Falle Hedwigs und dem daraus resultierenden Widerstand stellt auch Allenhöfer fest:
Das Gefühl bloßen Bedrückt- und Ausgeliefertseins schlägt um in politische Bewußtheit, die nach gesellschaftlicher Veränderung verlangt. Das Bürgertum wird dabei an seinen eigenen Forderungen gemessen .”[23] Hedwig zitiert zwar noch ihren Onkel Hartwig, wenn sie davon spricht, dass die bürgerliche Klasse abzuschaffen sei.[24] Dennoch sei es unverkennbar, dass sie dieser These Hartwigs beispflichte.[25] Die Grenzen der Hinnehmbarkeit sind erreicht, es zeigen sich Ansätze des Widerstandes.”[26]

Auch wird die Welt der Arbeit im Stechlin thematisiert, nämlich unter Bezugnahme auf die Globsower Retortenbläserei, in der von den Globsower Arbeitern Retorten und Ballons hergestellt werden.

Dubslav ist diese Retortenbläserei allerdings nicht geheuerlich. So sieht er in deren Existenz ein bedrohliches Zeitzeichen:

Das ist das Zeichen unserer Zeit jetzt, „angebrannt und angeätzt“. Und wenn ich dann bedenke, daß unsere Globsower da mittun und ganz gemütlich die Werkzeuge liefern für die große Generalweltanbrennung, ja, hören Sie, meine Herren, das gibt mir einen Stich.[27]

Obwohl ihm die Globsower Retortenbläserei als ein bedrohliches Zeichen der Zeit erscheint, fragt er aber nicht danach, warum denn die Globsower die Werkzeuge für die große Generalweltanbrennung liefern, also in welchem Verhältnis ihre Tätigkeit zu ihrer sozialen und materiellen Lage steht, und wie man deren Ursachen beseitigen könnte.

2 Der Stechlinsee als Symbol der politischen Synthese von Altem und Neuem

2.1 Der Stechlinsee als Leitmotiv des „Stechlin“

Fontane selbst schrieb folgendes im Hinblick auf die Bedeutung des Sees Stechlin im Verhältnis zum gesamten Roman:

Im Winter habe ich einen politischen Roman geschrieben ( Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte, und wie er ist.

Dieser Roman heißt: „Der Stechlin“. [...] Um diesen See handelt es sich, trotzdem er nur zu Anfang und zu Ende mit etwa 5 Zeilen vorkommt. Er ist das Leitmotiv.“[28]

Hier ist die Frage aufzuwerfen, inwiefern der Stechlinsee ein Leitmotiv des Romans darstellt, und welche Bedeutung diesem insbesondere im Hinblick auf den politischen Gehalt des Textes zukommt.

Dass es sich bei diesem See um ein Leitmotiv des gleichnamigen Romans handelt, zeigt sich daran, dass dieser häufig in den Gesprächen innerhalb des Romans thematisiert, und auch vom Erzähler selbst erwähnt wird. Dadurch wird der Stechlinsee zum Zentrum des Romans.[29]

Nicht zuletzt ist es hier auch bedeutungsvoll, dass der Roman Fontanes denselben Namen wie der See trägt.

Der See Stechlin wird gleich zu Beginn des ersten Romankapitels folgendermaßen beschrieben:

Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Grausee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung.[30] Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt „der Stechlin.“ Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige von ihrer eigenen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitzeberühren. [...] Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen auf der Welt, sei´s auf Island, sei´s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich´s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe.[31]

Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen so setzen sie wohl auch hinzu:

„Das mit dem Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn´s aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in Lissabon, dann brodelt´s hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.“[32] “Das ist der Stechlin, der See Stechlin.”[33]

Diesem See kommt eine besondere Bedeutung innerhalb des Romans zu, da er nicht einfach nur ein Stück Natur repräsentiert, sondern eine kommunikative Funktion innerhalb des Romans besitzt: So teilt dieser See die Bewegungen und Erschütterungen, die in den weit entfernten Erdteilen der Welt vor sich gehen, den Bewohnern der umliegenden Gegend mit.

Der Wasserstrahl der diese Bewegungen anzeigt, ist aber nicht das Besondere dieses Sees, sondern er zeichnet sich dadurch als außergewöhnlich aus, dass im Fall des Auftretens großer Weltereignisse ein roter Hahn aus den Tiefen desselben emporkommt und durch sein Krähen auf die großen Ereignisse hinweist. Und es ist auch dieser See, der die Gespräche zwischen den Personen innerhalb des Romans anregt und in Fluß hält.

[...]


[1] In Bezug auf diese Gleichsetzung des Alten mit den Konservativen und des Neuen mit den Sozialdemokraten ist noch anzumerken, dass diese zwar im allgemeinen gültig ist, aber eben nicht auf jede Person im "Stechlin" in Reinkultur zutrifft. Vgl. Tatsukawa, Yozo: „Der Stechlin“ als politischer Roman, S.548: „An dem Punkt, wo wir jetzt sind, wird wahrscheinlich niemand mehr glauben, dass das Schema vom Alten, dessen Vertreter Dubslav von Stechlin; Graf Barby und andere sind, und der Sozialdemokratie und dem diese unterstützenden vierten Stand so ohne weiteres gelten könnte. Zwar war dieses Schema für die damalige Situation nicht ohne jede Gültigkeit, aber dennoch konnte sich Fontane nicht mit einer so seichten Erkenntnis von Mensch und Gesellschaft zufriedengeben und danach seine Personen klassifizieren- mit Ausnahme von etlichen Randfiguren.“

[2] Fontane, Theodor:„Der Stechlin", S.189.

[3] Ebd., S.166.

[4] Ebd, S.168.

[5] Ebd., S.180.

[6] Ebd., S.185.

[7] Cartland, Harry E.: „The "old" and the "new" in Fontane´s Stechlin", p.20.

[8] Fontane, Theodor:„Der Stechlin", S.10.

[9] Ebd., S.191.

[10] Strech, Heiko: „Die Synthese von alt und neu; „Der Stechlin“ als Summe des Gesamtwerks", S.83.

[11] Fontane, Theodor: „Der Stechlin", S.83.

[12] Ebd., S.202.

[13] Ebd., S.202.

[14] Strech, Heiko: „Die Synthese von alt und neu ; „Der Stechlin“ als Summe des Gesamtwerks", S.93.

[15] Schillemeit, Jost: „Theodor Fontane: “Geist und Kunst seines Alterswerkes”, Zürich, 1961, S.24.

[16] Vgl. Strech, Heiko:„ Die Synthese von alt und neu; „Der Stechlin“ als Summe des Gesamtwerks”, S.87.

[17] Vgl. Ebd., S.87.

[18] Vgl. Ebd., S.87.

[19] Vgl. Ebd, S.87-88.

[20] Fontane, Theodor: „Der Stechlin”, S.148.

[21] Fontane, Theodor: „Der Stechlin", S.149.

[22] Fontane, Theodor: „Der Stechlin", S.148.

[23] Allenhöfer, Manfred: „Vierter Stand und Alte Ordnung bei Fontane.Zur Realistik des bürgerlichen Realismus", S.113.

[24] Vgl. Ebd., S.113.

[25] Vgl. Ebd., S.113.

[26] Ebd., S.113.

[27] Fontane, Theodor: „Der Stechlin", S.69.

[28] Brief an Adolf Hoffmann vom Mai/Juni 1897, in: „Fontanes Briefe in zwei Bänden”, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler, 2. Bd., Berlin (3.Aufl.) 1989, S.389.

[29] Vgl. Hotes, Leander: „Das Leitmotiv in der neueren deutschen Romandichtung.“ Diss., Frankfurt a. M., 1931, S.81.

[30] Fontane, Theodor: „Der Stechlin“, S.7.

[31] Ebd., S.7.

[32] Ebd., S.7.

[33] Ebd., S.7.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
„Der Stechlin“- Ein politischer Roman
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Alterswerke des poetischen Realismus ( Stifter, Raabe, Fontane)
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
41
Katalognummer
V126209
ISBN (eBook)
9783640322619
ISBN (Buch)
9783640320714
Dateigröße
605 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stechlin“-, Roman
Arbeit zitieren
Caroline Boller (Autor:in), 2009, „Der Stechlin“- Ein politischer Roman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126209

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