Bildung im psychologischen Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz

Versuch einer Gattungszuschreibung. Zwischen Bildungs- und Antibildungsroman


Hausarbeit, 2016

16 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitende entstehungsgeschichtliche Merkmale
1.1 Zur Genese der Gattung Bildungsroman vom späten 18. - frühen 19. Jahrhundert
1.2 Welche Kriterien erfüllt ein Bildungsroman in Abgrenzung zu Untergattungen?

2 Bildungsaspekte in A. R.
2.1 Wissenschaftliche - kulturelle - religiöse Bildung
2.2 Ästhetische Bildung
2.3 Sozial- emotionale Bildung
2.4 Zusammenhang zwischen Physischer und Psychischer Bildung

3 Der Bildungsweg
3.1 Antons Erfolge/ Scheitern in Bildungsfragen
3.2 Bildungsbeitrag den A.s Umfeld in intrinsisch/ extrinsischer Hinsicht leistet

4 Resümee der Bildungsthematik
4.1 Bildung des Rezipienten im 18.Jh. als Hilfe zur Gattungszuschreibung
4.2 Apell des Autors und Abschließende Verortung im Feld Bildung - Antibildung

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitende entstehungsgeschichtliche Merkmale

1.1 Zur Genese der Gattung Bildungsroman vom späten 18. - frühen 19. Jahrhundert

Erziehung und Entwicklung spielen bereits in den Studien Rousseaus eine große Rolle[1], und werden Goethes Werk Wilhelm Meisters Lehrjahre generierend für die Gattung Bildungsroman zugeschrieben.[2] In welchem Zusammenhang lässt sich in Karl Philipp Moritz psychologischem Roman Anton Reiser von Bildung sprechen? Die folgende Ausarbeitung soll den Versuch einer Gattungszuschreibung beinhalten. Dabei sollen auch die Gemütsschwankungen Antons bzw. die Stagnation und Regression in mentaler und seelischer Hinsicht eine Rolle spielen. Weiter soll der Fokus auf die Bildung des Rezipienten, bzw. die Leserschaft um 1800 im Hinblick auf eine neue Gattungsgenese gesetzt werden. Die Spanne zwischen den 50er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, d.h. der Entstehungszeitraum A.R.s (1785-1790) sei „das Zeitalter einer proto-experimentellen Pädagogik“, wie Pethes postuliert.[3] Mit dieser Formulierung kommt die Frage auf, inwieweit Moritz mit seinem Roman einen allgemeinen Bildungsauftrag verfolgt? Die Bildungsthematik soll abschließend in Punkt vier resümiert werden.

1.2 Welche Kriterien erfüllt ein Bildungsroman in Abgrenzung zu Untergattungen?

Die Übergeordnete Bezeichnung für die Gattungen Bildungsroman und Desillusionsroman bildet, die Kennzeichnung Entwicklungsroman. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, worauf sich in diesem Abschnitt bezogen wird, merkt hierzu an[4]: Ein in Epik verfasster Entwicklungsgang einer zentralen Figur ist die Hauptthematik beider Gattungen. Wobei sich der Bildungsroman durch die „Tendenz zu einem harmonischen Abschluss“ abgrenzt, und dementsprechend der Desillusionsroman den Protagonisten zum „Scheitern an inneren oder äußeren Widersprüchen“ verurteilt.

Als nebengeordnetes Genre zum Entwicklungsroman gliedert sich der Erziehungsroman, der sich von Ersterem durch die, auf pädagogische Probleme orientierte Darstellung eines, von Erziehungsinstanzen gesteuerten Entwicklungsprozesses, unterscheidet. Allen Formen liegt ein humanistisches Bildungsideal zugrunde, so dass im Sinne der klassischen Bildung, der Held am Ende geistig gereift, durch seine Erfahrungen ‚gebildet‘ und gesellschaftlich geformt sein soll. Inwieweit man Anton Reiser der Kategorie „Anti-bildungsromans“ zuordnen kann, der die „Unmöglichkeit individueller Bildung in einer feindlichen Umwelt demonstriert“[5], soll im Schlussteil bestmöglich erörtert werden.

2 Bildungsaspekte in A. R.

2.1 Wissenschaftliche - kulturelle - religiöse Bildung

In welchem Zusammenhang lässt sich in Anton Reiser (A.) von Bildung sprechen? Die Bildung des Protagonisten soll in wissenschaftlicher, kultureller, religiöser, ästhetischer, sozialer, emotionaler, physischer und psychischer Hinsicht untersucht werden. Zu Beginn der Ausarbeitung steht die wissenschaftlich-kulturell-religiöse Bildung A.s im Fokus. A. kommt in einem zwiespältigen Umfeld zur Welt, in dem die Religion für Zwist verantwortlich ist. z.B.: „Dies [die Auflehnung der Mutter gegen die Schriften der Mad. Guion] war der erste Keim zu aller nachherigen ehelichen Zwietracht“ (S. 90).[6] Dem ungeachtet wird A. in zwei christlichen Richtungen gebildet: Die Mutter fördert den Pietismus und A.s Bibelverständnis, weiter gibt sie ihm fiktionalen Lesestoff, den der Vater A. verbietet, da er alleinig die Schriften der Mad. Guion und Faktuales für lesenswert hält. Somit sind A.s erste Bücher eine „Abhandlung zum Buschstabieren“ bzw. „gegen das Buchstabieren“ (S. 93) und „nebst den Guionschen Liedern“ erhält er eine „Anweisung zum innern Gebet“ zu lesen (S. 100). Die Fähigkeit des Lesens lernt A. schon sehr früh, mit acht Jahren, durch seinen Vater. Trotz des nicht gerade kindgemäßen Lesestoffs, war seine „Begierde zu lesen, nun unersättlich“ (S. 94), und es bringt weitreichende Folgen mit sich: so hintergeht er später den Vater für das „unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre“ (S. 108) und verschuldet sich bei einem Bücherantiquariat:

„Alles Geld, was er sich vom Munde absparen konnte, wandte er an, um Bücher zum Lesen dafür zu leihen; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte, und ihm ohne jedesmalige bare Bezahlung Bücher zum Lesen liehe, so hatte sich Reiser, ehe er es merkte tief in Schulden hineingelesen, [...].“ (S. 254)

Die Wissbegierde nimmt auch in A.s Schulbildung eine wichtige Position ein, welche im Punkt 3.1. unter dem Aspekt der Rolle des Scheiterns untersucht wird, während dieses Kapitel näher auf die einzelnen Stationen und was A. an (Mehr-)Wissen erlangt, eingeht. Zu Beginn steht der Lateinunterricht in der öffentlichen Stadtschule. Dabei ist das Latein, die Lingua Franka, als Wissenschaftssprache das Element, das A. in den Bereich der Gelehrten emporhebt. Denn in der Lateinschule kann er sich durch fleißiges Üben an der „Karriereleiter“ emporhangeln:

„[…] das Glück in eine lateinische Schule gehen zu dürfen, wo er nach zwei Monaten so weit gestiegen war, daß er nun an den Beschäftigungen des öbersten Tisches, der sogenannten vier Veteraner, mit Teil nehmen konnte.“ (S. 118)

Das Herabarbeiten bis zum Ausschluss aus der Schule soll im Kapitel 3.1. thematisiert werden. Wie die Religion für A.s Eltern, und in seiner Kindheit für A. selbst, so ist darauffolgend das Studieren sein höchstes Begehren, bis er sich letztlich dem Theater zuwendet und bei der Theatromanie landet:

„Das große Feld der Wissenschaften lag vor ihm – sein künftiger Fleiß, die nützlichste Anwendung jeder Stunde bei seinem künftigen Studieren war den ganzen Tag über sein einziger Gedanke, und die Wonne die er darin finden, und die erstaunlichen Fortschritte, die er nun tun, und sich Ruhm und Beifall dadurch erwerben würde: mit diesen süßen Vorstellungen stand er auf, und ging damit zu Bette […].“ (S. 197)

Beim Studium im Lyceum lernt A. in einem streng reglementierten Zeitrahmen:

„Des Morgens um 7 Uhr fingen die Stunden an, und dauerten bis 10, und des Nachmittags um 1 Uhr fingen sie wieder an, und dauerten bis um 4 Uhr“ (S. 211). Folgende Unterrichtsfächer hat A. zu belegen: „[…] die Theologie, die Geschichte, den lateinischen Stil, und das griechische neue Testament […] den Katechismus, die Geographie, und die lateinische Grammatik“ (S. 211). Der religiöse Weg führt A. zum Predigen, in das er sich so hineinsteigert, dass er denkt es sei (gleich dem späteren Wunsch nach dem Schauspielberuf) seine Berufung. Dabei lernt er in der Freischule durch den Katechismus Systematisches Denken, indem er „Hauptabteilungen und Unterabteilungen“ dazu verfasst, wenngleich sein

„Kopf freilich mit vielem unnützem Zeuge angefüllt“ wird (S. 176). Auch fällt es ihm durch das Nachschreiben der Predigt des Pastors P. „leichter, seine Gedanken zu ordnen, und sie in eine Art von Verbindung mit einander zu bringen“ (S. 174). Auf Geisteswissenschaftlicher Ebene kann er sich v.a. Philosophisch und Metaphysisch mit dem Schuster S. austauschen:

„Er und Reiser kamen oft in ihren Gesprächen, ohne alle Anleitung, auf Dinge, die Reiser nachher als die tiefste Weisheit in den Vorlesungen über die Metaphysik wieder hörte, und hatte oft schon Stundenlang mit dem Schuster S… darüber gesprochen. – Denn sie waren ganz von selbst auf die Entwickelung der Begriffe von Raum und Zeit, von subjektivischer und objektivischer Welt, u. s. w. gekommen, ohne die Schulterminologie zu wissen, sie halfen sich denn mit der Sprache des gemeinen Lebens so gut sie konnten, welches oft sonderbar genug heraus kam [...] .“ (S. 204)

Und in Erfurt nehmen ihn seine Freunde zu „literarischen Zusammenkünften mit“ (S. 509). In dieser Situation verursacht wiederum das ästhetische Empfinden A.s eine wissenschaftliche und persönliche Krise:

„[…] er fing sogar an mathematische Kollegia zu hören, seine guten Freunde zogen ihn mit zu allen ihren literarischen Zusammenkünften, und lasen ihm zum Teil ihre Ausarbeitungen vor, so daß die Sache nunmehro im besten Gange war, wenn ein neuer unglücklicher Anfall von Poesie nicht alles wieder verdorben hätte.“ (S. 509)

Naturwissenschaftlich werden außer den Metaphysikvorlesungen, die zwischen Natur- und Geisteswissenschaften liegen, und den grundlegenden Rechenkenntnissen, welche A. mit dem Schreiben in der Privatstunde bei R. lernt, nur die „mathematischen Kollegia“ (S. 509) erwähnt.

„Bei diesem [R.] hatte Anton eine Privatstunde im Rechnen und Schreiben, welches sein Vater für ihn bezahlte - denn Rechnen und Schreiben war noch das einzige, welches dieser für Anton zu lernen der Mühe wert hielt“. (S. 178 – 179)

Kulturell steht im Adoleszenz Prozess dann das Theater über allem. Dieser Kulturinstitution möchte sich A. annähern, doch wird es ihm nie gänzlich gelingen, denn im fragmentarischen Ende steht die Auflösung der Schauspieltruppe, der sich A. anschließen will:

„[…] indem er an allen eine außerordentliche Niedergeschlagenheit bemerkte, welche sich ihm bald erklärte, als man ihm die tröstliche Nachricht gab, daß der würdige Principal dieser Truppe gleich bei seiner Ankunft in Leipzig, die Theatergarderobe verkauft habe, und mit dem Gelde davon gegangen sei. – Die Sp…sche Truppe war also nun eine zerstreute Herde.“ (S. 518)

Inwieweit A. in seinem Wunschdenken durch eigene Schauspieltätigkeit tatsächlich gebildet, oder nur sein Egoismus befriedigt, und die Einbildungskraft gefördert wird, ist fraglich, da er z. B., parallel zum Schauspiel der Primaner,

„[…] auf den Einfall kam, mit zwei bis dreien seiner Mitschüler, welche auch keine Rollen [beim Stück der Primaner] hatten, gleichsam eine Partie der Mißvergnügten auszumachen, und auf deren Wohnstube bei einer kleinen Anzahl Zuschauer, eine Komödie besonders aufzuführen. […] Nun war er in seinem Elemente – Er konnte einen ganzen Abend lang, großmütig, standhaft, und edel sein, […].“ (S. 251)

Allerdings findet die Aufführung vor geringem Publikum und ohne große Theatergruppe statt, obwohl man A. hierbei den Bildungserfolg durch Auswendiglernen und sich in die Emotionalität einer Rolle versetzen nicht absprechen darf. Doch es ist seine Phantasiewelt, in die er sich immer mehr hineinsteigert. z. B. als er sich mit einem Brotlaib in seinem Zimmer einschließt um 14 Tage davon zu leben und sich seinem „Dichtungstrieb“ (S. 512) hingibt:

„Sein großes Brot auf dem Tische betrachtete er [A.] wie ein Heiligtum, daß er so sehr wie möglich schonen mußte, weil von der Dauer dieses Brots mit die Dauer seines glücklichen Zustandes abhing.“ (S. 513)

Dies kommt allerdings eher einem ästhetischen Begriff nahe, und soll nachfolgend genauer betrachtet werden. Zusammenfassend kann man im Hinblick auf A.s Bildungsgier von einer „Wonne des Denkens“ (S. 300) sprechen, die sich im Verlauf ins Extremste steigert, und vom rein psychischen Zustand auf die Physis übergreift und diese beeinträchtig, was im weiteren Verlauf dieser Ausarbeitung noch zur Sprache kommt.

2.2 Ästhetische Bildung

Betrachtet man die Ästhetische Bildung Antons, realisiert man auf den ersten Blick das Gedichte schreiben. Dabei handelt es sich explizit um Naturgedichte oder Lobeshymnen, z. B.: „In den schön beblümten Auen[,] [k]ann man Gottes Güte schauen“ und „An euch ihr schönen Wissenschaften, [an] euch soll meine Seele haften“ (S. 215). Weiter bildet das Klavierspielen, das ihm Herr L. ermöglicht eine kurzzeitige Musische Erziehung: „L…ging zuweilen mit ihm spazieren; ja er nahm ihm sogar einen Klaviermeister an.“ (S. 138), und das Lesen befähigt A. zur Ästhetisierung des Geistes. Z. B. ermöglicht es ihm den Zugang zur Goetheliteratur (dem Werther S. 334), zu Shakespeare („ Shakespearenächte“ S. 311) und letztlich zur eigenen Tätigkeit des Gedichteverfassens (S. 338), was ihn in Ästhetische Schwärmereien versetzt:

„Diese ausschweifende Ehrfurcht gegen Dichter und Schriftsteller nahm nachher mehr zu als ab; er konnte sich kein größeres Glück denken, als dereinst einmal in diesem Zirkel Zutritt zu haben – denn er wagte es nicht, sich ein solches Glück anders, als im Träume vorzuspielen.“ (S. 338).

Neben dem Schauspielwunsch, und den damit einhergehenden Vorsprechen im Theater, steht das zentrale Motiv der Selbstbeobachtung, z. B. als A. im Brief des Hrn. v. F. als vom „Satan“ besetzt beschrieben wird, prüft er sich folgendermaßen:

„Das war wirklich ein Donnerschlag für Anton – aber er prüfte sich, und verglich seinen jetzigen Zustand mit dem vorhergehenden, und es war ihm unmöglich, irgend einen Unterschied dazwischen zu entdecken; er hatte noch eben so oft, eingebildete göttliche Rührungen und Empfindungen, wie sonst […].“ (S. 141)

Kann Anton hier mit einem Künstler gleichgesetzt werden, der sein Modell - in diesem Fall die eigene Person - intensivst studiert und unter die Lupe nimmt? Inwieweit erfährt er ästhetische Bildung an sich selbst? Hierzu wird bei Grams zum Begriff der Ästhetik erwähnt, dass es „in der Regel […] als Qualitätsbestimmung von Kunstwerken verstanden [wird]“.[7]

Ein weiterer Ästhetikbegriff wird wie folgt definiert:

„Eng gebunden an die Tätigkeit des Individuums umfaßt ein ästhetisches Verhältnis zur Natur neben der Wahrnehmung und Gestaltung der natürlichen Umwelt auch die Wahrnehmung und Gestaltung der eigenen Körperlichkeit und der Sozialbeziehungen. […] Wie das Individuum seine innere Natur, seine Körperlichkeit und Sinne in der Wahrnehmung und Gestaltung äußerer Natur entfaltet und entwickelt; wie es sich in Beziehungen auf innere und äußere Natur wahrnimmt und verhält; wie es schließlich in solchen Naturbeziehungen gesellschaftliche Beziehungen wahrnimmt und gestaltet – das macht in einem weiten und vollen Verständnis von Ästhetik den Kern der Sache aus.“[8]

D. h. also, dass das Reisen Antons als Erleben der Natur, z. B. die erste Reise mit seinem Vater, als ästhetische Bildung verstanden werden kann:

„Anton sahe hier die Natur in unaussprechlicher Schönheit. Die Berge rund umher in der Ferne und in der Nähe und die lieblichen Täler entzückten seine Seele, und schmolzen sie in Wehmut, […].“ (S. 101)

Die Selbstbeobachtung entpuppt sich bei genauerer Betrachtung auch als Selbsttäuschung und der negative Einfluss einer ästhetischen Bildung lässt sich in A.s „Leiden der Einbildungskraft“ erkennen (S. 157). Darunter scheint die ästhetische Naturempfindung A.s die Konstanteste zu sein. Als er sich z. B. in Selbsttäuschung schon als Theaterspieler feiert, und dann doch scheitert, ist das Unwetter in der Natur der einzige Umstand, der für seine Seele befriedigend zu sein scheint:

„Er [A.] schrieb sich also seine Rolle auf, und lernte sie auswendig. Er war wirklich in der Aussicht auf seine theatralische Laufbahn vollkommen glücklich, […]“ (S. 506). „Diese äußersten Anstrengungen der Natur, waren das einzige, was ihm das Verlorne in dem ersten bittersten Schmerz darüber einigermaßen ersetzen konnte. Das fortdauernde Leidenschaftliche dieses Zustandes hatte in sich etwas, das seiner unbefriedigenden Sehnsucht wieder neue Nahrung gab“ (S. 507).

Diese Selbsttäuschung, v. a. in der Ästhetik wird durch den Erzähler zum falschen Kunsttrieb erhoben:

„Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt. Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlornen Kummer hätte ihm dies erspart!“ (S. 443)

Weiter heißt es zur Einbildungskraft ebd.:

„Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Qualen rächte.“

Hier stellt sich nun die zentrale Frage dieses Abschnitts, ob A.s Wirklichkeitsflucht in die Einbildung als ästhetische Bildung verstanden werden kann? Hierzu könnte man auch den Umstand des Spiels auf der einen Seite als Rückkehr vom fortschrittlichen Bildungsgang A.s zum kindlichen Urzustand, als Frühform ästhetischen Ausdrucks deuten. Andererseits zeugt es von einem gewissen Primitivismus und einer Ungebildetheit, die sich v. a. in der Zerstörungswut A.s ausdrückt, und so ein Argument für A.R. als Antibildungsroman wäre:

„[…] Um sich vor dem Zustande des tödlichen Aufhörens aller Wirksamkeit zu retten, mußte er zu kindlichen Spielen wieder seine Zuflucht nehmen, in so fern dieselben auf Zerstörung hinaus liefen. – Er machte sich eine große Sammlung von Kirsch- und Pflaumenkernen, setzte sich damit auf den Boden, und stellte sie in Schlachtordnung gegen einander […].“ (S. 277)

In weiterer Ausarbeitung sollen folgende Begrifflichkeiten von sozial-emotionaler, sowie physisch-psychischer Bildung als Unterkategorien der Ästhetik fungieren, da immer eine gewisse Selbstbeobachtung vorausgesetzt wird.

2.3 Sozial- emotionale Bildung

Welche Auswirkungen hat die Emotionalität auf Bildungsprozesse A.s? Erfolgreiche wissenschaftliche, so wie ästhetische Bildung, kann nicht ohne die Frage der Emotionalität geklärt werden, denn diese scheint eine Schlüsselrolle für das Gelingen von Bildung einzunehmen. Die Kindheit A.s ist hier ein besonderes Beispiel um von der, bereits erwähnten, „Unmöglichkeit von Bildung in einer feindlichen Umwelt“ zu sprechen.[9] Dies wird v.a. durch den Zwist zw. Vater und Mutter in religiösen Ansichten und allg. Bildungsfragen in Bezug auf A. deutlich. (z. B. A.s Vater, Quietist, will, dass A. keine Romane liest, aber A.s Mutter, Pietistin, befördert ihn darin). Auch ist im Primärtext von einer „Seelenlähmung durch das zurücksetzende Betragen seiner eigenen Eltern gegen ihn“ (S. 402) die Rede. Andererseits sind diverse außerfamiliäre Bezugspersonen in der Adoleszenz Phase A.s sehr wichtig, z.B. der Pastor P., durch welchen Anton sich selbst für den Predigerberuf erkoren sieht:

„O! welche selige Stunden waren das, da Anton so sein Herz ausschütten, und Stundenlang von dem Manne [Pastor P.] sprechen konnte, gegen den er, unter allen Menschen auf Erden, die meiste Liebe und Achtung hatte.“ (S. 171)

Der Lehrer R ist eine weitere wichtige Person, die – wie bereits erwähnt – A. den Studienwunsch nahe bringt:

„Auch das Gefühl von Freundschaft erhielt jetzt bei ihm neue Nahrung. Er liebte einige von seinen Lehrern, im eigentlichen Verstande, und empfand eine Sehnsucht nach ihrem Umgange – insbesondre äußerte sich seine Freundschaft gegen einen derselben Namens R. […].“ (S. 178)

Negativ fällt der Inspektor ins Auge, der A. als „dummen Knaben“ (S. 176) bezeichnet, wobei dies A. sehr stark belastet, was man daran erkennt, dass sich im weiteren Erzählverlauf wieder darauf bezogen wird: „ […] und [A.] also noch lange Bedenken trug, einem solchen Manne [dem Inspektor] seine Neigung zum Studieren zu entdecken […]“ (S. 179). Auffallend ist bei den bisher genannten Personen, dass sich keine in A.s Alter befindet, sondern stets überlegene Lebenserfahrung mitbringt, und A. sich schon allein unter diesen Umständen benachteiligt vorkommt, oder die Bezugspersonen verherrlicht und ins Unerreichbare entrückt. Er kann nur zum Mitlehrburschen August eine Bande aufbauen (S. 144): […], daß ihre Herzen oft in wechselseitigen Ergießungen der Freundschaft überströmten […]“ und (S. 169): „von August war der Abschied zärtlich, […]“, Und zu Philipp Reiser seinem Namensvetter und Schulkammeraden. Im letzten Kapitel scheint er zu wünschen die Beziehung zu N. nicht beendet zu haben, indem er den Abschied von jenem bereut (S. 518). Da A. nie Anzeichen an Mädchenbekanntschaften gemacht hat, könnte hier auch eine Vermutung über die Homosexualität A.s angestellt werden. Das folgende Zitat bringt die Ungebildetheit A.s in Beziehungsfragen auf den Punkt:

„Es war die unverantwortliche Seelenlähmung durch das zurücksetzende Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn, die er von seiner Kindheit an noch nicht hatte wieder vermindern können. – Es war ihm unmöglich geworden, jemanden außer sich, wie seines Gleichen zu betrachten – jeder schien ihm auf irgend eine Art wichtiger, bedeutender in der Welt, als er, zu sein – daher deuchten ihm Freundschaftsbezeigungen von andern gegen ihn immer eine Art von Herablassung – weil er nun glaubte, verachtet werden zu können, so wurde er wirklich verachtet – und ihm schien oft das schon Verachtung, was ein anderer, mit mehr Selbstgefühl, nie würde dafür genommen haben.“ (S. 403)

[...]


[1] Wilhelm Voßkamp: Poetik der Beobachtung. Karl Philipp Moritz Anton Reiser zwischen Autobiographie und Bildungsroman. In: Etudes Germaniques (1996), Nr. 3, S. 478.

Der Erziehungsroman Emile ou L’éducation wird hier als Modell für Moritz Roman aufgeführt, explizit in der Erzählerrolle.

[2] Jürgen Jacobs: Bildungsroman. Bde. 1: A-G, Kapitel 2. Aufl. von Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, von Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller gemeinsam mit Harald Fricke, hg. Klaus Weimar, Berlin/ New York 2007, S. 230.

Dilthey sah in Goethes W. Meister ein traditionsbildendes Muster ‚Menschlicher Ausbildung in verschiedenen Stufen, Gestalten, Lebensepochen‘. D.h. aber auch, dass die Gattung Bildungsroman ihre Zuschreibung erst im Verlauf des 19. Jh. erhielt und zu Moritz Zeit noch nicht vorhanden war.

[3] Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007. S. 17.

[4] Jakobs: Bildungsroman 2007, Bd. 1, S. 230 - 231.

[5] Jacobs: Bildungsroman. Bd.1, 2007, S. 231.

[6] Seitenangaben in Klammern zitiert nach: Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Dichtungen, Frankfurt am Main 2006.

[7] Wolfgang Grams: Karl Philipp Moritz. Eine Untersuchung zum Naturbegriff zwischen Aufklärung und Romantik. Opladen, 1992. S.29.

[8] Ebd.

[9] Jakobs: Bildungsroman 2007, Bd. 1, S. 231.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Bildung im psychologischen Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz
Untertitel
Versuch einer Gattungszuschreibung. Zwischen Bildungs- und Antibildungsroman
Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)  (Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien)
Veranstaltung
Neuere Deutsche Literaturwissenschaft: Proseminar
Note
2,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
16
Katalognummer
V510701
ISBN (eBook)
9783346078568
ISBN (Buch)
9783346078575
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karl Philipp Moritz, Bildungsroman
Arbeit zitieren
Annika Haas (Autor:in), 2016, Bildung im psychologischen Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510701

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