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Das Fremde im Eigensten

2011
978-3-8233-7634-7
Gunter Narr Verlag 
Bernd Kortländer
Sikander Singh

Die nationale Identität Deutschlands ist im 18. und 19. Jahrhundert zunächst über die Kultur und Sprache bestimmt worden. Erst spät entwickelte sich die Idee einer staatlichen Einheit, parallel mit dem Verfall der feudalen Strukturen und dem Aufstieg des Bürgertums, zu einer politischen Vorstellung und Forderung. Und erst in den Jahren zwischen der Französischen Revolution und dem Wiener Kongress erhielt das Konzept der Nation in Deutschland seine moderne Bedeutung. Die Übersetzung spielt in diesem Prozess eine besondere Rolle. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Frage, inwiefern philosophische, ästhetische und politische Vorstellungen aus anderen europäischen Literaturen die Ausbildung einer nationalen Eigenart sowie eines nationalen Bewusstseins in Deutschland im 19. Jahrhundert beeinflusst oder bestimmt haben.

Bernd Kortländer und Sikander Singh (Hg.) „Das Fremde im Eigensten“ Die Funktion von Übersetzungen im Prozess der deutschen Nationenbildung TRANSFER „Das Fremde im Eigensten“ TRANSFER Literatur - Übersetzung - Kultur 21 Herausgegeben von Monika Gomille, Bernd Kortländer, Hans T. Siepe Bernd Kortländer und Sikander Singh (Hg.) „Das Fremde im Eigensten“ Die Funktion von Übersetzungen im Prozess der deutschen Nationenbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post, Düsseldorf. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0939-9941 ISBN 978-3-8233-6634-8 Inhalt Vorwort 7 Joshua Billings Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 9 Jürgen Joachimsthaler Das übersetzte „Volk“. Johann Gottfried Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 23 Stefan Elit Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? Positionen um 1800: Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Heinrich Voß 39 Sonja Klein Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 59 Christine Ivanovic „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 77 Larisa Cercel Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers hermeneutischer Übersetzungstheorie 95 Isabella Ferron Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816). Ein singulärer Beitrag zur Entstehung des Begriffs „Deutsche Nation“ 113 Ruth Neubauer-Petzoldt „eine neue Welt den Deutschen aufzuschließen“: Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares zwischen Aktualisierung und Universalisierung 129 Sikander Singh Reden an die deutsche Nation. Ludwig Tieck, Jacob Grimm und das romantische Ideal mittelhochdeutscher Dichtung 149 Susanne Gramatzki Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein: De l’Allemagne von Germaine de Staël und die deutschen Gesamtübersetzungen des 19. Jahrhunderts 159 Florian Trabert „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption im Spannungsfeld von Patriotismus und Exilerfahrung 179 Bernd Kortländer Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit 195 Verzeichnis der Beiträger 207 Vorwort An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die deutsche Literatur zum Schmelztiegel der europäischen Literaturen. Mit Johann Wolfgang von Goethe war man sich einig, dass es, wie Johann Peter Eckermann unter dem Datum des 10. Januar 1825 festhielt, „in der deutschen Natur“ liege, „alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigenthümlichkeit zu bequemen.“ 1 Bereits früher hatte Friedrich Schleiermacher vermerkt, „daß wegen seiner Achtung für das fremde und seiner vermittelnden Natur unser Volk bestimmt sein mag, alle Schäze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen zugleich in seiner Sprache gleichsam zu einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen Europas verwahrt werde...“ 2 Was in seiner Aufgeschlossenheit für die fremden Kulturen zunächst kosmopolitisch und weltoffen wirkt, enthält zugleich einen gegenläufigen Aspekt. Denn das Deutsche ist, wie August Wilhelm Schlegel bemerkt, „auf nichts geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften.“ 3 Damit wird nicht nur Nation als Konzept der Literaturgeschichtsschreibung etabliert. 4 Nationale Literaturgeschichte wird zugleich als Entfaltung des Geistes bzw. Charakters einer Nation in der Absicht beschrieben, ihre Besonderheit und schließlich auch Überlegenheit gegenüber anderen Nationen zu belegen. Sie wird zum Spiegel des inneren Lebens einer Nation und stellt symbolhaft die Entfaltung nationaler Identität dar. Das von den Romantikern ausgearbeitete Dilemma verengt sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, verstärkt durch die Erfahrungen der französischen Besatzung, zu jener Form nationaler Selbstvergewisserung, 1 Johann Wolfgang Goethe: Gespräch mit Eckermann vom 10. Januar 1825. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Friedmar Apel [u. a.] 40 Bde. Frankfurt/ Main 1985-1999, Abt. 2, Bd. XII, S. 132. 2 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens. In: Sämmtliche Werke. 3. Abtheilung: Zur Philosophie. 2. Bd. Berlin 1838, S. 207-245, hier S. 243. 3 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Encyklopädie. Hg. von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt. In: ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hg. von Charlotte Becker. Paderborn [u.a.] 2006, Bd. III, S. 336. 4 Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989, insbesondere Kapitel II und III. 8 die Deutschland den Titel „Vaterland der Feinde“ 5 eingetragen hat, weil deutscher Patriotismus sich vor allem in Absetzung von Frankreich definierte. Dieser Patriotismus der Deutschen bestehe nur noch darin, „daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Teutscher“ sein will, schreibt Heine in der Romantischen Schule. 6 Die Beiträge dieses Bandes gehen an literarischen Beispielen aus dem Zeitraum 1750 bis 1850 diesen Zusammenhängen von Fremdem und Eigenem, von Öffnung und Ausgrenzung, Aufnahme und Ablehnung, kosmopolitischem und nationalem Denken nach. Sie zeigen, wie die Auseinandersetzung mit philosophischen, ästhetischen und politischen Vorstellungen aus fremden Literaturen die Ausbildung einer nationalen Eigenart sowie eines nationalen Bewusstseins in Deutschland im 19. Jahrhundert beeinflusst und seine moderne Bedeutung mit geprägt hat. Unser Dank gilt allen Beiträgern dieses Bandes, dem Lehrstuhl Romanistik III Französische und Italienische Literatur / Literaturübersetzen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Univ.-Prof. Dr. Hans T. Siepe), insbesondere Sarah Gröning, die ebenso kompetent wie unermüdlich das Manuskript für den Druck eingerichtet hat, und nicht zuletzt der Anton Betz Stiftung der Rheinischen Post, Düsseldorf, die den Band mit einem Druckkostenzuschuss erst möglich machte. Düsseldorf, im Mai 2011 Bernd Kortländer Sikander Singh 5 Vgl. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918. Stuttgart 1992. 6 Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973-1997, Bd. VIII, S. 141. Joshua Billings Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ Kaum hat das kalte Fieber der Gallomanie uns verlassen, Bricht in der Graecomanie gar noch ein hitziges aus. 1 The eighteenth century in Germany begins with “Gallomanie” and ends with “Graecomanie.” The turn from French to ancient Greek models is one of the most significant literary developments of the century, and Greek tragedy has a particularly significant role in this reorientation: though a relatively obscure form at the beginning of the eighteenth century, it had become an obsession for writers and philosophers by the end of it. Interest in Greek tragedians, and particularly Sophocles, forms an ancient counterpart to the adoption of Shakespeare as an iconic author of German modernity in the works of Lessing, Herder, Schiller, and the Schlegels. The ubiquitous parallels of Sophocles and Shakespeare go hand in hand with a trickle and then a flood of translations of ancient Greek tragedians from mid-century onwards. Reflection on tragedy is bound to the growing historicist consciousness of the latter half of the eighteenth century, and takes place within a dialectic of self and other that seeks to articulate a fruitful artistic and cultural relation to antiquity. The first translations of Greek tragedy into German show a developing sense of nationhood, and an effort to mobilize ancient ideals and poetic forms towards what Hölderlin will call “vaterländische Dichtkunst”. The following will trace the arrival of Greek tragedy in German on the paradigmatic example of Sophocles, the Greek tragedian held in the highest esteem since Aristotle’s Poetics. Taking Friedrich Hölderlin’s notoriously recondite Anmerkungen to his versions of Oedipus the King and Antigone (1804) as a chronological endpoint and explanatory goal, this contribution will examine the paratexts (introductions, notes, appendices, etc.) contained in early translations of Sophocles for their articulation of a national, patriotic discourse. Though Hölderlin’s two volumes entitled Die Trauerspiele des Sophokles have been the objects of a great deal of scholarly attention, the translations that precede it are largely forgotten. In comparison to the vast 1 Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943ff., Bd. I, S. 348. Joshua Billings 10 interest in the eighteenth-century reception of Shakespeare, 2 this is surprising. Part of the reason for the relative neglect may be that the translations themselves are of little intrinsic interest, by and large the work of literary dilettantes. They are moreover significantly post festum, preceded by the standard French works of Dacier and Brumoy by fifty and thirty years, respectively. Yet Greek tragedy, along with Shakespeare and Greek visual art, significantly arrives in German intellectual life in the latter half of the eighteenth century. 3 This arrival forms the basis of the unprecedented enthusiasm for the genre around 1800, which unites Weimar Classicism, Jena Romanticism, and the Idealism of the Tübingen Stift comrades Hölderlin, Hegel, and Schelling. The following will take the form of a prolegomena to a reading of Hölderlin’s Sophocles, arguing that earlier translations constitute a discursive field that helps to understand some of the most difficult passages of the Anmerkungen, those concerning the “Vaterland” and the “vaterländisch”. For all their hermeticism and originality, Hölderlin’s notes take part in a continuing discussion of the interplay of Greek tragedy and national identity, which sees translation of Sophocles as creating the conditions for a “vaterländische” poetry. The situation of Greek tragedy at mid-century is illustrated by a look at Johann Christoph Gottsched’s collection Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Exempeln der Alten, published between 1741 and 1745. Despite the title, there is no Greek work included, and though Gottsched had announced translations of Aristotle and Sophocles, following the model of André Dacier’s 1692 Poëtique and L’Oedipe et l’Electre, volume after volume appeared without the promised material. Gottsched’s Greek seems not to have been up to the task; it was still a relatively special competence, primarily for the study of theology. Much more important than the examples of the ancients, for Gottsched, were their so-called rules, as elaborated most of all in French neoclassical poetics. As he acknowledges, France, more than Greece or Rome, forms the basis for his understanding of poetry and hopes for a national literary culture: 2 Recent examples: Shakespeare im 18. Jahrhundert. Hg. von Roger Paulin. Göttingen 2007; Shakespeare vu d'Allemagne et de France des Lumières au Romantisme. Hg. von Christine Roger. Paris 2007; Renate Häublein: Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhundert. Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater. Tübingen 2005. 3 The baroque’s interest in tragedy (including Opitz’s 1636 Antigone translation) was largely forgotten or overlooked in the early eighteenth century. On the baroque Sophocles, see Anastasia Daskarolis: Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus. Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2000. Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 11 Was bey den Römern die Griechen waren, das sind für uns itzo die Franzosen. Diese haben uns in allen großen Gattungen der Poesie sehr gute Muster gegeben, und sehr viele Discurse, Censuren, Kritiken und andere Anleitungen mehr geschrieben, daraus wir uns manche Regel nehmen können. 4 These words would be unthinkable a generation later, when both the Romans and the French had fallen out of fashion. They point to the Francophilia of German literary thought early in the century, and the obscurity of Greek culture in the years before Winckelmann. Though the stories of Greek tragedies were often adapted for the modern stage, 5 the language and forms of the original works could only be experienced by the Greek-less in Latin or French translation. The 1750s mark the beginnings of Graecomania in Germany and concurrently, the decisive turn away from Gottsched’s Regelpoetik. Beyond the well-known milestones of Winckelmann’s 1755 Gedanken essay and Lessing’s attack on Gottsched and French tragedians in the 17 th Literaturbrief of 1759, the decade sees Michael Curtius’s translation of the Poetics in 1753 and Johann Jakob Steinbrüchel’s translations of Sophocles, beginning in 1759. Published on either side of Winckelmann’s epochal essay, the two translations emerge from hostile camps of German literary culture: Curtius was encouraged by Gottsched and his circle in the north, while Steinbrüchel had studied theology under Johann Jakob Breitinger in Zürich. The antagonism between the two groups erupted in 1740 when Breitinger published his Critische Dichtkunst (in direct competition with Gottsched’s of ten years earlier) and Johann Jakob Bodmer, a Zürich colleague, authored the Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, which defended the imagery of Milton against Gottsched’s reproaches. Though Gottsched and the Swiss basically agreed on the need for a normative poetics, they differed in that Gottsched leaned towards a rationalistic, the Swiss towards a sensualistic understanding of poetry’s effect. Given the fundamental disagreement between the two groups, it is no surprise that the translations speak to quite different readerships and aims. Curtius’s Aristoteles Dichtkunst is a learned work, which locates itself in a pan-European discussion with a lengthy history of previous editions and translations, an extensive commentary, and a number of appendices. Curtius is self-conscious about providing an alternative to Dacier’s translation, which he criticizes pointedly. As Lessing notes in an early review, the work also allowed readers to bypass Gottsched’s Critische Dichtkunst, going 4 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. 4. Auflage. Leipzig 1751 [Reprint: Darmstadt 1982], S. 41. 5 See Christopher Meid: Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung. „Bei den Alten in die Schule gehen.“ Tübingen 2008. Joshua Billings 12 straight to the Aristotelian source. 6 Though Curtius expresses his thanks to Gottsched in the introduction, his description of tragedy differs significantly, pointing to a more affective interpretation of Aristotle than had been the rule. The pity aroused by tragedy, for Curtius, is itself morally improving: Wenn das Unglück eines Fremden auf der Bühne uns lebhaft rühret, so wird das Mitleiden und Erbarmen zu einer Fertigkeit der Seelen, und der Menschenfreund in den Logen und dem Parterre, bey dem die auf der Bühne vorgestellte Begebenheiten das Gefühl der Menschlichkeit rege gemacht haben, wird auch in den Handlungen seines Lebens sich als ein Menschenfreund erweisen. 7 Curtius is quite close here to Lessing’s affective Aristotelianism: the experience of being moved by the events of tragedy is an end in itself, increasing the spectator’s own faculties of “Menschlichkeit.” This is in marked contrast to Dacier’s emphasis on the exemplary nature of tragic action and characters, and to Gottsched’s stoic description of tragic spectatorship as a preparation for real unhappiness. Though Curtius also recognizes this Stoic aim, he seeks a balance between the “Verbesserung der Leidenschaften” 8 and a sense of the importance of pathos in itself. 9 These two strains coexist somewhat uneasily in Curtius’s text, but they show an increasing interest in tragedy as a staging of the pathetic, and suggest the direction Lessing and then Schiller would take in the years following. This may be part of the reason why Curtius’s translation remained a standard work well into the next century. Steinbrüchel’s translations, on the other hand, were quickly outdated. Unlike Curtius, they are definitely oriented to a popular audience and make no secret of their cultural program. Prose translations of Electra and Oedipus the King appeared anonymously in Zürich in 1759, each followed by one of Pindar’s Olympian Odes. The next year, Antigone and Philoctetes and three more Pindaric odes were added, and pirated collections brought out in Vienna and Leipzig, which suggests that the originals were at least moderately successful. 10 The juxtaposition of Pindar and Sophocles at first seems rather odd - the lyric poet’s famous obscurity would correspond better to contemporary views of Aeschylus - and it is nowhere explained. Breitinger’s 6 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt/ Main 1985-2003, Bd. II, S. 532. 7 Michael Conrad Curtius: Aristoteles Dichtkunst. Hannover 1753 [Reprint: Hildesheim 1973], S. 390. 8 Ebd., S. 393. 9 Matthias Luserke-Jaqui: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart 1995, S. 140. 10 Klaus Heydemann: Literarische Fingerübungen - oder mehr? Zur Geschichte der Sophokles-Übersetzungen im deutschen Sprachraum im 18. Jahrhundert. In: Übersetzung als Vermittlerin antiker Literatur. Hg. von Wolfgang Kofler, Florian Schaffenrath, Karlheinz Töchterle. Innsbruck 2009, S. 120-137, hier S. 121. Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 13 Critische Dichtkunst praises Pindar’s “erhabene […] Schreibart,” 11 so the juxtaposition could have been intended to emphasize the visceral, enthusiastic qualities of Sophocles. 12 Breitinger also points out Pindar’s “Lob des Vaterlandes oder der Voreltern seiner Sieger”. 13 This connection between poetry and patriotism is obvious in the publisher’s (Geßner) introduction to the Electra translation: “Noch muß ich sagen, daß nebst den Lehrbüchern, bey einer Nation deren Geschmack man bilden will, nichts so nützlich ist als wenn man sie mit den Meisterstücken der Alten bekannt macht.” 14 For Steinbrüchel and his publisher, translation of Greek works was an effort to educate their countrymen’s taste, and provided a complement to the normative poetics of Breitinger and Bodmer. In addition to the rules for creation (and this is surely an echo of Winckelmann) one must have an intuition gained from the study of the works themselves. Four years later, the publication of Das tragische Theater der Griechen announced itself as the beginning of a complete edition of Greek tragedy in German. In reality, it comprised only the four Sophocles translations already published - now without Pindar - and, in a second volume, four plays of Euripides: Iphigenia in Aulis, Hippolytus, the Phoenician Women, and Hecuba. Nothing more was published, which was probably a result of the translation’s less than enthusiastic reception. 15 The title and scope of the work suggests that the volumes were intended to compete with Brumoy’s 1730 Le Théâtre des Grecs. Steinbrüchel’s choice of plays - like Brumoy’s - seems guided by an effort to present works that had been adapted successfully by modern authors. The extensive and lively footnotes are full of references, often quite critical, to French translations and adaptations, including extensive parallel passages from Racine. Like Curtius’s Aristotle, the work as a whole seems a self-conscious effort to replace the French works that had provided the primary means of access to the Greek texts previously. Steinbrüchel’s follows his teachers in seeing Greek tragedy as a fundamentally political genre. 16 This provides a point of implicit contention with the French: though Brumoy had recognized the importance of republicanism for an understanding of Greek tragedy, he had sought to distance this from 11 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Zürich 1740 [Reprint Stuttgart 1960], Bd. I, S. 360. 12 Martin Vöhler: Pindarrezeption. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder. Heidelberg 2005, S. 129. 13 Breitinger: Dichtkunst, Bd. I, S. 359. 14 Elektra, ein Trauerspiel des Sophokles nebst Pindars erster Ode. Zürich 1759, „An den Leser.“ 15 Anton Weilenmann: Das aufgeklärte Zürich in seinem Verhältnis zur Antike. Winterthur 1961, S. 110. For a synopsis of the response, see Heydemann: Literarische Fingerübungen, S. 124-126. 16 Ebd., S. 110. Joshua Billings 14 any contemporary relevance, lest he step into dangerous political territory. 17 For the Swiss, however, the democratic constitution of Athens is a point of similarity, which translation can celebrate without fear of political reprisal. The political program of the translation emerges from a diagnosis of the literary situation of the time. Steinbrüchel hopes that the example of Greek tragedy will replace the reigning taste for the “comisch-weinerliche Sprünge” of an unnamed English poet, and give rise to homegrown patriotic works: Sollte dieses Unternehmen, wie man hoffet, etwas beytragen, den Lauf dieser dem guten Geschmake so nachtheiliger Vorurtheile zu hemmen; so würde der Uebersezer für seine Arbeit sich reichlich belohnt halten: noch mehr aber, wenn sie Anlas geben könnte, daß, vom wahren Geiste der Freyheit beseelt, ein Genie -wie dasjenige, welches uns für den Erretter Roms so rührend interessiert hat […], auf den Fußstapfen der Griechen, durch die glorreichen Beyspiele der Stifter und Wolthäter unsers Staates, uns zur Liebe des Vaterlands und der Geseze, zur Aufopferung, zum Muthe, zum Haß des Partey-Geistes und der Unterdrükung, entflammte. 18 The return to ancient Greece appears as a means of elevating the taste of the nation, establishing the conditions for a modern genius to create patriotic works that could be set alongside the ancients. It is important to remember that the “Vaterland” here is Switzerland, and definitely not Germany; the regional consciousness of the Zürich circle was extremely strong, and still smarting from the wounds of the conflict with Leipzig. 19 The example that Steinbrüchel cites of such a work is Voltaire’s Rome Sauvée, first performed in Paris in 1752 and published in Berlin the same year. The work portrays the failure of the Catiline conspiracy, ending with a triumphant speech in which Cicero admonishes Caesar “Sois toujours un héros, sois plus, sois Citoyen.” 20 In Zürich, such words would have been particularly moving, and pointed to the possibility that a modern poet could join and even surpass (as Voltaire believed he had done) the ancients in the creation of patriotic drama. As an appropriate subject for a patriotic work, Steinbrüchel suggests the Battle of Nancy, at which the Burgundian Charles the Bold was defeated by a coalition of Swiss and German states. „Welch reicher Stoff für das Trauerspiel,“ Steinbrüchel enthuses, „welche Erndte von Lorbeern für den republi- 17 Christian Biet: Oedipe en monarchie. Tragédie et théorie juridique à l'âge classique. Paris 1994, S. 63. 18 J. J. Steinbrüchel: Das tragische Theater der Griechen. Des Sophokles Erster Band. Zürich 1763, S. XI. 19 See Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken, Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 60-104, hier S. 64-81. 20 Voltaire: Rome Sauvée, Tragédie. Berlin 1752, S. 56. Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 15 canischen Dichter! “ 21 The story had previously been adapted into stage works, and would be again in 1771 by Bodmer, as a literary tragedy, Karl von Burgund. Ein Trauerspiel (nach Aeschylus). 22 The work is worth a brief detour from Sophocles, since it presents an extreme of the patriotic appropriation of Greek tragedy. Bodmer simply transposes the action and much of the language of the Persians to 1477: the Persian king Xerxes becomes Charles; the ghost of his father Darius, the ghost of Phillip the Good; Atossa, queen of the Perians, Charles’s daughter. As in Aeschylus, the action plays out in the camp of the Persians/ Burgundians as they are defeated at the Battle of Salamis/ Nancy, and the only significant difference is that Bodmer leaves out the lamentations of the Persians/ Burgundians after the battle - presumably in order to undermine any sympathy for the vanquished invaders. The text itself often reads like a translation with the names changed, as Bodmer admits in a forward: “Die Oekonomie in diesem Trauerspiele ist ganz des Aeschylus; selbst die Gedanken und ihre Ausbildung.” 23 Bodmer’s aim is far more political than it is artistic: Den Athenern hat Aeschylus durch das seine Lob den Geist erhoben, und wie die Schauspiele der Griechen es gewohnt waren, den Staat und die Freyheit jedem Herzen näher geleget. Unser Poet hat seinen Wunsch erreicht, wenn das neue Drama eben dergleichen Einfluß auf die Gemüther der Männer hat, deren Voreltern den Burgundischen Xerxes abgetrieben haben. 24 Bodmer and Steinbrüchel are drawn to Greek tragedy because it presents a model for patriotic poetry in a republican context. It is no coincidence that the first complete translation of Sophocles was produced in 1781 by another Zürich student of Bodmer, Georg Christoph Tobler. 25 Steinbrüchel’s widely acknowledged failure to provide a satisfactory German translation of Greek tragedy led to other efforts in the following years. In 1771, E.M. Goldhagen, a minister in northern Germany with a leisure interest in antiquity, published a complete verse translation of Oedipus the King and the first half of Oedipus at Colonus in the Bibliothek der schönen Wissenschaften, testing the waters for a larger project. A volume of four plays appeared in 1777, containing Ajax, the Trachiniae, Philoctetes and Antigone. In his introduction, Goldhagen launches an attack against the French translators of Sophocles: “Alles ist ganz niedlich abgeglättet, abgerieben, abgefeilt; alles nach den Gesetzen der Akademie und des französischen Wohlstandes.” 26 Like most early translators of the Greeks, Goldhagen 21 Steinbrüchel: Theater, Bd. I, S. XI. 22 Meid: Griechische Tragödie, S. 117. 23 J. J. Bodmer: Karl von Burgund. Ein Trauerspiel (nach Aeschylus). Heilbronn 1883, S. 3. 24 Ebd. 25 Georg Christoph Tobler: Sophokles. 2 Bde. Basel 1781. The volumes contain no material beyond the translations, so will not be considered further. 26 E. M. Goldhagen: Des Sophokles Trauerspiele. Mitau 1777, „Vorrede.“ Joshua Billings 16 distances himself polemically from the imposing precedent of French Hellenism. The reviews of Goldhagen’s volume were only marginally more positive than those of Steinbrüchel’s, but the reception of the translations has one interesting feature: the Antigone text is found in the archive of the Theater auf der Wieden in Vienna which suggests that it was probably performed there at some point under the direction of Emanuel Schikaneder. 27 If so, it would be an extremely early date for a public performance of a Greek tragedy in German - a quarter-century before Goethe’s famous staging of the Antigone in Weimar. At any rate, the wider public seems to have taken no notice. Though not the first to translate Sophocles complete, Christian Graf zu Stolberg was probably the most successful of the early translators. His Sofokles, published in two handsome volumes in 1787, was greeted with approval by critics and remained the preferred edition (used notably by Schiller) until Solger’s milestone 1808 translation. Stolberg, an aristocrat from the north of Germany, lived most of his life in the shadow of his younger, rather more talented brother, Friedrich Leopold (who would publish a translation of Aeschylus in 1802). Literary dilettantes, both Stolbergs were committed to the revival of ancient forms in modernity. Yet their interest in Greek tragedy was only secondarily aesthetic; for Christian, Sophocles is a patriotic poet first and foremost: Sofokles, er der vaterländischste Mann, war auch der vaterländischste der Griechischen Dichter. Unter seinen wenigen uns erhaltenen Trauerspielen ist auch nicht ein einziges, welches nicht (die poetischen Schönheiten izt nicht gerechnet) wegen seines patriotischen Inhalts die ganze Nazion zur Theilnehmerin erwecken, und wegen seiner edlen Gesinnungen, die ihr so eigenthümlich waren, jede Saite dieser harmonischen Leier berühren musste. 28 The rhapsodic language makes this far more than a descriptive point. Sophocles’s “vaterländisch” quality makes him exemplary among the ancient poets, and an example for moderns to follow. Stolberg cites a number of (apocryphal) episodes from Sophocles’s ancient biographies to illustrate his patriotic fervor: leading the triumphal dances after the Battle of Salamis, his election and success as general, and refusal to leave Athens to visit other city states (as both Aeschylus and Euripides did). Stolberg also brings out pan-Hellenic and Athenian references in the works themselves, most of all the Athens ode of the Oedipus at Colonus, “der patriotische Hümnus, der für uns das Urbild eines Preisgesanges ist.” 29 Greek tragedy suggests a cultural form that could bind together the disparate city-states, dukedoms, and principates of Germany as it did the poleis of ancient 27 Heydemann: Literarische Fingerübungen, S. 127. 28 Christian Graf zu Stolberg: Sofokles. Leipzig 1787, Bd. I, S. XXI. 29 Ebd., S. XXVI. Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 17 Greece. Such ideals are obvious also in the brothers’s poetry. “Deutschlands Beruf,” for example, begins “Ja, Herz Europens sollt du, o Deutschland, seyn! ” 30 In Sophocles, Stolberg found realized his own hopes for an artist who could galvanize a nation to patriotic action. Despite all his praise, Stolberg admits that he is scandalized by one passage in the Trachiniae, when Herakles, about to die, asks his son to marry Iole, his own former mistress. Stolberg, though pointing the passage out as problematic, does not omit it. He explains that he wants to deliver “Sofokles wie er ist, ganz unverstümmelt durch moderne Verbesserungen.” 31 This recognition of the foreignness of ancient mores and the imperative to accuracy are part of the growing historical sense of the late eighteenth century, which begins to be reflected in translation by a reluctance to intervene where the ancient work seems unsuitable for modern readers. 32 The same consciousness of difference, though a slightly different solution, is visible in the 1785 Oedipus the King translation of J. C. F. Manso, an effort “eine Blume der griechischen Kunst zu pflücken und sie auf deutsches Land zu verpflanzen.” 33 Manso acknowledges the need to alter ancient linguistic forms so that they appear “nach dem Geschmack unsres Zeitalters und nach den Gesetzen der Harmonie,” but insists that “das Wesentliche des Stücks, ich meine Fabel und Plan, so wie Sitten und Charaktere, sind unverändert geblieben.” 34 Manso’s apologetic tone, like Stolberg’s refusal to intervene, suggests the authority that Greek tragedy has gained in the short time since it was introduced into the German language. Seen against the background of previous translations of Sophocles into German, Hölderlin’s Anmerkungen, for all their discontinuity in content, show a remarkable continuity in concerns. For Hölderlin, Greek tragedy is a political genre, and its translation has a patriotic as well as an aesthetic aim. This is a universalist strain, which seeks to revive elements of ancient tragedy in modernity. In tension with this is a relativizing point of view that emphasizes the historical difference of ancient tragedy and sees elements of Sophocles as requiring emendation in order to retain their contemporary validity. Both the universalist and relativist tendencies point to what is most genuinely new in the latter half of the century: the sense that ancient tragedy has an essence, where previous discussions had been oriented to external 30 Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg: Gesammelte Werke. Hamburg 1827, Bd. II, S. 322. 31 Stolberg: Sofokles, Bd. I, S. XXVII. 32 Richard Stoneman: ‘A Crazy Enterprise: ’ German Translators of Sophocles, from Opitz to Boeckh. In: Sophocles Revisited: Essays Presented to Sir Hugh Lloyd-Jones. Hg. von Jasper Griffin. Oxford 1999, S. 307-329, hier S. 313. 33 J. C. F. Manso: Koenig Oedipus aus dem Griechischen des Sophokles nebst einer Abhandlung. Gotha 1785, S. III. 34 Ebd., S. IV. Joshua Billings 18 characteristics and forms. 35 Depending on the thinker, this essence may be more or less alien to the modern world, but the assumption that there is a tragic kernel to the genre allows Hölderlin to think tragedy in the modern world both in continuity with and difference from antiquity. The historical caesura of the French Revolution separates Hölderlin’s thought on tragedy from all that came before. In the wake of the Revolution, the themes that translators had found in Sophoclean tragedy - patriotism, republicanism, heroism, pathos - gained an urgency that is difficult to overstate. For Hölderlin, Greek tragedy is the aesthetic representation of “vaterländische Umkehr,” and so a revolutionary form itself. The notes to Antigone sketch an interpretation of the work as the birth of a republican state: Die Art des Hergangs in der Antigonä ist die bei einem Aufruhr, wo es, so fern es vaterländische Sache ist, darauf ankommt, daß jedes, als von unendlicher Umkehr ergriffen, und erschüttert, in unendlicher Form sich fühlt, in der es erschüttert ist. Denn vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen. 36 Hölderlin’s description of tragedy as an all-encompassing peripeteia is an obvious echo of the social chaos of his time. The relation between ancient and modern “Umkehr”, or between Sophocles’s Greek and Hölderlin’s German, hinges on the concept of the “Vaterland”. 37 “Vaterland” has for Hölderlin the function of mediating between the consciousness of the Greek tragedy’s historical existence - as a nation, “Vaterland”, among others - and the sense of its contemporary, patriotic, “vaterländisch” relevance. The adjective “vaterländisch” for Hölderlin can be used either relatively and descriptively, to denote a relation of a people to a nation; or absolutely, to refer specifically to his own nation - in which case, it often carries with it a prospective and normative sense, an imperative to become “vater- 35 Thomas Martinec: Von der Tragödientheorie zur Philosophie des Tragischen: Poetikgeschichtliche Skizze eines Umschwungs. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 49 (2005), S. 105-128, hier S. 106. 36 Friedrich Hölderlin: Die Trauerspiele des Sophokles. Frankfurt/ Main 1804, Bd. II, S. 101. Citations follow the Munich Hölderlin edition: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. München 1992-1993. 37 In the substantial literature on the “Vaterland” in Hölderlin’s thought, there has been little treatment of the Sophocles notes. On the concept generally, see: Christoph Prignitz: Der Gedanke des Vaterlands im Werk Hölderlins. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (1976), S. 88-113; Hans Joachim Kreuzer: Kolonie und Vaterland in Hölderlins später Lyrik. In: Hölderlin-Jahrbuch 22 (1980-1981), S. 18-46; Anke Bennholdt-Thomsen, Alfredo Guzzoni: Analecta Hölderliniana II. Die Aufgabe des Vaterlands. Würzburg 2004. Particularly useful is Ulrich Gaier: Hölderlins vaterländische Sangart. In: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986-1987), S. 12-59. The investigation of the “Vaterländisch” in Hölderlin’s thought touches on major debates in the secondary literature, which for reasons of space cannot be considered here. As Gaier argues, contextualizing the concept is the first step towards an adequate understanding of it. Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 19 ländisch”. Yet it is difficult to say to what collective the “Vaterland” refers. In the notes, Hölderlin never speaks of Germany or Germans. This seems an effort to distance himself from any specific, existing entity, in favour of an imagined community existing somehow between antiquity and modernity. The term “Vaterländisch” reflects the tension between an understanding of the nation as a collective bound to a particular time and place, and as a spiritual community that exists across temporal and geographic bounds. In a dense résumé of his historical philosophy and translation practice, Hölderlin describes the essential difference between ancient and modern “Vaterländer”, and the way translation must reflect this: Für uns, da wir unter dem eigentlicheren Zevs stehen, der nicht nur zwischen dieser Erde und der wilden Welt der Todten innehält, sondern den ewig menschenfeindlichen Naturgang, auf seinem Wege in die andre Welt, entschiedener zur Erde zwinget, und da diß die wesentlichen und vaterländischen Vorstellungen groß ändert, und unsere Dichtkunst vaterländisch seyn muß, so daß ihre Stoffe nach unserer Weltansicht gewählt sind, und ihre Vorstellungen vaterländisch, verändern sich die griechischen Vorstellungen in sofern, als ihre Haupttendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu können, Geschik zu haben, da das Schiksaallose, das , unsere Schwäche ist. 38 Here, there seems to be a continuity of ancient and modern “Vaterländer”. Through translation, the national forms of ancient Greece become the national forms of the “Vaterland”, while undergoing at the same a process of assimilation to “vaterländische Vorstellungen”. The foreign element is at once transformed into the national, and the national tendency towards the foreign (the “Geschick” of the Greeks) expressed. This dual process allows modern poetry to be “vaterländisch”: not only conforming to the “Vaterland” as it exists presently, but prospectively enabling its fuller realization. The description of the opposed tendencies of ancient and modern cultures reveals the same pattern of reciprocal striving that Hölderlin describes in his letter to Böhlendorff of December 4, 1801: “das eigentliche nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden.” 39 As he writes to his Sophocles publisher, Hölderlin believes himself “durchaus gegen die exzentrische Begeisterung geschrieben zu haben und so die griechische Einfalt erreicht.” 40 Both Greeks and moderns must strive against their national tendencies in order to reach the artistic ideal, a tension of opposing principles. It is only through this reciprocity that the “Vaterländisch” can be attained. In one of the many paradoxes of Hölderlin’s thought, the originality and authenticity of a nation’s art is produced by an engagement with the foreign. Hölderlin writes in the second surviving 38 Hölderlin: Sophokles, Bd. II, S. 98. 39 Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 912. 40 Ebd., Bd. II, S. 930 (to Wilmans, April 2 nd 1804). Joshua Billings 20 letter to Böhlendorff that, „wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.“ 41 This hope guides Hölderlin’s translation of Sophocles as well as his own “vaterländische[n…] Gesänge.” 42 At the same time as modern poetry must move towards Greek forms, it also subordinates them to its own necessities. The Sophocles citation above continues, switching from a relative notion of the “Vaterland” to an absolute one: Deswegen hat der Grieche auch mehr Geschik und Athletentugend, und muß diß, so paradox uns die Helden der Iliade erscheinen mögen, als eigentlichen Vorzug und als ernstliche Tugend haben. Bei uns ist diß mehr der Schiklichkeit subordinirt. Und so auch sind die griechischen Vorstellungsarten und poëtischen Formen mehr den vaterländischen subordinirt. 43 “Geschick”, the virtue of the Greeks, must become secondary in the modern world to the virtue of “Schicklichkeit”. In this process, the meaning of the adjective “vaterländisch” has changed: the last sentence of the citation (and elsewhere in the notes) uses the word as a synonym for “modern,” and a contrast to Greek. The slippage in the term is appropriate to the process by which the ancient “Vaterland” is transformed into the modern one. The “Vaterländisch” for Hölderlin is not self-evident or pre-given, but must be won from the process of translation. Hölderlin draws attention in the notes to his rendering of the name “Zeus,” as “Vater der Zeit” or “Vater der Erde,” “um es unserer Vorstellungsart mehr zu nähern.” 44 The subordination of ancient to modern modes of presentation allows the Greek divinity to carry meaning in German, where it would be only an empty name otherwise; it makes the Zeus of the modern world “eigentlicher.” Hölderlin’s translation practice brings together opposed tendencies, conforming modern language to ancient forms, and at the same time, actualizing ancient content for modern imagination. The translations are centripetal and centrifugal at once, and the tension between the two movements produces “das Vaterländische”. The “Geschick” that Hölderlin hopes to gain from the Greeks has poetological and historical-philosophical justifications. In both senses, it enables modern poetry to become “vaterländisch” through an engagement with the alien. In the first sentence of the Oedipus notes, Hölderlin describes the technical skills that can be gained from the study of Greek works: “Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, 41 Ebd., Bd. II, S. 922 (to Böhlendorff, November 1802). 42 Ebd., Bd. II, S. 927 (to Wilmans, December 1803). See also the letters to Wilmans of September 28 th 1803 and December 8 th 1803. 43 Hölderlin: Sophokles, Bd. II, S. 99. 44 Ebd., Bd. II, S. 96. Greek tragedy and „vaterländische Dichtkunst“ 21 wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur μηχανη der Alten erhebt.” 45 The technique of ancient poetry helps to compensate for modernity’s lack of artistic reliability. Hölderlin understands Greek art as a process, as a skill that can be learned and taught. As he makes clear, his ultimate intention is the creation of “vaterländische” poetry, and translation of the Greeks is a means to an end. In his dedication, Hölderlin writes that he has chosen the task of translating Greek poetry “weil es zwar in fremden, aber festen und historischen Gesezen gebunden ist. Sonst will ich, wenn es die Zeit giebt, die Eltern unsrer Fürsten und ihre Size und die Engel des heiligen Vaterlands singen.” 46 Greek poetry is a technical exercise that provides the laws lacking in modernity, and so allows for “vaterländische” poetry. Though acutely conscious of the difference of ancient and modern artworks, Hölderlin sees the same poetic skill at the heart of both, “was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik.” 47 Behind the notes’s elaborate play on the root schicken (Geschick, Schicksal, Schicklichkeit) one inevitably hears the word Geschichte, and this grounds the historical-philosophical necessity of translation. Modernity’s lack of Geschick is also a lack of Geschichte, a sense that history has spun out of joint. Hölderlin’s concern with the future of his own “Vaterland” coincides with the increasing feeling that the French Revolution has failed to live up to its transformative promise. 48 Ancient tragedy preserves the possibility of a Schicksal that will guide modern Geschichte. This might explain why Hölderlin, in the absence of any historical or mythological evidence, reads Antigone as depicting a change in the polis form of government. Höl-derlin’s interpretation of the work as a republican revolution establishes the parallel with modern times: Die Vernunftform, die hier tragisch sich bildet, ist politisch und zwar republikanisch, weil zwischen Kreon und Antigonä, förmlichen und gegenförmlichem, das Gleichgewicht zu gleich gehalten ist. Besonders zeigt sich diß am Ende, wo Kreon von seinen Knechten fast gemißhandelt wird. 49 Hölderlin finds an echo of the execution of Louis XVI in Creon’s powerlessness over his knights. Antigonä depicts republicanism out of control, and so provides an analogy to the revolutionary Umkehr of Hölderlin’s time. The analogy of ancient and modern Umkehr makes Greek tragedy a representation of the most important concerns of Hölderlin’s own time. 45 Ebd., Bd. I, S. 99. 46 Ebd., Bd. I, „Der Prinzessin Auguste von Homburg.“ 47 Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 912 (to Böhlendorff, December 4 th 1801). 48 Prignitz: Gedanke des Vaterlands, S. 106. 49 Hölderlin: Sophokles, Bd. II, S. 102. Joshua Billings 22 Hölderlin closes the notes with a contrast of ancient and “vaterländische” poetry that is at once a justification of his translation and a call for developing modern poetic forms: Für uns ist eine solche Form [Sophoclean tragedy, J. B.] gerade tauglich, weil das Unendliche, wie der Geist der Staaten und der Welt, ohnehin nicht anders, als aus linkischem Gesichtspunct kann gefaßt werden. Die vaterländischen Formen unserer Dichter, wo solche sind, sind aber dennoch vorzuziehen, weil solche nicht blos da sind, um den Geist der Zeit verstehen zu lernen, sondern ihn festuzuhalten und zu fühlen, wenn er einmal begriffen und gelernt ist. 50 The republican spirit of Hölderlin’s time cannot be understood in the chaos of historical reality; it can only be grasped through a detour, a “linkisch” point of view. The ancient form is able “den Geist der Zeit verstehen zu lernen,” but a modern form is necessary “um ihn festzuhalten und zu fühlen.” This task remains for Hölderlin’s poetry. Translation of Sophocles is the awkwardness through which the spirit of his time can be understood, and - even more importantly - the tools for a national, republican poetry can be learned. The hope for a future, “vaterländische” poetry brings Hölderlin, as it brought German translators since Steinbrüchel, to Sophocles, the most “vaterländische” poet of the Greeks. 50 Ebd., Bd. II, S. 102. Jürgen Joachimsthaler Das übersetzte „Volk“. Johann Gottfried Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 1. Vorbemerkungen Kulturen, Glaubensgemeinschaften, Nationen und Kollektive aller Art konstituieren sich als „imagined communities“ 1 durch die Errichtung von Zeichenordnungen und Semiosphären, 2 die ihre Mitglieder in einen bewusstseinsformenden Kultur-Innenraum einordnen, 3 der Orientierung gewährt, Erklärungsmodelle für möglichst jede Welt- und Selbstwahrnehmung, einen Platz im vorgestellten Kosmos, Identität. Diese Kultur-Innenräume beruhen auf vorrangig sprachlichen (und optischen) Zeichen, die in allen Mitgliedern des jeweiligen Kollektivs gemeinsame Vorstellungsbilder auslösen sollen. Die zeichenhaften Elemente, aus denen die Semiosphären sich zusammensetzen, sind dabei in der Regel älter als sie selbst. Damit hat jedes derartige Kollektiv das ihm als Gründungsparadox einverschriebene Problem, sich in seiner Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung auf ein „Anderes“ zurückführen zu müssen, von dem es sich doch gerne als unabhängig originäre Größe abgrenzen würde. Alles „Eigenste“ beruht auf einem „Fremden“. Dabei ist dieses „Fremde“ nicht einfach nur durch Übersetzungs- und Übertragungsvorgänge in die jeweilige „eigene“ Semiosphäre importiert worden, diese konstituiert sich überhaupt erst durch den Akt der Kombination kulturell ihr vorgängiger Elemente: Die Bildersprache der katholischen Kirche z.B. greift auf zentrale Darstellungsmomente heidnischer Götterdarstellungen zurück, die nicht einfach nur in ein bereits fertiges Christentum hineingekommen sind, sondern dieses mitkonstituier(t)en. Die Entstehung der nachantiken Schriftsprachen Europas wiederum war möglich nur aufgrund von Transformationsprozessen aus dem Lateinischen (bzw. dem Griechischen im orthodoxen Bereich) und der Übersetzung heiliger christlicher 1 Benedict Anderson: Imagined communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983. 2 Der Begriff stammt von Jurij M. Lotman: Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), S. 287-305. 3 Vgl. Jürgen Joachimsthaler: Der Kultur-Innenraum. In: Kulturwissenschaft(en) in der Diskussion. Hg. v. Jürgen Joachimsthaler, Eugen Kotte. München 2008 [Kulturwissenschaft[en] als interdisziplinäres Projekt 1], S. 47-71. Jürgen Joachimsthaler 24 Texte in die jeweilige Sprache (beginnend mit der gotischen Wulfila-Bibel im 4. Jahrhundert). Durch diesen Übersetzungsvorgang erhielten die jeweiligen Sprachen eine von zahlreichen, auch ästhetischen, sozialen und moralischen Normen geprägte schriftliche Form, die zur mündlich gesprochenen Sprache in ein Spannungsverhältnis trat und die hohe Sprache der Gebildeten von der niederen der „Laien“ (von griechisch / „Volk“) trennte, ohne die beiden völlig voneinander abzuschließen. Sie beeinflussen sich gegenseitig, ohne je ganz ineinander aufzugehen, bleiben durch stete Übertragungsvorgänge miteinander verknüpft. Mit der Verschriftung einher ging eine − von der Schriftsprache ausgehende − Überformung auch der gesprochenen Sprache bis in ihre morphologische Struktur hinein. Im Deutschen z.B. geht das Tempussystem auf Übersetzungen der lateinischen Tempi zurück − Perfekt und Plusquamperfekt und ihre Verwendung von Hilfswortkonstruktionen sind dem Lateinischen nachgebildet. 4 Vielleicht können Semiosphären mit zunehmendem Alter auch tatsächlich „eigene“ Zeichen und Chiffren entwickeln, doch sind die im Zuge ihrer Entstehung verwendeten Zeichen (und Verknüpfungsregeln) älter als sie selbst. Zur Sicherung des Eindrucks semiosphärischer Autonomie und des Anspruchs, die „eigene“ Identität solle auf ausschließlich „Eigenem“ beruhen, wird solche ursprüngliche Nichtzugehörigkeit zentraler Elemente gerne durch Verwendungsweisen überdeckt, die den Transformationsprozess vergessen lassen, durch den diese überhaupt erst Bestandteil der Semiosphäre geworden sind. Ursprungsmythen projizieren solche Zeichen in Vergangenheiten hinein, innerhalb derer sie als selbst ursprungsloser Ursprung, als unerklärbar und rätselhaft „Reinentsprungenes“ (Hölderlin) für eine Vergangenheit und Vorgeschichte stehen, hinter der es keine weitere, noch vergangenere Vergangenheit mehr zu geben scheint. Jeder „Ursprung“ fungiert als eine Art semiosphärischen Urknalls ohne weiteres „Vorher“. Solch mythisierte Basiselemente von Semiosphären eignen sich als Kollektivsymbole, die zur Identifikation einladen. Innerhalb der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entstandenen deutschen National-Semiosphäre fungiert(e) als ein solches identitäres Ursprungszeichen der Begriff „Volk“. Der nationalromantischen Vorstellung zu Folge hat dieses „Volk“ immer schon eine Art Substanz und ens realissimum der deutschen Nation bedeutet, sei zugleich deren Ursprung, deren innerstes Wesen und das Gemeinsame all derjenigen, die diesem „Volk“ zugehören oder, besser, dadurch zuzugehören versuchen, dass sie sich selbst mit den Eigenschaften dieses „Volks“- Konzepts auszustatten bzw. diesen entsprechend zu leben versuchen: deutsch, treu, innerlich, fromm, einfach und naiv. Unübersehbaren Nieder- 4 Dies beklagt Lutz Götze: Die Schwächen und Fehler des Tempussystems der Verben in der deutschen Sprache. In: ders.: Zeitkulturen. Gedanken über die Zeit in den Kulturen. Frankfurt/ Main [u. a.] 2004, S. 244-252. Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 25 schlag fand dieses Konzept in den bekannten „Volkslied“- und Märchensammlungen, deren Sinn die Konstruktion eines deutschen „Volkes“ im Zuge der Nationalbewegung war, ein aus der (manipulierten) „Volks- Dichtung“ abgeleiteter Traum von unschuldiger „Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen“. 5 Bei näherem Hinsehen zeigt sich rasch, dass dieses hochkomplexe Konstrukt aus diversen Theoremen selbst nicht dem „ungebildeten Volk“ zugehöriger Gebildeter ein Ergebnis mehrfacher Hin- und Herübersetzung zwischen verschiedenen Sprachen und Semiosphären ist. Offensichtlich waren die Konstrukteure des „Volks“-Modells und deren Objekt nicht identisch, sondern gehörten unterschiedlichen, einander freilich auch überschneidenden und beeinflussenden Semiosphären an. Das „Volk“ ist eine Erfindung von Gebildeten, die mit demselben eine gegenkulturelle Identifikationsbasis außerhalb der entfremdenden Bedingungen ihres Berufslebens in Ämtern und bürokratisierten Institutionen gefunden zu haben glaubten. Im Wortgebrauch Johann Gottfried Herders, auf den der moderne „Volks“-Begriff ja gerne zurückgeführt wird, überschneidet sich eine soziale, das „Volk“ als „einfach“, „nieder“ und durch Bildungsferne „wahrer als die Gebildeten“ markierende Bedeutungsdimension mit einer (bei Herder noch nicht nationalistischen) ethnisch-nationalen in dem Sinne, dass die vielen Völker Europas und der Welt jeweils auf dem „Volk“ (im Sinne der „einfachen“ Menschen) beruhen. 6 Deshalb gebraucht Herder „Volk“ im ethnischnationalen Sinne vorrangig im Plural der Gleichberechtigung, „Volk“ im sozialen Sinne aber als Kollektivsingular mit mythisierender Tendenz. Diese ermöglicht es ihm, „Volk“ zu einem für alle „Völker“ grundlegenden utopisch-transzendentalen Begriff ursprungsloser Letztbegründetheit zu steigern − die vielen Völker kommen aus dem „Volk“ als ihrem „echten“ Ursprung, der wiederum für jedes einzelne der vielen Völker in den Zeugnissen der „Volkskultur“ gesucht wird. In seiner sozialen Bedeutungsdimension erweist dieser „Volks“-Begriff sich als Ergebnis einer Aneignung, die einer fremden sozialen Schicht entstammendes Kulturgut in erwünschte Bedeutungen für die Diskurswelt der Gebildeten übersetzt; doch auch in nationaler Hinsicht ist dieses „Volks“-Konzept das Ergebnis mehrfacher Übersetzungs- und Transformationsvorgänge − in diesem Fall entlang vielschichtiger Sprach- und Kulturgrenzen. 5 Wilhelm Grimm: Vorrede. In: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. 2 Bde. Textrevision und Anmerkungen von Therese Edler. Berlin 1989, Bd. II, S. 331-339, hier S. 332. 6 Rudolf Große: Zur Verwendung des Wortes „Volk“ bei Herder. In: Herder- Kolloquium 1978. Referate und Diskussionsbeiträge. Im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar hg. von Walter Dietze. Weimar 1980, S. 304-314. Jürgen Joachimsthaler 26 2. Herder Das deutsche „Volks“-Konzept beruft sich auf Johann Gottfried Herders Arbeit an den „Volksliedern“, in deren Zuge Herder sich vielfach über das „Volk“ geäußert und dem Begriff wesentliche bis 1945 und oft noch darüber hinaus gültige Beutungsgehalte einverschrieben hat. Ein rascher Blick auf Herders „Volkslied“-Sammlung(en) oder den von ihm herausgegebenen Band Von deutscher Art und Kunst zeigt freilich, dass Herder keineswegs das deutsche „Volk“ privilegierte. In Von deutscher Art und Kunst werden von Herder nicht deutschsprachige Autoren behandelt, sondern Shakespeare und Ossian als Vorbilder künftiger deutscher Literatur, in den „Volkslied“- Sammlungen spielen aus vielen fremden, insbesondere aus den baltischen Sprachen übertragene Lieder eine auffällige Rolle. In der germanistischen Herder-Forschung wird trotz gewichtiger Proteste 7 bis heute versucht, diese Internationalität durch großzügige Deutung mit einer nationalen Lesart Herders in Einklang zu bringen. „Die Volkslieder, die da gesammelt wurden, waren ‚national in jenem noch unscharfen gemeingermanischen Sinne und sollten der Bildung der deutschen Nationalliteratur als Anschauungsmaterial und Stoffquelle dienen.“ 8 Doch ist der „gemeingermanische Sinn“, auf den hier Bezug genommen wird, nur schwer auf MacPhersons Erfindung des gälischen Sängers Ossian übertragbar; auch kann „nordisch“ als Überschrift einer Abteilung von Herders „Volksliedern“ nicht einfach in einem historisch späteren Sinn des Wortes „germanisch“ bedeuten, 9 wenn Herder diesem „nordisch“ die baltischen Sprachen zurechnet 10 − und ein estnisches Lied in seine Sammlung aufnimmt, in dem gegen Unterdrückung der autochthonen estnischen Bevölkerung Livlands durch die explizit als 7 Hervorzuheben ist insbesondere Andreas F. Kelletat: Herder und die Weltliteratur. Zur Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert. Frankfurt/ Main 1984, S. 133f. 8 Ulrich Gaier: Kommentar. In: Johann Gottfried Herder: Volkslieder Übertragungen Dichtungen. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt/ Main 1990 [Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher. Frankfurt/ Main 1985-2000, Bd. 3], S. 839-1527, hier S. 850. Wegen der bis heute ungenügenden Publikationssituation der Werke Herders greife ich im Folgenden bei direkten Herder-Zitaten zurück auf die erste kritische und hinreichend vollständige Herder-Ausgabe: Herder’s Werke. Nach den besten Quellen revidirte Ausgabe. Hg. und mit Anmerkungen begleitet von Heinrich Düntzer, Wollheim von Fonseca. 24 Bde. Leipzig 1869-1879. (Im Folgenden mit der Sigle HW, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) 9 Gaier: Kommentar, S. 850. 10 So in Gaiers eigener Ausgabe. (Ebd. S. 14.) HW folgt dem nach Herders Tod (entgegen dessen Intentionen) von Caroline und Johannes von Müller durch Entmischung national geordneten wirkungsmächtigen Konzept der „Stimmen der Völker in Liedern“, in dem immerhin den „Lieder[n] aus dem hohen Nord“ immer noch Texte in Grönländisch, Lappländisch, Esthnisch, Lettisch, Litthauisch, Tatarisch, Wendisch und Morlackisch zugerechnet werden (vgl. HW V, 25-63). Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 27 „deutsch“ gekennzeichnete adelige Oberschicht geklagt wird. 11 Herders Interesse an außereuropäischen „Volksliedern“ schließlich wird von der Forschung unter Aufspaltung seines Interesses am „Volk“ mit einer zur nationalen nur hinzukommenden zweiten, anthropologischen Dimension seines „Volks“-Begriffs erklärt. Diese ist gewiss gegeben, relativiert aber die Bedeutung der nationalen Dimension durch Herders grundlegendes Interesse an der „Frage kultureller Differenz“ 12 und an der Vielfalt der Völker und stellt den ihm zugeschriebenen Vereinnahmungsversuch nicht deutscher europäischer „Volkslieder“ 13 durch einen „germeingermanischen Sinn“ in Frage: Herder hat auch den baltischen oder slawischen Liedern vom „gemeingermanischen Sinne“ unabhängigen Eigenwert zugestanden. In diesem Zusammenhang fällt der Umgang großer Teile der Herder- Forschung mit Herders baltischen Interessen und Vorlieben 14 auf. Diese werden mit unbestreitbarem Recht zurückgeführt auf Herders ostpreußische Herkunft und seine Jahre in Riga (von wo er „einen gewissen kosmopolitischen Zug behielt“ 15 ), mit dieser biographistischen Erklärung aber zugleich stillgestellt, als hätte der junge Herder im Baltikum zwar „Volkslied“- Material gefunden, das ihm aber „aus Mangel an entsprechendem deutschsprachigem Material“ 16 nur als Ersatz für ein solches gedient habe. Strukturelle Auswirkungen dieses „undeutschen“ Materials auf seine Konzeption werden meist nicht einmal als Möglichkeit bedacht. Dass ihm andere „Volkslied“-Sammler aus dem Baltikum zugearbeitet haben (z.B. Johann Gottlieb Kreuzfeld, 1745-1784 17 ) und er sich auf einen Vorgänger namens Ruhig explizit berufen konnte, wird zwar von der Forschung positivistisch verzeichnet, ohne dass aber deshalb gefragt würde nach dem offensichtlich größeren, am „Volkslied“ interessierten Kontext, in dem sich Herder in seinen baltischen Jahren bewegt haben muss: „Pastoren mußten ihm nach estnischen und lettischen Liedern suchen.“ 18 Mussten? Wie hätte Herder sie 11 HW V, 35f. 12 Franz-Josef Deiters: Poesie als kulturelle Selbstbeschreibung. Johann Gottfried Herder und die Fallstricke des Eurozentrismus. In: Ostpreußen − Westpreußen − Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hg. von Jens Stüben. München 2007 [Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 30], S. 285-303, hier S. 292. 13 So Gaier: Kommentar, S. 851. 14 Vgl. Johann Gottfried Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst Verschiedenem, das daraus folget. (HW V, 373-384, hier S. 382f.) 15 Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Johann Gottfried Herder in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 24. 16 So fasst bereits 1984 die Forschungshaltung kritisch zusammen Kelletat: Herder, S. 133. 17 Kreuzfeld veröffentlichte von ihm gesammelte und übersetzte Lieder auch selbst in: Preußische Blumenlese. Königsberg 1775; vermittelt durch Johann Georg Hamann erhielt Herder auch direkt Texte von Kreuzfeld. 18 Gaier: Kommentar, S. 859. Jürgen Joachimsthaler 28 denn dazu zwingen können? Tatsächlich sammelten und übersetzten Pastoren im Baltikum schon seit längerem und völlig unabhängig von Herder „Volksdichtung“. Herders Arbeit am „Volkslied“ lässt sich nicht verstehen ohne Beachtung seiner Berührung mit dieser an baltischer „Volksliteratur“ geschulten übersetzerischen Tradition, die vieles von Herders „Volkslied“- und „Volks“- Begriff bereits vorweggenommen hat. Entstanden ist diese im Kontext des spezifischen deutsch-baltischen Kulturkontrastes, der sich auch in Herders „Volks“-Konzept und über dieses im deutschen nationalen „Volks“-Begriff noch erkennen lässt. Nicht umsonst ist die vermutlich erste „Volkslied“- Publikation Herders kein deutsches (und auch kein englisches), sondern ein estnisches „Volkslied“ gewesen, 19 Herders erste Aufforderung zur Sammlung von „Volksliedern“ von 1767 beginnt mit dem Hinweis auf „Skythen und Slaven, Wenden und Böhmen, Russen, Schweden und Polen“ und erwähnt an selber Stelle zweimal die „lettischen Dainos“ (kompiliert aus den lettischen Dainas und den litauischen Dainos). 20 Die „Genesis des Enthusiasmus“, der ihn für „Volksdichtung“ beseelt, führt er darauf zurück, dass er „selbst Gelegenheit gehabt, lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhythmus, Tanzes unter lebendigen Völkern zu sehen, denen unsere Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben nehmen können“ 21 − und zwar 1765 während einer lettischen Sonnwendfeier. 22 Auch von seinem Lehrer Johann Georg Hamann hatte Herder von den baltischen „Volksliedern“ vernommen, die Hamann das marginalisierte „lettische oder undeutsche Volk beÿ aller [...] Arbeit singen“ hörte. 23 Der Anregungen waren viele. Was also könnte Herders „Volks“-Konzept baltischen „Volksliedern“ und deutsch-baltischen Traditionen des Umgangs mit der „Volksdich- 19 1764 im 37. Stück der Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitung, hier zitiert nach Heinrich Lohre: Von Percy zum Wunderhorn. Beiträge zur Geschichte der Volksliedforschung in Deutschland. Berlin, Leipzig 1902 [Palaestra XXII], S. 9; zur Debatte dazu vgl. ebd. Anm. 3 und unbedingt Kelletat: Herder, S. 131f. und S. 237 (Anm. 11). Mit Kelletats Quellennachweis und dem Hinweis der Aufnahme dieses „Volksliedes“ in die Sammlung Herders sollte die Debatte eigentlich beendet sein. Trotzdem stellt sich die Frage, wieso die Zuschreibung der Publikation dieses Liedes an Herder immer wieder aufwendig in Frage gestellt wurde − etwa weil mit ihm den Beginn seiner in gedruckter Form fassbaren Beschäftigung mit dem „Volkslied“ kein deutscher und auch kein englischer, sondern ein estnischer Text markiert? 20 HW XIX, 110. 21 HW V, 354. 22 Alexander Wegner: Herder und das lettische Volkslied. Langensalza 1928, S. 21-23; vgl. auch Rüdiger Singer: „Nachgesang“. Ein Konzept Herders, entwickelt an „Ossian“, der „popular ballad“ und der frühen Kunstballade. Würzburg 2006, S. 198. 23 Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose. In: ders.: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar Hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1983, S. 77-147, hier S. 143. Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 29 tung“ der autochthonen nicht deutschsprachigen Bevölkerung(en) in Kurland, Livland und Ostpreußen zu verdanken haben? 24 3. Spracharbeit im Baltikum Seit der christlich-missionarisch begründeten Eroberung durch die Ordensritter stand im Baltikum der in Abhängigkeit gehaltenen bäuerlichen Bevölkerung eine deutschsprachige Herrenschicht gegenüber, die ihre Herrschaft mit ihrem Missionsauftrag legitimierte. Deutscher Orden und Schwertritterorden bestanden aus geistlichen Rittern, die angestammte Bevölkerung war mit der Missionierung in den Stand von zu belehrenden Laien gerückt, die ihre Eroberer zugleich als ihre neuen geistlichen Herren anerkennen mussten. Kirchensprache war Latein, die Sprache der Herrschenden deutsch, die Volkssprachen waren unverschriftete Varietäten des Estnischen, Lettischen, Litauischen, Kurischen und zeitweise noch des Pruzzischen, im Gebiet des Deutschen Ordens bald auch deutsch und polnisch (die ja beide schon verschriftet waren). Die Reformation brachte dann nicht nur die Säkularisierung mit sich und die Transformation geistlicher in weltliche Herrschaft, sondern auch die des Gottesdienstes und damit der sprachlichen Grundlagen der Kultur, musste der Gottesdienst doch nun in der Sprache der Laien, also des „Volkes“ bzw. der diversen Völker abgehalten werden. Ergebnis war eine umfassende, insbesondere von den zumeist deutschsprachigen Pastoren vorangetriebene Übersetzungstätigkeit, in deren Folge Vorformen der heutigen baltischen Schriftsprachen entstanden, wobei zunächst aus dem Deutschen (oder dem damals in der Region dominanten Polnischen) bzw. dem Lateinischen in die jeweiligen Sprachen übersetzt wurde. 25 Im Zuge dieser Übersetzungen entstanden die Grundstrukturen der baltischen Schriftsprachen. Aufgabe der Pastoren war es deshalb, sich in die Sprache dieser „undeutschen“ 26 (wie sie genannt wurden) Völker einzuarbeiten. 24 Diese Frage sieht Kantzenbach: Johann Gottfried Herder, verkürzt sie aber wiederum nur auf eine um deutsche „Volkskultur“ zentrierte Anregung: „Herder hat [...] inmitten einer lettisch sprechenden und wirtschaftlich bedrängt lebenden Mehrheit den Sinn für die eigene Volksindividualität [...] existentiell vertieft. [...] Nahm er an den Festen der einheimischen Bevölkerung teil, sah er die Tänze, hörte er die Lieder, so keimte in ihm der Wunsch, die Schätze des eigenen Volkstums zu entdecken und zu heben.“ (S. 24) 25 Vgl. Esther-Beate Körner: Die Reformation im Ostseeraum als Kommunikations- und Verkehrsereignis. In: Nordostarchiv 13 (2004), S. 15-44, hier S. 21-25. 26 Zur Begriffsgeschichte vgl. Wilhelm Lenz: Undeutsch. Bemerkungen zu einem besonderen Begriff der baltischen Geschichte. In: Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen zum 90. Geburtstag. Hg. von Bernhart Jähnig, Klaus Militzer. Münster [u. a.] 2004 [Schriften der Baltischen Historischen Kommission 12], S. 167-184. Jürgen Joachimsthaler 30 Insbesondere die Übertragung des Katechismus wurde zur Grundlage einer Verschriftung zahlreicher Sprachen, 27 so dass das jeweils erste Buch in diesen Sprachen der Katechismus ist. Dies gilt für das Estnische, das Lettische und das Litauische, sogar für das bald darauf ausgestorbene Pruzzische; 28 das erste gedruckte estnische Buch, der kleine Katechismus in der Übersetzung Johann Koells, erschien gar in Wittenberg, dem Zentrum der Reformation selbst, erstes lettisches Buch war 1585 die Übersetzung des katholischen Katechismus des aus Nimwegen stammenden Jesuiten Petrus Canisius durch Erthmann Tolgsdorff, fast gleichzeitig kam die Übersetzung des lutherischen Katechismus durch Johann Rivius heraus. 29 Dass die Übersetzer oft keine Muttersprachler und die ersten Übersetzungen nicht selten fehlerhaft waren − die estnische musste sogar wieder zurückgezogen werden − , 30 verdeutlicht über alle sprachliche und übersetzungstechnische Fragen hinaus das zentrale Problem bei der Entstehung dieser Übersetzungen: Sie wurden aus einer für die Übersetzer fraglos gültigen Semiosphäre heraus für Menschen geschrieben, die dieser Semiosphäre (bisher) oft fremde Sprachen sprachen, welche nun erst − und zwar nicht von deren Sprechern selbst, sondern von den Pastoren und „Gebildeten“ − bis zur Verwendbarkeit zugerichtet werden mussten − und zwar eben nicht als primär alltagstaugliche für die „einfachen“ Sprecher dieser Sprache, sondern für diejenigen, die sich von der Bildungssemiosphäre aus mit ihrer Botschaft an diese Laien wenden wollten. Indem jedoch die Verschriftung der Sprachen in einer deren Sprechern partiell fremden Semiosphäre erfolgte, blieb diesen lange Zeit auch die dort verschriftete Sprache fremd. Die dem Christentum inhärente Differenz zwischen Missionar und zu Missionierendem, zwischen Kleriker und Laien, aber auch die machtpolitische zwischen deutschen Herren und autochthonem Bauer und Knecht, die vielschichtige missionarischkolonialistische Differenz hielt bis in die Verschriftung ihrer Muttersprache hinein die nicht-geistlichen Balten in sozialer und kultureller Distanz zu den Klerikern und ihren Herren, dem deutschen Adel. Nichts zeigt dies besser als das Beispiel von Martynas Mažvydas (1500- 1563): Er wurde mit seiner Übersetzung des Katechismus (1547) zum Autor 27 Joanna Ostaszewska-Nowicka: Altpreussische, litauische und lettische Übersetzung von Luthers Enchiridion im Spiegel der großen Reformationsbewegung. In: Nordostarchiv 13 (2004), S. 45-57. 28 Enchiridion. Der kleine Catechismus Doctor Martin Luthers. Teutsch und Preussisch. Gedruckt zu Königsperg in Preussen durch Johann Daubmann 1541. 29 Siegfried Tornow: Was ist Osteuropa? Handbuch zur osteuropäischen Text- und Sozialgeschichte von der Spätantike bis zum Nationalstaat. Wiesbaden 2005 [Slavistische Studienbücher. Neue Folge 16], S. 254. 30 Christoph Schmidt: Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland. Göttingen 2000, S. 189. Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 31 des ersten auf litauisch publizierten Buches; 31 in der litauischen Nationalgeschichte wird ihm deshalb ein sehr ehrenvoller Platz eingeräumt. Sein Name zählt zu den Symbolen der nationalen Semiosphäre, wiewohl Mažvydas als Angehöriger der christlichen Semiosphäre nicht so recht zur nationalen passen will und seinen deutschsprachigen Landesherrn offen zu Disziplinarmaßnahmen gegen unbotmäßiges litauisches „Volk“ aufrief. 32 Die Spracharbeiter behandelten die baltischen Sprachen und ihre Sprecher wie von außen nach bildungssemiosphärisch vorgegebenen Prinzipien zu formende Objekte. Jacob Lange (Pastor und später Generalsuperintendent Livlands) schrieb in seinem deutsch-lettischen Lexicon: „Wir haben ein Volk vor uns, das aus dem Groben soll heraus gearbeitet, doch auch erleuchtet werden.“ 33 Das „Volk“ als Objekt einer Verbesserungsarbeit, die an es von außen herangetragen wird! Sprache ist dabei ein nur notwendiges Werkzeug, das freilich erworben sein will. Die jeweiligen Sprachen wurden deshalb in Wörterbüchern 34 und Grammatiken 35 erfasst. Dies sollte sie für die Vertreter der gebildeten Semiosphären zugänglich machen und formte zugleich die − dem „einfachen Volk“ nach wie vor fremde − schriftliche Form dieser Sprachen. Heute werden diese Sprachwerke in den Literaturgeschichten der jeweiligen Nationalsprachen an prominenter Stelle genannt: Mit ihrer Hilfe entstand jene Gestalt ihrer Sprachen, in denen sie im Prinzip heute noch geschrieben werden. Damit einher ging ein verstärktes paternalistisches Interesse an denen, denen sich die „Gebildeten“ da zuwenden sollten: Die ersten kleinen Sammlungen der „Volksliteratur“ dieser Ethnien, also der Keim dessen, was bald 31 Martynas Mažvydas: Catechismusa prasty Szadei, Makslas skaitima raschta yr giesmes del kriksczianistes bei del berneliu iaunu nauiey sugulditas. Königsberg 1547. 32 Friedrich Scholz: Mažvydas und die litauische Literatur, bearbeitet nach dem Vortrag auf der Jahrestagung 1997 des Litauischen Kulturinstituts: http: / / pirmojiknyga. mch.mii.lt/ Leidiniai/ lkischolz.de.htm (aufgerufen am 12. Dezember 2007). 33 Jacob Lange: Vollständiges deutschlettisches und lettischdeutsches Lexicon, nach den Hauptdialecten in Lief- und Curland. Mitau 1777, S. VIII. Zu Lange vgl. auch Ineta Balode: Das vollständige zweisprachige „Lexicon“ (1777) von Jacob Lange − ein enzyklopädisches Wörterbuch? In: Zwischeneuropa / Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation. Akten des Gründungskongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes. Im Auftrag des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes hg. von Walter Schmitz in Verbindung mit Jürgen Joachimsthaler. Dresden 2007, S. 602-613. 34 Vgl. beispielhaft die entsprechenden historischen Abschnitte in: Ineta Balode: Deutschlettische Lexikographie. Eine Untersuchung zu ihrer Tradition und Regionalität im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002. 35 Z.B. erschien 1644 in Riga (R ga) mit der Manuductio ad linguam lettonicam facilis die erste lettische Grammatik, verfasst durch den deutschen Pastor Johann Georg Rehehusen. Zu den baltischen Sprachen vgl. insgesamt Frank Scholz: Die Literaturen des Baltikums. Ihre Entstehung und Entwicklung. Düsseldorf 1990 [Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 80], Kapitel 2. Jürgen Joachimsthaler 32 „Volks“- und Nationalliteratur werden sollte, entstammen den Anhängen und/ oder dem sprachlichen Beispielmaterial solcher Sprachbücher, die gezielt aufgriffen, was der Pastor, Erzieher und „Volks“-Pädagoge wissen, womit er umgehen können musste. Jacob Lange z.B. erklärt in seinem deutsch-lettischen Lexicon: Bey Gerichten, auf Kirchenvisitationen kommen oft Hexenprozesse, und anderer altväterischer Aberglaube vor. Deßwegen habe ich nicht unterlassen, auch diese in meinem Lexico beyzubringen. 36 Bereits die estnische Grammatik 37 des späteren Bibelübersetzers Anton Thor Helle (1682-1748) enthält Sprichwörter, Rätsel und Redensarten. 38 Diese quasi ethnologischen Elemente dienten didaktisch als sprachliches Beispiel und zugleich der Charakterisierung der Sprecher (und) der jeweiligen Sprache und sollten es ermöglichen, näher auf sie einzugehen, um sie dann umso geschickter „aus dem Groben [...] heraus[zuarbeiten]“, 39 sprich: zu „verbessern“ und zu missionieren. Freilich entwickelte die Sammlung solcher Elemente rasch ihren eigenen Reiz und wurde für manch einen bald wichtiger als die damit verbundene Absicht, zu sammeln, wovon die Menschen hinwegzuerziehen seien. Der Kult, der später um die Dainos bzw. Dainas entstand, geht letztlich darauf zurück, dass solche als Sprachbeispiele in den Anhängen von Lehr- und Sprachbüchern gesammelt und mitgeteilt worden waren. Des besseren Verständnisses halber wurden solche Texte dort nun aus den baltischen Sprachen ins Deutsche übertragen. Damit begann eine Umprägung von der seelsorgerischen Zwecksetzung zu moralischer Lehrtendenz und ein[..] Umbruch von größter Tragweite: indem Deutsche den Eigenwert des lettischen und estnischen sprachlichen und brauchtümlichen Volksguts entdeckten und bekanntmachten, taten sie den entscheidenden Schritt zu einer Neueinschätzung dieser Völker überhaupt. 40 Das durch solche Übersetzungen geschaffene Bild der Angesprochenen und ihrer Sprache entsprach ganz dem Wunschdenken von Missionaren (und Pädagogen) über das geistige Niveau derer, zu denen sie sich mit ihrer göttlich oder vom Geist der Aufklärung inspirierten Weisheit belehrend herablassen konnten: Freundlich und aufgeschlossen, naiv und ahnungslos, noch belehrbar, Kindern gleich, formbare Edle Wilde. Das „Volk“ musste, in dem Bild zumindest, das man sich von ihm machte, dazu geeignet bleiben, missioniert und pädagogisiert zu werden. Ehrliches Aufklärungs- und 36 Lange: Vollständiges deutschlettisches und lettischdeutsches Lexicon, S. XIII. 37 Anton Thor Helle: Kurtz gefaszte Anweisung zur Ehstnischen Sprache. Halle 1732. 38 Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2006, S. 93. 39 Lange: Vollständiges deutschlettisches und lettischdeutsches Lexicon, S. VIII. 40 Reinhard Wittram: Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180-1918. München 1954, S. 140. Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 33 „Volks“-Bildungsbestreben ging dabei Hand in Hand mit oft nicht bewusst gewordener Zurichtung der zu Bildenden zu einem Vorstellungsbild von einem kinderähnlichen Wesen, das bildungsbedürftig genug war, um die Bildungsarbeit der „Gebildeten“ überhaupt legitimieren zu können. 4. Philipp Ruhig und der Einfluss der litauischen auf die deutsche „Volksliteratur“ Zu den wichtigsten und − auch für die deutsche Literaturgeschichte − wirkungsreichsten Bearbeitern der litauischen Sprache gehörte der Pfarrer Philipp Ruhig (1675-1749), der eine Betrachtung der Littauischen Sprache 41 und ein Litauisches Lexicon 42 veröffentlicht hatte. Ruhig ging es dabei nicht nur darum, die litauische Sprache Geistlichen und Seelsorgern zugänglicher zu machen, er warb geradezu für diese, weil er in ihr außerordentliche Qualitäten entdeckt zu haben glaubte: Hier wird es manchen Leuten verdrüßlich zu lesen sein, daß man dieser nicht ausgeübten, verachteten Sprache eine Zierlichkeit zuschreiben wolle. Indessen hat sie doch von der griechischen Lieblichkeit etwas angeerbt. [...] Es zeugen davon insonderheit der einfältigen Mägdlein erfundene Dainos, oder Oden auf allerhand Gelegenheit. 43 Im Anschluss an diese Betrachtung bringt Ruhig drei litauische Dainos, typisch litauische „Volkslieder“, die überraschenderweise „die erste laute Anerkennung dieser echten Volksdichtung“ 44 (außerhalb des Baltikums) von keinem Geringeren als Lessing erfahren sollten: 41 Philipp Ruhig: Betrachtung der littauischen Sprache in ihrem Ursprunge, Wesen und Eigenschaften / aus vielen Scribenten, und eigener Erfahrung, mit Fleiß angestellet, und zu reiferer Beurtheilung der Gelehrten, zum Druck gegeben. Königsberg 1745. 42 Littauisch-Deutsches und Deutsch-Littauisches Lexicon, Worinnen ein hinlänglicher Vorrath an Wörtern und Redensarten, welche sowohl in der H. Schrift als in allerley Handlungen und Verkehr der menschlichen Gesellschaften vorkommen befindlich ist: Nebst einer historischen Betrachtung der Littauischen Sprache wie auch einer gründlichen und erweiterten Grammatick, mit möglichster Sorgfalt, vieljährigem Fleiß und Beyhülfe der erfahrensten Kenner dieser Sprache gesammlet von Philipp Ruhig, Pfarrer und Seniore zu Walterkehmen, Insterburgschen Hauptamtes. Königsberg, druckte und verlegte J. H. Hartung 1747. 43 Ruhig: Betrachtung der littauischen Sprache, S. 44. 44 Julian Schmidt: Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibnitz bis auf Lessing’s Tod 1681-1781. 2. Bd.: Von Klopstock bis auf Lessing’s Tod. Leipzig 1864, S. 151. Jürgen Joachimsthaler 34 Es ist nicht lange, als ich in Ruhigs Litauischem Wörterbuche blätterte, und am Ende der vorläufigen Betrachtungen über diese Sprache, eine hierher gehörige Seltenheit antraf, die mich unendlich vergnügte. Einige Litauische Dainos oder Liederchen, nämlich, wie sie die gemeinen Mädchen daselbst singen. Welch ein naiver Witz! Welche reizende Einfalt! 45 Lessing hat damit dem späteren Interesse deutscher Schriftsteller (insbesondere natürlich Herders) an „Volksliedern“ den Boden bereitet. Die Wirkung dieser Dainos in der deutschen Literatur lässt sich kaum überschätzen. 46 Mit ihnen war das „Volkslied“ als neu interessierende Gattung entdeckt worden, mit ihnen hatten aber auch die Balten in deutschen Texten ein besonderes Charakteristikum erhalten, mit ihnen waren ihre Sprache und Kultur in Ableitung aus der sprachlichen Missionsarbeit in der deutschen Literatur fortan festgelegt auf die Dainos und damit auf ein entsprechendes folkloristisch anmutendes Bild voller singender Mädchen von einfach natürlicher Naivität und „reizende[r] Einfalt“ in einer als unberührt anmutenden Natur. Von den drei von Ruhig überlieferten Dainos nahm Herder deren letztes in seine um weitere litauische Lieder ergänzte „Volkslied“-Sammlung auf, 47 von wo es Goethe wiederum für sein Singspiel Die Fischerin übernahm. 48 Nicht nur hatte Ruhig mit diesen drei Texten die erste rezeptionsgeschichtlich wirkungsvolle Publikation litauischer „Volksdichtung“ im Druck vorgelegt, er gab ihr auch gleich eine Begründung mit, die nachhaltig auf Herder einwirken und von diesem wörtlich zitiert werden sollte: Indessen hat sie doch von der griechischen Lieblichkeit etwas an sich. Der öftere Gebrauch der diminutivorum, und in denselben vieler vocalium, mit den Buch- 45 Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. In ders.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. 8 Bde. München 1970-1978, Bd. V, S. 30-329, hier S. 106 [16. Brief, 19. April 1759]; Herder beruft sich ausdrücklich darauf in HW V, 383. 46 Selbst Immanuel Kant verfasste eine Nachschrift zu Heilsbergs Vorrede zu einer von Christian Gottlieb Mielcke vorgenommenen Überarbeitung und Ergänzung von Ruhigs mittlerweile fast schon zum Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte gewordenen „Wörterbuch“ (Littauisch-deutsches und Deutsch-littauisches Wörter-Buch, worinn das vom Pfarrer Ruhig zu Walterkehmen ehemals heraus gegebene zwar zum Grunde gelegt, aber mit sehr vielen Wörtern, Redens-Arten und Sprüchwörtern zur Hälfte vermehret und verbessert worden von Christian Gottlieb Mielcke, Cantor in Pillckallen. Nebst einer Vorrede des Verfaßers, des Herrn Prediger Jenisch in Berlin, und des Hrn. Krieges- und Domainen-Raths Heilsberg, auch einer Nachschrift des Herrn Professor Kant. Königsberg: Im Druck und Verlag der Hartungschen Hofbuchdruckery, 1800); der Text ist wiedergegeben in Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1: Werke. Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781. Berlin 1912, S. 445. 47 „Brautlied. Litthauisch“ [bei Ruhig: „3.) Abschied einer heyrathenden Tochter“]. In: HW V, 43f. 48 Johann Wolfgang Goethe: Die Fischerin. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter. 21 Bde. München 2006, Bd. 2.1, S. 338-356, das Lied findet sich hier S. 353f. Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 35 staben l, r und t, gemengt, macht sie lieblicher, als die viele herbe triconsonantes in der Polnischen. Es zeugen davon insonderheit der einfältigen Mägdlein erfundene Dainos oder Oden, auf allerhand Gelegenheit u.f. 49 „Lieblich“, „von einfältigen Mägdlein erfunden“ − wesentliche Aspekte von Herders Verständnis von „Volksliedern“ sind hier in nuce bereits angelegt, die Züge von Herders „Volks“-Begriff erahnbar. Ruhigs Vergleich der Dainos mit der griechischen Sprache, insbesondere der litauischen Metrik mit dem zu dieser Zeit erst durch Klopstock als spektakuläre Neuerung in die deutsche Literatur eingeführten Hexameter wurde in der Folgezeit topisch. 50 Sie wurde von Hamann (der Herder auch in dieser Beziehung beeinflusst haben dürfte) auch auf die damit eng verwandten lettischen Dainas angewandt 51 und ist mit verantwortlich für ein über die baltischen Sprachen hinausreichendes, bald auch für die deutsche „Volksdichtung“ fruchtbar gemachtes Verständnis der „Volksdichtung“, dass dieser metrische Variationen anstelle strenger Alternation der Versfüße erlaubte. Von den Dainos fasziniert nahm Herder in seine „Volkslied“-Sammlung auffällig viele litauische Lieder (zumeist in der Übersetzung Kreuzfelds) auf und räumte so in jener Sammlung, aus der deutsche Vorstellungen von „Volk“ und Völkern sich ableiteten, den Litauern und Letten unübersehbaren Platz ein. 52 Auch Goethes Faszination für die Dainos − wenn er auch nicht groß zwischen litauisch und lettisch unterschied − rührt von Herder her, 53 deutsche Vorstellungen von „Volkslied“, „Lied“ und „Volk“ sind von den Dainos und ihrer deutsch-baltischen Interpretation mitgeprägt. 5. Johann Georg Hamann und die Mythisierung des „Volksliedes“ Herders Lehrer Johann Georg Hamann hatte in Königsberg auf Basis seiner (eher oberflächlichen) Kenntnis baltischer „Volkslieder“ eine diskursive Volte geschlagen, die Herder für die Einsenkung seines „Volks“-Konzeptes in ein mythisierendes Ursprungs-Konzept nutzen konnte, durch welches „Volk“ zur „Quelle“ aller Völker wird − insbesondere auch des „eigenen“. Die von Hamann begeistert wahrgenommenen lettischen „Volkslieder“ passten − ohne dass Hamann diesen naheliegenden Schluss selbst explizit 49 HW V, 40. Das Zitat folgt Ruhig: Betrachtung, S. 74f. 50 Vgl. z.B. auch Louis Nast: Die Volkslieder der Litauer, inhaltlich und musikalisch. Tilsit 1893 [Wissenschaftliche Beilage zum Bericht des königlichen Gymnasiums zu Tilsit 16], S. 23. 51 Hamann: Aesthetica, S. 143. 52 Alfonsas Sesplaukis: Herder und die Dainos. Bonn 1962 [Commentationes Balticae 8/ 9, 5]. 53 Johann Wolfgang von Goethe: Dainos oder Litthauische Volkslieder, herausgegeben von L. J. Rhesa. Königsberg 1825. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 18.2, S. 117. Jürgen Joachimsthaler 36 gezogen hätte − gut in sein philosophisches Konzept. Für ihn lagen Reste des mit dem Sündenfall verlorenen biblischen Paradieses nur noch in verderbt fragmentarisierter Gestalt vor: wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen − oder noch kühner! −− sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil. 54 Vor diesen berühmt gewordenen Zeilen proklamiert Hamann im selben Text die Überlegenheit alter, vor dem kultivierenden Sündenfall entstandener ursprünglicher Poesie als „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“. 55 Setzt man „Volkslieder“ an die Stelle dieser ursprünglichen Poesie, so ist in diesen Zeilen bereits das gesamte mit Herder beginnende neue Programm enthalten: „Volksdichtung“ (Lieder, Sprichwörter etc.) sind demzufolge die letzten erhaltenen Reste einer verlorenen idealen Vergangenheit, die es zu sammeln, auszulegen, um der Re-Konstruktion des verlorenen Ganzen willen auf dieses hin zu deuten und nachzuahmen, also für die Gegenwart zu aktivieren gilt. Die Arbeit des Wissenschaftlers, des Philosophen und des Dichters sollten dabei Hand in Hand gehen − faktisch wurden sie nun ununterscheidbar. Deren dreifache Aufgabe übernahm Herder, indem er, Hamann folgend, aus dessen Konzept des Gesangs als paradiesischem Ursprung die Vorstellung eines singenden Kollektivs von größter poetischer Kraft ableitete. Herder stattete dieses Kollektiv mit polyphoner Stimme aus und nannte es „Volk“: Sie [die Poesie] lebte im Ohr des Volkes, auf den Lippen und der Harfe lebendiger Sänger: sie sang Geschichte, Begebenheit, Geheimnis, Wunder und Zeichen; sie war die Blume der Eigenheit eines Volks, seiner Sprache und seines Landes, seiner Geschäfte und Vorurtheile, seiner Leidenschaften und Anmaßungen, seiner Musik und Seele. 56 Auf diesem Konzept beruht Herders „Volkslied“-Sammlung, in der auch die „undeutschen“ Völker eine eigene, neben der deutschen gleichberechtigte Stimme erhielten und das „Volk“ und seine Lieder Träger besonderer, ursprünglicher, kulturell noch nicht überfremdeter Eigenschaften wurden. 57 Hervorgegangen aber ist dieses Konzept aus mehrfacher Übertragungstätigkeit zunächst zwischen christlicher und zu missionierender vorchristlicher, dann zwischen geistlicher und nichtgeistlicher laienhafter, schriftlicher und mündlicher, gelehrter und „ungelehrter“, deutschsprachiger und autochthoner Bevölkerung im Baltikum. Das „Volk“ dieses Konzepts setzt sich 54 Hamann: Aesthetica, S. 87. 55 Ebd., S. 81. 56 HW V, 5. 57 Vgl. auch Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S. 157-164. Das übersetzte „Volk“. Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit 37 ursprünglich zusammen aus pastoral-pädagogischer Bildungsarbeit ausgelieferten Untertanen, deren Sprache durch Übersetzung in ihre Sprache überformt wird, wobei gleichzeitig mit dieser Übersetzung in der Vorstellung der „gebildeten“ Übersetzer ein Bild des „Volkes“ entsteht, für das übersetzt wird. Dieses Vorstellungsbild wird durch dann gegenläufige Übersetzung einzelner Elemente der den Übersetzern fremden Kultur dieses „Volks“ in der Semiosphäre der geistlichen, gebildeten deutschsprachigen Pastoren mit ethnologisch-folkloristischem Realitätsanspruch verankert und zu einem deutsch-baltischen „Volks“-Konzept verfestigt. Die schlussendliche Übertragung dieses Bildes von den „undeutschen“ Balten auf das Konzept „deutsches Volk“ ermöglichte die Übernahme der missionarischkolonisierenden Distanz in das Verhältnis der „deutschsprachigen“ Gebildeten zu ihrem „deutschen Volk“, was sichtbar wird in der nationalpädagogischen „Volks“-Formungsarbeit des nationalen Zeitalters. Das nun positiv als gegenkulturell, entfremdungsfrei imaginierte „deutsche Volk“ wurde zum Identitätskonzept der „Volks“-Programmatiker, die ihm rettungslos als dessen „Anderes“ gerade deshalb gegenüberstanden, weil sie es für sich als ein Objekt formten, das ihr „Eigenstes“ repräsentieren sollte. Doch Subjekt und Objekt lassen sich nicht ineinander überführen. Der Zwiespalt, nie sein zu können, was man als ein Vorstellungsbild für das „Eigenste“ doch so intensiv bearbeitet, weil man unbedingt zu dem von ihm als ideal repräsentierten Kollektiv hinzugehören will, mag die Intensität erklären, mit der „Gebildete“ (bis hin zu den „Ideen von 1914“ und völkischem „Volks“-Wahn) Verschmelzungsakte mit dem von ihnen imaginierten „Volk“ versuchten. Sie wollten sich in ihr eigenes Werk übersetzen, dessen Herkunft aus auch baltischen Traditionen rasch „vergessen“ war. 58 58 Zu einem nicht auf Deutschland allein konzentrierten Blick auf die Problematik vgl. auch den Band National-Texturen. National-Dichtung als literarisches Konzept in Nordosteuropa. Hg. von Jürgen Joachimsthaler, Hans-Christian Trepte. Lüneburg 2009 [Nordostarchiv N. F. XVI/ 2007]. Stefan Elit Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? Positionen um 1800: Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Heinrich Voß Übersetzungen griechischer und lateinischer Klassiker schärfen das sprachästhetische Bewusstsein der deutschen Kulturnation, darin waren sich Friedrich Gottlieb Klopstock und sein enger Freund Johann Heinrich Voß einig. 1 Wie solche Übersetzungen jedoch aussehen sollten, wurde unter den beiden im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts immer strittiger. Diesem Dissens soll im Folgenden nachgegangen werden, und zwar insbesondere anhand der von Ihnen vorgelegten Übersetzungen antiker Autoren (namentlich: Horaz). Ihr Dissens steht dabei letztlich für zwei unterschiedliche Positionen gegenüber der griechisch-römischen Antike, die die Formierung konkurrierender nationaler Kulturmodelle des 19. bis frühen 20. Jahrhunderts ankündigen: Während der antikische Klassizismus bei Voß auf den Bildungsdiskurs à la Wilhelm von Humboldt u.a. vorverweist, präfiguriert Klopstocks Position einen agonalen deutschen Patriotismus bzw. sogar (über)stolzen Nationalismus mit deutlichen Abwehrreflexen gegen jegliche „fremde“ Einflüsse. Ein Schlaglicht auf dieses Spannungsverhältnis wirft Klopstocks Ode Unsre Sprache an uns, laut Untertitel 1796 verfasst, in der sich ein erheblicher Verdruss über modische fremdsprachliche Einflüsse, aber nicht zuletzt auch neuhumanistische Spracharbeit am Deutschen artikuliert. Letztere scheint Klopstock - zeithistorisch gut zu erschließen - etwa bei Voß’ Antikenübersetzungen am Werke gesehen zu haben: Nazion, die mich redet, du willst es also auf immer Dulden, daß der Deinen so viel mich verbilden? Gestalt mir Geben, die einst ich von dir nicht empfing? daß sie meines Schwunges Weise Kühnheit mir rauben? mich mir selbst? [...] 1 Der Begriff des Klassischen soll hier nicht eigens problematisiert werden; zu Fragen von Klassik und Kanonbildung insbesondere bei Klopstock vgl. Stefan Elit: Die beste aller möglichen Sprachen der Poesie. Klopstocks wettstreitende Übersetzungen lateinischer und griechischer Literatur. St. Augustin 2002, S. 103-110. Stefan Elit 40 Wer mich verbrittet, ich hass’ ihn! mich gallizismet, ich hass’ ihn! Liebe dann selbst Günstlinge nicht, wenn sie mich zur Quiritinn Machen, und nicht, wenn sie mich verachä’n. Ein erhabnes Beispiel Ließ mir Hellänis: Sie bildete sich durch sich! 2 Auf eine für Klopstock typische Weise erfolgt hier ein Appell an die eigene Nation, die postulierte autochthone „Gestalt“ und eines „Schwunges weise Kühnheit“ nicht zu „verbilden“. War doch für ihn die deutsche Sprache „die bildsamste [...] von allen Sprachen“ 3 und bei rechter Formung sogar zur größtmöglichen ästhetischen Leistung prädestiniert. 4 Voß teilte diese Einschätzung zwar ohne Weiteres, was er jedoch nicht teilte, war die restriktive Ansicht, die der späte Klopstock außerdem verfocht: nämlich dass das Deutsche sich insbesondere als Literatursprache wie „Hellänis“ nur „durch sich“ bilden solle (siehe die letzte zitierte Gedichtzeile). Voß setzte vielmehr auf eine „Verbesserung“ des Deutschen etwa durch die Sprache Vergils, Horaz’ oder Homers. Ganz unmittelbar auf Voß waren daher Verse gemünzt wie: „Liebe dann selbst Günstlinge nicht, wenn sie mich zur Quiritinn / Machen, und nicht, wenn sie mich verachä’n“. 1. Freundschaft und Frontenbildung Immerhin zählte Klopstock Voß zu den „Günstlinge[n]“ seiner personifizierten deutschen Sprache (und damit sicherlich auch seiner selbst) und signalisierte so, dass er ihn grundsätzlich einigermaßen schätzte. Voß seinerseits hatte Klopstock seit Göttinger Zeiten bekanntlich als Verfasser des Messias und einiger vaterländischer Oden wie die meisten Hainbündler innig verehrt, was dieser sich mit einer gewissen Distanziertheit auch gerne gefallen ließ. 5 Bald darauf wurde Voß für Klopstock sogar zu einem wichtigen Ansprechpartner und Vertrauensmann, insonderheit in sprachlich-philologischen Fragen. Klopstock durfte nämlich feststellen, dass Voß mit den eigenen Ansichten nicht nur konform ging, sondern dass er den Älteren immer wieder publizistisch vehement gegenüber Dritten verteidigte (Klopstock selbst äußerte sich in aller Regel ja nicht zu veröffentlichter Kritik an seinem Werk bzw. seiner Person). Seitdem Voß 1775 Göttingen verlassen hatte, 2 Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Hg. von Franz Muncker, Jero Pawel. 2 Bde. Stuttgart 1889, Bd. II, S. 128f. (Zit. hier Strophe 1 und 5 von 6; es spricht die deutsche Sprache selbst.) 3 Ebd., S. 128, Strophe 3. 4 Vgl. Elit: Sprachen der Poesie. 5 Vgl. etwa Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen, Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740-1789. München 1990 [Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. von Helmut De Boor, Richard Newald. Bd. VI.], S. 403-424, bes. S. 411f., oder Gerhard R. Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 5., unveränderte Auflage Tübingen, Basel 1996, S. 258-266. Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 41 schickte man sich sogar die neuesten eigenen Arbeiten, u.a. Übersetzungen antiker Dichtung sowie sprach- und literaturtheoretische Schriften, vonseiten Klopstocks ein großer Vertrauensbeweis. 6 Eine Phase besonders guter Zusammenarbeit ist sodann für die Jahre 1780/ 81 dokumentiert: In dieser Zeit trat Voß nämlich in Verhören, dialogischen Entgegnungen auf Rezensionen von Arbeiten Klopstocks, 7 für Letztere ein und zeigte sich als deren unermüdlicher Verteidiger und harter Richter über Kritiker. (Genau diese z.T. offensichtlich übermäßige Härte sollte sich bei späteren Meinungsverschiedenheiten mit Klopstock freilich genauso gegen diesen selbst richten.) Darüber hinaus lobte Voß Klopstocks in Prosa verfasste Proben einer Homerübersetzung diesem gegenüber sehr, 8 und Klopstock reagierte (noch) ganz positiv und unterstützend auf die entstehende erste Voß’sche Odyssee-Übersetzung und erwähnte sie anderenorts lobend. 9 Erwähnenswert ist des Weiteren eine Ode Klopstocks mit dem Titel An Johann Heinrich Voß von 1784, in der Voß’ Bemühen um eine genauere Kenntnis der Versdichtungen Vergils und Homers unter den Deutschen gelobt wird; durch eine allgemeinere Kenntnis und Wertschätzung insbesondere der antiken Metrik hoffte Klopstock vor allem das verbreitete Interesse an der traditionellen deutschen, d.h. gereimten Poesie zu verringern. 10 Ab 1785 zeigten sich jedoch zunehmend unterschiedliche Ansichten der beiden zu Antikerezeption und Literaturtheorie just im Bereich der Metrik, die auch auf die persönliche Ebene durchschlugen. Voß äußerte z.B. erstmals ein gewisses Unverständnis gegenüber Klopstocks Vorstellungen von hexametrischen Versen, die für ihn nicht streng genug von den Quantitäten des Griechischen ausgingen; Klopstock beförderte nach Voß’ Ansicht so einen zu freien, dilettantischen Umgang mit diesem wichtigen Versmaß durch Dritte. 11 Klopstock nahm diese Kritik mit einer gewissen Verärgerung 6 Für Genaueres sowie Hinweise auf einzelne Zeugnisse zum Verhältnis von Klopstock und Voß vgl. Stefan Elit: Der späte Klopstock und Johann Heinrich Voß. Ein Spannungsverhältnis, poetologisch betrachtet. In: Wort und Schrift - Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Hg. von Kevin Hilliard, Katrin Kohl. Halle/ Saale 2008, S. 209-220, hier S. 210f. 7 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck [u.a.]. Hg. von Horst Gronemeyer [u.a.]. Berlin, New York 1974f., Abt. Briefe, Bd. VII.3, zu Nr. 144, S. 815f. (Im Folgenden mit der Sigle HKA Briefe, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) 8 Vgl. Voß an Ernestine Boie, 1. Februar 1776. In: Günter Häntzschel: Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung. München 1977, S. 47. 9 Vgl. HKA Briefe VII.3, S. 819, sowie zu der Zeit nach der Veröffentlichung der Voß’schen Odüssee: Klopstock an Maria Anna Augusta Eversmann, 12. Mai 1781 (HKA Briefe VII.1, 205, Nr. 190). 10 Vgl. Klopstock: Oden, Bd. II, S. 57f. 11 Vgl. HKA Briefe VIII.1, S. 79, Nr. 65. Stefan Elit 42 zur Kenntnis, 12 und vielleicht nicht zufällig sind uns schon für die nächsten zwei Jahre keine Briefe zwischen den beiden bekannt. 13 Erst im Mai 1787 entschuldigt sich Voß brieflich dafür, dass er sich von anderen zu einer Abhandlung über den Hexameter habe drängen lassen, die womöglich gegen Klopstock verfasst zu sein scheine. 14 Voß glaubte also eine (wie sich noch zeigen wird: erste) Versöhnung suchen zu müssen, um überhaupt weiter mit dem „liebe[n] alte[n] ehrwürdige[n] Freund und Vater“ zusammenarbeiten zu können, zumal in Sachen der eigenen Homerübersetzung, 15 von der er ihm neue Teile schicken wollte. Klopstock aber reagierte hierauf, zumindest brieflich, keineswegs einlenkend, sondern anscheinend gar nicht. 16 Erst 1789 ergab sich wieder ein intensiverer Briefwechsel, der sich aber sogleich zu dem so genannten Hexameterstreit auswuchs. 17 Als Grundproblem zeigt sich jetzt noch deutlicher: Voß sah den griechisch-römischen Hexameter als ganz und gar unveränderliches Muster an, dessen Regularitäten er so weit wie möglich auf deutsche hexametrische Verse übertragen wissen wollte. Klopstock hingegen sah den deutschen Hexameter im Allgemeinen, und seine eigene hexametrische Versifikationspraxis im Besonderen, vom antiken Vorbild abweichen, ging damit aber selbstbewusst um. Denn zum einen hielt er den Einsatz des trochäischen Versfußes, über den üblichen Daktylus bzw. Spondeus hinaus, für eine vorteilhafte Errungenschaft. 18 Zum anderen betonte er die Möglichkeit der sinnorientierten Akzente und Quantitäten im deutschen Vers gegenüber dem in seinen Augen mechanisch quantitierenden und so den Wortsinn geradezu konterkarierenden antiken Vers. 19 Darüber hinaus versuchte Klopstock seine Vorstellung von gelunge- 12 Vgl. HKA Briefe VIII.2, S. 531f. 13 Allerdings gab es 1785 noch zwei Zusammentreffen, vgl. ebd., S. 582. 14 Vgl. Voß an Klopstock, 10. Mai 1787 (HKA Briefe VIII.1, Nr. 81). 15 Ebd., S. 100. 16 Vgl. HKA Briefe VIII.2, S. 583. 17 Vgl. ihren Briefwechsel von Juli bis November 1789 (HKA Briefe VIII.1, Nr. 119-135 und HKA Briefe VIII.2, S. 672f.). 18 Vgl. etwa im erwähnten Briefwechsel: Klopstock an Voß, 14. September 1789 (HKA Briefe VIII.1, S. 143); vgl. ferner in Klopstocks Metrikabhandlungen, z.B. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen, zuerst als Einleitung zu: Ders.: Der Messias. Kopenhagen 1755, Bd. II: Gesang 6- 10, S. [iii-xi], hier aber nach der Neuedition in: Ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Hg. von Winfried Menninghaus. Frankfurt/ Main 1989, S. 9-21, hier S. 12. 19 Silbenquantitäten wurden von Klopstock durchaus berücksichtigt, jedoch - wie zeitgenössisch üblich - im Verbund mit den Wortakzenten gesehen. Vgl. das Nachwort von Winfried Menninghaus zu: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 259- 361, hier S. 292-300; zu vereinfachend hierzu hingegen Häntzschel: Voß, S. 54. - Voß wiederum setzte das eigentlich rein deutsche Phänomen der sinnfälligen Akzentuierung und dazu passender Silbenquantitäten seinerseits bereits für Homer an. Nur mit diesem Trick (da Anachronismus) konnte er eine so große Übereinstimmung der grie- Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 43 nen Versen über sein Konzept der Wortfüße zu beschreiben, die ihm zunehmend wichtiger wurden als die übliche Versfußmetrik. 20 Ihre Positionen stellten sich die beiden sogar mit Hilfe eigener verstheoretischer Abhandlungen vor - Klopstock schickte Voß eine frühe Fassung des Kapitels „Verskunst“ seiner entstehenden Grammatischen Gespräche, Voß übersandte zusammen mit seiner fortschreitenden Übersetzung von Vergils Georgica die für deren Veröffentlichung geplante Vorrede, in die auch die erwähnte Hexameter-Abhandlung eingehen sollte. 21 Jeder der beiden hoffte wohl, sich durch die eigenen theoretischen Schriften besser verständlich und damit plausibler zu machen; das Gegenteil war jedoch der Fall. Voß, auf der einen Seite, äußerte zunehmend Unverständnis gegenüber Klopstocks Vorstellungen vom Hexameter als einem Vers, bei dem je nach Sprache zum Teil unterschiedliche Versfüße zu bevorzugen seien und bei dem Klopstocks „deutsche“ Variante sogar die poetisch bessere sein könnte. Voß wollte vielmehr nur seine Sicht von „Homers Regel“ einer primär „rhythmischen“ Satzperiode, mit der die „Gedankenteilung [...] gewöhnlich [zusammenfalle]“, anerkannt wissen. 22 Sonst laufe man wie Klopstock Gefahr, nicht einen Hexameter zu bilden, sondern eine ganz andere Versform. 23 Klopstock, auf der anderen Seite, versuchte, Voß’ Postulate zu relativieren, erntete jedoch lediglich einen geradezu beleidigten Hinweis auf des anderen (genauere) philologische Kenntnisse. 24 Außerdem hatte Klopstock im Grunde versucht, ex post seine eigene, „gewachsene“ Verspraxis begrifflich (und dabei betont idiosynkratisch) zu erfassen und wollte auf diesem Wege seiner faktischen Absetzbewegung vom antiken Muster nicht nur Legitimität, sondern sogar größere Qualität zusprechen. 25 Schließlich fühlte sich Voß durch Klopstocks Infragestellen seiner abweichenden Perspektive sogar derart beleidigt, dass er ihm - im November 1789 - das Ende der Freundschaft erklärte. 26 Im unmittelbaren Anschluss veröffentlichte Voß seine Georgica-Übersetzung inklusive der erwähnten Vorrede. Klopstock arbeitete seinerseits an der weiteren chischen mit der deutschen Metrik postulieren, dass ihm zumindest seine deutschen Hexameter vollkommen à la grecque erschienen (vgl. Häntzschel: Voß, S. 61f.). 20 Vgl. Klopstock an Voß, 15. September 1789 (HKA Briefe VIII.1, S. 144). 21 Vgl. hierzu zusammenfassend HKA Briefe VIII.2, S. 674f. 22 Voß an Klopstock, 31. Oktober 1789 (HKA Briefe VIII.1, S. 159). 23 Vgl. die Endfassung der Abhandlung als Vorrede zu: Publius Virgilius Maro: Georgicon libri quattuor / Publius Virgilius Maro: Landbau. Vier Gesänge. Übersetzt und erklärt von Johann Heinrich Voß. Eutin, Hamburg 1789, S. XVIII. 24 Vgl. Voß an Klopstock, 31. Oktober 1789 (HKA Briefe VIII.1, S. 157). 25 Insbesondere diejenigen Begrifflichkeiten, die Klopstock für seines Erachtens basale Versphänomene selbst geprägt hatte, lehnte Voß ab - vor allem der Begriff des „Tonverhalts“, die zweite Zentralkategorie von Klopstocks Metrik neben dem „Zeitausdruck“, stieß bei Voß auf eine nahezu spöttische Ablehnung (vgl. ebd., S. 160 und zusammenfassend ebd., S. 162). 26 Voß an Klopstock, 8. November 1789 (ebd., S. 165). Stefan Elit 44 Niederlegung seiner Position. Nur in den frühen 1790er Jahren sowie Anfang 1801 sollten beide noch einmal versöhnlicher gestimmt sein. 27 2. Klopstocks national wettstreitende Übersetzungen antiker Klassiker 1794 veröffentlichte Klopstock in fragmentarischer Form seine Grammatischen Gespräche. 28 In ihnen versuchte er zu beweisen, dass die deutsche Sprache, bzw. letztlich sein eigenes literarisches Idiom, im internationalen Vergleich den bestmöglichen poetischen Ausdruck zu leisten vermöge. Letzterer müsse maximal kurz sein, im Sinne von so dicht, prägnant und gefühlsgeladen, dass er durch poetische Darstellung so direkt und intensiv wie möglich Herzbewegung auslösen könne. 29 Eine solche Kürze hatte dabei im Endeffekt auch zu einem im schlichten Wortsinne besonders knappen Einzelausdruck zu führen. Ein bestimmtes Maß dieser in der rhetorischen Tradition ungewöhnlichen brevitas erschien Klopstock bereits in den Verstexten eines Homer, Vergil oder Horaz verwirklicht, 30 und daher postulierte er des Weiteren: Da diese antiken Autoren poetisch vielen immer noch als nicht überbotene Größen galten, hatten sich jede andere Literatursprache bzw. deren Dichter wohl an ihnen messen zu lassen, und zwar zumal hinsichtlich der erreichten Kürze! Der einfachste Beweisweg schien Klopstock sodann die Übersetzung einzelner antiker Höchstleistungen zu sein: In seinen Grammatischen Gesprächen wurden daher ganz konkret Stellen etwa aus Homers Epen oder Horaz’ Oden ins Deutsche übersetzt, um so einen Wettstreit hinsichtlich der eigenen Gleichrangigkeit (oder sogar der Überbietbarkeit der Alten) zu führen. 31 Es handelte sich also um eine Art Neuauflage der berühmten querelle des anciens et des modernes; daneben hatte Klopstocks Wettstreitidee jedoch eine zweite, viel aggressivere Stoßrichtung, diejenige der in dieser Zeit ebenfalls vielfach geführten Querelle der Nationen. Denn für Klopstock stand fest: In so exzellenter Weise, wie gerade das Deutsche die antiken Vorbilder übersetzen kann, würden es vor allem das Französische oder auch das Englische oder Italienische niemals vermögen. 32 Und Klopstock meinte es mit diesem patri- 27 Vgl. für die frühen 1790er Jahre HKA Briefe VIII.1, S. 234 und für Anfang 1801 HKA Briefe X.2, S. 356f. 28 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Grammatische Gespräche. Altona 1794. 29 Zu Klopstocks Termini Kürze, Darstellung und Herzbewegung in poetologischem Kontext und historischem Überblick vgl. Elit: Sprachen der Poesie, S. 53-57. 30 Zum historischen Hintergrund für diese klassische Stilqualität vgl. ebd., S. 54 mit Fußnote 138. 31 Vgl. „Fünftes Zwischengespräch“. In : Klopstock: Grammatische Gespräche, S. 229- 288. 32 Zu den beiden querelles und Klopstock vgl. Elit: Sprachen der Poesie, S. 379f. Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 45 otischen Vorhaben recht ernst: Flankierend zu der (auch noch fortgesetzten) Veröffentlichung der Grammatischen Gespräche bemühte er sich in mehreren Briefen und Zeitschriftenveröffentlichungen bis 1801, einen ganz realen Übersetzungswettstreit zwischen den modernen Nationalsprachen anzuregen (allerdings weitestgehend vergeblich). 33 Für ein Beispiel von Klopstocks Vorgehen wird im Folgenden die nicht nur im 18. Jahrhundert besonders bekannte Horaz-Ode 4,13 (in Ausgaben in der Regel betitelt An Lyce) herangezogen. Im Jahr 1800 präsentierte Klopstock seine eigene Übersetzung dieser Ode im Rahmen einer provokativen britischen Zeitschriftenveröffentlichung und ließ direkt daneben eine - sc. als unterlegen vorgestellte - englische Übersetzung abdrucken (auf Letztere, verfasst von Philip Francis, soll hier auch aus Platzgründen nicht ebenfalls eingegangen werden). Der Titel der Gesamtveröffentlichung, in dessen englischer Fassung zugleich die prägnante Bedeutung von Kürze bei Klopstock erkennbar ist, lautete: „Die Kürze der deutschen Sprache durch Beyspiele gezeigt von Klopstock. THE CONCISENESS OF THE GERMAN LAN- GUAGE PROVED BY EXAMPLES. Communicated by Klopstock”. 34 Die Übersetzung der Horaz-Ode 4,13 steht dabei in einer unkommentierten Reihe von anscheinend als besonders überzeugend gedachten Übersetzungen (es gehen voran: mehrere kleinere Passagen aus Homers Ilias und aus Vergils Aeneis sowie einzelne horazische Odenstrophen); die Ode 4,13 ist unter diesen die einzige Komplettübersetzung und erscheint daher hier als Beispiel besonders wertvoll. Dass Klopstocks Wahl neben Homer und Vergil auf Horaz fiel, ist leicht zu begründen, hatte der Name Horaz doch bereits seit der Antike und für diverse Jahrhunderte in Mittelalter und Früher Neuzeit einen besonderen Klang, freilich nicht immer auf Grund derselben Kriterien bzw. Teile seines Œuvre. Gerade der Odendichter Horaz erschien jedoch mit dem Aufkommen der empfindsam-erhabenen Strömung im deutschen Sprachraum als besonders nachahmenswertes Muster und wurde auch von Klopstock in der Regel außerordentlich geschätzt: Horaz’ Lyrik evozierte für ihn durch größtmögliche Knappheit und Prägnanz im Ausdruck bereits höchste Herzbewegung. Dass Horaz’ eigene (implizite) Odenpoetik zumindest öfters eine deutlich intellektualistischere Stoßrichtung hatte und dabei stark intertextuell und spielerisch ausgerichtet war, hatte nicht nur Klopstock demgegenüber kaum im Blick. 35 33 Vgl.ebd., S. 44-50. 34 In: The German Museum 2 (1800), S. 128-136, hier S. 128 [Hervorhebung im Original]. Der Reiseschriftsteller Johann Wilhelm von Archenhol[t]z war Ver- und Übermittler der Veröffentlichung (vgl. HKA Briefe X.2, S. 618-620). Eine Annahme der Provokation zum Wettstreit ist kaum festzustellen, zu einer fast unmittelbaren Reaktion durch William Blake vgl. aber Elit: Sprachen der Poesie, S. 49 mit Fußnote 122. 35 Zur Horazrezeption insbesondere bei Klopstock vgl. ebd., S. 95-102. Stefan Elit 46 Die Ode 4,13 in Original und Übersetzung soll sowohl hinsichtlich der ursprünglichen Literarizität bei Horaz als auch hinsichtlich der besonderen Verdeutschungstendenz bei Klopstock vorgestellt werden. Das lateinische Original lautet in der Übersetzung Klopstocks in der bereits erwähnten Zeitschriftenveröffentlichung nachgestellten Fassung: Audivere, Lyce, di mea vota, di Audivere, Lyce, fis anus, et tamen Vis formosa videri; Ludisque et bibis inpudens. Et cant<u> tremulo pota Cupidinem 5 Lentum sollicitas. Ille virentis et Doctae psallere Chiae Pulchris ex<c>ubat in genis. Importunus enim transvol<a>t aridas Quercus et refugit, te quia luridi 10 Dentes, te quia rugae Turpant et capitis nives. Nec Coae referant jam tibi purpurae, Nec clari lapides tempora, quae semel Notis condita fastis 15 Inclusit volucris dies. Quò fugit Venus? heu! quò color? Heu! decens Quò Motus? quid habes illius, illius, Quae spirabat amores, Quae me surruerat mihi. 20 Felix post Cynaram, notaque et artium Gratarum facies? sed Cynarae breves Annos fata dederunt, Servatura diu parem. Cornicis ve[r]tulae temporibus Lycen: 25 Possent ut juvenes visere fervidi, Multo non sine risu, Dilapsam in cineres facem. 36 36 Ebd., S. 134-136 (Korrekturen des Drucks in spitzen Klammern sowie Zeilenzähler hier und im Folgenden S. E.). Auf Fragen der Textkonstitution sowie der nicht genauer zu ermittelnden Ausgabengrundlage ist hier nicht einzugehen, Fassungsunterschiede fallen bei Horaz in der Regel interpretativ kaum ins Gewicht. Zu bemerken ist zur vorliegenden Textfassung lediglich, dass die Satzpunkte am Ende jeder Strophe vor allem das Strophenende unterstreichen, denn syntaktisch ergeben sie teils überhaupt keinen Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 47 Verfasst ist dieses Gedicht aus dem großen vierten und letzten Odenbuch in der dritten Asklepiadeischen Strophenform (zwei Asklepiadeen, gefolgt von einem Pherekrateus und einem Glykoneus), einem bei Horaz häufigen Metrum, das vor allem von seinem spondeischen Auftakt und den zentralen Chorjamben geprägt ist: - - - u u - / - u u - u x - - - u u - / - u u - u x - - - u u - - - - - u u - u x 37 Horaz verwendet dieses Metrum wie üblich ohne metrische Lizenzen und lässt seine Verse inhaltlich virtuos über die Metren hinwegfließen, Enjambements gehen oft sogar über die Strophengrenzen hinaus; die feste und komplexe Strophenstruktur steht so in einem reizvollen Wechselspiel mit der Themenführung des Gedichts. Thematisch lässt sich diese Ode aus dem horazischen Spätwerk wie folgt bestimmen: Vorauszusetzen ist als lyrisches Ich ein älter gewordener Freier, 38 der sich hier scheinbar direkt, eher aber wohl monologisch, 39 an eine ebenfalls alt gewordene Hetäre wendet. Diese hat sich in früheren Zeiten wohl durch vieles ausgezeichnet, aber anscheinend auch durch eine gewisse Härte oder gar Ruppigkeit (im Namen „Lyce“ klingt „Wölfin“ an), was sie zu einem typischen Frauencharakter der Neuen Komödie sowie der klassischen römischen Elegie macht. In diesem Fiktionsrahmen entfaltet sich hier ein vordergründig hämisches, aber streckenweise auch sentimental gestimmtes Gedicht (das sich wegen der fließenden Strophengrenzen im Folgenden besser nach Verszeilen umreißen lässt). Verse 1-6a setzen typischerweise unmittelbar Ton und Thema, indem das lyrische Ich auftrumpfend (vgl. den Chiasmus „Audivere di [...] di / audivere“) und in kurzen, harten Schlagworten für Lyce feststellt, sie sei nun endlich alt und hässlich geworden, so dass sie sich mit den hetärenüblichen Mitteln nurmehr vergeblich und peinlich liebreizend zu machen versuche. Sinn (d.h. im Übergang von Strophe 4/ 5 und 5/ 6) und werden denn auch in Klopstocks Übersetzung nicht berücksichtigt. 37 Notationszeichen x hier aus satztechnischen Gründen statt üblicherem Bogen (u) über Strich (-). 38 Im Gegensatz zu weiten Teilen der Altphilologie wird hier und im Folgenden nicht schlankweg das empirische Autor-Ich des Horaz supponiert, da es sich nicht nur bei diesem Gedicht des Autors um ein hochliterarisches Artefakt handelt, dessen fiktionales Spiel durch eine platte biographistische Verortung nicht angemessen erfasst werden kann. Für einen etwas heiklen Biographismus vgl. etwa die (ansonsten sehr aufschlussreiche) Analyse der Ode in Hans Peter Syndikus: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden. 3., völlig neu bearbeitete Auflage Darmstadt 2001, Bd. II: Drittes und viertes Buch, S. 387-392. 39 Vgl. (mit nötigen Abstrichen hinsichtlich des Biographischen im Sinne der vorangehenden Fußnote) ebd., S. 387. Stefan Elit 48 Verse 6b-16 ergänzt dazu argumentativ, dass der Liebesgott (sprich: ein Freier) sich eben nur für junge Schöne interessiere, während an Lyce bildhaft und hart abschreckende Kennzeichen des Alters hervorgehoben werden, gegen die auch keine teueren Schmuckmittel helfen (Verse 13-16/ Strophe 4). Wie Syndikus zu Recht feststellt, 40 tritt spätestens mit dem Ende von Strophe 4 jedoch zum hämischen Ton bzw. Thema etwas anderes hinzu. Beginnend mit der leicht pathetischen Metaphorik des „volucris dies“ (Vers 16) klingt das lyrische Ich nun auch sentimental und klagevoll (vgl. das wiederholte „quo“, Vers 17f.) angesichts der Macht der Zeit, und es erscheint selbst betroffen von dem Verlusten des Alters. Denn geliebt hat es Lyce doch einmal inbrünstig, und zwar immerhin an zweiter Stelle nach einer wohl noch begehrenswerteren Hetäre namens „Cynara“ (Vers 21). Der Vergleich mit Letzterer bringt allerdings das Spott-Thema des hässlichen Alterns sogleich zurück: Während Cynara jung (und damit schön) gestorben ist, hat das Schicksal Lyce gleichsam zu einer „ältlichen Krähe“ („corni[x] vetula“, Vers 25) werden lassen - in welcher Folge die nachgewachsenen „feurigen jungen Männer („iuvenes [...] fervidi“, Vers 26) sie nur noch mit großem Gelächter (vgl. Vers 27) betrachten. Häme und klagendes Bedauern über den Lauf der Zeit vereinen sich sodann pointiert in der allerletzten Charakteristik Lyces als „zu Asche zerfallene Fackel“ („dilapsa in cineres fa[x]“, Vers 28), d. h. als eine Frau, deren erotisches Feuer das lyrische Ich einmal entzündet hat, ein lyrisches Ich, das den in der Asche anklingenden Tod wohl hier zugleich sich wie allen Menschen unausweichlich nahen sieht. Das Thema der Ode und der vorgestellte Frauentyp verweisen nicht nur auf Komödie oder Elegie zurück, sondern wurden zum einen bereits von Horaz selbst in vorgegangenen Epoden („Zornjamben“) und Oden behandelt, zum anderen sind viele einzelne Elemente auch in älterer Lyrik (zumal Epigrammatik) zu finden. 41 Es handelt sich daher wohl um ein typisches Beispiel römisch-hellenistischer Sujet-Dichtung mit zahlreichen intertextuellen Bezügen, deren dichte und wirkungsvoll rhetorisierte Neukonstellierung mit reizvollen „Tonwechseln“ den hohen literarischen Anspruch Horaz’ im Kontext der Imitatio-Aemulatio-Poetik der Zeit bezeugen. Wenn Klopstock diese Ode in seine Auswahl von beispielhaft kurzer antiker Versliteratur aufnimmt, so ist er sich der anspruchsvollen Literarizität sowie der rhetorischen Gestaltung von Häme, Pathos und Sentiment sicherlich bewusst gewesen. Wie er sie mit seiner zumindest nach dem schlichten Wortsinn kürzeren Übersetzung ins Deutsche transponiert hat, soll im Folgenden schlaglichtartig betrachtet werden. Die Ode lautet bei Klopstock: 40 Vgl. ebd. sowie S. 390f. 41 Vgl. ebd., S. 388-392. Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 49 Ah den wünschenden hört, Lyce, der Gott, der Gott Hört mich, Lyce: Du wirst Mütterchen, und du wilst Gleichwohl reizend noch scheinen, Trinkest, buhlst, und erröthest nicht. Lallend flehet dein Lied, trunkne, dem zöger<n>den 5 Cytheriden; o der wacht auf der blühenden, Schönen Wange der Griechin, Die den Zauber der Saiten kennt. Mürrisch eilt er vorbey dorrenden Eichen, flieht, Weil die Zähne sich dir schwärzen, die Runzel dich, 10 Weil der Schnee dich, der Scheitel Ihm entstellen. . . . . * 42 Nicht der Purpur von Kos, nicht der geglänzte Stein Bringt dir Jahre zurück, so die geschwundne Zeit Einmal in der Gedenkung 15 Buch begrub. . . . . Ach die Schönheit wohin floh sie? wohin der Reiz Deiner Farbe? des Gangs? Schwand nicht von der, von der Alles dir, die nur Liebe Hauchte? mir mich entriß, beglückt 20 Nach der Cynara, und wegen der lieblichen Minen Künste berühmt? Aber der Cynara Gab das Schicksal nur kurzes Leben, sparend die gleichende Lyce alte<r>nder Krähn Zeiten, daß höhnend sie 25 Rasche Jünglinge sähn, wie sich in Asche die Fackel senkte . . . . . . . . . . . 43 Auf seine metrische Umsetzung geht Klopstock selbst in einer Fußnote ein (siehe die Fußnote zum originalen Sternchen nach Vers 12), und zwar will er anscheinend dem Verdacht vorbeugen, er habe die dritte Askepiadeische 42 Fußnote im Original wohl aus Anlass der hier erstmals betont gesetzten Auslassungszeichen (mit nachgestellter englischer Übersetzung): „Die metrische Verkürzung einiger Strophen, davon der Zweck dieser Uebersetzung die Ursache war, sollte kein Beyspiel der Verändrungen seyn, wenn man der Ode metrisch verschiedene Strophen geben wollte. - Klopstock.“ 43 Klopstock: Die Kürze der deutschen Sprache, S. 132/ 134. Die Übersetzung ist auf 1799/ 1800 zu datieren, denn eine wahrscheinlich etwas frühere Fassung findet sich in einem Brief Klopstocks von 1799 (vgl. Elit: Sprachen der Poesie, S. 47 mit Fußnote 114 und S. 403 mit Fußnote 1131). Stefan Elit 50 Odenstrophe des Originals in (eine Art) freie Rhythmen umgewandelt. Es sind aber in der Tat lediglich einzelne Zeilen der auch hier zugrunde gelegten Strophenform unvollständig bzw. ganz ausgefallen, da Klopstock sozusagen den vollen metrischen Raum aufgrund seines verkürzten Ausdrucks wiederholt nicht benötigt, den strophenmäßig gesetzten Rahmen jedoch formell nicht aufgibt. 44 Was sich Klopstock allerdings entsprechend seinen Vorstellungen zum Hexameter außerdem herausnimmt, ist, insbesondere am Versanfang öfter auf den (für das Deutsche leichter zu bildenden) Trochäus auszuweichen, wo Horaz strikt den Spondeus einhält. Auf inhaltlicher Ebene ist Klopstock grundsätzlich ein getreuer Übersetzer, der sich bis in einzelne Satzstrukturen und Wortstellungen an die Vorlage und ihre Ausmaße hält, eine nicht geringe Leistung, zumal für eine deutsche Versübersetzung, gemessen an der in der Regel größeren Dichte des klassischen Latein mit seinen verknappenden syntaktischen Strukturen wie Partizipialkonstruktionen, Ellipsen oder prägnanten Wortformen und flexiblen Satzteilpositionen. Eine durchgehende Übersetzungsanalyse ist an dieser Stelle nicht zu leisten, 45 Klopstocks Abzielen auf erhabene Kürze und unmittelbare Kürze im Ausdruck lässt sich jedoch an mehreren Stellen gut erkennen, zumal in Form von Verkürzungen einzelner Strophen gegenüber dem Original im Sinne von poetischen Verbesserungen. Eine leichte Hebung und Verknappung des Ausdrucks erreicht Klopstock z.B. bereits in den ersten beiden Zeilen, wo er das knapp-pathetische „Audivere, Lyce, di mea vota, di / audivere, Lyce“ („Es haben erhört, Lyce, die Götter meine Wünsche, die Götter / haben (sie) erhört, Lyce“) im Deutschen zum einen syntaktisch geschickt abwandelt („den wünschenden hört“) und mit expliziten Gefühlsignalen („Ah“) sowie einem wuchtigknappen „Gott“ im Singular wiedergibt. 46 Eine erste absolute Verknappung bezogen auf den benötigten Strophenraum zeigt sich dann in Strophe 3, deren typisch lateinische Kürze (das prägnante Adjektiv „importunus“, Vers 9; die knappe Doppelstruktur des mit „quia“ eingeleiteten mehrfachen Nebensatzes, Verse 10-12) eigentlich im Deutschen kaum ähnlich möglich erscheint. Klopstock kann hier lediglich unter Auslassung eines randständigen Satzglieds („enim“/ „nämlich“, Vers 9) schon durch die erlesene Prädikatform „eilt [...] vorbey“ + Akkusativ sehr analog zu „transvolat“ + Akkusativ 44 In den Grammatischen Gesprächen hatte er sogar Letzteres getan und Versinhalte sozusagen komplett in den metrischen Verszeilen hochrücken lassen, um seinen Verkürzungserfolg augenfällig zu machen; vielleicht erschien ihm dieses Verfahren mittlerweile nicht mehr akzeptabel, da zu brachial. 45 Für ausführliche Analysen von vier anderen Horaz-Oden-Übersetzungen Klopstocks (1,14; 1,29, 3,13; 4,2) vgl. Elit: Sprachen der Poesie, S. 170-215. 46 Ganz vereinzelt nimmt Klopstock sich kleinere Variationen bei Namen heraus, die nicht zur vor allem angestrebten Gesamtverknappung führen; eine Deutung fällt hier schwer, es könnte aber auch eine leichte Hebung im deutschen Ausdruck angestrebt sein (Vers 5: „Cupidinem“ > Vers 6: „Cytheriden“; Vers 7: „Chiae“ > „Griechin“). Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 51 (Vers 9f.) den Ausdruck in erhabener Weise verknappen. 47 Die weiteren Strophenteile rücken durch zumindest gegenüber der Vorlage gleich kurze Formung in der Folge hoch, sodass Klopstocks Vers 12 nach zwei Trochäen endet, wo Horaz noch einen kompletten Glykoneus füllt. Entsprechendes gelingt Klopstock in Strophe 4. Und besonders ins Auge fällt schließlich Strophe 6, die Klopstock bereits nach den beiden Asklepiadeen und lediglich zwei weiteren Trochäen beenden kann; dafür lässt er allerdings auch das originale Prädikat „possent“ ganz weg und zieht Vers 27 auf ein schlichtes „höhnend“ zusammen. Mit Blick auf seinen Verbesserungsimpetus mag er damit in der Tat suggerieren, dass auch Horaz auf das Hilfsverb hätte verzichten sollen und dass „multo non sine risu“ vielleicht unnötig pleonastisch ist - eine Bewertung, die sich ein dem einfachen Wortlaut möglichst getreu folgender Übersetzer sicherlich nicht erlauben kann. Deutlich wird an Letzterem allerdings auch, dass der späte Klopstock sich in der Tendenz sogar eher für die wortwörtliche Kürze entscheidet, wo er sich im Sinne einer pathetischen Kürze womöglich besser an die rhetorisierte Junktur des Originals gehalten hätte. Im Ganzen ergibt sich bei Klopstock so eine in vielem recht wortgetreue Übersetzung, die sich jedoch bisweilen als explizit pathetisch-kurz (s. zu Strophe 1f.), bisweilen aber auch als geradezu ernüchternd verkürzt erweist. Ob sie damit in absoluter Weise poetisch „besser“ ist als die Vorlage, muss dabei im Gegensatz zu Klopstocks Perspektive wohl salopp gesagt als Geschmackssache erscheinen. 3. Voß’ ausgangssprachlich orientierte Übersetzungen als klassizistisches Muster Wie nachhaltig Voß im Zuge seiner Homer-Übersetzungen einen griechischantikischen Klassizismus entwickelt hat, hat namentlich Günter Häntzschel eindrucksvoll gezeigt. 48 Insbesondere die Voß’schen Prägungen quasi- 47 Der transitive Gebrauch eines Verbs wie „vorbeieilen“ ist im literarischen Sprachgebrauch eine typische Finesse Klopstocks zu diesem Zweck, vgl. für die seltene Verwendung von „vorbeieilen“ in dieser Art im Grimm’schen Wörterbuch die Belege fast ausschließlich aus Klopstocks eigenem Odenwerk (vgl. im Sammellemma „vorbei“. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe der Akademie der Wissenschaften der DDR (Berlin 1971). München 1984, Bd. XXVI: Ve-Vul, Sp. 867-889, hier Sp. 870). Da solche Transitivierungen imgrunde Latinismen sind, zeigt sich hier im Übrigen wie sehr der Dichter Klopstock direkt an den alten Sprachen geschult worden ist - vermutlich auch zum Verdruss des emanzipatorischen Sprachpatrioten Klopstock. 48 Vgl. Häntzschel: Voß. Zu neueren Forschungen sowie insonderheit dem frühen kulturpädagogischen Projekt hinter Voß’ erster Odyssee-Komplettübersetzung vgl. gesondert Adrian Hummel: Odüßee 1781. Johann Heinrich Voß zwischen homerischen Stefan Elit 52 homerischer Wortformen (typische Komposita, besondere Adjektivformen und andere mehr) und formelhafter Wendungen hatten geraume Zeit sogar allgemeine Wirkung auf die deutsche Sprachkultur gebildeter Schichten. Neben und nach der zweiten Homer-Übertragung von 1793 übersetzte Voß jedoch weitere antike Klassiker, darunter die Römer Horaz, Ovid und Vergil, deren Literatursprachen sich nicht unerheblich von derjenigen der Homerepen unterscheiden (und freilich auch untereinander). Aus der relativ spät veröffentlichten Horaz-Komplettübersetzung (1806) kann ebenfalls Ode 4,13 herangezogen werden. Als lateinischer Originaltext lässt sich erneut der oberhalb zitierte zugrundelegen; Voß’ Übersetzung mit von ihm vorangestellter metrischer Notation lautet: - x - u u - - u u - u - - x - u u - - u u - u - - x - u u - x - x - u u - u - Ja, sie hörten mein Flehn, Lyce, die seligen Götter hörten mein Flehn! Alt, du bist alt! und doch Willst du schön dich geberden; Schamlos hüpfst du, und schwärmst am Wein! Und in zitterndem Laut, Trunkene, lockt dein Lied 5 Amor her, der sich sträubt: besser auf blühenden Wangen ruht er der frischen Und tonkundigen Chierin. Denn mit störrischem Flug meidet er dorrende Eichen, meidet er dich; weil die ergilbenden 10 Zähne, weil dich die Runzeln Ganz entstellt, und des Hauptes Schnee. Nicht erweckt dir die Pracht koischer Purpure, Nicht glanzhelles Gestein Zeiten, die dir vorlängst Im landkündigen Jahrbuch 15 Wohl bestattet der Flügeltag. Wo dein Reiz, und die Farb’? ach! und die Zierlichkeit Jeder Regung? Was bleibt jener, o jener noch, Die, holdselige Anmut Athmend, ganz mich geraubt mir selbst? 20 Altertümern und bürgerlicher Gesellschaftsutopie. In: Odysseen 2001. Fahrten - Passagen - Wanderungen. Hg. von Walter Erhart, Sigrid Nieberle. München 2003, S. 51-70. Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 53 Wunderselige nach Cinara! herliche Zaubervolle Gestalt! Aber die Cinara Nahm frühzeitiges Schicksal, Aufbewahrend dem Stufenjahr Dich, o Lyce, der hochaltrigen Krähe gleich: 25 Dass ansähe der Schwarm brausender Jünglinge, Nicht ohn’ inniges Lachen, Sänk’ in Asche der Fackel Stumpf. 49 Die Metrik der Vorlage ahmt Voß in der Tat noch akribischer nach als Klopstock, Längen bzw. Hebungen und Kürzen bzw. Senkungen misst er spürbar exakt zu. Allerdings zeigt bereits das vorangestellte metrische Schema, dass auch er den spondeischen Auftakt bei Horaz zumindest wahlweise mit einem Trochäus ersetzt (s. „- x“ jeweils am Auftakt) - eine kleine Erleichterung, die auch Voß anscheinend benötigt. Etwas irritierend scheint demgegenüber seine Notation einer Länge/ Hebung für das Ende der jeweils ersten, zweiten und vierten Verszeile, eine Strenge (jambischer Schluss! ), die weder Horaz kannte - die klassische lateinische Metrik hat praktisch nur Anceps-Silben, also „x“, am Versende - noch Voß’ gut einhalten kann. Auf inhaltlicher Ebene ist die Voß’sche Übersetzung auf den ersten Blick ebenfalls überaus wortgetreu, und zwar noch mehr, als Klopstock es leistet (bzw. leisten wollte), bis in einzelne grammatische Strukturen und Wortpositionen hinein. Allerdings zeigt auch Voß insonderheit zwei Tendenzen der übersetzerischen Interpretation bzw. tonalen Verschiebung: Erstens fügt er an einzelnen Stellen gegenüber der Vorlage explizierende Füllwörter oder gewähltere und schmückende Wörter ein, und zweitens verwendet er wiederholt (Adhoc-)Komposita, die dem Lateinischen eher fremd sind und ebenfalls in gravitätisch gespreizter Form schmücken. Beispiele für die erste Tendenz sind „seligen“ (Vers 1, neues Epitheton zu bloßem „di“/ „Götter“ bei Horaz), „schwärmst am Wein“ (Vers 4, erlesen für „bibis (impudens)“/ „trinkst (schamlos)“, wobei „schamlos“ bei Voß ja bereits am Anfang der Zeile erscheint! ), „Ganz entstellt“ (Vers 12, für bloßes „turpant“/ „entstellen“) oder in der letzten Strophe „der Schwarm“ (Vers 26, manieristisch, da ohne Entsprechung bei Horaz) und „der Fackel Stumpf“ (Vers 27, für bloßes „fax“/ „Fackel“). Die zweite Tendenz zeigt sich etwa an „tonkundig“ (Vers 8, prägnant für „docta psallere“/ „gelehrt zur Laute zu singen“), „Flügeltag“ (Vers 16, Adhoc-Kompositum für „volucris 49 Q[uintus] Horatius Flaccus: Werke. Hg. [und übersetzt] von Johann Heinrich Voß. Bd. I: Oden und Epoden. 3. Ausgabe Braunschweig 1822, S. 211f. Die Ausgabe ist inhaltlich identisch mit der Erstausgabe Heidelberg 1806, aber hinsichtlich der vorangestellten Versschemata genauer (in der Notation nach Versfüßen); Notationszeichen x hier erneut statt originalem Bogen (u) über Strich (-) durch den Verfasser. Stefan Elit 54 dies“/ „geflügelter bzw. flüchtiger Tag“), „wunderselig“ (Vers 21, gefühligmanieriert für „felix“ / „glücklich bzw. beglückend“) oder „Stufenjahr“ (Vers 24, spezieller explizierend für „anni“/ „Lebensjahre“). In fast allen Fällen der zweiten Tendenz fühlt man sich an Voß’ Homer gemahnt, wo die Nachahmung entsprechender griechischer Komposita eine große Leistung der ausgangssprachlich orientierten Übersetzung darstellte, in deren Geleisen Voß anscheinend verblieben ist. Im Ganzen ergibt sich für Voß’ Übersetzung so eine deutlich stärkere tonale Hebung bzw. geradezu erstarrte klassizistische Erhabenheit als bei Klopstock (der bisweilen ja in der schlichten Kürze sogar leicht absinkt) und dies z.T. mit sprachlichen Mitteln (Adhoc-Komposita), die sich zur vorliegenden lateinischen Literatursprache nicht eigentlich fügen. Die horazische Vorlage wird so einerseits durchgehend und steif erhaben, lässt dabei aber die eigenen Stimmungen (Häme, Klage, Melancholie) vermissen, und andererseits erhält sie durch schmückende Ergänzungen und Homerisches einen andersartigen historischen Einschlag. 4. Voß liest Klopstock: Legitime Übersetzerschelte? Bei Johann Heinrich Voß stieß der von Klopstock seit 1794 vorangetriebene Übersetzungswettstreit auf wenig positive Resonanz, er reagierte jedoch aufgrund des abgekühlten Verhältnisses erst im März 1799 explizit, und zwar indem er in einem Brief zunächst eine kurze Rückschau auf das langjährige Zerwürfnis der beiden hielt. 50 Dabei nahm er u.a. auf eine Aussage in den Grammatischen Gesprächen Bezug, mit der Klopstock eine zumindest etwas missverständliche Würdigung der mimetischen Versifikation von Voß’ Homerübersetzung formuliert hatte. In der Paraphrase bei Voß lautete diese Aussage: „Voß hatte sich dem Homer im Versbau mit einer Art Wollust angeschmiegt.“ 51 Voß hörte in diesem Satz vornehmlich einen spöttischkritischen Unterton, und im darauffolgenden Briefwechsel konnte Klopstock diesen Verdacht trotz aller gegenteiligen Beteuerungen nicht völlig ausräumen, weil die Grunddistanz zwischen beiden schon zu manifest geworden war. Man versuchte sich zwar dennoch redlich, über die Möglichkeit der Homerübersetzung im Deutschen auszutauschen, stellte jedoch nur ähnlich differente Ansichten fest wie bei der alten Diskussion um den Hexameter im Deutschen. 52 Voß erhielt dann auch noch von dem eingangs zitierten, erst 1799 nach einigem Zögern von Klopstock veröffentlichten Gedicht Unsre 50 Vgl. Voß an Klopstock, 31. März 1799 (HKA Briefe X.1, Nr. 21). 51 Ebd., Nr. 23 (von Voß zitiert nach: Klopstock: Grammatische Gespräche, S. 394). 52 Der Briefwechsel setzte sich dennoch auch 1799 fort, vgl. HKA Briefe X.1, Nr. 23, 34, 36, 41, 46, 52, 54, 84, 85 und 87; vgl. ferner Häntzschel: Voß. Seine Homer-Übersetzung, S. 207-211. Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 55 Sprache an uns Kenntnis, 53 und dies führte - kaum verwunderlich - zu weiteren brieflichen Darlegungen der unterschiedlichen Standpunkte. 54 Noch einmal ganz umfassend erklärte sich Voß schließlich 1804 zu den Grammatischen Gesprächen, indem er sie umfänglich rezensierte. 55 Dies sollte zwar primär der Empfehlung des Werkes und dem Gedächtnis des gerade Verstorbenen dienen, aber grundsätzlich hatte Voß sich von Klopstock immer eine „richtige“ Grammatik erhofft und zeigte sich daher noch immer distanziert gegenüber der mit den Grammatischen Gesprächen gewählten literarischen Fassung. 56 Besonders kritisch äußerte sich Voß außerdem nun zu Klopstocks Übersetzungswettstreit, 57 und sein Hauptkritikpunkt war gerade dessen zentrale Maßgabe, die Kürze. Deren Stellung in Klopstocks Poetik schien Voß dabei nicht wirklich zur Kenntnis nehmen zu wollen, und die einzelnen Übersetzungen des Wettstreits fanden so nur bedingt seine Gnade. Das prinzipielle Streben auch nach unmittelbarer Kürze im Ausdruck machte sie für ihn kaum überraschend vor allem in einem Punkt untreu: in der Wiedergabe der rhythmischen Satzperiode. Die von Voß im Hexameterstreit so sehr hochgehaltene „Regel Homers“ kehrte hier also wieder und mit ihr die Forderung nach genauester Wiederholung einer jeden metrischen Struktur des Originals in einer deutschen Übersetzung. 58 Nach einer daher oft negativen Bewertung von Klopstocks Homerübersetzungen ging Voß sodann auf einzelne Übersetzungen horazischer Oden in bezeichnender Weise ein. 59 Er gab dafür einige originale carmina auszugsweise wieder und zitierte Klopstocks Übersetzungspassagen - einerseits schon, um sie zu würdigen, andererseits aber auch, um sie mit Nachdruck in Frage zu stellen. Zu Klopstocks Übersetzung von Horaz-Ode 3,29 etwa urteilte er: Man kann in den gedrängteren Begriffen nichts fehlendes, wenig verfehltes, nachweisen; die Worte sind edel, und die Wortsüsse für sich ausdrucksvoll: der Ausdruck der ganzen Periode ist geschwächt, wie der Klavierauszug einer vollstimmigen Musik. 60 53 1798 war das Gedicht wegen einer Erkrankung Voß’ von Klopstock nicht veröffentlicht worden (vgl. HKA Briefe X.2, S. 336 und 337). 54 Vgl. Voß an Klopstock, 12.Juni 1799 (HKA Briefe X.1, Nr. 46) und Klopstock an Voß, 28. Juni 1799 (ebd., Nr. 52). 55 [Johann Heinrich] V[oß]: [Rezension von: Friedrich Gottlieb] Klopstock: Grammatische Gespräche, Altona 1794. In: Jenaische allgemeine Literaturzeitung (1804), Bd. I, Nr. 24- 26, Sp. 185-208; Nr. 39-43, Sp. 305-343. 56 Vgl. ebd., Nr. 24, Sp. 136f. 57 Vgl. ebd., Nr. 42f., Sp. 331-342. 58 Vgl. ebd., Sp. 333f. 59 Vgl. ebd., Sp. 334-336. 60 Ebd., Sp. 338 (zu Klopstocks Übersetzung von Horaz’ Ode 3,29). Stefan Elit 56 Und zur Übersetzung von Horaz-Ode 1,14 hieß es schneidend: Der Ausdruck des Versganges, der die Stärke des Wortausdruckes im Fortschwunge vermehrt, ward von dem Schöpfer des deutschen Rhythmus gewiss nicht vernachlässigt, sondern dem anderen Zwecke mit Fleiss geopfert. 61 Den Übersetzungen Klopstocks stellte Voß im Übrigen öfter noch seine eigenen voran, sc. als Musterbeispiele für gelungenere Übersetzungen: Er qualifizierte Letztere in diesem Sinne nachdrücklich mit den Attributen „deutsch“, 62 „treu“ 63 und natürlich „rhythmischer“. 64 Äußerungen Klopstocks zu den Horaz-Oden-Übersetzungen von Voß sind demgegenüber leider nicht bekannt (vermutlich hat er sie gar nicht mehr zu sehen bekommen können). Es sei jedoch zumindest Folgendes zu Voß’ Bewertungsmaßstab, d.h. zu dessen eigenen Musterübersetzungen, resümiert: Wie die vorgenommene Beispielanalyse zeigen konnte, sind diese nämlich nicht durchweg so viel getreuer als diejenigen Klopstocks. Denn bei allem Streben nach einer dokumentarisch präzisen Übersetzungsweise legte Voß seit seiner zweiten Homerübersetzung von 1793 einen vereinseitigend griechischen Antikizismus und auch einen im Gravitätischen erstarrten Klassizismus an den Tag. Hierdurch wurde seine Übersetzersprache ihrerseits zu einem ganz eigenen, in gewisser Weise homerischen Idiolekt. Dies zeigt sich zumal, wenn man Voß’ Übersetzersprache mit Klopstocks (ansonsten in vielem ja ähnlicher) weit weniger gräzisierender Übersetzersprache vergleicht. Dadurch dass sich dieses Phänomen selbst bei Voß’ Übersetzungen lateinischer Verstexte entdecken lässt, erhalten vor allem diese schließlich einen ihnen fremden Anstrich. 5. Übersetzungspoetologisches Fazit und nationale Fluchtlinien Der langwierige Dissens zwischen Klopstock und Voß bezeugt die Manifestation einer zentralen poetologischen Differenz: Auf der einen Seite steht Klopstocks deutschpatriotische und auch ganz persönliche Egozentrik. Dafür steht hier zum einen die „nationale Präferenz“ seiner Metrik, 65 die er als autochthon gegenüber der mächtigen antiken Tradition postulierte und begrifflich betont idiosynkratisch bestimmte, und zum anderen ist es seine besondere Brevitas-Poetik, die das Deutsche als Literatursprache am besten umzusetzen vermöge. Wenn er diese metrischen und Kürze-Qualitäten jedoch zugleich als allein maßstäbliche postuliert, muss man geradezu von 61 Ebd., Sp. 339. 62 Ebd. 63 Ebd., Sp. 340. 64 Ebd., Sp. 341. 65 Vgl. Menninghaus: Nachwort. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 259-361, hier S. 300. Übersetzungen antiker Klassiker als sprachästhetische Schule der Kulturnation? 57 einer Ignoranz gegenüber andersartigen Qualitäten fremder Literatursprachen sprechen. Und zum Dritten: Bei aller Nähe zu den antiken Klassikern ging es Klopstock gerade ihnen gegenüber um die Würdigung des eigenen literarischen Idioms, das nach Klopstocks jahrzehntelanger Spracharbeit ganz aus seinen Mitteln eine Höchstform erreicht haben sollte, und zwar im diachronischen wie synchronischen internationalen Vergleich. Der immer noch erkennbare Anschluss an und die Abgrenzung gegenüber den beiden alten Sprachen erscheinen dabei letztlich ansatzweise paradox; eine Lösung bzw. Auswegsformel für das angestrebte emanzipierte Verhältnis zur Antike klingt jedoch in der eingangs zitierten Ode Unsre Sprache an uns an: „Ein erhabnes Beispiel / Ließ mir Hellänis: Sie bildete sich durch sich! “ Dem allen steht Voß’ poetologische Grundposition nicht diametral gegenüber - auch er arbeitete schließlich in patriotischer Absicht an einer Weiterbildung des Deutschen als Literatursprache. Jedoch ist sein Weg ein kaum von Abgrenzungsbedürfnissen geprägter, stark homerischer Antikizismus und geradezu hyperphilologischer Klassizismus, 66 wodurch Voß zumal für Klopstocks so persönlichen Zugriff auf literatursprachliche Phänomene zunehmend wenig Verständnis hatte. Voß propagierte damit zumindest auf eine Weise etwas ganz anderes als Klopstock: Er statuierte das Andersartige der antiken Literatur als eigentlich gar nicht so Fremdes, indem er es (in Form von Homertypischem) zumal in seine persönliche Literaturbzw. Übersetzersprache mit Macht integrierte. Über viele Jahrzehnte hat sicherlich Voß’ Übersetzungsweise bzw. Übersetzersprache ungleich nachhaltiger gewirkt, auch über den Bereich der literarischen Übersetzung hinaus, 67 und in Voß’ Antikerezeption zeichnete sich außerdem bereits das altphilologisch fundierte Bildungskonzept ab, das von neuhumanistischer Seite im weiteren 19. Jahrhundert als das nationalkulturelle Leitbild propagiert wurde und das sich von Wilhelm von Humboldt bis Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff vor allem aus einem mehr oder weniger konstruierten Griechentum speiste. Diesem Leitbild stellte sich jedoch bekanntermaßen zeitgleich ein deutschpatriotisches entgegen, das von der entstehenden Deutschen Philo- 66 Vgl. ähnlich Gronemeyer, für den Voß’ Übersetzung „durch die antikisierende Note blasser [...] als [das] Original“ geworden ist (Horst Gronemeyer: Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Vergilübertragung mit besonderer Berücksichtigung Rudolf Alexander Schröders. Diss. masch. Hamburg 1963, S. 181). Außerdem veredele Voß etwa in der Georgica-Übersetzung das Original „in klassizistischer Weise“ (ebd.); vgl. ferner Manfred Fuhrmann: Von Wieland bis Voß. Wie verdeutscht man antike Autoren? In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1987), S. 1-22; Fuhrmann sieht Voß sogar in der noch stärker ausgangssprachlichen Orientierung der 1793er Homerübersetzung in manchem „schon übers Ziel hinausschießen“ und hält dessen „ausgeklügelte Kunstsprache“ (ebd., S. 17) nicht mehr für adäquat, da sie die Übersetzung fremdartiger klingen lasse als das Original (vgl. ebd.). 67 Vgl. Häntzschel: Voß, S. 242-261. Stefan Elit 58 logie und ihrer Ausrichtung auf historische nationale Kulturleistungen befördert wurde. 68 Der (späte) Klopstock soll keineswegs völlig auf diese Linie festgelegt werden, sein hier vorgestelltes kompetitives Übersetzungsunternehmen erscheint aber als ein nicht unwichtiger diskursiver Vorläufer bzw. Wegbereiter. Denn bei all der zu konstatierenden Bindung an eine als klassisch kanonisierte antike Literatur strebte Klopstock seit den 1760er Jahren (wenn auch unterschiedlich stark 69 ) eine Emanzipation und, wo irgend möglich, einen Superioritätsnachweis für das Deutsche bzw. seine ganz persönliche Literatursprache an. Die Alten ließ er allerdings solange als Referenzgröße gelten, wie sie für den aggressiveren Vergleich mit einflussreichen modernen Nationalsprachen nützlich erschienen. Was jedoch in der Fortentwicklung der deutschpatriotischen Diskurslinie am Ende alleinig galt, war die nationale „Eigenheit“, und spätestens im nationalistischen Exzess des 20. Jahrhunderts wollte man diese möglichst komplett ohne einen Rekurs auf „Fremdes“ erreichen und endete in Chimären (und in einer humanitären Katastrophe). 68 Zu dem entsprechenden akademischen Richtungskonflikt vgl. etwa Detlev Kopp: (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp. München 1991, S. 669-741. 69 Zu Klopstocks Schwankungen in dieser Frage über die Jahrzehnte seines Schaffens vgl. Elit: Sprachen der Poesie, S. 378-387. Sonja Klein Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne Aber freilich wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Goethe im Gespräch mit Eckermann 1 1. „Auch ich bin, wie Sie, über die Übersetzung Ossians für unser Volk und unsre Sprache, eben so sehr als über ein Episches Original entzückt“, 2 schreibt Johann Gottfried Herder zu Beginn seines 1771 entstandenen Auszugs aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. Die in dieser Abhandlung versammelten fiktiven Episteln, in denen Herder schließlich eine Abwendung von den „tote[n] Lettern Versen“ deutscher Regelpoetik zugunsten des wahren Naturdichters einfordert 3 und die - zwei Jahre später in der Sammlung Von deutscher Art und Kunst erschienen - zu einem Gründungsmanifest des Sturm und Drang avancieren sollten, nehmen ihren Ausgangspunkt ganz bewusst nicht in der eigenen Literatur. Vielmehr richten sie den Blick zunächst auf die erste deutsche Gesamtübersetzung der Gedichte Ossians, die der Schriftsteller und Bibliothekar Michael Denis 1768 bis 1769 auf der Grundlage von James Macphersons Works of 1 Johann Wolfgang Goethe: Gespräch mit Eckermann vom 31. Januar 1827. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Friedmar Apel [u. a.] 40 Bde. Frankfurt/ Main 1985-1999, Abt. 2, Bd. XII, S. 224f. (Im Folgenden mit der Sigle FA, gefolgt von arabischer Abteilungs-, römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) 2 Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: Ders.: Werke. Hg. von Günter Arnold [u. a.] 10 Bde. Frankfurt/ Main 1985-2000, Bd. II: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt/ Main 1993, S. 447-497, hier S. 447. 3 Ebd., S. 425: „Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und tote Lettern Verse sein“. Sonja Klein 60 Ossian 4 in drei Bänden vorgelegt 5 und die Herder laut eigener Auskunft „gleich unter die Lieblingsbücher [s]einer Bibliothek gestellt“ 6 hatte. Des Lobes über den Wert dieser Übersetzung für das deutsche Lesepublikum voll 7 entwickelt Herder in seinem Briefwechsel von Ossian ausgehend den Begriff des „Volksliedes“, erhebt den keltischen Barden zum frühen Fürsprecher einer „sinnlichen“ Poesie und krönt ihn gleichsam zum ersten - wenn auch nicht deutschen - Originalgenie. 8 In diesem Sinne wird Ossian innerhalb der für die deutsche Geistesgeschichte so bedeutenden Abhandlung zum Exempel einer unverbildeten Naturpoesie, deren „Ursprünglichkeit“ 9 es nachzueifern gälte. Und noch der junge Friedrich von Hardenberg wird 1789 in den hohen Preis des „Sänger[s] von Colma“ mit den Worten einstimmen: „Heil dir Ossian! “, der es verstand, „des Thebaners Weisen / Oder des Römers sanftere Odenflüge“ durch Hymnen zu ersetzen, die „Regellos wie die Töne des Sturms“ 10 erstmals die Kunst der Natur nachbildeten - und nicht umgekehrt. Auf diese Weise werden Ossian und seine positiv hervorgehobene „Regellosigkeit“ zu den Geburtshelfern eines neuen Kunstverständnisses, das den Weg zu einer der Sternstunden deutscher Kulturgeschichte ebnet und dessen Folgen bis in die Gegenwart spürbar sind. Allein Herders und des Übersetzers Denis Verdienst war dies jedoch nicht. Gleichwohl hatte Herder das Identifikationspotential, das die ossianischen Texte bereithielten, nicht nur an sich selbst erfahren, sondern auch in seiner potentiellen Wirkung auf die Deutschen richtig eingeschätzt: „Ein Dichter, so voll Hoheit, Unschuld, Einfalt, Tätigkeit, und Seligkeit des menschlichen Lebens, muß“, stellt er bereits im ersten Absatz seines Briefwechsels fest, „gewiß würken und Herzen rühren“. 11 Und tatsächlich verfehlten es die vermeintlich aus der keltischen Vorzeit stammenden 12 Barden- 4 The Works of Ossian, The Son of Fingal. Transl. from the Galic Language by James Macpherson. 2 Bde. London 1765. 5 Michael Denis: Die Gedichte Ossians: eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von Michael Denis aus der Gesellschaft Jesu. 3 Bde. Wien 1768-1769. 6 Herder: Briefwechsel über Ossian, S. 447. 7 Wobei Herder die Übersetzungsleistung Denis’ innerhalb seines Briefwechsels auch durchaus kritisch betrachtet. So spricht er z. B. davon, „daß Trotz alles Fleißes und Geschmacks und Schwunges und Stärke der deutschen Übersetzung unser Ossian gewiß nicht der wahre Ossian mehr sei“. (Ebd.) 8 Vgl. u. a. ebd., S. 448: „Ihnen wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß Ossians Gedichte Lieder, Lieder des Volkes, Lieder eines ungebildeten sinnlichen Volks sind […].“ 9 Ebd. 10 Novalis: An Ossian. Fragment. [1789]. In: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn, Richard Samuel. 5 Bde. Stuttgart 1960, Bd. I: Das dichterische Werk, S. 475f., hier S. 475. 11 Herder: Briefwechsel über Ossian, S. 447. 12 Zur Authentizitätsdebatte siehe Wolf Gerhard Schmidt: Der philologisch-historische Diskurs. In: Ders.: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Mac- Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 61 gesänge schließlich nicht, in der Folge eine ganze Nation in bisher ungekanntem Maße zu affizieren, ihre Herzen wie Gemüter zu „rühren“ und in ein wahres Ossian-Fieber zu versetzen. Zuerst jedoch hatten sich vor allem die deutschen Dichter und Denker auf ossianische Spuren begeben. Herder, Goethe, Lenz und Bürger übersetzten ihn, 13 positionierten ihn neben Shakespeare und Homer als den bedeutendsten Dichter der europäischen Literatur und machten ihn - in der Nachfolge Klopstocks und des Göttinger Hainbundes - für ihre eigenen Werke fruchtbar. „[E]s geht doch nichts drüber“, 14 schreibt so auch der junge Goethe, der sich zu diesem Zeitpunkt an einer ersten Teilübersetzung der Gesänge versucht, 1771 in apodiktischem Ton an Herder nach Bückeburg. Und die Einschätzung einer zeitgenössischen Rezension der Denisschen Übersetzung, die „die Entdeckung der Gedichte Oßians“ zu den „wichtigsten Begebenheiten dieses Jahrhunderts“ 15 zählt, scheint in Hinblick auf deren Einfluss auf die deutschen Künstler nicht einmal übertrieben zu sein. Auch Wolf Gerhard Schmidt, der 2003 die ebenso grundlegende wie überfällige Studie zur deutschsprachigen Ossianrezeption in vier Bänden vorgelegt hat, spricht von der heute gar „nicht mehr vorstellbaren Popularität“ der Gesänge, die eine „kaum zu überschätzende ‚Ossianomanie’“ auslösten und an der Entwicklung vor allem des Sturm und Drang und der literarischen Romantik maßgeblichen Anteil hatten. 16 Wie sehr der ossianische Ton zumindest die Dichterstimmen innerhalb privater wie literarischer Zeugnisse schon bald prägte, belegen zahlreiche Rezeptionszeugnisse. Da erinnert sich Herder an die erste frühe Barden- Begegnung mit den Worten: „Ich schwärmte auf jenen dürren Hügeln; ich verlohr mich in jenen Wildnißen voll heiligen Schauers auf dem Meer, in Schlachtgefilden, in einsamen Gräbern. Die Harfe Oßians goß sanfte […] phersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. 4 Bde. Berlin [u. a.] 2003, Bd. I, S. 259-298. 13 Zu einer Übersicht der zahlreichen deutschsprachigen Teilübersetzungen siehe ebd., Bd. II, S. 1152-1174. 14 „Wenn Sie keinen Ossian kriegen können, steht meiner zu diensten, aber ich muss ihn wieder haben. Melden Sie’s bald, denn ich kann ohnmöglich sehen, dass Sie noch lange sind ohne soviel Freude zu haben als ich, denn es geht doch nichts drüber.“ (Goethe an Herder, Frankfurt/ Main, Ende September/ Anfang Oktober 1771. In: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv hg. von Georg Kurscheidt [u. a.]. Berlin 2008ff., Bd. 1,I: 23. Mai 1764-30. Dezember 1772. Hg. von Elke Richter, Georg Kurscheidt, S. 218-222, hier S. 222.) 15 [Anonym]: Die Gedichte Oßians eines alten Celtischen Dichters, nach dem Englischen übersetzt von M. Denis aus der G. J. Erster Band […]. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1769. Bd. VIII, St. 1, S. 99-112, hier S. 99. 16 Schmidt: Homer des Nordens, Bd. I, S. 5 und S. 1f. Sonja Klein 62 Dämmerung um meinen Blick, in meine Seele.“ 17 Lenz bekennt in einem Brief an Goethe schwungvoll, er „stürm[e] mit Ossians Helden hinein das alte Erdengefühl in ihnen aufzuwecken“, damit „wirs ausführen können was ich mit ganzer Seele strebe, auf Heid und Hügel deine Helden wieder naturalisieren“. 18 Johann Georg Schlosser schreibt zur selben Zeit in seinem Prinz Tandi an den Verfasser des neuen Menoza: „Dann fuhr ich auf den Winden in Ossians Haiden [...] und ergoß meine ganze Seele in Trost des Verlassenen“. 19 Und Goethe wird sich in Dichtung und Wahrheit rückblickend erinnern: [...] so hatte uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo wir denn auf grauer, unendlicher Heide, unter vorstarrenden bemoosten Grabsteinen wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und einen schwer bewölkten Himmel über uns erblickten. Bei Mondenschein ward dann erst diese caledonische Nacht zum Tage; untergegangene Helden, verblühte Mädchen umschwebten uns, bis wir zuletzt den Geist von Loda wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken glaubten. 20 Der schwärmerisch-düstere Tonfall, den der Weimarer Geheime Rat aus der Distanz des Alters ironisch demaskiert, bestimmt doch zu seiner Jugendzeit nahezu alle dichterischen Zeugnisse seines Umkreises, die sich in ihrer sprachlichen Gestaltung wie in den aufgerufenen Versatzstücken der Naturdarstellung auf erstaunliche Weise gleichen: Es stürmt und windet über schroffe Hügel, karge Heidelandschaften, Friedhöfe und bewegte Wasserfluten, die stets von zwielichtigem Dämmerschein oder fahlem Mond beleuchtet werden. Und diese Epigonalität, ja nahezu Simplizität der Variation der übernommenen ossianischen Muster muss aus der Retrospektive insofern um so mehr überraschen, als doch gerade innerhalb dieser Äußerungen die eigene Originalität und Schöpferkraft sich neu zu entdecken und auszudrücken behauptet. Die Rezeption Ossians - der hier als Kronzeuge des individuellen Stils und der Einzigartigkeit des kreativen Genius figuriert - erschöpft sich so trotz aller Emphase in ihrer frühen Entwicklungsstufe nicht selten in der reinen Imitatio, die letztlich künstlerisch folgenlos bleiben muss. Ungeachtet aller neuen Impulse, die Ossian dem dichterischen Schaffen zunächst zu geben imstande ist, münden diese doch 17 Passage aus der ersten Entwurfsstufe zu dem Text: Homer und Ossian. Söhne der Zeit. In: Herder: Werke, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie. 1792-1800. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/ Main 1998, S. 1000. 18 Brief von Lenz an Goethe vom Februar 1775 [Straßburg]. In: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. Leipzig 1987, Bd. III, S. 306. 19 Johann Georg Schlosser: Prinz Tandi an den Verfasser des neuen Menoza. In: Ders.: Kleine Schriften. 6 Bde. Basel 1779-1793 [Reprint: New York/ London 1972], Zweyther Teil, Basel 1780, S. 261-280, hier S. 266. 20 FA 1 XIV, S. 633. Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 63 zuletzt an dem Ort, den sie gleichsam zu überwinden geglaubt hatten: der Nachahmung bereits vorgegebener Muster, die nun zwar eine Ablösung von der als streng empfundenen romanischen Tradition erlauben, jedoch zugleich - trotz allen stürmischen Gebarens - eine neue Abhängigkeit schaffen. Dieses Paradoxon, auf das bereits Goethe in seiner Autobiographie implizit verweist, bezeigt, dass der fremdsprachige Text sich zwar in die Zielsprache übersetzen und davon ausgehend variieren lässt. Der eigentliche Übertrag und die Integration in die deutsche Kultur aber, das, was Goethe später in seinen Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan mit „eingedeutschte Fremde“ bezeichnen wird, 21 die in der Folge auch eigenständige, authentische Kunstwerke hervorbringen müsste, bleibt vorerst aus. Das kulturell Andere der Texte Ossians wird in seiner Fremdartigkeit imitiert, kann aber nicht produktiv in ein dichterisch Eigenes verwandelt werden. Und so gelingt es innerhalb der angefertigten Ossian- Übersetzungen zwar, wie Goethe es 1813 in einer Rede zum Angedenken des kürzlich verstorbenen Christoph Martin Wieland formuliert, den „Autor einer fremden Nation zu uns herüber“ zu bringen. Der wichtige Folgeschritt, ihn gleichsam auch zum „unsrigen“ zu machen, 22 scheint jedoch zunächst verfehlt. Goethe ist unter den ersten, denen dies deutlich wird, und so ist seine Liebe zu den keltischen Gesängen bereits merklich abgekühlt, 23 als er sich 1774 daran begibt, seinen Werther zu verfassen. Letzterer aber sollte den Höhepunkt der „Ossianomanie“ beim deutschen Lesepublikum erst auslösen. 2. Tatsächlich war es einer fiktionalen Figur vorbehalten, den ebenfalls erfundenen Sänger Ossian zu einer europaweiten Popularität zu führen, die die bisher verfertigten Übersetzungen und auch die seit 1773 von Goethe und Johann Heinrich Merck herausgegebene originalsprachige Gesamtausgabe 21 FA 1 III/ 1, S. 281. 22 Ebd., XVII, S. 438. 23 Vgl. u. a. Schmidt, der festhält, dass „Goethes Faszination für Ossian zu diesem Zeitpunkt bereits rückläufig“ sei (Homer des Nordens, Bd. II, S. 732) und Gustav Adolf Koenig: „Unter demselben Gesichtspunkt des inneren Abstandes, wie er zwischen Goethe und seiner Romangestalt besteht, muß aber auch sein Verhältnis zum Ossian gesehen werden. […] Der Ossian ist jetzt bereits weit davon entfernt, ihm wirklich noch etwas zu bedeuten.“ (Ossian und Goethe. Diss. Marburg 1959 [nicht publiziert, maschinenschriftliches Typoskript], S. 45f.) Sonja Klein 64 der Works of Ossian 24 nicht hatten erreichen können. Alle Welt las den Werther und Werther seinerseits las Ossian, der ihn auf seinem Weg in den Tod als prägende Lektüre begleitet und die letzte Begegnung mit Lotte durch die eingerückte und von Goethe selbst verfertigte Übersetzungspassage aus den Songs of Selma und dem Berrathon intertextuell überformt. Auf letztere wird denn so auch meist zuerst und zuweilen ausschließlich verwiesen, wenn von Goethes Anteil an der Beliebtheit Ossians im deutschen Sprachraum die Rede ist. Bereits Gustav Adolf Koenig, der sich bis zu Schmidts Untersuchung „erstaunlicherweise fast als einziger“ mit Goethes Ossianrezeption „näher befaßt hat“, 25 verweist in seiner unveröffentlicht gebliebenen, jedoch noch immer maßgeblichen Dissertation von 1958 gleich zu Anfang seines Werther-Kapitels auf den Umstand, dass dem zeitgenössischen Lesepublikum „hier eine neue, bald viel bewunderte Ossianübertragung geschenkt wurde - nach dem damaligen Urteil, aber auch nach dem heutigen die schönste in deutscher Sprache überhaupt“. Aus diesem Grunde sei die „Erinnerung an Ossian […] in Deutschland bis heute […] in erster Linie an ‚Die Leiden des jungen Werther‘ geknüpft“. 26 Gleichfalls betont Philip Howard Gaskill hinsichtlich der Wirkung Ossians die Rolle der „brillanten Übersetzung“ 27 innerhalb des Goetheschen Briefromans. Als „brillant“ wie außerordentlich „schön“ mochte und mag sie deshalb gelten, da Goethe hier, nach seiner ersten, philologisch genauen Interlinearversion von 1771, freier übersetzte und Diktion wie Rhythmus in eine eigene poetische Sprache übertrug - und man darf vermuten, dass diese übersetzerische Freiheit erst durch die gewachsene Distanz des Dichters zu seinem Quelltext möglich wurde. Die Rolle des Werthers innerhalb der Ossianrezeption solcherart auf die übersetzten Passagen zu fokussieren, mag zunächst naheliegen, auch deshalb, da sie immerhin knapp „sieben Prozent des gesamten Textvolumens“ 28 des Briefromans einnehmen. Gleichsam übersieht eine solche Deutung, dass die eingerückte Übertragung nur einen Moment - wiewohl den Höhepunkt - der Affinität Werthers zu dem keltischen Text und den emotionalen Schlusspunkt einer Annäherung an Ossian bildet, die Goethe innerhalb der Briefe Stück nach Stück erst aufbaut und, durch implizite wie explizite Textverweise, stetig steigert, um sie schließlich in der Leseszene zu Ende des Romans in einem letzten Akt kathartisch kulminieren zu lassen. 24 Works of Ossian. [Hg. von Johann Heinrich Merck, Johann Wolfgang Goethe.] 4 Bde. Bd. I [Darmstadt 1773], Bd. II [Ebd. 1774], Bd. III/ IV: Frankfurt/ Leipzig 1777. 25 Philip Howard Gaskill: Ossian. In: Goethe Handbuch in vier Bänden. Hg. von Bernd Witte [u. a.]. Stuttgart/ Weimar 1998, Bd. IV/ 2: Personen. Sachen. Begriffe. L-Z, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, S. 823f., hier S. 824. 26 Koenig: Ossian und Goethe, S. 43. 27 Gaskill: Ossian, S. 823. 28 Schmidt: Homer des Nordens, Bd. II, S. 773. Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 65 Selbst diejenigen Studien, welche die Bezüge innerhalb des gesamten Romans herauszuarbeiten suchen, unterscheiden dabei häufig zwischen den ersten Teilen der Briefe, innerhalb derer Werther selbst entweder ausdrücklich oder versteckt auf seine Ossian-Lektüren verweist, und der übersetzten Passage, die konkret zitierend verfährt. 29 Dass beide Arten des Rekurses auf Ossian jedoch untrennbar miteinander verknüpft sind und in ihrer Folge einer wohldurchdachten Dramaturgie folgen, wird ausschließlich mit der Entwicklung Werthers und seinem allmählichen Weg in den Suizid in Verbindung gesetzt. 30 Die Hinwendung Werthers zu Ossian auf Kosten Homers, die sich auch in dem vielzitierten Satz, „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt“, 31 ausdrückt, erscheint zu Recht als Spiegelung der seelischen Disposition und der, in der bevorzugten Lektüre sich manifestierenden, „Krankheit zum Tode“ des Protagonisten. 32 So hält auch noch Nicolas Boyle fest: „[…] die klaren homerischen Vignetten der frühen Briefe weichen wilden, aber unkonturierten ossianischen Landschaften; anstelle der tausend Einzelheiten, die Werther im Frühling seines Herzens erlebte, gibt es jetzt nur Mondlicht, Hochwasser und Winterstürme.“ 33 Auf diese Weise entsteht durch Werthers sich wandelnde Naturbetrachtung eine sich verdüsternde Korrespondenzlandschaft seines Inneren, eine Landschaft ossianischer Prägung, die auf den Freitod als letzte Konsequenz vorausweist. Doch nicht nur für die literarische Figur und die poetische Gestaltung ihres sich folgerichtig vollziehenden Scheiterns ist Werthers schrittweise Identifikation mit dem keltischen Text von Bedeutung. Sie erklärt auch und letztlich einzig den enormen Effekt, den Goethes Übertragung beim zeitgenössischen Publikum erreichte und die nachfolgende endgültige Etablierung Ossians innerhalb der deutschen Kulturlandschaft. 29 Vgl. hierzu u. a.: „[…] Goethe führt an zwei entscheidenden Stellen Ossian ein: als Motiv der Empfindung und Reflexion seines Helden und als Zitat.“ (Hanna Hohl, Hélène Toussaint: Ossian und die Kunst um 1800. München 1974, S. 18.) 30 Selbst Schmidt, den immerhin die Ossianrezeption und nicht die allgemeine Konzeption des Briefromans beschäftigt, bleibt in seiner Deutung hauptsächlich darauf beschränkt, den „Rekurs auf die Gedichte des keltischen Barden“ als „einen weitergehenden Akt der Sinnkonstitution“ zu lesen, der „den zunehmenden poetischen Distanzverlust Werthers und das allmähliche Aufgehen seiner Identität im ‚Lesestoff‘“ abbildet. (Schmidt: Homer des Nordens, Bd. II, S. 761; S. 770.) 31 FA 1 VIII, S. 171. 32 Ebd., S. 99. 33 Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. 2 Bde. Frankfurt/ Main, Leipzig 2004, Bd. I: 1749-1790, S. 207f. Sonja Klein 66 3. Die erste namentliche Erwähnung des keltischen Barden findet sich in Werthers Brief vom 10. Julius, einem der kürzesten, wenngleich in diesem Zusammenhang bedeutendsten Schreiben innerhalb des gesamten Konvolutes: Die alberne Figur die ich mache wenn in Gesellschaft von ihr gesprochen wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie sie mir gefällt? - Gefällt! das Wort hasse ich auf den Tod! Was muß das für ein Mensch seyn, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinnen, alle Empfindungen ausfüllt! Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie mir Ossian gefiele! 34 Zwar vermerkt der Stellenkommentar der Frankfurter Ausgabe zu diesem Brief lakonisch: „Erste beiläufige Erwähnung von James Macphersons Dichtung“ (Ebd., S. 966), ganz im Gegenteil jedoch fällt diese Erstnennung Ossians alles andere als en passant. Zunächst werden bereits an dieser Stelle die Lektüre Ossians und die erwachsende Liebe zu Lotte von Werther in eine untrennbare Beziehung zueinander gesetzt, 35 indem sie ihm beide als Phänomene erscheinen, die zwar alle seine „Sinnen, alle Empfindungen“ ausfüllen, gerade aus diesem Grunde jedoch von ihm nicht mehr mit Worten zu beschreiben sind. Und diese Unfähigkeit der sprachlichen Artikulation, die Werther in der Natur, der Liebe, dem Tod und eben überall dort begegnet, wo sein Herz partizipiert, drückt sich deutlich in der ebenso verständnislosen wie durch die Satzzeichen zusätzlich akzentuierten 36 Wiederholung des Wortes „gefallen“ aus, das sich in unterschiedlicher Flexion immerhin fünf Mal innerhalb des kurzen Briefes findet. Ungleich zu Werthers Empörung über dieses ihm herz- und wesenlos erscheinende Wort kann er diesem jedoch keine eigene Sprache entgegensetzen. Der Rekurs auf Ossian zu Ende des Schreibens weist so bereits auf die Stellvertreterfunktion, die die Sprache der keltischen Gesänge innerhalb der Wortlosigkeit Werthers einnehmen muss, bis sie schließlich - in der Leseszene - den Protagonisten ganz verstummen macht. Auf diese Weise wird Ossian schon in diesem frühen Brief als das spätere Medium des „empfindsamen Liebesdiskurses“, 37 der zu keiner eigenen Ausdrucksform findet und auf das Epigonale angewiesen bleibt, gekennzeichnet. 34 FA 1 VIII, S. 75. 35 Vgl. hierzu bereits Koenig: „Interessant ist der Zusammenhang, in dem dieser erste Hinweis auf den Ossian fällt: er wird mit Lotte […] in enge Verbindung gebracht. Zu beiden, zu der Dichtung wie zu dem geliebten Mädchen, steht er in einer ganz vom Gefühl bestimmen Beziehung.“ (Ossian und Goethe, S. 48) 36 Goethe verstärkt den Gebrauch der Ausrufungszeichen in der zweiten Fassung des Werther. 37 Vgl. Schmidt: „Darüber hinaus macht er [Werther] Ossian - wie schon Herder - zum Medium seines empfindsamen Liebesdiskurses.“ (Homer des Nordens, Bd. II, S. 774) Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 67 In diesem Kontext jedoch weitaus bedeutsamer ist die Tatsache, dass Werther Ossian und Lotte nicht nur durch die Unmöglichkeit des reinen „Gefallens“ wie der sprachlichen Beschreibung miteinander verbindet, sondern dass er sein Schreiben mit dem erratischen Hinweis auf den Kelten abrupt beendet. Somit schließt der Brief, im Sinne der Steigerung, mit dem eigentlichen Skandalon: der Frage, welchem Menschen der Ossian rein „gefallen“ könne. Entgegen dem vermeintlichen Sujet des mitgeteilten Schreibens steht so nicht eigentlich Lotte im Zentrum der Betrachtung, sondern Ossian. Werthers Verärgerung über die verständnislose Rezeption eines unbenannt bleibenden Lesers überlagert die Liebesthematik, sein Fokus verschiebt sich von der realen Erfahrung in die fiktionale Welt der Literatur. Dass der Brief an eben dieser Stelle abbricht und keine weitere Erläuterung hinzufügt - wie sie immerhin bei Lotte in der wenngleich etwas hilflosen Bemerkung, sie fülle alle „Sinnen“ und „Empfindungen“ aus, noch versucht wird -, bedeutet dem Leser damit bereits hier, dass die Bindung an Lotte weniger eine real existierende, denn durch die Kunst überformte, literarisierte Liebe ist. Wie sein Schöpfer durch Ossian „ans letzte Thule gelockt“, verleiht auch Werther seiner Geliebten und der aussichtslosen Beziehung zu ihr im Verlaufe des Romans erst durch die Bindung an den ossianischen Subtext ihre Einzigartigkeit. Werther, so möchte man sagen, liebt nicht Lotte, sondern das Bild, das er mithilfe literarischer Intertexte von ihr entwirft - eine Überblendung, die sich, wenn auch verhalten, demnach schon in der ersten Erwähnung Ossians andeutet. Gespiegelt und gleichsam deutlicher konturiert wird diese These, wenn Werthers sich wandelnde Sicht der Natur in Betracht gezogen wird. Ihre ebenfalls „unaussprechliche Schönheit“ führt ihn zu demselben Reflex der literarischen Übertragung, 38 der sich auch in seinem Liebesverhältnis offenbart, wie der Brief vom „12. Oct.“ ganz explizit betont: Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Haide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her im Gebrülle des Waldstroms halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Höhlen und die Wehklagen des zu Tode sich jammernden Mädchens, um die vier moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des Edelgefallnen ihres Geliebten. 39 Der „Herrliche“ und damit die Literatur führen Werther in eine neue „Welt“, die jedoch nicht nur phantastisch, sondern auch ganz konkret erlebbar ist. Denn die Welt, die die Lektüre Ossians ihm erschließt, bezeichnet in diesem Brief keinen rein literarischen Regressionsraum, meint keinen Ort der bloßen Vorstellung, sondern auch eine konkrete Um-Welt, die nun 38 FA 1 VIII, S. 13. (Kursivierung S. K.) 39 Ebd., 171ff. Sonja Klein 68 durch die subjektive Wahrnehmung verändert erscheint. Dies zeigt sich bereits darin, dass Werther diese neue „Welt“ nicht allein in geistiger, sondern auch körperlicher Intensität empfinden kann, wenn er „über die Haide, umsaust vom Sturmwinde“ wandert. Als ossianischer „Wanderer“, als der er sich zu Ende des Briefes noch einmal zitierend stilisiert, 40 ist er doch zugleich ein Wanderer, der die Gegend um Wahlheim durchstreift. Auch wenn „[k]eine andere Partie aus dem Roman […] so eindeutig alle Merkmale einer Prägung durch den Ossian“ 41 trägt, so wird doch auch nirgends so eindeutig auf eben jenen Prätext durch Werther selbst verwiesen. Noch nicht geht es an dieser Stelle also um einen „poetischen Distanzverlust“ 42 des Protagonisten, den die bisherige Forschung zu bemerken meint, sondern ganz im Gegenteil um die wenngleich gefahrvolle, so doch gelungene Synthese zwischen Literatur und Welt, die in ihren jeweiligen Grenzen stets sichtbar bleiben. Denn dass Ossian den Vordergrund zu dieser Naturkulisse bildet, ist Werther ebenso bewusst wie seinem Leser und wird gleich zu Beginn des Briefes deutlich ausgesprochen („Welch eine Welt in die der Herrliche mich führt! “). Das Element des Fiktionalen innerhalb des eigenen Erlebens wird zu diesem Zeitpunkt so trotz aller Verschmelzungen immer noch als ein solches anerkannt und entsprechend markiert. Durch dieses poetische Verfahren wird nicht nur Werther, sondern auch sein Leser in die Möglichkeiten eingeführt, eine bekannte Welt mithilfe der Literatur zu verfremden und auf neue Weise zu empfinden. Ganz konkret erlebt der Leser die Verwandlung der ländlichen, ihm in ähnlicher Gestalt wohl bekannten Idylle mit selbstgeernteten Zuckerschoten, grünenden Linden und weiten Tälern in eine vom Sturm zerzauste terra incognita. Goethe und sein Protagonist nehmen hierin demnach eine Poetik vorweg, die erst über zwanzig Jahre später in die programmatische frühromantische Formel gerinnen wird: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“. 43 Goethes Werther, der seine Umwelt wie seine Liebe innerhalb eines als beengend und banal empfundenen bürgerlichen Daseins durch die Mittel der Literatur „romantsirt“, verarbeitet in dieser Hinsicht nicht nur die unlösbaren Aporien des Sturm und Drang, sondern nimmt zugleich diejenigen der Romantik - die erst in ihrer späten Phase in dem entweder betont 40 „Der Wanderer wird kommen, kommen! der mich kannte in meiner Schönheit und fragen: Wo ist der Sänger, Fingals trefflicher Sohn? Sein Fußtritt geht über mein Grab hin und er fragt vergebens nach mir auf der Erde“. (FA 1 VIII, S. 173) 41 Koenig: Ossian und Goethe, S. 55. 42 Schmidt: Homer des Nordens, Bd. II, S. 770. 43 Novalis: Logologische Fragmente, Nr. 105. In: Ders.: Schriften, Bd. II: Das philosophische Werk I, S. 545. Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 69 Märchenhaften der Handlung oder dem Realitätsverlust und den Wahnvorstellungen ihres literarischen Personals sichtbar werden - nahezu prophetisch vorweg. 4. Welche Gefahren sich jedoch hinter diesem phantastischen Spiel von Literatur und Leben verbergen, zeigt sich - getreu der schrittweisen Steigerung der Annäherung an Ossian, die Goethes Roman kunstvoll inszeniert - zwei Monate später in Werthers Brief vom 12. Dezember, der die Überschwemmung seines „liebe[n] Thal[s]“ schildert. 44 Dort heißt es: Nachts nach eilfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Thal hinauf und hinab Eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn denn der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich-herrlichem Widerschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer und wieder ein Sehnen! Ach mit offnen Armen stand ich gegen den Abgrund und athmete hinab! hinab! 45 Diese Überschwemmung, unter der der vertraute Anblick des Tales wie für immer entschwunden scheint und die die friedliche deutsche Landschaft in ein ossianisches Flut- und Sturmgebiet verwandelt, ist als Metapher der endgültigen Verzerrung der Perspektive durch die Lektüre zu begreifen. Denn das Chaotische der „wühlenden Fluthen“ spiegelt nicht nur Werthers allgemeinen Seelenzustand, der dem Selbstmord bereits gefährlich nahe gerückt ist, sondern auch ganz im Speziellen die „Überflutung“ seiner Wahrnehmung der Realität durch die keltische Bilderwelt, unter der nun jegliche rationale Distanz verschwunden ist. So merkt auch Schmidt zu diesem Schreiben an, dass „Werthers und Macphersons Diktion […] kaum mehr zu unterscheiden“ 46 seien. Hatte Werther sich in seinen vorhergehenden Briefen - und sogar bereits von seinem ersten Schreiben an - ossianischer Bilder und Sprache bedient, so war dies zunächst noch Teil einer zuweilen nahezu lustvollen Selbststilisierung. Ossians Wuthering Heights kompensierten in dieser Hinsicht nicht nur die empfundene Enge und Ereignislosigkeit seines bürgerlichen Alltags, sondern auch den eigenen kreativen Mangel. Sie erlaubten dem verhinderten Künstler 47 Werther für kurze 44 In der Erstfassung findet sich dieser Brief unter dem Datum des „8. Dez.“. Vgl. FA 1 VIII, S. 194ff. 45 FA 1 VIII, S. 213. 46 Schmidt: Homer des Nordens, Bd. II, S. 771. 47 Vgl. hierzu u. a. Gerhard Kurz: Werther als Künstler. In: Invaliden des Apoll. Motive und Mythen des Dichterleids. Hg. von Herbert Anton. München 1982, S. 95-112. Sonja Klein 70 Zeit, sich im eigentlich Epigonalen der eigenen Originalität zu versichern und der vergeblichen Suche nach einer individuellen Sprache, die sich in jedem seiner Briefe ausdrückt, die sich angeeignete Diktion Ossians einstweilen entgegenzusetzen. Ähnlich Herder und anderen Stürmern und Drängern „schwärmt“ er „auf jenen dürren Hügeln“, träumt von „jenen Wildnissen voll heiligen Schauers“, 48 ist sich aber zugleich durch den wiederholten Rekurs auf Ossian, durch die verwendeten Zitate und Bilder, die er in seine Briefe einflicht, stets noch der eigenen literarischen Inszenierung, die er als kreativen Ersatzakt begreift, bewusst. Im Brief vom 12. Dezember jedoch ist dieses Bewusstsein vollkommen geschwunden. Wie sehr die Kunst - zumal die eines anderen - und das Leben sich hier nun untrennbar ineinander verwoben haben, zeigt sich, wenn der zitierte Briefausschnitt in einer weiteren Passage gespiegelt wird, die innerhalb des Romans mit nur kurzem Seitenwie auch zeitlichem Abstand auf die Flutszene folgt: Es ist Nacht! - ich bin allein, verlohren auf dem stürmischen Hügel. Der Wind saust im Gebirge, der Strom heult den Felsen hinab. [...] Tritt, o Mond, aus deinen Wolken! [...] Der Strom und der Sturm saust [...] Sieh’ der Mond erscheint, die Fluth glänzt im Thale, die Felsen stehen grau, den Hügel hinauf [...] O von dem Felsen des Hügels, von dem Gipfel des stürmenden Berges, redet Geister der Todten! [...] Keine schwache Stimme vernehme ich im Winde, keine wehende Antwort im Sturme des Hügels. 49 Die erstaunliche und bisher in der Forschung noch nicht thematisierte 50 Parallelität beider Szenen ergibt sich zugleich auf motivischer, sprachlicher, kontextueller und metaphorischer Ebene. Zunächst gleicht sich das jeweils aufgerufene Inventar der Natur in nahezu all seinen Bestandteilen: Felsen, Flut, Mond und Mondlicht, Wind, Sturm, Strom/ See, Wolken. Auch die sprachliche Gestaltung greift auf ähnliche Formulierungen zurück: „im Sausen des Windes“ / „Der Wind saust“; „vom Fels herunter“ / „den Felsen hinab“. Gleichfalls erscheint in beiden Passagen das in den Fluten gespiegelte Licht des wieder hervortretenden Mondes, sein „fürchterlich[...]herrliche[r] Widerschein“, in dem „die Fluth glänzt“, als ein Zeichen des situativen Umbruchs. Zudem ist die Position des Betrachters und Beschreibenden in der Zeit wie im Raum dieselbe. Beide befinden sich mitten in der 48 Herder: Werke, Bd. V, S. 1000. 49 FA 1 VIII, S. 233ff. 50 Koenig, der viele Bezüge zu Ossian im Werther sehr detailliert aufzeigt, schreibt zu dieser Passage nur: „Auch in dieser eindrucksvollen Schilderung der Hochwasserkatastrophe sind ossianische Elemente deutlich erkennbar […].“ (Goethe und Ossian, S. 59) Schmidt, der sich hier auf Koenigs Darstellung beruft, findet eine ähnliche Formulierung, jedoch ebenfalls ohne entsprechende, konkrete Textbezüge aufzuführen: „Werthers und Macphersons Diktion sind nun kaum mehr zu unterscheiden.“ (Homer des Nordens, Bd. II, S. 771) Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 71 Nacht auf der erhobenen Beobachterposition eines Hügels, der ihnen den Blick in das sturmdurchtoste Tal gewährt. Entgegen der ersten Schilderung entstammt die zweite zitierte Passage jedoch keinem Brief, sondern dem Klagemonolog der Colma, den Werther vor Lotte liest. So offenbart sich, dass Werther aus diesem - gleich Puzzleteilen - nahezu alle Einzelheiten seiner Schilderung der Überschwemmung entnimmt. Das Naturbild, welches sich ihm in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember im Leben offenbart, wird allein von der Dichtung, von Ossian gestaltet, dessen literarische Bildlichkeit Werther auf seine Ansicht der Szenerie im Tal so sehr überträgt, dass Literatur und Leben - wie anhand der so ähnlichen Passagen aufgezeigt - kaum mehr variieren. In diesem Sinne hat „Ossian in [s]einem Herzen“ nicht nur „den Homer verdrängt“, sondern auch die Möglichkeit der eigenen Welterfahrung und -darstellung. Für die Ossian-Rezeption und die Struktur des Romans ist der Brief vom 12. Dezember vor allem deshalb von zentraler Bedeutung, da hier das nicht markierte ossianische Zitat ganz überraschend dem Prätext vorausgeht - immerhin wird letzterer dem Leser erst einige Seiten später, in der Leseszene, mitgeteilt. Und wie sich auch an der Forschungssituation zeigt, die - trotz der nun greifbaren umfangreichen Studien zu Goethe und Ossian - die Parallelität beider Szenen bisher nicht detailliert herausgearbeitet hat, bleibt die intertextuelle Struktur des Wertherschen Flut-Briefes durch die zeitliche Umkehrung der Reihenfolge von Urtext und Zitat verdeckt. Der Leser kann die Korrespondenz beider Passagen und die exakte Provenienz der Schilderungen Werthers nur durch Zurückblättern oder eine wiederholte Lektüre entdecken. Tut er dies nicht, so liest er aus dem Brief vom „12. Dec.“ die Schilderung einer zwar durch die Flut zerstörten, aber doch deutschen Landschaft, die später in den keltischen Gesängen auf sonderbare Weise „wieder“ auftauchen wird und damit vermeintliche Ähnlichkeiten zum fremden Kulturraum aufweist. In diesem Sinne erscheinen die Übersetzungspassagen aus dem Klagemonolog und dem Berrathon innerhalb des Leseprozesses als ein bereits Bekanntes. Sie rufen Bilder auf, denen der Leser im Romankontext schon einmal begegnet ist, die eine Sprache sprechen, die ihm durch die Stimme Werthers schon vertraut scheint. Auf diese Weise findet der Leser nicht nur Ossian im Werther, sondern vor allem Werther im Ossian. 5. Erst und vielleicht nur vor diesem Hintergrund offenbart sich, weshalb die in den Roman integrierten Übersetzungen Goethes, die als dramatischer Schlusspunkt seiner Annäherung an Ossian fungieren, eine derart nachhaltige Wirkung bei seinem zeitgenössischen Lesepublikum erreichen konnten, Sonja Klein 72 die sich bereits an den frühesten Reaktionen ablesen lässt. So schreibt eine Leserin der ersten Stunde an ihre Freundin am 16. Dezember 1774: „Doch genug - genug, ich will nur noch soviel sagen daß ich nie ein Buch gelesen habe, welches mich mit solch Theilnehmender Empfindung angestekt hätte - Mir schauderte bey dem Auftritt wo Er den ossian vorliest“. 51 Wie stark die „Theilnehmende[ ] Empfindung“ der Lektüre hier tatsächlich wirkt, offenbart sich durch das Bekenntnis des eigenen Schauderns. Von dem „Schauer“, der Lotte im Roman durch die Rezitation Ossians „überfällt“, 52 ist laut eigener Mitteilung auch die Briefeschreiberin Auguste affiziert, die dadurch einen fiktionalen Affekt der Romanprotagonistin in ihre reale Lebenserfahrung übernimmt. 53 Wohlgemerkt wird in diesem erstaunlichen Übertragungsphänomen - das nicht allein auf die für die empfindsame Briefkultur des 18. Jahrhunderts bezeichnende nachfühlende Anteilnahme zurückzuführen ist - der Schauer nicht hauptsächlich durch den Ossian-Text ausgelöst. Ganz deutlich wird in der Epistel darauf verwiesen, dass es vielmehr Werther ist, der hier den großen Effekt erreicht, indem „Er den ossian vorliest“ [Kursivierung, S. K.]. Dass es der Schreiberin während des Lesens „schauderte“, wird demnach nicht eigentlich durch die Passagen aus den Songs of Selma bedingt, sondern durch die sie einbettende Situation Lottes und Werthers, die von ihr nachvollzogen wird. Auguste liest nicht Ossian, sie liest Werthers Vortrag des Ossian und dadurch auch - und dies ist ganz entscheidend - den damit einhergehenden Kontext einer bereits bekannten Stimme wie Stimmung und der letzten Begegnung und endgültigen Trennung der unglücklich Liebenden im Amtmannshaus. Was Ossians Dichtung isoliert an Wirkung auf den deutschen Leser verfehlen müsste, wird durch die identitätsstiftende Figur des Werther, der Stück nach Stück auf die Begegnung mit Ossian vorbereitet hat, aufgefangen, die Aussage des keltischen Textes nur durch ihn um ein Vielfaches potenziert und mit weiteren Bedeutungskomponenten aufgeladen, die der Urtext in dieser Form nicht bereithält. In diesem Sinne ist die zitierte Briefpassage als paradigmatisch für die allgemeine Rezeption der Ossian-Ausschnitte im Roman zu betrachten. Denn während innerhalb früherer Übersetzungen das Fremde der sturmdurchtosten Welt Ossians noch ungemindert in den eigentlichen, gewohnten Lebenskontext seiner Leser einbricht und mit diesem kontrastiert, vernimmt das Publikum des Goetheschen Briefromans den keltischen Bardengesang 51 Zit. nach Fritz Adolf Hünich: Aus der Wertherzeit. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 4 (1924), S. 249-281, hier S. 257. 52 Vgl. FA 1 VIII, S. 245: „[...] ein Schauer überfiel sie [...].“ 53 Wie diese Übertragungen von der fiktionalen in die eigene Welt, die nachweislich von der Nachahmung von Werthers Kleidung bis zum Nachvollzug des Selbstmordes reichten, ohnehin als spezifisches Kennzeichen für die zeitgenössische Aufnahme des Romans gelten können. Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 73 bereits eingedeutscht, vernimmt ihn vorausgespiegelt in Werthers Diktion wie seinen verfremdeten Landschaftsbeschreibungen der Gegend um Wahlheim, vernimmt ihn schließlich aus einem heimeligen, deutschen Besuchszimmer mit Kanapee und Klavier. Während zuvor der Rezipient die Bezüge zwischen den Songs of Selma und dem eigenen Leben erst noch herstellen musste, ist diese Transferleistung für den Leser des Werther bereits geschehen. Er liest den von Goethe eingerückten Klagemonolog der Colma oder die Berrathon-Passage nicht mehr vor ihrem eigentlichen historischen Hintergrund, sondern vor der Folie des Lebens und der Leiden des jungen Werthers. Die in Goethes Roman integrierten Passagen Macphersons sind so bereits durchtränkt mit Bezügen, die auf einen - wenn auch fiktionalen, so dem Leser doch überaus vertrauten - deutschen Lebenskontext des 18. Jahrhunderts verweisen und in der Lektüre untrennbar mit diesem verflochten werden. In diesem Zusammenhang erlangt auch eine Formulierung Wilhelm Heinses besondere Bedeutung, der 1774 in seiner, wenn auch durch Jacobi arg geschmähten, 54 Iris-Rezension über Die Leiden des jungen Werthers schreibt: Auf „S. 193 können unsere Leserinnen den Celten Ossian in seiner Wahrheit kennen lernen“. 55 Diese Bemerkung scheint insofern zunächst verwunderlich, da doch bereits im Jahr zuvor der erste und im selben Jahr der zweite Band der von Goethe und Merck herausgegeben Works of Ossian erschienen waren, die den Text - neben den bereits erhältlichen Übertragungen ins Deutsche - in seiner Gänze nun auch leichter in der Originalsprache zugänglich machten. Die „Wahrheit“, von der Heinse hier spricht und in der die „Leserinnen“ den „Celten Ossian“ laut seiner Rezension im Werther endlich vorfinden sollen, kann sich demnach kaum allein auf eine sprachliche Ebene im Sinne der Exaktheit der Übersetzung und der Textgetreue beziehen. Vielmehr meint sie eine „Wahrheit“ der Empfindung, Wirkung und atmosphärischen Darstellung, die nur durch die Spiegelung Ossians in Werther erreicht wird. Implizit geht so bereits Heinse davon aus, dass sich der ‚wahre’ Ossian weniger in Übersetzungen oder originalsprachlichen Ausgaben offenbart, denn durch die Einbettung in Goethes Roman, der dem Text zugleich eine Handreichung der zu empfindenden Wirkung und eine bekannte Lebenswelt beigibt und auf diese Weise Fremdes mit Bekanntem durchmischt. 54 Vgl. Jacobis Brief an Goethe vom 21. Oktober 1774 in: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hg. von Michael Brüggen, Siegfried Sudhoff. 8 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981-2001, Reihe 1, Bd. I: Briefwechsel 1762-1775. Nr. 1-380. Hg. von Michael Brüggen, Siegfried Sudhoff. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 263-266. 55 [Wilhelm Heinse]: Rezension. Die Leiden des jungen Werthers. Leipzig, in der Weygandschen Buchhandlung 1774. In: Iris. 1. Bd., Düsseldorf 1774, 3. St., December, S. 78- 81, hier zit. nach Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf. 10 Bde. Leipzig 1902-1925, Bd. III,2: Kleine Schriften II. Leipzig 1908, S. 376. Sonja Klein 74 Ähnliches formuliert auch der Dichter Friedrich von Matthisson, wenn er in seiner Selbstbiographie den Werther gegenüber seinen einstigen Gegnern nachträglich mit den Worten verteidigt: Uebrigens läßt sich historisch darthun, daß von allen damals verwertherten Schuljünglingen zu Kloster Berge Goethe’s Meisterwerk nicht nur keinen zum Selbstmord verleitete, sondern vielmehr noch manche derselben angefeuert habe, sich näher mit Mutter Natur und ihren Schooßkindern Homer und Ossian zu befreunden. 56 Ohne dies näher auszuführen verweist der Verfasser doch ganz explizit auf die Vermittlungsfunktion des Romans für die in ihm zur Sprache kommenden Intertexte. Nicht aus eigenständigem Interesse „befreunden“ sich die genannten Schuljünglinge näher mit Homer und Ossian, sondern ihre Beschäftigung mit den Werken der Alten wird erst durch Werther, und die begeisterte Nachahmung, die jener auslöste, initiiert. Weder der Originaltext selbst also zeichnet verantwortlich für den Höhepunkt der „Ossianomanie“, noch sind es die deutschen Übertragungen, die nahezu eine ganze Nation dazu führen, im Bewusstsein des ossianischen „joy of grief“ in poetische Nebelschwaden und fahles Mondlicht einzutauchen. Es ist allein Werther, der den entscheidenden Schritt zur Popularisierung der Macphersonschen Dichtungen leistet. Erst in diesem Kontext auch entfalten die Worte, die Henry Crabb Robinson am 2. August 1829 gegenüber Goethe geäußert haben soll, ihre wahre Bedeutung: „The taste for Ossian is to be ascribed to you in a great measure. It was Werther that set the fashion.“ 57 Während Crabb Robinson also das Verdienst der Übersetzung und Popularisierung Ossians zunächst noch Goethe zuschreibt („is to be ascribed to you”), so zeigt doch sein Schlusssatz, wen er eigentlich für die Ossian-Begeisterung verantwortlich macht („It was Werther“), und stellt damit die literarische Figur über ihren geistigen Schöpfer. Sie, wenngleich erfunden, wird somit zum entscheidenden Vehikel einer zwar an Ossian rückgebundenen, jedoch in der Folge als deutsch erachteten Empfindsamkeit. 56 Friedrich von Matthisson: Selbstbiographie. Als Anhang zu seinen sämmtlichen Werken. Wien 1818, S. 22. 57 Henry Crabb Robinson: Nachtrag zum 2. August 1829. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann, ergänzt und hg. von Wolfgang Herwig. Zürich, Stuttgart 1965-1972, Bd. III, 2. Teil: 1825-1832. Zürich, Stuttgart 1972, S. 440. Goethes Ossian-Übersetzung oder Werthers Aufbruch in die deutsche Moderne 75 6. Es ist Werther, der Ossian auf diese Weise in die eigene Nationalkultur integriert, Identität und Alterität untrennbar miteinander verbindet und das eigentlich „Fremde“ - lange vor der integrierten Übersetzungspassage - durch die von ihm übernommenen und gespiegelten ossianischen Muster zum „unsrigen“ gemacht hat. 58 In diesem Sinne spricht Lotte an Werther gewandt auch ganz zu Recht von „Ihre[r] Übersetzung“ des Ossian. 59 Seine Briefe sind es, die den Leser behutsam dazu führen, sich unbemerkt in den fremden Text, „in seine Zustände, seinen Styl, seine Eigenheiten“ einzufinden. 60 In diesem Sinne leistet Goethe mit seinem Roman und dessen Protagonisten eine doppelte Übersetzung - eine erste, explizite auf sprachlicher Ebene und eine zweite, implizite, die die „Eigentümlichkeiten“ einer anderen Nation in den eigenen kulturellen Kontext überträgt. 61 Und er tut dies so nachhaltig, dass die Grenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur bis zur Unkenntlichkeit ineinander übergehen, so nachhaltig, dass Christian Graf zu Stolberg am 31. Dezember 1774 an Johann Heinrich Voß schreiben kann: „Das ist ein rechtes Nationalbuch. Denn wahrlich niemand als ein Deutscher konnte es schreiben, und kein anderer kann es nachempfinden.“ 62 Goethes Werther als „Nationalbuch“ ist gleichsam der erste deutsche Beitrag zur Weltliteratur, zu einer Weltliteratur, die sich jedoch nicht allein an ihrem Verbreitungsgrad und ihrem Eingang in das kulturelle Gedächtnis bemisst, sondern auch die Verschmelzung und gegenseitige Befruchtung unterschiedlicher Kulturen ganz bewusst voll- und vorführt. So ist der Roman nicht nur im Sinne des Identitätszerfalls, der Sprachlosigkeit und der vorromantischen Reflexe seines Protagonisten ein verfrühter Aufbruch in die deutsche Moderne. Er ist es auch und vor allem in seinem ernsten Spiel mit dem literarischen Zitat, einem Zitat, das zwar die deutsche Kultur des späten 18. Jahrhunderts und die der folgenden Jahrhunderte auf vielfältige Weise bereichert und prägt, zugleich aber durch seine Bruchstückhaftigkeit den Zerfall eines festgefügten Weltbildes in der Figur des Werther zum ersten Mal vor Augen führt und das Licht der Aufklärung in ossianische Nebel hüllt. 58 FA 1 XVII, S. 438. 59 Ebd., VIII, S. 231. (Kursivierung S. K.) 60 Ebd., XVII, S. 438. 61 Ebd., III/ 1, S. 280. 62 Brief von Christian Graf zu Stolberg an Johann HeinrichVoss, Kopenhagen, 31. Dezember 1774. (Zit. nach: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Hg. von Wilhelm Bode. 3 Bde. München 1982, Bd. I: 1749-1793, S. 95.) Christine Ivanovic „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente [...] weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen. 1 Hölderlins innerhalb nur weniger Jahre ab 1800 entstandene Pindar- und Sophokles-Übertragungen können aus mehreren Gründen Sonderstatus beanspruchen. Es sind extreme Beispiele der sogenannten verfremdenden Übersetzung, bis heute herausragende Paradigmen übersetzungswissenschaftlicher Debatten und zugleich Schlüsseltexte für das Verständnis von Hölderlins Spätwerk. Zweifellos stellen sie einen Höhepunkt in der Geschichte der Aneignung von Hauptwerken der griechischen Antike durch deutschsprachige Autoren dar. Während die Sophokles-Übertragungen 1803 noch durch Hölderlin selbst in den Druck gegeben, um poetologisch bedeutsame Anmerkungen ergänzt und ob der Fremdheit ihrer sprachlichen Fügung bereits von den Zeitgenossen ebenso fasziniert wie kritisch wahrgenommen wurden, 2 blieb seine umfangreiche Auseinandersetzung mit Pindar bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu unbekannt. 3 Hölderlin selbst fasste die Übertragungen 1 Die Texte von Hölderlin werden zitiert nach folgenden Ausgaben: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt/ Main 1992, hier Bd. 3, S. 467. (Im Folgenden mit der Sigle KA, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) Ferner: Johann Christian Friedrich Hölderlin: Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung hg. von Johann Kreuzer. Hamburg 1998. (Im Folgenden mit der Sigle ThSchr zitiert.) 2 Die Trauerspiele des Sophokles, übersetzt von Friedrich Hölderlin, Frankfurt/ Main 1804. Erster Band: Oedipus der Tyrann. Zweiter Band: Antigonä. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. u. a. den Bericht Varnhagens von Ense (KA III, 667f.) sowie die Aufstellung in der Grossen Stuttgarter Ausgabe. Hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart 1943- 1985, Bd. VII, 4, S. 95-107. Otto Pöggeler bezeichnet die Publikation dieser Übersetzungen als „Katastrophe“ für Hölderlin, den man gerade unter Hinweis darauf wenig später für wahnsinnig erklärte. Otto Pöggeler: Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin. München 2004, S. 79. 3 Vgl. allerdings den später berühmt gewordenen Brief Johann Isaak Gernings vom 11. Juli 1805 an Karl Ludwig von Knebel: „Hölderlin, der immer halb verrückt ist, zackert auch am Pindar.“ (Grosse Stuttgarter Ausgabe, VII, S. 2287.) Christine Ivanovic 78 von 1800, so Jochen Schmidt, wohl eher als „private Kunstübung“ auf; 4 sie waren von ihm nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen. Ihre Publikation durch Norbert von Hellingrath vor einhundert Jahren wurde dann zum initiatorischen Ereignis für die Wiederentdeckung Hölderlins in der Moderne. 5 Die späten Übersetzungen avancierten zu Leitparadigmen für die Hölderlin-Rezeption im 20. Jahrhundert: einmal im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Edition seiner Schriften, und zum anderen im Hinblick auf die Aneignung Hölderlins als Dichter Deutschlands. Hellingraths Edition der Pindar-Übertragungen zog mittelbar die Erarbeitung der ersten historischkritischen Werkausgabe nach sich. 6 Auch der seit den vierziger Jahren erarbeiteten Großen Stuttgarter Ausgabe ging die Marburger Dissertation Friedrich Beissners zu Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen von 1933 voraus. Hölderlins Auseinandersetzung mit der Antike, wie sie sich im weiteren Umfeld der Übersetzungen vor allem in den großen Hymnen der Spätzeit spiegelt, verführte im Blick auf die von ihm selbst geprägte Formel von der „vaterländischen Umkehr“ zur Konstruktion jener „abendländischen Wendung“, 7 die es schließlich ermöglichte, Hölderlin deutsch-national zu vereinnahmen, wie es noch bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorrangig die Interpretationen Heideggers belegen. Andererseits bemüht sich gerade die Hölderlinforschung der letzten Jahrzehnte dezidiert um eine Revision dieses Hölderlinbildes und um eine letzte streng philologisch orientierte Neuentdeckung des Dichters wiederum von seiner Auseinandersetzung mit der Antike her. In diesem Zusammenhang ist der editorische Neuansatz der Frankfurter Hölderlin Ausgabe ebenso verankert wie die akribischen Analysen, die Albrecht Seifert anhand der Pindar- Übertragungen und ihrer Bedeutung für die originäre Dichtung Hölderlins vorgelegt hat. 8 Eine vorläufig letzte Bestandsaufnahme formulierte Thomas Poiss. 9 Bis heute konzentriert sich die bei weitem noch nicht abgeschlossene Debatte um Hölderlins Pindar-Übertragungen vornehmlich auf zwei Aspekte: die detaillierte Analyse und Kritik der Übersetzungen in philologi- 4 KA II, 1289. 5 Vgl. Hölderlins Pindar-Übertragungen. Hg. von Norbert von Hellingrath. Berlin 1910 sowie Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911. 6 Vgl. die von Norbert von Hellingrath unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgte Ausgabe Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. München 1913-1923. 7 Wilhelm Michel: Hölderlins abendländische Wendung. Jena 1923. 8 Albrecht Seifert: Untersuchungen zu Hölderlins Pindar-Rezeption. München 1982; ders.: Hölderlin und Pindar. Hg. von Anke Bennholdt-Thomsen. Eggingen 1998. 9 Thomas Poiss: Hölderlins Pindar-Übersetzung. Voraussetzungen und Konsequenzen. In: Übersetzungen antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Martin Harbsmeier [u. a.]. Berlin, New York 2008, S. 189-205. „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 79 scher Hinsicht sowie die Untersuchung der Beziehung insbesondere der späten Hymnen Hölderlins zu seiner über die belegbaren Zeugnisse vermutlich weit hinausreichenden Auseinandersetzung mit Pindar. 10 Dabei richtet sich das Hauptinteresse der Forschung zum einen auf Stilfragen (etwa die auf Pindar zurückgehende und auch für Hölderlins Dichtung charakteristische „harte Fügung“ 11 ), zum anderen eben auf Hölderlins Konzept des Vaterländischen, das von der Idee „vaterländischen Gesangs“ (Gesang bei Hölderlin analog aufzufassen zum griechischen Begriff der Ode) bis zur „vaterländische[n] Umkehr“ reicht, wie Hölderlin sie in den Anmerkungen zur Antigonä anspricht. 12 Vorrangig bezieht man sich hier auf die sogenannte Große Pindar-Übertragung Hölderlins, nämlich die 1800 entstandenen und reinschriftlich in ein Oktavbuch eingetragenen Übersetzungen von insgesamt 17 Pindarischen Hymnen. Nach Abschluss dieser Arbeit, vermutlich auch nach der Übertragung der Antigonä und des Oedipus des Sophokles, hat sich Hölderlin dann 1803 oder spätestens 1805 noch einmal Pindar zugewandt und neun Fragmente des Dichters übersetzt. Im Gegensatz zur Großen Pindar-Übertragung, die gleichsam das Experiment einer Interlinearversion darstellt, das Hölderlin dazu diente, „ganz in den Sprachgeist des Originals einzudringen“, 13 übersetzt er die Fragmente Pindars eher im verfremdenden Stil und fügt jedem der übersetzten Fragmente noch einen in 10 Vgl. dazu neben den schon genannten u. a. die Arbeiten von Günther Zuntz: Über Hölderlins Pindar-Übersetzung. Diss. Marburg 1928; Maurice Bernhard Benn: Hölderlin und Pindar. Den Haag 1962; Markus Fink: Pindarfragmente. Neun Hölderlin- Deutungen. Tübingen 1982; Rainhold Nägele: Vatertext und Muttersprache. Pindar und das lyrische Subjekt in Hölderlins späterer Dichtung. In: Le pauvre Holterling 7 (1984), S. 39-52; Dieter Bremer, Christiane Lehle: Zu Hölderlins Pindar-Übersetzung. Kritischer Rückblick und mögliche Perspektiven. In: Neue Wege zu Hölderlin. Hg. von Uwe Beyer. Würzburg 1994, S. 71-111, ders.: Hölderlin als Pindar-Übersetzer. In: Hölderlin: Philosophie und Dichtung. Hg. von Valérie Lawitschka, Tübingen 2001, S. 157- 173, sowie die einschlägigen Artikel im Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hg. von Johann Kreuzer: Stuttgart, Weimar 2002, besonders von Bernhard Böschenstein: Übersetzungen (S. 270-289) sowie von Michael Franz: Pindarfragmente (S. 254-269). Erst seit Ende der neunziger Jahre begann man die Nachtgesänge versuchsweise als Gegenstück zu den Pindarfragmenten zu lesen und den Zusammenhang zu den neun Pindarfragmenten genauer zu untersuchen, vgl. u. a. Heike Bartel: „Centaurengesänge“. Friedrich Hölderlins „Pindarfragmente“. Würzburg 2000, S. 29-33. 11 Mit „harter Fügung“ übersetzte Hellingrath den Begriff der im Gegensatz zur „glatten Fügung“ ( ) aus der hellenistischen Rhetorik, wobei „in harter fügung möglichst das einzelne wort selbst taktische einheit sei/ in glatter dagegen das bild oder ein gedanklicher zusammenhang meist mehrere wörter sich unterordnend.“ (von Hellingrath: Pindarübertragungen, S. 1.) 12 „Denn vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen.“ (Anmerkungen zur Antigonä, KA II, 913-921, hier 919.) 13 Böchenstein: Übersetzungen, S. 275. Christine Ivanovic 80 Prosa frei formulierten eigenen Text hinzu, was die philologische Klassifizierung dieser Arbeit vor nicht geringe Probleme stellt. 14 Thomas Poiss hat für die Große Pindar-Übertragung vor nicht allzu langer Zeit den Begriff der „heuristischen Übersetzung“ vorgeschlagen. Dementsprechend ließen sich die Pindarfragmente als eine Art hermeneutischer Übersetzung beschreiben: Auf einer zweiten Stufe generiert Hölderlin in seinem transformativen Übersetzungsverfahren einen doppelten Text, wodurch er die duale Konstellation von Original und Übersetzung neu konfiguriert. Nun treten Übersetzung und poetischer Kommentar auf bisher ungekannte Weise in ein dialogisches Verhältnis. Ein prinzipiell ähnlicher Befund kennzeichnete bereits (so das Argument von Jochen Schmidt) die Anmerkungen zu den Sophokles-Übertragungen, wo Hölderlin den übersetzten Text im Kommentieren weiterdenkt; er nimmt ihn zum Ausgangspunkt, um die ihn seit dem Empedokles beschäftigenden Überlegungen zur Theorie der Tragödie fortzuführen. Auch den Pindarfragmenten lässt sich in vergleichbarer Weise ein theoretisch-poetologisches Interesse ablesen. Sie formulieren gleichsam „eine reflexive Hölderlinsche Poetik“ (Markus Fink), die der Dichter nun in geschichtsphilosophischen Zusammenhängen entfaltet, wenn er das Übersetzen hier auch im Blick auf das Verhältnis von Griechenland und Hesperien, respektive „der antiken und unserer Zustände“ reflektiert. 15 Trotz des prinzipiell unterschiedlichen übersetzerischen Verfahrens lässt sich in beiden Bereichen von Hölderlins Pindar-Übersetzung dasselbe produktive Spannungsverhältnis zwischen einem sprachlich innovativen übersetzerischen Ansatz und einer ihm korrespondierenden poet(olog)i schen Stellungnahme im Hinblick auf die Frage nach dem „vater ländi schen Gesang“ ausmachen, wie es vor allem in Bezug auf die Große Pindar-Übertragung und ihre Bedeutung für die späte Hymnik Hölderlins diskutiert wird. In den Pindarfragmenten formuliert Hölderlin seine Position jedoch nicht mehr im zweifachen - getrennten - Ansatz von Übersetzung und eigener (hymnischer) Dichtung, sondern in enger Verbindung von 14 Vgl. dazu Bernhard Böschenstein: Göttliche Instanz und irdische Antwort in Hölderlins drei Übersetzungsmodellen. Pindar: Hymnen - Sophokles - Pindar: Fragmente. In: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/ 95), S. 47-63. Aufgrund der zeitlichen und gedanklichen Nähe zu den Anmerkungen zum Oedipus (KA II, 849-857) sowie den Anmerkungen zur Antigonä werden die Übersetzungen der Pindar-Fragmente von Jochen Schmidt unter dem Titel Anmerkungen zu Pindar-Fragmenten aufgeführt (KA II, 767-773), im Unterschied zu D. E. Sattlers Klassifizierung der Texte Hölderlins in der Frankfurter Hölderlin Ausgabe als Pindar Kommentare. Johann Kreuzer nimmt die Übersetzungen unter der Überschrift Pindar-Fragmente an letzter Stelle nach den Sophokles-Anmerkungen in seine Ausgabe der Theoretischen Schriften Hölderlins auf (ThSch, 111-117). Michael Franz hingegen plädiert für eine die Eigenart der Hölderlinschen Konstruktion bewahrende begriffliche Trennung zwischen den Texten des antiken Autors (Pindar- Fragmente) und denen Hölderlins (Pindarfragmente), der ich mich hier anschließe. 15 KA III, 474. - „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 81 poetischer Übersetzung und dichterischem Kommentar. Hölderlin akzentuiert damit nicht allein durch das übersetzerische Verfahren das Verhältnis von Eigenem und Fremdem auf neue Art und Weise. Die eigenwillige Komposition aus Übersetzung und Kommentar erzeugt jetzt eine grundsätzlich andere, eigenständige Form: es ist buchstäblich keine alleinige Über-setzung mehr, sondern eine Auseinander-setzung des fremden Texts, die weniger als Aneignung, denn als „freier Gebrauch des Eigenen“ aus der Begegnung mit dem Fremden heraus aufzufassen ist und eben daraus die ihm eigene „Originalität“ zu gewinnen vermag. Nicht nur in formalem Sinne setzt Hölderlin dabei eigene Akzente in der Erzeugung eines (Pindar überbietenden) komplexen Gefüges, das durch Textauswahl, Anordnung und das übersetzerische Verfahren selbst bestimmt wird. In seiner kommentierenden Erläuterung spiegelt er, wie zu zeigen sein wird, diese Struktur auch noch in den übersetzten Text hinein, und generiert damit allererst einen Bedeutungszusammenhang, der sich nun gleichermaßen als Bilanz seiner gegenwärtigen Lebenssituation und als Summe seiner Poetik zu diesem späten Zeitpunkt entziffern lässt. Mehr noch als in den vorausgegangenen Übertragungen aus dem Griechischen lässt sich im gedoppelten übersetzerischen Ansatz der Pindarfragmente die Bemühung Hölderlins um einen „vaterländischen“ und „natürlichen“, und das heißt in eigentlichem Sinne „originellen“ Gesang erkennen. Die späten Pindarfragmente - hervorgegangen aus der Übersetzung und ein darauf bezogenes, eigenes Sprechen generierend - eröffnen Perspektiven auch für ein alternatives Verständnis von „Nation“ im ursprünglichen Sinne der natio (Geburt, Hervorbringung) wie im derivativen Sinne des „Nationellen“. Das sie konstituierende Verfahren gründet zum einen in Hölderlins Ablehnung des Nachahmungsprinzips in Bezug auf die antiken Autoren. Im Gegenzug bindet Hölderlin seine Auseinandersetzung mit der Antike andererseits - und dies scheint der entscheidende Schritt zu sein - an die für die Ausbildung eines nationalen Selbstverständnisses konstitutive Erinnerung. Hölderlin bezieht Geschichte - Lebensgeschichte wie Historie - in sein Projekt gerade dort mit ein, wo sich Übersetzung und (eigene) Dichtung begegnen. Das Eigene und das Fremde meint für Hölderlin im Falle der Übersetzungen aus dem Griechischen nämlich immer den Doppeleffekt einer Ferne oder Nähe in Raum und Zeit, wie sie in der Ambivalenz von origineller Natur und geschichtlicher Bildung zum Ausdruck kommt. Übersetzung ist demnach immer auch das Einholen einer geschichtlichen Vergangenheit, der die Antizipation eines Zukünftigen eingeschrieben wird, ein schöpferischer Vorgang, aufgrund dessen Hölderlin „natio“ als Hervorbringung aus dem Grund der Geschichte zu erfassen versucht. Hier spielen - in bisher nicht zweifelsfrei geklärter genetischer Abfolge - auch noch originäre Dichtungen Hölderlins eine Rolle, die sich als weitere Christine Ivanovic 82 Kommentare für die Lektüre der Übersetzungen hilfreich erweisen: die vermutlich bereits im Kontext der Pindar- und der Sophokles- Übertragungen zwischen 1800 und 1803 entstandenen kleinen Gedichte, die Hölderlin unter dem Sammelbegriff Nachtgesänge dem Verleger seiner Sophokles-Übertragungen parallel zu deren Druckvorbereitung anbietet; sie werden unter diesem Titel dann in Wilmans Almanach auf das Jahr 1805 publiziert. 16 Gleichsam wechselseitig sich kommentierend nähert Hölderlin damit Dichtung und Übersetzung, Fremdes und Eigenes maximal einander an, jedoch ohne sie zu verschmelzen. Im Ineinanderwirken von übersetzerischem und darstellerischem Verfahren formuliert Hölderlin zugleich, und dies scheint das eigentlich Bedeutsame seines letzten Übersetzungsprojekts zu sein, eine historisch relevante Stellungnahme zum zeitgenössischen Ringen um eine in Auseinandersetzung mit der fremden hervorzubringenden „nationalen“ Dichtung. Lag vermutlich gerade darin die Gefahr der Verfügbarkeit Hölderlins für die deutsch-nationale Ideologie, so ist demgegenüber die Frage eher vernachlässigt worden, in welchem Maße Hölderlin in seinen späten Übersetzungen von Texten Pindars wie Sophokles‘ einen geschichtskritischen Beitrag geleistet hat, der sich als anschlussfähig auch noch für die heutige Problematisierung nationaler Kulturen erweisen könnte. Diese mehr als ungewöhnliche Konstellation soll im Folgenden beispielhaft anhand eines der Pindarfragmente, „Die Asyle“, im Vergleich mit dem letzten der Nachtgesänge, „Der Winkel von Hahrdt“, analysiert werden. Zuvor seien jedoch als Grundlage der skizzierten Konstellation eine frühe Bemerkung Hölderlins zu Pindar sowie wesentliche Aspekte seiner in den ersten Jahren nach 1800 vor allem in Briefen niedergelegten Reflexionen über das Eigene und das Fremde im Hinblick auf Dichtung und Übersetzung knapp rekapituliert. Nun aber treffen wir auf einen Mann, bei dem sich leicht alles vorige vergessen ließe: es ist Pindarus. Wir bewundern, die Griechen vergötterten ihn. In der Königl. Halle zu Athen stand seine eherne Bildsäule, mit einem Diadem umkränzt. Zu Delphi ward der Stuhl, auf dem er Apollo besang, wie eine Reliquie aufbewahrt. Plato nennt ihn bald den göttlichen, bald den weisesten. Man sagte, Pan singe seine Lieder in den Wäldern. Und als der Eroberer Alexander seine Vaterstadt Thebä zerstörte, schonte er das Haus, wo der Dichter einst gewohnt hatte, und nahm seine Familie in Schutz. Ich möchte beinahe sagen, sein Hymnus sei das Summum der Dichtkunst. Das Epos und Drama haben größern Umfang, aber eben das macht Pindars Hymnen so unerreichbar, eben das fodert von dem Leser, in dessen Seele seine Gewalt sich offenbaren soll, soviel Kräfte und Anstrengung, daß er in dieser gedrängten Kürze die Darstellung des Epos und die Leidenschaft des Trauerspiels vereinigt hat. 16 Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet. Frankfurt/ Main 1805, S. 86. „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 83 Pindar soll sehr viel geschrieben haben: wir haben nur noch die auf die griechischen Spiele verfertigten Siegeshymnen vollständig. Sein Vater soll ein Flötenspieler und auch er soll darin unterrichtet gewesen sein. Pythagoras war sein Lieblingsphilosoph. Er starb ungefähr in der 81 sten Olympiade. 17 Mit diesen Worten präsentierte der junge Hölderlin 1790 den griechischen Dichter Pindar in einem seiner beiden Magisterspecimina (Geschichte der schönen Künste unter den Griechen). Drei Jahre zuvor hatte er in dem Gedicht „Mein Vorsatz“ sein eigenes Streben zwischen den Polen Pindar und Klopstock situiert. 18 Hölderlins frühe Skizze stellt Pindar zunächst im Spektrum der Gesten seiner Anerkennung dar. Sie reichen von der göttergleichen Verehrung und dem imaginierten Widerhall seiner Dichtung beim Naturgott Pan bis zur weltlichen Reputation, die der Philosoph wie der König gleichermaßen seinem Werk zollten. Derart als das Höchste klassifiziert würdigt Hölderlin Pindars Werk als „Summum der Dichtkunst“, das alle drei Dichtarten in sich vereinige, bevor er zuletzt auf den „Mann“ und dessen Herkunft im biologischen, im künstlerischen wie im epistemologischen Sinne zu sprechen kommt. So sehr sich Hölderlin auch in dieser knappen Zusammenfassung an die Überlieferung anlehnt, so deutlich tritt in der Zweiteilung des kleinen Passus eine Idee hervor, die nicht ohne Grund ins Zentrum zwischen der Evokation von Gesten öffentlicher Anerkennung und der Skizze des hinter dem Werk stehenden privaten Menschen gerückt, und die im Gegensatz zu den überlieferten Annahmen („wir“, „soll“) als Aussage explizit dem sprechenden Subjekt („Ich möchte beinahe sagen...“) zugeordnet ist. Hölderlins gewaltig die Seele bewegende Einsicht in das Vermögen der Dichtungen Pindars, „in dieser gedrängten Kürze die Darstellung des Epos und die Leidenschaft des Trauerspiels“ zu vereinigen, wird, wie es scheint, zur Triebkraft seiner produktiven Auseinandersetzung mit dessen Hymnen, die sein eigenes Werk dann in mehrfacher Hinsicht bestimmt. Neben der vielfach diskutierten persönlichen Identifikation Hölderlins mit dem hoch anerkannten antiken Idol ist die poetologisch folgenreiche Idee nicht zu überhören, die hier bereits der junge Hölderlin entwickelt in Bezug auf die Möglichkeiten der Dichtung, Spezifika der Ausdrucksweisen der drei Gattungen in einer zu vereinen. Hölderlin entfaltet sie 1801 in seinem ersten Brief an den Freund Ulrich Casimir Böhlendorff als Antagonismus zwischen „Klarheit“ und „Leidenschaft“, „abendländische[r] Junonische[r] Nüchternheit“ und „heilige[m] Pathos“ im Blick auf die Frage nach den Möglichkeiten und dem Ziel der Aneignung der antiken Autoren in der Literatur der Gegenwart. 19 Seine späteren Aufzeichnungen zum 17 KA II, 488. 18 In der berühmten Formulierung des Gedichts „Mein Vorsatz“: „Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? ists / Kämpfendes Streben nach Klopstocksgröße? “ (ebd. I, 31.) 19 Ebd. III, 460. Christine Ivanovic 84 „Wechsel der Töne“, „Über die verschiedenen Arten zu dichten“ und „Über den Unterschied der Dichtarten“ sind im selben sachlichen Zusammenhang situiert. 20 Hölderlin entfaltet diese Idee aber auch in der Praxis eines zweifach gedoppelten übersetzerischen Zugriffs: in der Übersetzung der Dichtungen Pindars und der Tragödien des Sophokles wie im doppelten übersetzerischen Zugang zu den Hymnen und zu den Fragmenten des Dichters, aber auch in der Korrespondenz der Großen Pindar-Übertragung von 1800 und der eigenen späten Hymnen, wie der Pindarfragmente und ihrem komplementär zu lesenden Gegenstück, den Nachtgesängen, im Wechselverhältnis von eigener Dichtung und Übersetzung, von Übersetzung und erläuterndem Kommentar. Als Hölderlin zwischen September und Dezember 1803 mit dem Verleger Wilmans wegen der Publikation der Sophokles-Übersetzungen korrespondiert, erscheint im letzten der drei erhaltenen Briefe auch der Begriff der Nachtgesänge. Gerahmt ist die betreffende Passage durch Hölderlins Eingehen auf die ihm zugesandten Druckproben der Sophokles-Übersetzungen und die Ankündigung einer geplanten (nicht verwirklichten) „Einleitung zu den Sophokleischen Tragödien“. Dazwischen skizziert er - wiederum im Spannungsbogen zwischen Pindar und Klopstock, die hier beide namentlich ungenannt bleiben - die eigene dichterische Arbeit: Ich bin eben an der Durchsicht einiger Nachtgesänge für Ihren Almanach. Ich wollte Ihnen aber sogleich antworten, damit kein Sehnen in unsere Beziehung kommt. Es ist eine Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben. Übrigens sind Liebeslieder immer müder Flug, denn so weit sind wir noch immer, trotz der Verschiedenheit der Stoffe; ein anders ist das hohe und reine Frohlocken vaterländischer Gesänge. Das Prophetische der Messiade und einiger Oden ist Ausnahme. Ich bin sehr begierig, wie Sie die Probe einiger größern lyrischen Gedichte aufnehmen werden. 21 Hatte der Verleger ihn zuvor um „kleine Gedichte“ für seinen Almanach ersucht, so verschränkt Hölderlin nun die Ankündigung des später unter dem Titel Nachtgesänge publizierten Zyklus mit seinen Überlegungen zum Übersetzen. Der im oben zitierten Passus zentrale Satz lässt sich nämlich mit 20 Vgl. ebd. II, 524ff., 514ff., 553ff. bzw. ThSch, 65ff., 28ff., 68ff. Nur der zuletzt genannten Ausgabe ist die in das Manuskript eingefügte Übersetzung des Anfangs der ersten Olympischen Ode Pindars abzulesen: „Das Erste ist wohl das Wasser; wie Gold [...]“ (ThSch, 28.) 21 KA III, 470. „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 85 Rücksicht auf seine Topik gleichermaßen auf das Opfer beziehen, das das Übersetzen darstellt, wie auf das Bemühen des Dichters, „sich in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben“, wie die erneute eigene Positionierung im Blick auf Pindar (s. das oben erwähnte Gedicht „Mein Vorsatz“) und Klopstock („das Prophetische der Messiade“), sowie der aus der Odentheorie stammende Topos, „Pindars lyrischen Schwung mit dem hohen Flug des Adlers zu vergleichen“, 22 nahelegen. Während Dichten und Übersetzen also demselben Bemühen unterstellt sind, pointiert Hölderlin hier, wie schon im voraufgegangenen zweiten Brief an den Verleger, 23 einen bemerkenswerten Gegensatz zwischen den Nachtgesängen und den „größeren lyrischen Gedichten“, deren „Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit“. 24 Die in Aussicht gestellten Texte sind von der Forschung als eben jene großen Hymnen der Spätzeit identifiziert worden, die auch unter dem Begriff Vaterländische Gesänge diskutiert werden und deren enger Zusammenhang mit der hymnischen Dichtung Pindars als erwiesen gilt. Von Hölderlin werden sie hier auch auf Klopstock bezogen, wohingegen die Nachtgesänge im Blick auf die Pindarnachahmung in der Klassifizierung als „müder Flug“ eher diminuiert werden im Sinne des früheren „Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? “. Der hier hervorgehobene Gegensatz bezieht sich also auf Möglichkeiten des Dichtens, die Hölderlin in seinen eigenen Texten zu realisieren versuchte. Er unterscheidet damit den hohen Ton der späten Hymnen von den „Liebeslieder[n]“, die vaterländischen Gesänge von jenen Texten, mit denen er sich - wie mit den Übersetzungen „in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben“ versucht. Diese, für den Verleger wohl eher kryptische, Wendung verweist zurück auf Überlegungen, die Hölderlin vor seiner Abreise in die Fremde, sc. nach Bordeaux, dem Freund Böhlendorff gegenüber formuliert hatte. Im Moment, als er sich gezwungen sah, „mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer“, ein „Abschied“, der ihn, wie er schreibt, „bittre Tränen gekostet“ habe, 25 reflektiert Hölderlin auf „das Nationelle“ und bezieht sich dabei auf die Auseinandersetzung mit den Griechen: Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deswegen werden diese eher in schöner Leidenschaft [...] als in jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgabe zu übertreffen sein. 22 Vgl. ebd., 931. 23 Vgl. ebd., 469. 24 Ebd. 25 Ebd., 462. Christine Ivanovic 86 Es klingt paradox [...]; das eigentliche nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. Bei uns ists umgekehrt. Deswegen ists auch so gefährlich sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahieren. Ich habe lange daran laboriert und weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste sein muß, nämlich dem lebendigen Verhältnis und Geschick, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das eigene muß so gut gelernt sein, wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist. 26 In einer berühmten Abhandlung hat Peter Szondi diesen ersten erhaltenen Brief Hölderlins an Böhlendorff ausführlich kommentiert. Es geschah in der grundlegenden Absicht, die Hölderlin vielfach unterstellte „abendländische Umkehr“ in einem nationalistischen Sinne als Trugschluss zu erweisen und stattdessen Hölderlins Intention auf Emanzipation zur eigenen Freiheit herauszuarbeiten. „Die Griechen sind dem hesperischen Dichter unentbehrlich,“ so argumentiert Szondi, „weil er in ihrer Kunst dem eigenen Ursprung als einem Fremden begegnet. So gewinnt er zum Eigenen die Distanz, die Freiheit ist.“ 27 Szondi betont in seiner Analyse die Kategorien des Lebendigen und Natürlichen, den Einschluss der Wirklichkeit in die Poesie als neues Ziel, das der Dichter im dem an einem Wendepunkt seines Lebens verfassten Brief vor sich sieht. Nach seiner Rückkehr aus Bordeaux formuliert Hölderlin im Entwurf eines weiteren Briefs an Böhlendorff im Herbst 1802: [...] ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen. 28 Was Hölderlin um 1801/ 02 erst noch als Ziel ins Auge fasst, den Zusammenhang zwischen dem Vaterländischen/ Nationellen und der Natur/ dem Natürlichen in seiner Dichtung herzustellen, scheint ihm nur wenig später in 26 Ebd., 459ff. 27 Peter Szondi: Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801. In: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/ Main 1967. 28 KA III, 467. „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 87 seinen Augen allmählich zu gelingen, wie es eine Bemerkung im ersten Brief an den Verleger Wilmans vom 28. September 1803 andeutet: Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herum beholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verleugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere. [...] jetzt, da ich mehr aus dem Sinne der Natur und mehr des Vaterlandes schreiben kann als sonst. 29 Im Kontext des Briefes kann der zitierte Nachsatz Hölderlins auf alle Stilarten oder Genres von Hölderlins Schreiben bezogen werden: auf das hier thematisierte Übersetzen ebenso wie auf das eigene Dichten, auf das erwähnte Verfassen der geplanten Einleitung zur Sophokles-Übersetzung wie auf die „Freiheit“ „zur Äußerung“ im Brief, die ihm die positive Resonanz des Verlegers ermöglicht hatte. Die abschliessende Berufung auf die Begriffe „Natur“ und „Vaterland“ dient hier erneut der Pointierung einer Opposition zum „Fremden“ der griechischen Kunst, die Hölderlin mittels der Übersetzung nicht nachzuahmen, sondern „lebendiger als gewöhnlich dem Publikum darzustellen“ trachtet. Zugleich soll sie über das Übersetzen hinaus die Perspektive auf das eigene Schreiben eröffnen. Worauf Hölderlin hier mit dem neu gewonnenen Vermögen „mehr aus dem Sinne der Natur und mehr des Vaterlandes [zu] schreiben“ anspielt, lässt sich nun im engsten Kontext des Briefes anhand des letzten der Nachtgesänge, des Gedichts „Der Winkel von Hahrdt“, verdeutlichen: Der Winkel von Hahrdt Hinunter sinket der Wald, Und Knospen ähnlich, hängen Einwärts die Blätter, denen Blüht unten auf ein Grund, Nicht gar unmündig. Da nämlich ist Ulrich Gegangen; oft sinnt, über den Fußtritt, Ein groß Schicksal Bereit, an übrigem Orte. 30 Hölderlin erinnert, dies ist in der einschlägigen Forschung vorrangig herausgestellt worden, in und mit diesem Gedicht an eine lokale Legende, die sagenhafte Rettung des von seinen Verfolgern in die Enge getriebenen Herzogs Ulrich von Württemberg in einer Felsspalte im unweit Nürtingens gelegenen Wäldchen bei Harth. Das Gedicht entfaltet diese historische Reminiszenz aus der Geschichte des Vaterlandes im Ausgang eines plastischen Naturbildes. Der Ort evoziert nicht allein die Ulrich-Sage, sondern 29 Ebd., 468. 30 Ebd. I, 321. Der in dieser Ausgabe am Ende der fünften Zeile gesetzte Punkt ist strittig. Christine Ivanovic 88 ruft bei Hölderlin offensichtlich ein ganzes Bündel weiterer Erinnerungsbruchstücke historischer und autobiographischer, aber auch literarischer Art hervor. 31 Unübersehbar dominiert das sinnlich wahrgenommene und sinnlich kodierte Naturbild die erste Hälfte des Gedichts (das nicht nur ob dieser Zweiteilung an Hälfte des Lebens, das ebenfalls zu den Nachtgesängen gehört, erinnert). Demgegenüber wird die Geschichte Ulrichs nicht als historisches Ereignis, sondern als Einschlag der Erinnerung in das Gedicht eingeführt, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem gegenwärtig sich vollziehenden Geschehen in der Natur bzw. dem ihm zugeordneten Erinnerungsvorgang - dem Sinnen - selbst. Die Einmaligkeit seines Schicksals wird damit aufgehoben in der Wiederholbarkeit der Besinnung: sie allein vermag das Zeichen des Vergangenen („Gegangen [...] Fußtritt“) nun sinnlich-sinnend zu übersetzen („Oft sinnt, über“) in die Gegenwart, indem sie den derart gezeichneten Ort als „übrigen“ zu identifizieren vermag. Hölderlin schreibt hier auf exemplarische Weise „mehr aus dem Sinne der Natur und mehr des Vaterlandes“, wie er es im Brief an den Verleger formuliert: das über die Natur selbst wahrgenommene Bild des Untergangs („Hinunter sinket [...] “) wird am Tiefpunkt antizipiert als ein Aufblühen („denen/ Blüht unten auf ein Grund,“), das die Möglichkeit eines (neuen) Sprechens impliziert („ein Grund,/ Nicht gar unmündig“), ein Sprechen aus dem Sinnen heraus, wie es das Gedicht realisiert, das nun beide Bereiche - „Natur“ und „Vaterland“ - zusammenführt. Im zweiten erhaltenen Brief an den Freund Casimir Ulrich Böhlendorff, den er im Herbst 1802 nach seiner Rückkehr aus Bordaux verfasste, erklärt Hölderlin: „Es war mir nötig, nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele mich festzusetzen, auf einige Zeit, und ich lebe indessen in meiner Vaterstadt.“ Er schreibt dann davon wie sehr er sich von der heimatlichen Natur ergriffen fühle, „um so mächtiger, je mehr ich sie studiere“. Sein Studium beziehe sich auf die Naturgewalten, deren allgemeinen Gesetzen er nachsinne: das Gewitter „als Macht und als Gestalt“, „das Licht in seinem Wirken, nationell und als Prinzip und Schicksalsweise bildend, dass uns etwas heilig ist“, sowie das Charakteristische der Wälder und das Zusammentreffen in einer Gegend von verschiedenen Charakteren der Natur, dass alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort und das philosophische Licht um mein Fenster ist jetzt meine Freude; dass ich behalten möge, wie ich gekommen bin, bis hieher! “ 32 Im Brief kommt erneut das Allgemeine zum Ausdruck, das das Studium, das Sinnen zur Erkenntnis bringt. Dass „alle heiligen Orte der Erde zusam- 31 Vgl. dazu meine Ausführungen in: Christine Ivanovic: „Bereit, an übrigem Ort“. Hölderlins „Der Winkel von Hahrdt“ als Erinnerungsort. Marbach/ Neckar 2009. [Spuren 79. Hg. vom Deutschen Literaturachiv Marbach am Neckar.] 32 KA III, 467. „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 89 men sind um einen Ort“ ist eine solche allgemeine Einsicht, wie sie „Der Winkel von Hahrdt“ in einem historisch wie topograpisch spezifizierbaren Raum darstellt, der erst im nachsinnenden Akt als „übriger Ort“ erkannt werden konnte. Im Brief wird die Möglichkeit einer solchen Einsicht zusätzlich gerahmt durch die erwähnte Notwendigkeit sich „festzusetzen“ und die damit verbundene Hoffnung, sich zu halten („dass ich behalten möge, wie ich gekommen bin, bis hieher“), wobei „behalten“ zugleich im Sinne der Erinnerung aufgefasst werden kann. In Grundzügen begegnet das hier Angesprochene wieder in Hölderlins Übersetzung jenes Pindar-Fragments, das er „Die Asyle“ überschrieben hat: Die Asyle Zuerst haben Die wohlrathende Themis Die Himmlischen, auf goldenen Rossen, neben Des Ozeans Salz, Die Zeiten zu der Leiter, Zur heiligen geführt des Olympos, zu Der glänzenden Rükkehr, Des Retters alte Tochter, Des Zeys zu seyn, Sie aber hat Die goldgehefteten, die gute, Die glänzendbefruchteten Ruhestätten geboren. Wie der Mensch sich sezt, ein Sohn der Themis, wenn, aus dem Sinne für Vollkommenes, sein Geist, auf Erden und im Himmel, keine Ruhe fand, bis sich im Schicksaal begegnend, an den Spuren der alten Zucht, der Gott und der Mensch sich wiedererkennt, und in Erinnerung ursprünglicher Noth froh ist da, wo er sich halten kann. Themis, die ordnungsliebende, hat die Asyle des Menschen, die stillen Ruhestätten geboren, denen nichts Fremdes ankann, weil an ihnen das Wirken und das Leben der Natur sich konzentrirte, und ein Ahnendes um sie, wie erinnernd, dasselbige erfähret, das sie vormals erfuhren. 33 Die bisherigen philologischen Analysen haben nachweisen können, dass die von Hölderlin hier im Einzelnen vorgenommenen, teilweise gravierenden Abweichungen vom griechischen Text konzeptionell bedingt sein müssen. 34 Sie betreffen semantische Verschiebungen wie im pointierten Schlusswort des Originals, wo Hölderlin „Retterinnen“ ( ) mit „Ruhestätten“ übersetzt, oder aber Eingriffe in den hier von Pindar bearbeiteten Mythos. 33 ThSch, 115f.; die Hervorhebung stammt von Hölderlin selbst. 34 Vgl. u. a. Fink: Pindarfragmente, S. 151-159; Albrecht Seifert: Die Asyle. In: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804-1806). Hg. von Christoph Jamme, Otto Pöggeler. Bonn 1988, S. 173-178. Christine Ivanovic 90 Themis, die dem Zeus als erste Gattin zugeführt wird, ist bei Hölderlin zugleich „des Retters alte Tochter“. In seiner Übersetzung gebiert Themis dann nicht die Horen (oder nach der Version Hesiods die Moiren), sondern „Ruhestätten“; in seinem Kommentar nennt Hölderlin zudem den Menschen selbst einen „Sohn der Themis“. Hölderlin behält die Namen der antiken Götter bei, übersetzt das allegorische Gefüge aber in Begriffe. Er verfährt damit entmythologisierend insofern, als er im mythischen Ereignis das Paradigma einer allgemeinen Erfahrung des Menschen zum Ausdruck zu bringen versucht; er verfährt etymologisierend, indem er den Zusammenhang zwischen Themis, der Göttin des Rechts, des Gesetzes, der Ordnung, auf das notwendige Bedürfnis des Menschen sich zu „setzen“ bezieht, und die „Ruhestätten“ als das interpretiert, das Themis, indem sie Ordnung und Gesetz hervorbringt, dem Menschen schließlich als „Asyle“ zu bieten vermag. Vergleicht man das übersetzte Fragment mit dem ihm zugeordneten Kommentar Hölderlins, so liest sich dieser wie die Entfaltung des dort Angelegten in einer anderen Zeit und in einem anderen Raum: Der Rückweg der Themis, die vom Ozean hinauf zum Olymp Zeus zugeführt wird (Hölderlin spricht von der „glänzenden Rükkehr“), findet seinen Reflex im Irrweg des Menschen, dessen „Geist“ „aus dem Sinne für Vollkommenes [...] auf Erden und im Himmel, keine Ruhe fand“; das Verhältnis zwischen der Göttin und dem Gott - Pindar bezeichnet sie als „des Retters ursprüngliche Gattin“ - wird zur Folie für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Umschlag im Fragment, der durch eine syntaktische Zäsur markiert ist („Sie aber hat..“) wird im Kommentar markiert im Neuansatz des zweiten Abschnitts, der nun den entscheidenden, im Fragment eigens am Schluss pointierten Gedanken („Themis [...] hat die stillen Ruhestätten geboren“) wiederholt und zugleich interpretierend ergänzt. Entgegen der Betonung des Ursprünglichen, das die mythische Erzählung kennzeichnet (das Fragment setzt ein mit dem Wort „Zuerst“, Themis wird als die „alte Tochter“, wörtlich die „archaische“ Gattin bezeichnet), entwickelt Hölderlin in seinem Kommentar eine über das im Fragment Angesprochene hinausreichende Zeitstruktur, die nun implizit neben Themis deren Schwester und zweite Gattin des Zeus miteinbezieht: Mnemosyne, die Erinnerung. So wird das Über-setzen im Akt der Auseinandersetzung selbst zu einer Art Wiedererkennen. Im gebärenden (setzenden) Akt der Themis wird dadurch die Notwendigkeit des Menschen erkannt, sich zu setzen, in der durch sie liebend hervorgebrachten Ordnung werden „die Asyle des Menschen“ entziffert. Diese Entzifferung der bei Pindar personifiziert auftretenden „Retterinnen“ ( ) als eben jene „stillen Ruhestätten, denen nichts Fremdes ankann, weil an ihnen das Wirken und das Leben der Natur sich konzentrierte“, ist eine Einsicht, zu der Hölderlin nun nicht allein durch das griechische Original gelangt sein kann. Sie entspricht vielmehr genau jenem im Gedicht „Der „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 91 Winkel von Hahrdt“ artikulierten Zusammenhang, in welchem ein Ort in der Natur als Schutzraum wiedererkannt wurde, in der Doppelung von „Erinnerung ursprünglicher Not“ und Konzentration, als welche Hölderlin dort „das Wirken und das Leben der Natur“ erfahren hatte. Hölderlin blendet also, so scheint es, die im letzen seiner Nachtgesänge zum Ausdruck gebrachte Erfahrung, die die Natur und das Vaterland, die Geschichte und die Erinnerung betraf, in die Übersetzung und Auslegung des Pindar-Fragments mit hinein. Er erkennt in dem Mythos der Themis das Komplement zu der dem Menschen notwendigen Ordnung (daher beginnt der Kommentar mit „Wie der Mensch sich sezt, ein Sohn der Themis“) und übersetzt das Fragment gleichsam hermeneutisch, indem er die in ihm aufscheinende Bedeutung auf dem Wege der Erinnerung als „dasselbige erfähret“. Über den Gedanken des rettenden Asyls formuliert Hölderlin eine Auffassung von Erinnerung, für die sich Natur als ebenso konstitutiv erweist, wie sie selbst zur Konstitution des Menschen werden kann. In der Begegnung mit dem fremden Schicksal vermag der Mensch sich selbst zu erfahren, in „Erinnerung ursprünglicher Noth“ vermag er aber auch „an den Spuren der alten Zucht“ seinen Ort im Hier und Jetzt zu bezeichnen und „froh“ zu sein „da, wo er sich halten kann“. 35 Die von Pindar vom Mythos her geschilderte Hervorbringung (natio) der Asyle durch Themis wird von Hölderlin zyklischkonzentrisch aufgefasst; im Rückgriff auf die (sinnende) Erinnerung wird das Sich-Setzen als Stiftung der „Ruhestätte“ durch das Gesetz wie ein Vorgang des Wiedererkennens aufgefasst, der das vergangene Geschehen ebenso umfasst wie die Antizipation des Kommenden („ein Ahnendes um sie“). Autoreflexiv in diesen Vorgang eingebunden scheint dann aber auch die Übersetzung selbst als ein Wiedererkennen und als ein Versuch „sich [zu] halten“ in der sprachlichen Setzung. In seiner Verschiebung von den personal aufgefassten „Retterinnen“ zu den „Asylen“ im emphatischen Sinne als in der Natur selbst erkannten Orten, antizipiert Hölderlin gewissermassen das Konzept der „lieux de mémoire“, wie es in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Pierre Nora formuliert worden ist. 36 Steht dieses Konzept auch bei Nora im Kontext der Bemühung um eine Neukonstituierung national ausgerichteter Geschichtsschreibung, so gewinnt dieses „Nationale“ bei Hölderlin einen ursprünglichen Charakter, der von der Idee der Geburt (natio) der „Ruhestätten“ durch die Themis (die setzende und gesetzte Ordnung) wie vom Verfahren 35 Vgl. dazu Hölderlins Idee des „gesetzten Denkens“ als Schutz gegen den „Wahnsinn“ in der Übersetzung der Antigone, wie sie Böschenstein herausgearbeitet hat: Bernhard Böschenstein: Gott und Mensch in den Chorliedern der Hölderlinschen Antigone. In: ders.: „Frucht des Gewitters“. Zu Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution. Frankfurt/ Main 1989, S. 61f. 36 Vgl. Les Lieux de mémoire. Hg. von Pierre Nora. Band I: La République. Paris 1984. Band II: La Nation. Paris 1986. Band III: Les France. Paris 1992. Christine Ivanovic 92 der Übersetzung - die Erinnerung und Erfahrung in einen setzenden Akt des Menschen überführt - nicht zu trennen ist. Im Gedicht „Der Winkel von Hahrdt“ geht es mit der Wendung „an übrigem Orte“ nicht um das im Zeichen Bewahrte schlechthin, sondern es geht - unter Einschluss des mythisch-historischen Blicks wie der eigenen Erfahrung - um den Akt des Sinnens als „Verbindungsmittel zwischen Geist und Zeichen“; 37 er allein vermag den Ort erst als solchen („übrigen“) zu erkennen. Dasselbe lässt sich an der Übersetzung des Pindar-Fragments beobachten, zu der Hölderlin die kommentierende Auslegung hinzusetzt. Wo Hölderlin im Gedicht den über dem Zeichen des Geschehenen erstarrten Ort sozusagen re-dynamisiert, da erfasst er in der Übersetzung am ursprünglicheren Gesagten, an den weiblichen „Retterinnen“, von denen Pindar spricht, gerade deren bergendgebärendes Wesen im räumlichen Sinne auf, wenn es nun von Themis heißt, sie habe „Die glänzendbefruchteten Ruhestätten geboren“. 38 In dieser Idee entspricht Hölderlin aber eben jenem Begriff des Raums, den Platon in seinem späten Dialog Timaios erörtert, und den er die “Amme des Werdens“ ( ; 52d) nennt: „das Sein ( ), der Raum ( ) und das Werden ( )“, so heißt es dort, bilden „drei gesonderte Gattungen [...], die schon bestanden, ehe denn noch die Welt ward, [...]; „die Gattung des Raumes“ aber sei „dem Untergange nicht unterworfen, welche Allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt, selbst aber, den Sinnen unzugänglich“ (52a/ b). 39 Hans-Georg Gadamer verwies darauf, dass „die Chora, als notwendige Implikation eines auf dem Abbildgedanken gründenden Weltverständnisses“ hier von Platon diskutiert werde, um „im Bereich der anderen Art von Ursache, der der Notwendigkeit, so etwas wie Vernünftiges (das ohne wirkende Vernunft ist)“ aufzuzeigen: eben „Strukturgesetzlichkeiten des Raumes. [...] Wie noch im Vernunftlosen ‚Vernunft’, das heißt einsehbare Notwendigkeit herrscht, das allein ist es, was die Reflexion auf die Chora motiviert“. 40 Die Strukturgesetzlichkeiten der Chora aber sind nicht als rein natürlich gegebene zu denken, sondern im Zusammenhang von Politik und Geschichte, Kultur und Gedächtnis. Daher bettet Platons Spätschrift, die als sein „naturwissenschaftliches“ Hauptwerk gilt, die Untersuchung über die „Natur des Alls“ ein in Ausführungen, die die Konstitution der Polis wie auch Fragen nach dem Verhältnis von kultureller Überlieferung und geschichtlichem Wandel betreffen; hierbei spielt schließ- 37 ThSchr, 46. 38 Ebd., 115. 39 Platon: Timaios. In: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers. Frankfurt/ Main 1991, Bd. VIII, S. 302-305. 40 Hans-Georg Gadamer: Idee und Wirklichkeit in Platos „Timaios“. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. VI, S. 242-270, hier S. 259. „natio“ aus dem Übersetzen: Hölderlins Nachtgesänge und Pindarfragmente 93 lich die Erörterung der Schrift als Speichermedium des kulturellen Gedächtnisses eine wesentliche Rolle. Nicht ohne Grund hat später Jacques Derrida der Schwierigkeit der Erfassbarkeit dessen, was „Chor “ bedeutet, eine eigene Abhandlung gewidmet. 41 Derridas Überlegungen stehen im letzten von Drei Essays über den gegebenen Namen, wo er darüber nachdenkt, was dem gegebenen Namen geschehen kann (Anonymität, Metonymie, Paläonymie, Kryptonomie, Pseudonymie), also dem empfangenen, ja dem geschuldeten Namen, darüber, was man dem Namen (zu geben oder zu opfern) schuldig ist, dem Namen des Namens, oder dem Beinamen, sowie dem Namen/ im Namen der Pflicht/ des (geben oder empfangen) Sollens. 42 Auch Hölderlin hatte in seinem Brief an den Verleger Wilmans von einem Opfer gesprochen: „Es ist eine Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben.“ 43 Wilfred L. Kling sieht in diesem Opfer „nur ein Zugeständnis dem Zeitgeist gegenüber“, das die Nachtgesänge als „Trivialliteratur eigenartiger Prägung“ erscheinen lässt; 44 Anke Bennholdt-Thomsen akzentuiert eher das Bewusstsein Hölderlins für den Gegensatz von Antike und Hesperien im Bezug auf den kulturellen Entwicklungsstand. 45 Adorno dagegen spricht (mit Bezug auf Hölderlins Gedicht „Die Stimme des Volkes“) von „der bei Hölderlin zentralen Idee des Opfers“. 46 Gegen den „Abgrund“, von dem auch dort die Rede ist, erfährt Hölderlin am „Winkel von Hardt“ das Aufscheinen eines Grunds. Da er dem geläufigen Erinnerungsort seinen gegebenen Namen („Der Winkel von Hahrdt“ statt „Ulrichstein“) entzieht und ihn dem Subjekt zurückerstattet („Da nämlich ist Ulrich / Gegangen“), scheint es andererseits auch möglich, Hölderlins „Opfer“ so aufzufassen, wie es Derrida umschrieben hat. Das durch keinen Namen mehr bezeichnete Schlusswort des Gedichts („am übrigen Orte“), erfährt seine Bestimmung von dem Akt der Besinnung her, der sich die Spur der Flucht anverwandelt hat („über den Fußtritt“). Erst dann erweist sich - so formuliert es dann Hölderlins Zusatz zur Übersetzung - der Mensch als Sohn jener Themis, wenn er wie sie „die ordnungsliebende, [...] die Asyle des Menschen, die stillen Ruhestätten geboren“ hat; diese aber entstehen erst in dem denkendübersetzenden Akt der Erinnerung, der aus dem Raum den Ort entstehen 41 Jacques Derrida: Ch ra (1993). Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. In: ders.: Über den Namen. Drei Essays. Wien 2000, S. 123-170. 42 Ebd., S. 165. 43 Vgl. oben. KA III, 470. 44 Wilfred L. Kling: Lese(r)arbeit. Hölderlins „Winkel von Hahrdt“ und die „Nachtgesänge“. In: Le Pauvre Holterling 4/ 5 (1980), S. 77-88, hier S. 80. 45 Anke Bennholdt-Thomsen: Nachtgesänge. In: Hölderlin-Handbuch, S. 338. 46 Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/ Main 1974, S. 447-491, hier S. 468. Christine Ivanovic 94 lässt: ch ra, jenen Raumbegriff, den Platon im Timaios als „Mutter“, „Amme“, „Behältnis“, „Abdruckträger“ bestimmt. In Bezug auf die Diskrepanz zwischen ihrem wahrnehmbaren materiellen Charakter und der gleichzeitigen sinnlichen Unerfassbarkeit ihres „Wesens“, treten somit „Raum“ und „Schrift“ in ein analoges Verhältnis. Die Beziehung von Gedächtnis und Polis, von mythischer Erzählung und Polis zur Schrift hatte Platon bereits zuvor im Timaios durch Kritias erörtert. Gerade dieses aber scheint Hölderlins Gedicht „Der Winkel von Hahrdt“ im Akt des Sinnens (der sinnlich erinnernden Wahrnehmung) über die Ulrich-Legende zu reflektieren: als Raum ( ) eines vergangenen Geschehens ist der „Winkel“ zugleich realer Ort und Zeichen, ist das in ihm Anwesende stets zugleich Abwesendes und im Sinnen immer von Neuem zu Gebärendes. Komplementär entspricht dem Hölderlins kommentierende Auslegung des Pindarfragments „Die Asyle“. Die hier angesprochene natio betrifft aber nicht allein die göttliche Setzung der Themis. Sie betrifft ebenso die Übersetzung des in der Natur sich Konzentrierenden im erinnernden Wiedererkennen. Eben deshalb kann Hölderlin zuletzt in seinen eigenen Worten feststellen, dass den „stillen Ruhestätten [...] nichts Fremdes ankann“, weil „ein Ahnendes [...] dasselbige erfähret, das sie vormals erfuhren.“ Larisa Cercel Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers hermeneutischer Übersetzungstheorie Die Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Übersetzens, die Friedrich Schleiermacher am 24. Juni 1813 in Berlin an der Königlichen Akademie der Wissenschaften vorgetragen hat, kam einer damals schon lange geäußerten Forderung nach einer methodischen Grundlegung der Übersetzungsproblematik im Umfeld seiner Zeit entgegen. 1 Der Kontext, in dem diese Notwendigkeit gesehen wurde, war die intensive übersetzerische Praxis der Romantik, die der Übersetzung eine hohe kulturelle, sprachbildende und sprachvertiefende Funktion zuwies. In dieser Epoche entstanden Übersetzungen, die bis heute ihren Status als Standardübersetzungen bewahrt haben: Friedrich Schlegels Shakespeare, Tiecks Don Quijote, Schleiermachers Platon-Übersetzung. Der „mitreißende Rausch des Übersetzens“ dieser Zeit brauchte folglich eine theoretische Formulierung und Artikulation der übersetzerischen Praxis. 2 Der Schleiermacherschen Abhandlung, die von Berman als „la seule étude de cette époque en Allemagne qui constitue une approche systématique et méthodique de la traduction“ charakterisiert wird, kommt folglich eine Schlüsselrolle in der Entwicklungsgeschichte der Übersetzungstheorie zu. 3 Aufschlussreich ist der Umstand, dass der Methoden-Aufsatz von einem zentralen hermeneutischen Motiv organisiert wird, und zwar vom Verhältnis von Eigenem und Fremdem. „Wir wollen alle die Darstellung der Gedanken eines andern in Beziehung auf unsre eigenen verstehen“, so formuliert Schleiermacher diesen entscheidenden Punkt des hermeneutischen Denkens an einer Stelle seiner Hermeneutik. 4 In der Akademie-Rede wird dieser dort allgemein gehaltene Gedanke konkretisiert und am Beispiel des 1 Friedrich Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens. In: Das Problem des Übersetzens. Hg. von Hans-Joachim Störig. Darmstadt 1963, S. 38-70. 2 Andreas Huyssen: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. Studien zur frühromantischen Utopie einer deutschen Weltliteratur. Zürich, Freiburg 1969, S. 51. 3 Antoine Berman: L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique. Paris 1984, S. 231. 4 Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt/ Main 1977, S. 213. Larisa Cercel 96 Übersetzens als eines exemplarischen Falls von Begegnung des Eigenen mit dem Fremden untersucht. Zugleich wird das Verhältnis dieser beiden Koordinaten zueinander in Schleiermachers Abhandlung womöglich zum ersten Mal in der Geschichte der Übersetzungshermeneutik derart deutlich thematisiert und ausführlich erörtert. Ueber die verschiedenen Methoden des Übersetzens wurde nun in der Fachliteratur aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Die vorhandenen Beiträge untersuchen die Topik Eigenes-Fremdes bei Schleiermacher entweder vor der größeren Folie der Kulturgeschichte oder fokussieren einzelne Aspekte dieser Beziehung. Das zentrale Vorhaben des vorliegenden Aufsatzes gilt dagegen einer detaillierten und strukturierten textuellen Analyse der Akademie-Rede unter der Fragestellung der Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem auf sprachlicher und kultureller Ebene. Leitende Fragestellungen sind dabei, was Schleiermacher unter Fremdem (und Eigenem) versteht, wo nach seiner Auffassung Fremdem zu begegnen sei, und wie sich die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden gestaltet bzw. wie sie sich im Übersetzen adäquat gestalten lässt. Gefragt wird im letzten Teil des Aufsatzes auch nach der Rezeption der Schleiermacherschen Position in der späteren hermeneutisch geprägten Übersetzungsforschung bei George Steiner, Fritz Paepcke und Radegundis Stolze. 1. Kartographie des Fremden Bekanntlich eröffnet Schleiermacher seine Akademie-Rede auf der allgemeinsten Ebene des Übersetzens als Verstehensakt. Der Grundgedanke ist dabei, dass Nicht- und Missverstehen eine vermittelnde Tätigkeit übersetzerischer bzw. übertragender Natur erfordern. Interessant für unser Vorhaben ist diese Eingangspassage vor allem aus zwei Gründen: Zum einen wird die Problematik terminologisch festgelegt. Schleiermacher präsentiert die Problematik schon 1813 in der modernen Terminologie der kulturorientierten Übersetzungsansätze, die vom Verhältnis zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“, von „Identität“ und „Andersheit“ sprechen. „Eigen“, „fremd“, „andere“ tauchen in der Eingangspassage 5 in adjektivischer Form auf, etwas weiter werden sie auch substantivisch 6 verwendet. Das Verb „aneignen“ taucht dort ebenfalls auf. 7 Zum anderen ist Schleiermacher schon im einleitenden Teil darum bemüht, eine Kartographie des Fremden anzulegen. Wo begegnet man Fremdem und wo braucht man folglich das Übersetzen? Seine wiederum überraschend moderne Antwort lautet: „überall“ und „unter den 5 Schleiermacher: Methoden, S. 38f. 6 Ebd., S. 45, 50, 54. 7 Ebd., S. 39. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 97 mannigfaltigsten Gestalten“ 8 in einer äußerst breiten Palette von Fremdheitsgraden, vom radikal Fremden, der „um den Durchmesser der Erde“ 9 von uns entfernt ist und zu dem man in der Regel keinerlei Beziehung hat, über die Fremdheit früherer zeitlicher Stufen und sozial differenzierter Schichten der eigenen Sprache oder über die Andersheit zweier Sprechweisen derselben Sprache wegen unterschiedlicher psychischer Gegebenheiten, bis hin zu der eigenartigen Fremdheit, die ein Mensch gegenüber seinen eigenen, in einer früheren überwundenen Entwicklungsetappe produzierten Reden empfindet und die durch Übertragung überwunden werden soll, wenn er sie sich „recht wieder aneignen“ will. 10 Diese „weiten Umkreise“ allmählich einengend, kommt Schleiermacher schließlich auch bei der Fremdheit einer anderen Sprache an, die dann in die bzw. auf die eigene übertragen werden soll. 11 In der Begegnung der eigenen Sprache mit der fremden stellt Schleiermacher erneut äußerste Verhältnisse fest: „alle Elemente“ der beiden Sprachsysteme scheinen von einer fremdartigen „Irrationalität“ gekennzeichnet zu sein, weil „keinem einzigen Wort in einer Sprache eins genau entspricht, keine Beugungsweise der einen genau dieselbe Mannigfaltigkeit von Verhältnißfällen zusammenfaßt“. 12 Das Fremde tut sich folglich sowohl im Semantischen als auch in der Syntax der Sprachen kund. 13 Mehr noch: Es geht dabei nicht nur um eine radikal differente strukturelle Beschaffenheit der Sprachen, sondern auch um eine unaufhebbare Identität zwischen Sprache und Denken, die dazu führt, dass Sprachen unterschiedliche kognitive Zugänge zur Welt darstellen. Schleiermachers Überzeugung, dass „wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdrukk ganz dasselbe sind“, 14 lässt streng genommen jede andere Sprache und jede „Gedankenreihe“ eines anderen Menschen als wesensfremd und „unerreichbar“ 15 und folglich auch 8 Ebd., S. 38. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 39. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 42. 13 Schleiermacher geht an einigen Stellen seiner Abhandlung auch auf punktuelle sprachliche Aspekte wie Neuschaffungen, Begriffe, Musikalität, Rhythmus ein, die er ebenfalls auf das Verhältnis des Eigenen und Fremden zurückführt und dies einigermaßen beleuchtet. Wir können von daher nur bedingt die Meinung D’Amelios teilen: „À quel niveau se situe le surgissement de l’altérité, voilà une autre question cruciale et controversée. […] Schleiermacher […] n’apporte pas d’éclairage précis sur ce point […].“ (Nadia D’Amelio: Éloge de l’étranger: Friedrich Schleiermacher en perspective. In: Revue SEPTET. Des mots aux actes 2. Heft: Traduction et philosophie du langage. Hommage à Henri Meschonnic, S. 178-195, hier S. 188). 14 Schleiermacher: Methoden, S. 60. 15 Ebd., S. 60. Larisa Cercel 98 den Versuch des Übersetzers, die Kluft zwischen zwei Sprachen und zwei Welten zu überwinden, als „ein thörichtes Unternehmen“ 16 erscheinen. 2. Intersubjektive Begegnung des Eigenen mit dem Fremden Schleiermacher vollzog in der Geschichte der Hermeneutik eine klare kopernikanische Wende: Durch die Bestimmung dieser Disziplin als „Kunst des Verstehens“ wurde der Blick von Texten als ausschließlichem Gegenstand der herkömmlichen Hermeneutiken (auch) auf das Verstehen und implizit auf die Verstehenden als einen ebenfalls wesentlichen Bestandteil einer allgemeinen Hermeneutik gerichtet. 17 Dieser Gedanke eröffnet den Weg zu einem neuen Paradigma, das nun im Zeichen einer intersubjektiven Begegnung von Autor und Lesern steht. Schleiermachers Methoden-Aufsatz ist eine Applikation dieser „paradigme de la compréhension intersubjective“: 18 Im Übersetzen wird nicht mehr einzig und allein die Textvorlage fokussiert; der Autor als „Gegenstand“ des Verstehens und die Verstehenden, d.i. der Übersetzer und die Leser, werden in die Reflexion miteinbezogen. 19 Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem definiert sich für Schleiermacher folglich primär nicht auf textueller Ebene über den Vergleich von Original und Übersetzung, sondern dynamisch in einem triadischen Zusammenspiel von Autor, Übersetzer und Leser. In der Methoden- Abhandlung „il est constamment question de personnes: le traducteur, l’interprète, l’auteur, le lecteur, etc.“ 20 Von daher ist die Modalität der Begegnung des Eigenen mit dem Fremden als eine eminent intersubjektive zu betrachten. Der zentrale Punkt ist nun für Schleiermacher, wie genau sich denn diese Intersubjektivität im Übersetzen artikuliert, da die Bedingungen dafür äußerst schwierig sind. Der Übersetzer könnte versuchen, seine Sprachgenossen und den Schriftsteller „in ein so unmittelbares Verhältniß zu bringen, wie das eines Schriftstellers und seines ursprünglichen Lesers“, 21 aber das bleibt letztendlich ausgeschlossen: Da er seinen Lesern nichts darbieten kann „als ihre eigene Sprache, die mit jener nirgends recht übereinstimmt“, 22 16 Ebd., S. 45. 17 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 75. 18 Laurent Lamy: «Clavis hermeneutica»: la problématisation du traduire chez Friedrich Schleiermacher, ou l’ébauche du paradigme de la compréhension intersubjective. In: Meta. Journal des traducteurs/ Translators’ Journal 52 (2007), H. 3, S. 588-602. 19 Larisa Cercel: Subjektiv und intersubjektiv in der hermeneutischen Übersetzungstheorie. In: Meta. Research in Hermeneutics, Phenomenology, and Practical Philosophy 2 (2010) H. 1, S. 84-104. 20 Berman: L’épreuve de l’étranger, S. 231. 21 Schleiermacher: Methoden, S. 45. 22 Ebd., S. 45. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 99 bleibt ihm nichts anderes übrig, als „sich selbst, wie er seinen Schriftsteller bald mehr bald minder hell erkannt hat“, 23 anzubieten. Der zentrale Artikulationspunkt der intersubjektiven Verhältnisse im Übersetzen befindet sich folglich im Verstehen des Übersetzers. Schleiermacher macht dies deutlich, indem er in seinem Aufsatz nicht nach den Merkmalen fahndet, die in der Übersetzung bewahrt werden müssten, sondern der Frage nachgeht, „was für ein Verstehen der Ursprache“ die Übersetzung „nachahmen will“. 24 Schriftsteller und Leser werden folglich über das Verstehen des Übersetzers zusammengebracht. 25 Schleiermacher skizziert nun verschiedene Formen der verstehenden Annäherung an den fremdsprachlichen Text. Er holt hier etwas weiter aus und stellt zunächst einmal zwei defizitäre Formen vor: die Paraphrase und die Nachbildung. Während die Paraphrase lediglich „ein allgemeineres Verstehen“ 26 für die fremde Sprache und Kultur vorbereiten kann, kann die Nachbildung „die Lust am Fremden wekken und schärfen“ 27 mit dem Ziel, „künftigen Uebersetzungen Bahn zu machen“. 28 Erst nach dem Ausschluss dieser inadäquaten Formen der Übertragung kommt Schleiermacher zur authentischen Begegnung des Eigenen mit dem Fremden im „eigentlichen“ Übersetzen, 29 dessen Aufgabe es ist, den Schriftsteller und seinen Leser einander zuzuführen, ohne den letzten „aus dem Kreise seiner Muttersprache heraus zu nöthigen“. 30 An dieser zentralen Stelle seines Aufsatzes führt Schleiermacher die zwei Übersetzungsmethoden in der berühmt gewordenen Formel vor: 31 „Entweder der Übersetzer lässt den Schriftsteller mög- 23 Ebd., S. 45. 24 Ebd., S. 49. 25 Dieses Verstehen unterscheidet sich radikal vom unmittelbaren Verhältnis zwischen Schriftsteller und seinen ursprünglichen Lesern durch das Merkmal der reflektierten Distanz. Siehe dazu weiter unten Abschnitt 4. 26 Schleiermacher: Methoden, S. 50. 27 Ebd., S. 50. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 47. 30 Ebd. 31 Die zwei Übersetzungsmethoden können auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Für eine Situierung des Begriffspaars einbürgerndes vs. verfremdendes Übersetzen in der Geschichte der Übersetzungstheorie siehe die vorzügliche Studie von Michael Schneider: Zwischen Verfremdung und Einbürgerung. Zu einer Grundfrage der Übersetzungstheorie in ihrer Geschichte: In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge 35 (1985), S. 1-12. Die Binarität der Methoden wird ausführlich auch von Anthony Pym (Schleiermacher and the Problem of Blendlinge. In: Translation and Literature 4 (1995), H. 1, S. 5-30) diskutiert. Schleiermacher selbst hat keine festen Termini für diese zwei Methoden vorgeschlagen. Im deutschsprachigen Raum haben sich dafür die Begriffe „Verfremdung“ und „Entfremdung“ etabliert. Weitere benutzte Termini sind „einbürgerndes“ bzw. „ausbürgerndes“ Übersetzen (vgl. Horst Turk: Übersetzung für Kenner. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte. Hg. von Brigitte Schultze. Berlin 1987, S. 81-85) und „assimilierendes/ angleichendes“ resp. Larisa Cercel 100 lichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen“. 32 Auffällig ist, dass Schleiermacher in dieser Unterscheidung zweier Übersetzungstypen noch einmal die drei Akteure des Übersetzungsvorgangs (Verfasser, Übersetzer, Leser) zusammenbringt und diese Begegnung als eine eminent intersubjektive erscheinen lässt: Da ist nicht von Texten, sondern von Personen die Rede. 3. Plädoyer für das Fremde im Eigensten Schleiermacher legt keine neutrale Beschreibung der beiden Übersetzungsmethoden, sondern eine stark polarisierte vor. Schon die Art und Weise, wie er sie auf die Bühne führt, lässt seine Position deutlich erkennen, ja er weist ausdrücklich darauf hin, dass das Verhältnis der zwei Übersetzungstypen „gegen einander“ sei. 33 Das einbürgernde Übersetzen ist eine Methode, die „ihrem Leser gar keine Mühe und Anstrengung zumuthend, ihm den fremden Verfasser in seine unmittelbare Gegenwart“ hinzaubert und ihm das Werk so zeigt, wie es sein würde, „wenn der Verfasser selbst es ursprünglich in des Lesers Sprache geschrieben hätte“. 34 Eine Übersetzung, die nach der angleichenden Methode angefertigt wird, strebt nach Leichtigkeit und Natürlichkeit des Stils bzw. nach einer Reinheit der Sprache, die sie wie ein Original lesen lässt. Das grundsätzliche Bedenken Schleiermachers lautet aber: Wenn „wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdrukk ganz dasselbe sind“, 35 dann kann ein Gedanke, der in einer Sprache geäußert wurde, in einer fremden Sprache nicht identisch zum Ausdruck gebracht werden. 36 Der Übersetzer „verfremdendes“ Übersetzen (Hans J. Vermeer: Hermeneutik und Übersetzung(swissenschaft). In: TEXTconTEXT 9 (1994), S. 163-182). Im englischsprachigen Raum haben sich die Termini „foreignization“ und „domestication“ insbesondere durch Lawrence Venutis Buch The Translator’s Invisibility (London, New York 1995) etabliert. Dass Venuti dabei eine Reduktion und zugleich Uminterpretation der Absichten Schleiermachers vornimmt, indem er „aus alten Ideen neue Begriffe“ macht, wird eindeutig von Mary Snell-Hornby (Venutis „foreignization“: Das Erbe von Friedrich Schleiermacher in der Translationswissenschaft? In: Und sie bewegt sich doch… Translationswissenschaft in Ost und West. Hg. von Ina Müller. Frankfurt/ Main 2004, S. 333-344, hier S. 343) gezeigt. Venutis Begriffe sind auf die „spezifische Situation der ‚hegemonic English-language nations’ von heute“ anwendbar, können jedoch keinen Anspruch auf „universellen Wert“ (Snell-Hornby, ebd.) erheben. 32 Schleiermacher: Methoden, S. 47. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 58f. 35 Ebd., S. 60. 36 Daraus folgt, dass das Fremde bei Schleiermacher vorzüglich im Semantischen lokalisiert ist: „[…] pour Schleiermacher, l’étranger qu’il importe de traduire est incarné par Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 101 ist in diesem Fall „fast nur seiner Einbildung überlassen“. 37 Von daher schätzt Schleiermacher die Anwendbarkeit dieser Methode, die „oblige l’auteur à se dépouiller de son étrangeté pour devenir familier au lecteur“, 38 als „gleich Null“. 39 Die verfremdende Übersetzung hat hingegen eine grundsätzliche Transparenz der Übersetzung zum Ziel: Dem Leser einer Übersetzung soll zugemutet werden, dass er sowohl den „Geist“ der fremden Sprache als auch „den eigenthümlichen Geist“ des Autors „zu ahnden und allmählich bestimmt aufzufassen vermag“. 40 Dieser Verweischarakter einer verfremdenden Übersetzung wird durch den Verzicht auf eigene sprachliche Natürlichkeit und adäquaten Ausdruck deutlich gemacht. Der Leser einer solchen Übersetzung erfährt die eigene Sprache als eine fremde, in dem die üblichen sprachlichen und literarischen Normen aufgehoben werden, um eben dadurch die eigentümliche „Stimme“ der fremden Sprache und Kultur wahrnehmen zu können: „le traducteur oblige le lecteur à sortir de lui-même, à faire un effort de décentrement pour percevoir l’auteur étranger dans son être d’étranger“. 41 Die zwei Methoden unterscheiden sich schließlich auch im Hinblick auf ihren Zweck: Während Übersetzungen nach der einbürgernden Methode „das Werk der Lüsternheit und des Uebermuthes“sind, 42 stellen Übersetzungen, die nach der verfremdenden Methode gemacht werden, „eine Sache des Bedürfnisses“ dar, 43 weil die Leser nicht über hinreichende Kenntnisse fremder Sprachen verfügen. Angesichts der Möglichkeiten und des praktischen Nutzens der beiden Übersetzungstypen widerlegt Schleiermacher eindeutig das einbürgernde Verfahren und plädiert für die verfremdende Methode. Er entscheidet sich folglich für „das Fremde im Eigensten“. 4. Bewusste Differenz: Aneignung des Fremden im Modus der Distanz Schleiermacher geht nun detailliert auf die den zwei Übersetzungstypen zugrunde liegende Methodik ein und bietet somit eine Antwort auf die Frage, wie sich denn die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden im Übersetzen seines Erachtens adäquat artikulieren lässt. Da die einbürgernde Metholes divers niveaux du sémantisme et ne peut être dissocié de cette enveloppe ou corporéité sans pertes irrémédiables.“ (D’Amelio: Éloge de l’étranger, S. 189). 37 Schleiermacher: Methoden, S. 65. 38 Berman: L’épreuve de l’étranger, S. 235. 39 Schleiermacher: Methoden, S. 65. 40 Ebd., S. 57. 41 Berman: L’épreuve de l’étranger, S. 235. 42 Schleiermacher: Methoden, S. 67. 43 Ebd. Larisa Cercel 102 de das Fremde eindeutscht in dem Versuch, eine künstliche Abschaffung der Distanz zwischen der eigenen und der fremden Sprache und Kultur zu bewirken, schätzt Schleiermacher dieses Hinzaubern als „nichtig und leer“: 44 Es bedeutet keinen produktiven Schritt voran, den Verfasser „in ihres gleichen“ zu verwandeln. 45 Weder die Zielsprache noch die Zielkultur werden dadurch bereichert. 46 Anders verhält es sich mit der verfremdenden Übersetzung. Dabei versucht der Übersetzer, die Leser an eine „ihnen fremde Stelle hinzubewegen“, 47 indem ihre Muttersprache, d.h. ihr genuinster Zugang zur Welt, verfremdet wird. Eine Übersetzung, die nach dieser Methode gefertigt wird, steht im Zeichen einer Ambivalenz, die wiederum das Verhältnis von Eigenem und Fremdem widerspiegelt: Einerseits soll die Übersetzung dem Leser „einen solchen Genuß […] verschaffen, wie das Lesen des Werkes in der Ursprache“ dem „Liebhaber und Kenner“ gewährt, aber andererseits „sich immer der Verschiedenheit der Sprache von seiner Muttersprache bewusst bleibt“. 48 Das Bewusstsein dieser Differenz artikuliert sich folglich sowohl auf dem Niveau der Produktion als auch auf der Ebene der Rezeption einer Übersetzung. Da der Übersetzer nicht zu den „wunderbaren Männern“gehört, 49 die einen fremdsprachlichen Text unmittelbar verstehen, hat er einen distanzbewussten verstehenden Zugang zum fremden Sinn. Freilich kann er dann in der Übersetzung nur das eigene Verständnis vom Original darstellen, was dazu führt, von einem Übersetzungssinn zu sprechen. Auf die Differenz zwischen fremdem Sinn und Übersetzungssinn reflektiert zwar der Übersetzer eigens, aber er kann das Resultat seiner Überlegungen nicht als solche in der Übersetzung vorführen: „Die sich in der eigenen Sache vollziehende Reflexion auf den fremden Sinn verschwindet in einer Darstellungsform, die Unmittelbarkeit prätendiert“. 50 Diese hermeneutische Reflexion nimmt dann 44 Ebd., S. 60. 45 Ebd., S. 48. 46 Gegen die Dominanz dieser Übersetzungsmethode in jüngster Zeit im angelsächsischen und französischen Sprachraum siehe Venuti: „A translated text is judged successful - by editors, publishers, reviewers, readers, by translators themselves - when it reads fluently and thereby gives the appearance that it is not translated, that it is the original, reflecting the personality or intention or the essential meaning of the foreign text.“ (Lawrence Venuti: Genealogies of Translation Theory: Schleiermacher. In: Traduction, Terminologie, Rédaction (TTR) 4 (1991) H. 2, S. 125-150, hier S. 126). 47 Schleiermacher: Methoden, S. 48. 48 Ebd., S. 51. 49 Ebd., S. 50. 50 Fred Lönker: Der fremde Sinn: Überlegungen zu den Übersetzungskonzeptionen Schleiermachers und Benjamins. In: Proceedings of the XII th Congress of the International Comparative Association. Bd. V: Space and Boundaries in Literary Theory and Criticism. Hg. von Roger Bauer [u. a.]. München 1995, S. 345-352, hier S. 346. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 103 die Gestalt der verfremdeten eigenen Sprache an, wodurch auch den Lesern das Bewusstsein der Differenz und Distanz vermittelt wird. Leser sollen immer bei der Lektüre der Übersetzung „das Gefühl des fremden“ behalten, 51 ja es ist die Aufgabe des Übersetzers, dieses Gefühl „auf seine Leser fortzupflanzen“. 52 Dadurch wird auch der Status des vom Übersetzer produzierten Textes geklärt: Die Übersetzung zeigt sich als Übersetzung und ihre Aufgabe ist es, den Lesern das Verständnis des fremden Werkes und des kulturell Fremden zu eröffnen. 53 Wie soll der Übersetzer nun konkret diese Distanz vermitteln? Wie denn kann das Fremde in der Muttersprache mit dargestellt werden? Schleiermachers Antwort fällt knapp aus: Er soll sich „an die Wendungen der Urschrift“ anschließen. 54 Für diese Methode ist erforderlich „eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden lässt, dass sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sei“. 55 Schleiermacher ermahnt, dies „mit Kunst und Maaß“ tun zu müssen, 56 und sieht ein, dass dies „vielleicht die größte Schwierigkeit die unser Uebersetzer zu überwinden hat“, 57 sei. Die Aneignung des Fremden erfolgt demnach im Modus der Distanz: Die bewusste Differenz und Distanz zur fremden Sprache und Kultur soll eine Distanzierung gegenüber der eigenen Sprache und Kultur bewirken können. Dem Fremden wird ein Freiraum im Eigenen geschaffen. Diese programmatische Produktion einer „fremden Aehnlichkeit“ weist nun einige Besonderheiten auf. Erstens: Sie führt zu einem Paradox. Die Forderung nach größtmöglicher Nähe zum fremdsprachlichen Text schafft zugleich die Prämissen für eine radikale Differenz zwischen Original und Übersetzung, und das ist „die im Text markierte Beziehung auf eine Sprache, die nicht die Sprache des Textes selbst ist“. 58 Sie ist vielmehr das Ergebnis des reflektierten Verstehens, das der Übersetzer von der fremden Sprache und vom fremdsprachlichen Text hat. Zweitens: Die Sprache der Übersetzung erhält eine „doppelte Gerichtetheit“: 59 Sie richtet sich auf das im fremdsprachlichen Text Gemeinte und zugleich auf die fremde Sprache, in der das Gemeinte gegeben ist. Dies ist nun ein weiteres entscheidendes Merkmal, das eine Übersetzung vom Original unterscheidet. Drittens: Ein 51 Schleiermacher: Methoden, S. 54. 52 Ebd. 53 Lönker: Der fremde Sinn, S. 347. 54 Schleiermacher: Methoden, S. 55. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Fred Lönker: Sprache und Fremdverstehen. Bemerkungen zum verfremdenden Übersetzen. In: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Hg. von Yoshinori Shichiji. München 1991, Bd. V, S. 212-219, hier S. 215. 59 Ebd., S. 216. Larisa Cercel 104 Übersetzer, der nach dieser Methode verfährt, setzt sich der Gefahr aus, dass seine Übersetzungen als „Blendlinge“ 60 wahrgenommen werden bzw. er kann der Tadelung nicht entkommen, dass er seine Muttersprache „anstatt sie in ihrer heimischen Turnkunst gewandt zu üben, an ausländische und unnatürliche Verrenkungen gewöhne“. 61 Dass dabei eine etwas unnatürliche Übersetzersprache entsteht, ist Schleiermacher klar. Konkrete Beispiele, wie eine solche sprachliche Leistung auszusehen hat, lassen sich gerade aus seiner Plato-Übersetzung anführen, die schwer zu rezipieren ist wegen des verklausulierten, der griechischen Satzstruktur nachgeformten Satzbaus. Andererseits ist sie doch „für einen Leser mit Stilgefühl in der griechischen und deutschen Sprache eben deswegen äußerst eindrücklich“. 62 Die Virulenz der Kritik vorausahnend, weist Schleiermacher zu diesem letzten Punkt ausdrücklich darauf hin, dass es dabei nicht um grobe Sprachverderbung geht, sondern um die Beachtung und Beobachtung der „feinsten Linie“ zwischen Reinheit der Sprache und Innovation, zwischen Altem und Neuem. 63 Dafür sollen Abweichungen und Neuerungen geduldet werden, und zwar nicht „einzeln und zufällig“, sondern „in Masse“. 64 Wenn dies geschieht, dann wird der Leser vom fremden Geist nicht nur „angeweht“, 65 sondern er bekommt eine „Ahndung“ 66 von der Fremdheit der fremden Sprache und Kultur und kann sich folglich „ein Gehör“ 67 dafür anbilden. Um diesen Zweck zu erreichen, müssen ihm Übersetzungen „nach etwas bestimmtem anderm klingen“, 68 d.h. er soll die Verschiedenheiten zwischen den Sprachen im Gebrauch der eigenen erkennen können. 5. Wege der Kulturkonstitution: Über das Fremde zum Eigenen Schleiermacher setzt seine Überlegungen auf der höheren Ebene der Kultur fort. Um eine Übersetzung zustande zu bringen, die den Geist der fremden Sprache und den „eigenthümlichen Geist des Verfassers“ vermitteln soll, 69 bedarf es sowohl des „Talents der individuellen Anschauung“ 70 seitens des 60 Schleiermacher: Methoden, S. 55. 61 Ebd., S. 55. 62 Huyssen: Die frühromantische Konzeption, S. 51. 63 Schleiermacher: Methoden, S. 56. 64 Ebd., S. 57. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 105 Übersetzers und auch einer großen Masse an Vergleichsstoff, 71 wofür nach Schleiermachers Auffassung „ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine Sprache“ 72 unentbehrlich sei. Dieser Prozess soll folglich „systématique et pluriel“ sein: 73 Übersetzungen aus mehreren Sprachen und aus mehreren Literaturen sowie mehrfache Übersetzungen desselben Werkes sollen angefertigt werden. Schleiermacher sieht zugleich ein, dass dieses Verfahren „nur Sinn und Werth“ für ein Volk haben kann, das „entschiedene Neigung hat sich das fremde anzueignen.“ 74 Zumal er sich im Klaren ist, dass sich diese Ansicht keineswegs eines allgemeinen Beifalls erfreuen kann, ist er jedoch davon überzeugt, dass dieses Verfahren sich positiv sowohl auf die Sprache als auch auf die „Geistesentwikkelung“ eines Volkes auswirken würde. 75 Diese Aussage wird am Beispiel der deutschen Kultur erprobt, die „eine innere Nothwendigkeit“ hatte, 76 das Übersetzen „in Masse“ zu betreiben. 77 Die Ergebnisse schätzt Schleiermacher als durchaus positiv ein: „erst durch vielfältiges Hineinverpflanzen fremder Gewächse“ 78 ist der Boden der deutschen Kultur „reicher und fruchtbarer“ 79 geworden; die deutsche Sprache selber ist „durch die vielseitigste Berührung mit dem fremden recht frisch“ gediehen und konnte auf diese Art und Weise „ihre eigne Kraft“ 80 entwickeln. Mit anderen Worten: Erst durch den Umweg ins Fremde kommt man zum authentischen Eigenen, d.h. der intensive Kontakt mit dem Fremden befähigt eine Kultur zu einer wirklichen Selbstkonstitution und zur Entdeckung ihrer eigenen Aufgabe. 81 Wiederum auf die deutsche Kultur angewandt: Wegen seiner „Achtung für das fremde“ und seiner „vermittelnde[n] Natur“ kommt nach Schleiermacher dem deutschen Volk eine besondere 71 Im Zeichen dieses Grundsatzes steht auch Schleiermachers gemeinsames Projekt mit Friedrich Schlegel, Platon „vollständig zu übersetzen“, um ihn „recht geltend zu machen“ (Schleiermacher, zitiert nach Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 45). Schlegel hat letztendlich kaum etwas zur Ausführung dieses Projekts beigetragen. Schleiermacher gab von 1804 bis 1828 den größten Teil der Platon-Werke in eigener Übersetzung heraus. 72 Schleiermacher: Methoden, S. 57. 73 Berman: L’épreuve de l’étranger, S. 241. 74 Schleiermacher: Methoden, S. 57. 75 Ebd., S. 58. 76 Ebd., S. 69. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Auf den Gedanken, dass zu jeder Subjektkonstitution das „Mitgesetztsein eines Anderen“ gehört, kommt Schleiermacher auch in Der christliche Glaube (Hg. von M. Redeker. 7. Auflage. Berlin 1960, Bd. I, S. 24) zu sprechen. Vgl. die Einleitung von Manfred Frank zu Schleiermachers Hermeneutik und Kritik, S. 28. Larisa Cercel 106 Aufgabe zu, 82 und zwar „alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen“ „zu einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen“, das dann „im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde“. 83 Dieser letzte Teil der Schleiermacherschen Abhandlung wurde in der Fachliteratur intensiv besprochen bzw. man kann behaupten, dass es gerade dieser Abschlussteil war, der die größte Aufmerksamkeit der Übersetzungstheoretiker auf sich gezogen hat. Da kann man grosso modo zwei Interpretationslinien erkennen: die Relevanz der Schleiermacherschen Favorisierung der verfremdenden Methode im Kontext der Kulturgeschichte 84 und eine Interpretation des Methoden-Aufsatzes vor dem Hintergrund seiner historischen Gebundenheit, 85 die die theoretische Position Schleiermachers unter ideologische Prämissen stellt und dadurch stark kontextualisiert. 86 Wichtig für das Anliegen des vorliegenden Aufsatzes ist jedoch eine fundamentale, hermeneutische Ebene der Reflexion, und zwar die Art und 82 Schleiermacher: Methoden, S. 69. 83 Ebd. 84 Vgl. Turk: Übersetzung für Kenner und ders.: Fremdheit und Andersheit. Perspektiven einer Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung. In: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Hg. von Yoshinori Shichiji. München 1991, Bd. V, S. 196-204. 85 A. Huyssen weist darauf hin, dass es die im Sommer 1813 noch unentschiedene Lage der nationalen Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich und die damalige Bildungssituation Deutschlands waren, die dazu führten, dass Schleiermacher so entschieden die einbürgernde Übersetzung ablehnt: Einerseits war es die Übersetzungsmethode, deren sich die Franzosen bedient haben, andererseits hatte die Übersetzungspraxis des 18. Jahrhunderts, die im Zeichen dieses theoretischen Credos stand, keine besonderen Leistungen vorzuweisen. Vor diesem historischen und kulturellen Hintergrund „musste Schleiermacher geradezu zu der entgegen gesetzten Übersetzungsmethode kommen“ (Huyssen: Die frühromantische Konzeption, S. 67). Dieser Ableitung der wissenschaftlichen Position Schleiermachers aus historischen Gegebenheiten schließen sich auch Friedmar Apel (Sprachbewegung. Eine historischpoetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Heidelberg 1982, S. 137) und Mary Snell-Hornby (The Turns of Translation Studies. New paradigms or shifting viewpoints? Amsterdam, Philadelphia 2006, S. 15) an. L. Venuti spricht sogar von „Schleiermacher’s nationalist theory of foreignizing translation“ (Venuti: Genealogies of Translation, S. 138). Dagegen tritt Fred Lönker ein, der eine solche Bedingtheit für „fragwürdig“ (Lönker: Sprache und Fremdverstehen, S. 213) hält und eine ahistorische Interpretation des Methoden-Aufsatzes vorschlägt. Auch wenn die geschichtliche Verortung ein bedeutender Grundsatz des hermeneutischen Denkens ist, wurde hier in erster Linie eine Auseinandersetzung mit den Grundgedanken des Aufsatzes und weniger mit ihrem historischen Hintergrund versucht. 86 Freilich gibt es auch andere, von den hier genannten Interpretationssträngen abweichende Auslegungen. Siehe etwa A. Pym, der eine „soziale“ Deutung des Methoden- Aufsatzes vorschlägt: Er versteht ihn nicht als einen Aufsatz über das zwischensprachliche Übersetzen, sondern interpretiert den Begriff des Übersetzens in Schleiermachers Abhandlung als eine Metapher für „social belonging“ (Pym: Schleiermacher and the Problem of Blendlinge, S. 9). Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 107 Weise, wie sich das Verhältnis von Eigenem und Fremdem bei Schleiermacher auf kultureller Ebene artikuliert. Schleiermacher schlägt eine hochinteressante Regie der Begegnung der Kulturen vor: Während im assimilierenden Übersetzen die Ausgangskultur beeinträchtigt wird, weil sie der eigenen einverleibt wird, wird die eigene Kultur im verfremdenden Übersetzen für die fremde Kultur geöffnet. 87 Dieses Offensein wird von Schleiermacher als ein sehr subtiles bestimmt: Der Übersetzer soll seinen Leser zum Autor bringen, ohne dass ersterer jedoch den Bereich seiner Muttersprache verlassen muss. Auch die Verfremdung findet innerhalb einer Kultur statt: Der Leser der Übersetzung tritt nicht aus seiner Kultur heraus: „er tritt sozusagen an den äußersten Rand seiner Kultur, da, wo die andere in seine hineingenommen werden kann. Er gibt seine Kultur nicht auf; der Translator hat sie für ihn ausgeweitet“. 88 Mit der (partiellen) Überwindung der Vorstellung, wonach niemand aus seiner Kultur hinaus kann, wird Schleiermacher zu einem sehr interessanten „Theoretiker der kultursensitiven Translationstheorie“. 89 6. Rezeption des Schleiermacherschen Verständnisses von Eigenem und Fremdem in der späteren hermeneutischen Übersetzungsforschung Gibt es eine Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Position in der späteren hermeneutischen Übersetzungstheorie? Mit der Ausnahme von Antoine Berman und Paul Ricœur, die das Verhältnis von Eigenem und Fremdem ausführlich thematisieren und deren Beiträge Bezüge zu Schleiermacher deutlich erkennen lassen, 90 kann man weniger von einer expliziten Rezeption seiner Überlegungen über diesen Themenkomplex sprechen, auch 87 Freilich sind die tiefen ethischen Implikationen der übersetzungstheoretischen Position Schleiermachers nicht zu übersehen. Die zentrale hermeneutische Kategorie des unvoreingenommenen Offenseins für die fremde Sprache und Kultur präsentiert sich hier als eine Ethik der Alterität: Der Andere wird als solcher anerkannt und empfangen. Der Übersetzer eröffnet dem „Étranger en tant qu’Étranger“ (Antoine Berman: La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain. In: Les tours de Babel. Essais sur la traduction. Mauvezin 1985, S. 33-150, hier S. 89) den Weg in seiner eigenen Sprache, was Konsequenzen für die Konstitution einer Kultur zeitigt: „[…] une culture (au sens anthropologique) ne devient vraiment une culture (au sens de l’humanisme d’un Goethe, de la Bildung) que si elle est régie - au moins en partie - par ce choix.“ (S. 88). 88 Vermeer: Hermeneutik und Übersetzung(swissenschaft), S. 173f. 89 Ebd. 90 Vgl. Jane Elisabeth Wilhelm: Herméneutique et traduction: la question de «l’appropriation» ou le rapport du «propre» à «l’étranger». In: Meta. journal des traducteurs/ Translators’ Journal 49 (2004) H. 4, S. 768-776 und dies.: Pour une herméneutique du traduire. In: Übersetzung und Hermeneutik - Traduction et herméneutique. Hg. von Larisa Cercel. Bukarest 2009, S. 91-115. Larisa Cercel 108 wenn eine gewisse faktische Kontinuität gegeben ist. Angebracht wäre es hier, eher von einer „verdeckten“ bzw. „intermittierenden“ Wirkungsgeschichte (Willy Michel) Schleiermachers in der späteren Übersetzungshermeneutik zu sprechen. Diese Behauptung kann am besten im Hinblick auf die Beiträge von George Steiner, Fritz Paepcke und Radegundis Stolze überprüft werden. Die Diskussion um „Identität“ und „Alterität“ kann bei George Steiner vorzüglich in der Darstellung seines vierphasigen Übersetzungsmodells von Vertrauen, Aggression, Einverleibung und Reziprozität, 91 in dem es genau um die Definierung des Verhältnisses von Sprachen, Kulturen, Verfasser, Übersetzer und Leser zueinander geht, verfolgt werden. Auffällig ist, dass man dort anscheinend mit einer Akzentverschiebung zu tun hat: Während er bei Schleiermacher durch die Favorisierung der verfremdenden Übersetzungsmethode auf dem „Fremden“ und „Anderen“ liegt, zielen Steiners Überlegungen vor allem auf das „Eigene“ ab. Steiner definiert Übersetzen eher als eine Frage der eigenen Identität, in dem Sinne, dass es eine Reflexion ist, die in ihren letzten Implikationen der Problematik des Eigenen gilt. In einer Übersetzung wird viel verwandelt und Steiner bekräftigt, dass „keine Sprache, keine sprachbewusste persönliche oder gesellschaftliche Identität unberührt bleibt von dem, was sie aus der Fremde einführt“. 92 Der Gravitationspunkt ist jedoch hier nicht das fremde Gut (in welcher Gestalt auch immer), sondern die Art und Weise, wie sich die „Einverleibung“ von Fremdheit und die Choreographie der Begegnung von Eigenem und Fremdem letztendlich auf die eigene Identität auswirken. Übersetzen ist für Steiner ein Umweg, den man macht, um letztendlich sich selbst besser zu verstehen. Es ist „a homecoming“, 93 das sich auf verschiedenen Wegen manifestiert, beispielsweise in der Wahl von fremden Textvorlagen, in denen Elemente vorliegen, die ursprünglich aus der eigenen literarischen Tradition stammen, die aber mit der Zeit von anderen Kulturräumen importiert wurden und die es gilt, durch die Restitution an die eigene Kultur wieder heimisch zu machen. 94 Das Problem der Identität stellt sich bei Steiner als Reflex des hermeneutischen Zirkels dar: Durch die Übersetzung des Anderen, der im fremdsprachlichen Text präsent ist, gewinnt man einen neuen Zugang zum Selbstverständnis. Man hat hier im Grunde genommen mit 91 George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. 2. Auflage. Übersetzt von Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese. Frankfurt/ Main 2004, S. 311ff. 92 Ebd., S. 346. 93 George Steiner: Translation as homecoming. In: Teilnahme und Spiegelung. Festschrift für Horst Rüdiger. Hg. von Beda Allemann, Erwin Koppen. Berlin, New York 1975, S. 664-669, hier S. 669. 94 Steiner nennt hier Borchards Dante Deutsch als „the most conscious, willful example of such reappropriation“ (ebd., S. 669). Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 109 derselben Gedankenbewegung wie bei Schleiermacher zu tun, bei dem der Weg ins Fremde letztendlich doch zu sich selbst, zur Konstitution der eigenen Sprache und Kultur führt. Da hier kein expliziter Bezug zu Schleiermacher vorliegt, kann man folglich eher von einer verdeckten Wirkungsgeschichte Schleiermachers bei Steiner sprechen. Einzelne Schleiermacher-Thesen finden sich auch bei Fritz Paepcke, dem Begründer des hermeneutischen Ansatzes in der modernen Übersetzungswissenschaft, wieder. Das Fremde wird von Paepcke ebenfalls als ein Medium verstanden, wo man einen qualitativ besseren Zugang zum Eigenen gewinnt, ja die Erhaltung des Eigenen fordert „die Bereicherung durch das Fremde“. 95 Auch die Fähigkeit des Deutschen, sich fremdes sprachliches Gut anzueignen, auf die Schleiermacher detailliert einging, wird bei Paepcke ebenfalls besonders hervorgehoben, wenn er die deutsche Sprache als „geschmeidig, manchmal girlandenhaft, immer jedoch offen zu sein, um sich Fremdes einzuverleiben“ präsentiert. 96 Zu erwähnen ist schließlich auch der eindeutig Schleiermachersche Gedanke, dass dem Übersetzer nichts anderes zur Verfügung stehe als die „Mittel der Zielsprache“, um „das Fremde der Ausgangssprache“ zu vermitteln, 97 wobei freilich die Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem durchaus im Zeichen der „Äquivalenz von Erfüllung und Verfehlung“ steht. 98 Die Liste der Ähnlichkeiten (sowie auch der Differenzen) zwischen Paepcke und Schleiermacher kann freilich fortgeführt werden. 99 Festzuhalten für unser Vorhaben ist jedoch die Tatsache, dass man bei Paepcke insgesamt mit einer weniger ausgeprägten Belegung von Schleiermacher-Stellen zu tun hat, was dazu berechtigt, von einer „intermittierenden“ Erinnerung an Schleiermacher in den Schriften Paepckes zu sprechen. Bei Radegundis Stolze nimmt die Schleiermacher-Rezeption die interessante Gestalt einer Dialektik der Nähe und Ferne an. Das Programm Schleiermachers, das Fremde in der Zielsprache und -kultur erscheinen zu lassen, wird von Radegundis Stolze durchaus befürwortet, wenn sie den Umgang mit Fremden zu einer wesentlichen Kategorie in der Orientierung des Translators erhebt und unter Übersetzung eine „Fremderfahrung als Präsentation 95 Fritz Paepcke: Im Übersetzen leben - Übersetzen und Textvergleich. Hg. von Klaus Berger, Hans-Michael Speier. Tübingen 1986, S. 529. 96 Ebd., S. 140. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 56. 99 Hierzu ein Beispiel: Während Schleiermacher das Verstehen des radikal Fremden, zu dem man in der Regel keinerlei Beziehung hat, für möglich hält (man denke etwa an den Fremden, der „um den Durchmesser der Erde“ von uns entfernt ist), ist Paepcke der Meinung, dass man es nur verstehen kann, wenn man „mit dem Entfernten etwas Gemeinsames“ (Paepcke: Im Übersetzen leben, S. 125) hat. Dieser Boden des Gemeinsamen war für Schleiermacher keine notwendige Voraussetzung für die verstehende Aneignung des (radikal) Fremden. Larisa Cercel 110 des Fremden“ versteht. 100 Auch läuft Stolzes „solidarische Nachgestaltung einer Fremderfahrung“ 101 sicherlich auf eine Ethik des Übersetzens hinaus, 102 die ganz im Sinne Schleiermachers ist. Andererseits trennt sie sich eindeutig von Schleiermacher in der Art und Weise, wie sie die programmatische Absicht, „Fremdes erscheinen zu lassen“ konkret umsetzen möchte. 103 Der Übersetzer soll dabei „nicht ‚verfremdend’ übersetzen, und erst recht nicht ‚einbürgernd’“. 104 Fremd sind für sie nicht „fremd klingende, ‚ungelenke’ Formulierungsweisen“, sondern „fremde Gedanken und Konzepte“. 105 Diese sollen dann „verständlich“ durch „passende Formulierungen“ in der Zielsprache zum Ausdruck gebracht werden. 106 Unverzichtbar ist demnach für Stolze eine idiomatisch richtige Ausdrucksweise in der Zielsprache, die bei Schleiermacher keine notwendige Voraussetzung für das Übersetzen war. Fremdkulturelle Inhalte sollen nach Stolze „entsprechend deren Weltsicht“ und in ihrem Geiste, nicht in ihrem Buchstaben erneut ausgesagt werden. 107 7. Fazit Schleiermacher war „le premier qui a su formuler dans le contexte de la traduction […] le theme central du «propre» et de l’ «étranger»“ und tat dies bereits in einer komplexen Art und Weise. 108 Von der Skizze einer Kartographie des Fremden über die Artikulation einer kohärenten Regie der Begegnung der beiden Dimensionen bis hin zum Entwurf einer hermeneutisch reflektierten Ethik des Übersetzens erweisen sich Schleiermachers Überlegungen als ein fruchtbarer Nährboden für spätere Vorstellungen von der Beziehung des Eigenen zum Fremden. Die Hauptthese des Methoden- Aufsatzes, die auch in anderen Schriften Schleiermachers nachgewiesen werden kann, lautet, dass wir uns „von uns selber los machen“ müssen, 109 um einen adäquaten Zugang zum Fremden und letztendlich auch einen bereichernden Zugang zum Eigenen zu haben. Eine Frage lässt Schleiermacher jedoch offen, und zwar, was unter Eigenem und Fremdem eigentlich zu verstehen ist. Von den eingangs formulierten Fragen (was ist Eigenes und Fremdes, wo begegnet man ihnen, wie gestaltet sich ihre Beziehung zueinander) bleibt diese eher unterbelichtet. 100 Radegundis Stolze: Hermeneutik und Translation. Tübingen 2003, S. 184f. 101 Ebd., S. 185. 102 Ebd., S. 125-139. 103 Ebd., S. 184. 104 Ebd. 105 Ebd., S. 183. 106 Ebd., S. 184. 107 Ebd., S. 183. 108 Wilhelm: Pour une herméneutique, S. 100. 109 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 213. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Schleiermachers Übersetzungstheorie 111 Die bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass Schleiermacher diese beiden Begriffe sehr breit auffasst 110 und Nadia D’Amelio bestätigt diesen Eindruck, wenn sie behauptet: „En effet, Schleiermacher entend le mot étranger dans un sens très large: c’est l’étranger qui se confronte au propre, l’autre qui s’oppose au même“. 111 Die Präzisierung des Inhaltes dieser Begriffe bleibt die Aufgabe der späteren hermeneutischen Übersetzungsforschung. 112 110 Über die grundsätzliche Schwierigkeit, „eigen“, „fremd“, „anderes“ zu definieren sowie über die Polysemie, die diesen Prädikaten anhaftet, informiert ausführlich Fred Lönker: Aspekte des Fremdverstehens in der literarischen Übersetzung. In: Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung. Hg. von Fred Lönker. Berlin 1992, S. 41-62. 111 D’Amelio: Éloge de l’étranger, S. 187. 112 Diese Aufgabe wurde ansatzweise von Radegundis Stolze durch die Beschreibung der Orientierung des Translators im Weltkontinuum in Angriff genommen. Um eine solche Orientierung zu fördern, entwirft Stolze ein Modell der „Wissensebenen als lebensweltliche Verweisungszusammenhänge“ (Stolze: Hermeneutik und Translation, S. 106). Dieses kognitive Modell umfasst bei Stolze sieben Niveaus: Identität des Ich, individuelles Umfeld, Sprachbesitz, muttersprachliche Weltsicht und Wertvorstellungen, Kenntnisse in der eigenen Arbeitswelt, Fremdsprachen und Fakten aus fremden Kulturen, Denkwelten der Fachbereiche. Die einzelnen Wissensebenen führen wie in konzentrischen Kreisen vom Individuum zur Welt hin. Dabei wird dem Translator deutlich, „was für ihn Eigenes, und was Fremdes ist“ (ebd., S. 118). Isabella Ferron Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816). Ein singulärer Beitrag zur Entstehung des Begriffs „Deutsche Nation“ 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich, augehend von der Analyse von Wilhelm von Humboldts Übersetzung und Einleitung zu Aischylos‘ Agamemnon, 1 mit der Rolle der Übersetzung im Prozess der deutschen Nationenbildung. Der Gegenstand, den ich in diesem Zusammenhang behandeln möchte, gehört zum umfassenderen Thema der Übersetzungen als Beschreibungen nationaler Vor- und Gegenbilder. Ziel meiner Untersuchung ist es, zu verstehen, inwiefern eine Analyse der Übersetzung und mithin ein Nachdenken über die Rolle der Sprache im menschlichen Leben dazu beitragen kann, den Begriff Nation im Deutschland des beginnenden 19. Jahrhunderts zu entwickeln. Die Fragen, denen ich primär nachgehen möchte, betreffen die Idee von Sprache und Übersetzung, die Humboldt zu dieser Zeit entwickelt und ihren Zusammenhang mit der Entstehung eines Nationalcharakters. Diesbezüglich soll geklärt werden, was Humboldt mit Nationalcharakter meint und in welchem Zusammenhang er Sprache und Nation miteinander verbindet. Es soll also nicht nur um das Nachdenken über die Übersetzung gehen, sondern auch um den Vergleich und den Bezug zu seinen sprachphilosophischen wie politischen Schriften. 2 Der Zusammenhang liegt nahe, wenn man bedenkt, dass Humboldt bei der Bestimmung seines vergleichenden Sprachstudiums behauptet, dieses sei ohne Interesse, wenn es nicht den 1 Für die Arbeit an diesem Beitrages wurde folgende Ausgabe der Werke Wilhelm von Humboldts verwendet: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner, Klaus Giel. 9. Auflage. Darmstadt 2002. 2 Vgl. dazu Humboldt: Werke, Bd. III: Schriften zur Sprachphilosophie, vor allem: Ueber den Nationalcharakter der Sprachen. (Bruchstück), S. 64-81; Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, S. 144-367; Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, S. 368-756; Werke, Bd. IV: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Isabella Ferron 114 Punkt erreiche, an welchem die Sprache mit der Gestaltung der nationellen Geisteskraft verbunden sei. 3 Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon nimmt eine besondere Rolle innerhalb des Übersetzungsbetriebs des 19. Jahrhunderts ein. Sie ist nicht nur wichtig, da Humboldt in der einleitenden Vorrede seine Theorie der Übersetzung erörtert, sondern auch weil sie einige zentrale Begriffe entwickelt, die für die Entstehung der deutschen Nation bedeutend sind. 4 Die Einleitung ist in zahlreichen Aufsätzen untersucht worden, aber ich bin der Meinung, dass man ihr noch mehr Aufmerksamkeit schenken und einige Aspekte noch einmal präsize beleuchten sollte. Ich werde versuchen, das Fallbeispiel Wilhelm von Humboldts als einen Beitrag zum Thema deutsche Nationenbildung darzustellen, der nicht nur die politische, geschichtliche und soziale Sphäre mit einbezieht, sondern auch andere Aspekte, wie die anthropologische und sprachliche Reflexion. 5 Im Laufe der geistigen Entwicklung Humboldts rückt der Begriff der Nation zunehmend in den Mittelpunkt dessen, was man heute sein sozialphilosophisches Denken nennen würde. Als Beleg dafür möge der Hinweis genügen, dass die Reflexionen, die Humboldt in der Einleitung anstellt, nicht nur das Problem einer möglichen Übersetzung fremdsprachiger Texte und somit ein Nachdenken über das Wesen der Sprache betreffen. Das Nachdenken über die Sprache, ihre Verwendung bei den Griechen, ihre Variation und Entwicklung im Laufe der Zeit, sowie ihre soziale Funktion als höchstes Ausdrucksmittel des menschlichen Geistes, ermöglicht Humboldt zugleich eine tiefere Reflexion über den Menschen, seinen Platz auf/ in der Welt, seine politische und soziale Rolle. Innerhalb des Rahmens der Berliner Aufklärung unterscheidet sich Humboldt von den Aufklärungsphilosophen, die sich mit den Fragen nach der Konstitution des wissenschaftlichen Erkennens, der inneren Möglichkeit des modernen Wissens und mit dem Verständnis des absolut gewordenen Wissens beschäftigen. Dagegen thematisiert er das Problem der Moderne nicht aus der Perspektive des Schaffenden, 3 Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, IV 1/ 2, S. 1; IV 9/ 10, S. 7; IV 25, S.18; IV 33/ 34, S. 24f. 4 Vgl. Daniel Baggioni: Langues et nations en Europe. Paris 1997. 5 Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber den Einfluss des verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung, S. 26-30; Ueber den Nationalcharakter der Sprachen (Bruckstück), S. 31-63. Vgl. dazu auch: Karl-Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. Bonn 1963; Tilman Borsche: Sprachansichten: der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humbolts. Stuttgart 1981. Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 115 sondern aus der des Rezipierenden. 6 Das Problem der Moderne wird - so Humboldt - zu dem des Verstehens der Erzeugnisse, die sich aus den Traditionen und dem darin vermittelten Allgemeinverständnis gelöst haben; die Moderne steht somit vor der Aufgabe der Ausarbeitung einer Verstehenslehre, die nicht mehr in der Begrifflichkeit des Konstruktivismus entfaltet werden kann. 7 Dabei verwendet Humboldt das Beispiel von Agamemnon als besonderen Fall, der als nationales Vorbild für das deutsche Volk gelten sollte. Durch seine Reflexionen über die Sprache fügt er auch seine anthropologischen Gedanken ein und behauptet, dass die Sprache einer Nation und der Charakter einer Nation miteinander verbunden seien. 8 Dieser Gedanke kann als der rote Faden meiner Analyse angesehen werden. 9 2. Die Hauptmerkmale der Einleitung Humboldts Neben Solgers Vorrede zu Sophokles-Übersetzung und Schleiermachers Akademierede ist die Humboldtsche Einleitung der dritte für den übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsel nach 1800 grundlegende Text. Humboldt weicht von der üblichen Bevorzugung des Sophokles ab und stellt den Ai-schyleischen Agamennon als die bedeutenste griechische Tragödie dar. Die Einleitung fügt sich in eine Zeitepoche ein, in der man viel über das Wesen der Sprache und ihre Funktion als gesellschaftliches Mittel diskutiert. Sie ist für die philosophische, wissenschaftliche und literarische Diskussion der Zeit in mehrfacher Hinsicht wichtig: 6 Vgl. Antonio Carrano: Un eccellente dilettante. Saggio su Wilhelm von Humboldt. Neapel 2002; u.a. Tableau de Berlin: Beiträge zur „Berliner Klassik“ (1786-1815). Hg. von Iwan-Michelangelo D’Aprile [u.a.]. Hannover-Laatzen 2005. 7 Vgl. Die Realität der Idealisten: Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt, Alexander von Humboldt. Hg. von Hans Feger, Hans Richard Brittnacher. Köln 2008; Lia Formigari: Linguistica e antropologia nel secondo settecento. Messina 1973; Manfred Geier: Die Brüder Humboldt. Reinbek bei Hamburg 2009; Helmut Gipper: Wilhelm von Humboldt als Begründer der modernen Sprachforschung. In: Wirkendes Wort 15 (1965), S. 1-19. 8 Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber den Nationalcharakter der Sprachen (Bruckstück), S. 31-63; Gerda Haßler: Sprachtheorien der Aufklärung. Zur Rolle der Sprache im Erkenntnisprozess. Berlin 1984; Georges Steiner: After Babel. Aspects of Languages and Translations. Oxford 1988. 9 Hans Aarsleff: Guillaume de Humboldt et la pensée linguistique de Idéologues. In: La grammaire générale: de Modistes aux Idéologues. Hg. von Adre Joly, Jean Stefanini. Lille 1977, S. 217-241; Formen der Aufklärung und ihre Rezeption. Hg. von Reinhard Bach [u.a.]. Tübingen 1999; Sprachdenken zwischen Berlin und Paris. Wilhelm von Humboldt. Hg. von Sarah Bösch, Markus Meßling. Tübingen 2004. Isabella Ferron 116 1. In der Einleitung wird Humboldts Interesse an der Antike nachweisbar: Es handelt sich um ein Interesse, das der Mode der Zeit nicht vollkommen folgt. Humboldt näherte sich dem Studium der Antike durch seine ersten Lehrer Engel, Campe und Kunth, dann durch Heyne und die Philologen der Göttinger Universität. Er sieht die Antike nicht nur als Ideal einer verlorengegangenen Harmonie zwischen dem Menschen und der Natur, sondern begreift sie als ein reales Instrument für die menschliche Bildung. In seiner Idee der Antike ist Humboldt zweifellos von Schillers und Winckelmanns Antikeideal beeinflusst, jedoch bearbeitet und adaptiert er sie entsprechend seiner Idee von politischer und gesellschaftlicher Bildung. 10 2. Die Einleitung ist wegen Humboldts Anmerkungen zur Sprache und Übersetzung berühmt geworden. Die Reflexionen zur Sprache und vor allem zur Legitimation einer gelungenen Übersetzung, die sowohl dem Originalwie auch dem Zieltext treu bleibt, gehören zu Humboldts Nachdenken über die Sprache. Humboldt ist einerseits von der Unmöglichkeit einer guten Übersetzung überzeugt, andererseits rechtfertigt er sie in zwei besonderen Fällen: Zum einen ist die Übersetzung für die Leute wichtig, die eine Sprache nicht kennen. 11 Zum anderen wird die Übersetzung als ein Hilfsmittel angesehen, um durch die Auseinandersetzung mit einer uns fremden Kultur das eigene Identitäts- und Nationalgefühl zu verstärken: Das Uebersetzen und gerade der Dichter ist vielmehr eine der nothwendigsten Arbeiten in einer Literatur, theils um den nicht Sprachkundigen ihnen sonst ganz unbekannt bleibende Formen der Kunst und der Menschheit, wodurch jede Nation immer bedeutend gewinnt, zuzuführen, theils aber und vorzüglich, zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eignen Sprache. Denn es ist die wunderbare Eigenschaft der Sprachen, dass alle erst zu dem gewöhnlichen Gebrauche des Lebens hinreichen, dann aber durch den Geist der Nation, die sie bearbeitet, bis ins Unendliche hin zu einem höheren, und immer mannigfaltigeren gesteigert werden können. 12 Demzufolge entwickelt er - parallel zum Begriff Treue - die Begriffe das Fremde und die Fremdheit. 13 Diesen Begriffen liegt die These Humboldts zugrunde, dass sich die Sprache und somit die Bildung durch den Dialog äußern und existieren: Bildung gilt bei Humboldt als die möglichst weitreichende und zugleich möglichst ausgewogene Entwicklung aller mensch- 10 Humboldt: Werke, Bd. I: Theorie der Bildung des Menschen, S. 234-240; Plan einer vergleichenden Anthropologie, S. 337-375. 11 Vgl. dazu auch Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber das vergleichende Sprachstudium, IV 17, S. 12. 12 Ebd., Bd. V: Einleitung zum Agamennon, VIII 130/ 131, S. 138f. 13 Vgl. dazu auch ebd., Bd. III: Ueber das vergleichende Sprachstudium, IV 6/ 7, S. 5. Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 117 lichen Anlagen. 14 Voraussetzung dafür ist die umfassende Wechselwirkung des Individuums mit der Welt, die sich in der und durch die Sprache vollzieht. In der Wechselwirkung zwischen Ich und Welt ergibt sich auch das Problem der Pluralität und der Verschiedenheit, verstanden sowohl als Mannigfaltigkeit der menschlichen Kräfte wie auch als Mannigfaltigkeit der Welt, mit der das Ich durch die verschiedenen existierenden Einzelsprachen in Kontakt kommt. Mit der Pluralität wiederum stellt sich die Frage nach einer zugrundeliegenden Einheit und das Problem der Auseinandersetzung der Menschen einer Nation mit denen einer anderen. 15 Daraus ergibt sich die Wichtigkeit einer Analyse der Begriffe Fremde und Fremdheit. Bezogen auf die Pluralität entwickelt Humboldt den Begriff von Bildung sowohl des einzelnen Individuums wie auch der ganzen Menschheit. 16 Dabei analysiert er die Funktion der Sprache und der Übersetzung für die bildende Wechselwirkung des Menschen in der Welt: Die Übersetzung macht klar, dass die Sprache als eine selbständige Welt zu verstehen ist, die sowohl zwischen der inneren Welt des Menschen und der Welt der äußeren Gegenstände als auch zwischen Ich und Du vermittelt. Sprache dient nicht nur zum Ausdruck der Gedanken, sondern sie ist an deren Entstehung beteiligt, da die Sprache mehr ist als nur ein Mittel zum Zweck der Verständigung, vielmehr eine Weltansicht, die von Sprache zu Sprache verschieden ist. 17 Durch die Sprache verbindet Humboldt die Menschen nicht nur mit der Welt, sondern auch mit anderen Menschen. Die Angewiesenheit des Menschen auf andere ist es, die neben der Auseinandersetzung mit der Welt Sprache notwendig macht und zugleich deren Struktur prägt. Durch die Reflexionen zur Übersetzung wird auch der dialogische Charakter der Sprache deutlich, weil jedes Ich durch die Sprache und demnach durch die Übersetzung nicht nur körperlich und gefühlsmäßig, sondern auch geistig auf ein anderes Du angewiesen ist, das als Prüfstein für die Objektivierung des eigenen Denkens und die Verwirklichung der eigenen Bildung benötigt wird. Daher ist Sprache immer Wechselrede, d.h. auf Erwiderung hin angelegt. 18 Im Begriff der Wechselrede verbirgt sich auch der der Fremdheit, da auch die Wechselwirkung mit dem Fremden nicht nur die Verwirklichung der menschlichen Bildung 14 Ebd., Bd. III: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprauchbaues. S. 144-367. 15 Ebd. 16 Ebd., VI 150, S. 189. 17 Ebd., VI 188/ 189, S. 234f.; VI 205, S. 253; Ebd., Bd. III: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, VII 60, S. 434; Jürgen Trabant: Humboldt ou le sense du language. Liège 1992. Siehe auch Isabella Ferron: „Sprache ist Rede”. Ein Beitrag zur dynamischen und organizistischen Sprachauffassung Wilhelm von Humboldts. Würzburg 2009, S. 106-110. 18 Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau, V 115, S. 90. Isabella Ferron 118 ermöglicht, sondern im einzelnen Individuum das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sprachlichen und politischen Gemeinschaft erweckt, die mit der Nation zu identifizieren ist. 3. Es gilt in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass sich das Nachdenken über die Sprache und den Begriff des Fremden innerhalb einer politischen Reflexion über die Lage Deutschlands vollzieht. Die Tätigkeit Humboldts im Dienst des preußischen Staates fällt in die sogenannte preußische „Reform- Ära“, deren wichtigste Vertreter nach 1809 die Freiherren vom Stein und von Hardenberg waren. 19 Zu dieser Zeit ist Deutschland noch keine Nation, sondern nur ein „geographischer Begriff“, wie es Metternich während des Wiener Kongresses ausdrückte. Ein Jahr nach dem Wiener Kongress, an dem auch Humboldt als Minister teilgenommen hat, verfasst er diese Einleitung, in der er - unter dem Nachdenken über die Sprache, die Übersetzung und den Charakter der Griechen verborgen - auch eine Reflexion zur aktuellen politischen Lage Deutschlands anstellt. Der Akzent liegt auf der Situation Deutschlands nach der Invasion Napoleons in Preußens und vor allem auf den Folgen des Frieden von Tilsit im Jahr 1807. Humboldt betrachtet die Veränderungen seiner Zeit vor dem Hintergrund des geistigen Klimas in Deutschlands, und allmählich wird ihm die deutsche Nation nicht nur eine kulturelle Größe, sondern zugleich eine politische Macht, die durch die Bildung zu verwirklichen ist. Beinahe zehn Jahre früher hatte Fichte 1807/ 08 vor dem Berliner Publikum seine Reden an die deutsche Nation gehalten, in denen er sich auch mit der Rolle der Sprache als Katalysator der deutschen Identität befasst. 20 Dabei lassen sich einige Ähnlichkeiten zwischen Fichte und Humboldt feststellen, die sich für unsere Untersuchung als fruchtbar erweisen. Sowohl Humboldts Überlegungen als auch die Fichtes setzen ein Konzept von Nation voraus, das diese mit der Identität eines Volkes identifiziert und dadurch - so Fichte - den „nationalen Charakter“ feststellt. Ihre Auffassungen von Nation, das ist hervorzuheben, enthalten noch nicht jene nationalistischen Elemente, die kurz darauf die Begriffe Nation und nationale Identität vor allem prägten und die man sogar dem Gedankengut Humboldts und Fichtes zuweisen wollte. Nation, und somit Nationalcharakter, bedeutet sowohl für Humboldt 19 Ulrich Ricken: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin 1990; Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der „Idéologie”. Hg. von Birgit Schlieben-Lange. Münster 1989-1994. 20 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Hamburg 2008; dort vor allem die vierte Rede. Vgl. dazu auch: I linguaggi e la storia. Hg. von Antonio Trampus, Ulrike Kindl. Bologna 2003. Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 119 wie auch für Fichte einen Begriff von vollkommener Menschheit, die im deutschen Volk ihren Ausdruck finden soll. Es geht bei ihnen darum, „den Geist des Volks“ und somit der Nation zu bestimmen. In dem Begriff Nation sieht Humboldt wie auch Fichte die Vollendung des menschlichen Ideals. Letzteres ist nicht an politische Implikationen im modernen Sinne gebunden, sondern es bezieht sich nur auf die Analyse des menschlichen Charakters im Laufe der Zeit. Humboldt verwendet die drei Termini, Volk, Nation, Staat in seinen Überlegungen immer im Zusammenhang mit dem Nachdenken über die Sprache: Wenn man die Wörter Volk, Nation und Staat, als durch feste Gränzen von einander geschieden ansieht, so bezieht sich das erste auf den Wohnsitz und das Zusammenleben, das zweite auf die Abstammung, das letzte auf die bürgerliche Verfassung. […] Nation aber gilt vorzüglich als Bezeichung derjenigen Völkereinheit, auf die alle verschiedenartigen Umständen einwirken, ohne dass man gerade darauf sieht, ob Abstammung oder Sprache innerhalb dieser Einheit dieselben sind, oder sich nicht noch über dieselbe hinauserstrecken. 21 Zu bedenken ist dabei, dass Humboldt Politik noch im griechischen Sinne des Wortes versteht, und dass sein Nachdenken über die notwendigen Reformen des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft noch stark einem anthropologischen Rahmen verpflichtet sind. 22 Politik ist für Humboldt alles, was sich mit dem Verständnis des menschlichen Wesens und dessen Verfeinerung im gesellschaftlichen Leben befasst. Dabei hilft das Studium der Antike. 23 3. Die Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache und somit mit einer Kultur. Humboldt und die Griechen in der Einleitung zu Agamennon Was bedeutet uns die Existenz anderer Sprachen, wie begegnen sie uns, wie erleben wir sie? Bedrohlich, überfordernd, befremdend, abweisend, befreiend, hilfreich, geheimnisvoll, faszinierend? Es liegt auf der Hand, dass der konkrete Moment des Kontaktes zwischen zwei Sprachen zu einem Anwen- 21 Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, VI 188, S. 233; Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1992, Bd. VII, S. 142-151 und S. 380-431. 22 Vgl. dazu Fulvio Tessitorre: I fondamenti della filosofia politica di Wilhelm von Humboldt. Neapel 1965; Hans Ernst Schiller: Die Sprache der realen Freiheit: Sprache und Sozialphilosophie bei Wilhelm von Humboldt. Würzburg 1998. 23 Humboldt: Werke, Bd. II: Ueber das Studium des Alterthums und des griechischen insbesondere, S. 1-25. Isabella Ferron 120 dungsfall von sehr viel Allgemeinerem wird: Das Verständnis und die Beherrschung von Fremdsprachen können als ein spezieller Fall von Meisterung des Unbekannten, des positiven Umgangs mit fremden Menschen, mit ihren persönlichen Eigenarten und ihrer kulturellen Andersartigkeit bestimmt werden. Das zwingt dazu, die Situation des Sprachwechsels zu beleuchten, da das Wort ‚fremd’ nicht nur eine Sprache und ihre Sprecher bezeichnet, sondern uns mit jedem fremden Menschen das Fremde gegenübertritt. Worum soll es gehen? Um den Fremden, um das Fremde oder die Fremdsprache? Was hilft dabei, diesen Fremden und seine Sprache zu kennen? Diese Fragen stellte sich Humboldt, als er begann, sich mit der Bestimmung der Sprache zu befassen. Seine Arbeit als Minister im Dienst des preußischen Staates bringt ihn in Kontakt mit anderen Ländern, ihren Sprachen und ihren Kulturen: Vor Augen hat Humboldt vor allem das Baskenland, aber in sein zunehmendes Interesse an der Bestimmung der Sprache als Katalysator menschlichen Lebens sind auch die Welt der Antike und insbesondere die Griechen mit einbezogen. Durch seine Lehrer Engel und Campe wird er mit der anregenden Debatte seiner Zeit über die Literatur des antiken Griechenlands vertraut und übernimmt die gängige Vorstellung, die in der Antike ein Beispiel für verlorengegangene Harmonie und den Gegenpol zur modernen korrupten Gesellschaft sieht. Innerhalb dieser Debatte entwickelt Humboldt aber eine eigene Idee von der Antike und vor allem von den Griechen. Durch seine intensive Übersetzungstätigkeit (Aischylos, Kallimachus, Pindar usw.) setzt er sich mit der griechischen Literatur auseinander und plant, ihre Spezifizität und Verschiedenheit gegenüber dem modernen Geist darzustellen. Er fügt dieses Interesse in den Rahmen eines allgemeineren Programms ein: Er will die Charakteristik des menschlichen Geistes durch die Analyse der zwei Formen, wodurch er sich geäußert hat, d.h. der antiken und der modernen, untersuchen. Demzufolge liest, analysiert, interpretiert Humboldt die Werke der antiken Griechen, weil er in ihnen die Form und die Kraft des menschlichen Geistes finden will. Im Charakter der Griechen sieht er die höchste Manifestation der Menschheit verwirklicht und will sie definieren und analysieren: Wie sich aber der Sinn der Sprache erweitert, so erweitert sich auch der Sinn der Nation. Wie hat, um nur dies Beispiel anzuführen, nicht die Deutsche Sprache gewonnen, seitdem sie die griechischen Silbenmasse nachahmt, und wie vieles hat sich nicht in der Nation, gar nicht bloss in dem gelehrten Theile derselben, sondern in ihrer Masse, bis auf Frauen und Kinder verbreitet, dadurch entwickelt, dass die Griechen in ächter und unverstellter Form wirklich zur Nationallecture geworden sind. Es ist nicht zu sagen, wieviel Verdienst um die Deutsche Nation durch die erste gelungene Behandlung der antiken Silbenmasse Klopstock, wie noch weit mehr Voss gehabt, von dem man behaupten kann, dass er das klassische Alterthum in die Deutsche Sprache eingeführt hat. Eine mächtigere und Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 121 wohlthätigere Einwirkung auf die Nationalbildung ist in einer schon hoch cultivirten Zeit kaum denkbar, und sie gehört ihm allein an. 24 Das Studium der Griechen, ihrer Kultur und ihrer Sprache bedeutet für Humboldt Menschenkenntnis; er erläutert diese Idee aus verschiedenen Perspektiven. Eine dieser Perspektiven ist in der Einleitung zu seiner Übersetzung von Aischylos’ Agamennon enthalten: Darin geht es eben nicht nur um ein Nachdenken über die Bestimmung der Übersetzung, sondern, verbunden damit, zugleich über die Begriffe von Fremde und Fremdheit, die eine wichtige Rolle für seine Idee von der menschlichen Bildung und damit auch von der Bildung der deutschen Nation spielen. 25 Seiner Meinung nach sollte der Übersetzer den Original-Text so behandeln, dass der Leser eher die Anwesenheit des Anderen als die der Fremdheit spürt. Das bedeutet: Die Übersetzung soll den fremden Charakter auftauchen lassen und ihn nicht hinter der Fremdheit einer anderen Epoche und Kultur verbergen. Diesbezüglich betont Humboldt, dass der wahre Kontakt mit dem Fremden eine Überwindung der Fremdheit bedeutet: Mit dieser Ansicht [der der Treue, I. F.] ist freilich nothwendig verbunden, dass die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt, aber die Gränze, wo dies ein nicht abzuläugnender Fehler wird, ist hier sehr leicht zu ziehen. Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist. 26 Mit Walter Benjamins Worten soll die wahre Übersetzung durchscheinend sein, so dass sie die Sprache des Originals zeigen kann. 27 Das Original symbolisiert eine fremde Gesellschaft und eine fremde Kultur, die uns durch den Akt der Übersetzung angenähert wird. Da sich - so Humboldt - all die existierenden Einzelsprachen gleich entwickeln und mit unterschiedlichen Mitteln dasselbe Konzept ausdrücken können, 28 vertritt er die These, dass eine gut gemachte Übersetzung den Charakter des Fremden erhalten und mitteilen kann: 24 Ebd., Bd. V: Einleitung, VIII 131/ 132, S. 139f. 25 In Bezug auf den Begriff Bildung ist es wichtig, auf folgende Textpassagen von Humboldt zu verweisen, die einen umfassenderen Blick des Begriffs ermöglichen: Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber die Verschiedenheiten. VI 218, S. 268; VI 225, S. 277; VI 234, S. 287; VI 242, S. 296; ders.: Ueber die Verschiedenheit, VII 49, S. 241; wie auch Bd. I: Theorie der Bildung. 26 Ebd., Bd. V: Einleitung, VIII 132, S. 140. 27 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/ Main 1972-1989, Bd. IV/ 1, S. 9-21. 28 Humboldt: Werke, Bd. V: Einleitung, VIII 129, S. 137. Isabella Ferron 122 Man hat schon öfter bemerkt, […] dass […] kein Wort Einer Sprache vollkommen einem in einer andren Sprache gleich ist. Verschiedene Sprachen sind in dieser Hinsicht nur ebensoviel Synonymieen; jede drückt den Begriff etwas anders, mit dieser oder jener Nebenbestimmung, eine Stufe höher oder tiefer auf der Leiter der Empfindungen aus. Eine solche Synonymik der hauptsächlichsten Sprachen, auch nur (was gerade vorzüglich dankbar wäre) des Griechischen, Lateinischen und Deutschen, ist noch nie versucht worden, ob man gleich in vielen Schrifstellern Bruchstücke dazu findet, aber bei geistvoller Behandlung müsste sie zu einem der anziehendsten Werke werden. Ein Wort ist so wenig ein Zeichen eines Begriffs, dass ja der Begriff, ohne dasselbe nicht entstehen, geschweige denn fest gehalten werden kann; das unbestimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen. 29 Diese Gedankenfolge resultiert sicherlich aus seinem Studium von Sprachen wie der baskischen oder der der Quechua: Dadurch wird sich Humboldt dessen bewusst, was hinter der traditionellen Vision der Übersetzung steht und untersucht das in Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung Deutschlands. Wenn die Fremdheit nicht als etwas Positives und Bereicherndes, sondern nur als etwas Fremdes im Zieltext empfunden wird, handelt es sich um keine gelungene Übersetzung, die das Interesse des Lesers weckt und lebendig hält. Ist der Übersetzer durchaus nicht im Stande, den Originaltext so zu übersetzen, dass man sich dazu hingezogen fühlt, hat er seine Aufgabe nicht vollendet. Im übersetzten Text, der doch dem Sprachgfefühl des zeitgenössischen Publikums gemäß sein muss, soll man noch das Original, also das fremde Element erahnen, der fremde Charakter des Originals soll - mit Humboldts Wörtern - nicht „verdünkelt“ sein. Der Übersetzer muss uns vielmehr die Möglichkeit anbieten, uns an die „Scheidelinie“ zu stellen, d.h. in diejenige Situation, in der wir keine Angst mehr vor dem Ungewöhnlichen und Unbekanntem, sondern eher Interesse daran empfinden. Gelingt das, schreibt der Übersetzer so, „wie der Originalverfasser in der Sprache des Uebersetzers geschrieben haben würde“. 30 Die Übersetzung soll uns den Geist des Originaltextes übermitteln, wobei dieser Übermittlungsprozess freilich im Hintergrund bleibt. Daraus folgt, dass das Fremde ein bereichernder Faktor und ein wichtiger Katalysator im Prozess der Entwicklung eines nationalen Charakters ist. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 140f. Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 123 4. Humboldt als Vordenker der Deutschen Nation Humboldt interessiert sich für die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit mit allen ihren Errungenschaften und verbindet sie mit dem Problem der Bildung des Bürgertums. In der Einleitung zum Agamemnon wie im früheren Fragment Über den Geist der Menschheit und in seinen sprachphilosophischen Schriften geht er von der These aus, es gebe keine Logik, die spezialisierte Leistungen als Ausdruck einer gesetzlichen Notwendigkeit begründe, sondern es seien gerade solche Leistungen, die den Fortschritt markierten. In diesem Zusammenhang gewinnt die Individualität eine bedeutende Rolle, in der sich der „Geist der Menschheit” verschiedenartig zeigt. Ihre Leistung in der Gesellschaft besteht auch in einer verbindenden Funktion mit anderen Individuen, dadurch entstehen die Nationen. Die Sprache sei laut Humboldt das Mittel, das die Herstellung solcher Verbindungen am besten ermöglicht. In der Verbindung von Individualitäten erblickt er den Volkscharakter und somit die Idee von Nation. In der Einleitung spricht Humboldt vom Charakter der Nation, aber er meint damit nicht das, was er ursprünglich den Geist der Nation genannt hatte. Humboldt versteht „Charakter“ im Sinne von „innere[r] Form“, also die Struktur des Verhaltens der Nation. Diese Struktur wird in zwei Hinsichten in den Blick genommen: 1. Unter Charakter versteht Humboldt das energetische Prinzip, das allen Äußerungen von Personen, Personengruppen oder Sprachen ein „charakteristisches“ Gepräge verleiht. Als energetisch-dynamisches Prinzip des Verhaltens entzieht er sich einer strengen begrifflichen Explikation. 2. Humboldt stellt die Chiffrierungsfunktion des Charakters heraus. Die „innere Form” drückt sich in Chiffren aus, bringt „Charactere” im Sinne von Zeichen hervor. Das Verhalten wird durch die Vermittlung des Charakters in Zeichenbeziehungen gesetzt. Die Wirklichkeit, auf die das Verhalten durch die innere Form des Charakters bezogen ist, ist eine symbolisch vermittelte und durch Repräsentation gegebene Wirklichkeit. Demzufolge begründet der kollektive Charakter die kulturelle Zusammengehörigkeit von Sozialverbünden. Was Humboldt also unter der Bezeichnung des kollektiven Volkscharakters und somit der Nation untersuchen und darstellen möchte, ist der kulturelle Habitus von Gruppen, d.h. die Disposition zur Erzeugung eines typischen Verhaltensstils, durch den die Mitglieder auf einer Ebene unterhalb der Isabella Ferron 124 Institutionen und kodifizierten Normen mit Sozialverbänden vermittelt sind und in diesen Verbänden ihre personale Identität finden: Die Invidualitaet und die Nationalitaet […] sind die beiden grossen intellectuellen Formen, in welchen die steigende und sinkende Bildung der Menschheit fortschreitet. Im Bunde mit der alles Menschliche leitenden Macht beherrschen sie die Schicksale des Menschengeschlechts […]. Die Sprache lebt und webt in der Nationalität und das Geheimnissvolle ihres Wesens zeigt sich gerade darin vorzüglich, dass sie aus der scheinbar verwirrten Masse von Individualitaeten hervorgeht, unter welchen keine sich gerade einzeln auszuzeichnen braucht. […] Eine Sprache lässt sich daher nur in Verbindung mit einem Volke denken […]. 31 Humboldt schreibt in der Einleitung, dass das Studium der Griechen durch die Figur Agamenons dazu beitragen kann, die Entstehung des Nationalbewusstseins beim deutschen Volk zu verwirklichen. Er verbindet die Antike mit der Moderne, da er glaubt, dass es zwischen den alten Griechen und den Deutschen einige Berührungspunkte gibt. Die Griechen verkörpern das Ideal einer vollendeten Menschheit, das die Deutschen verfolgen sollten, um sich als Volk und als Nation zu identifizieren. Wichtig ist also das Studium der Antike, da man in der Moderne ein aufblühendes Interesse am Handeln der Masse betrachtet, während das Einzelne, das Individuum kaum in Betracht gezogen wird. Kernpunkt des Humanitätsideals Humboldts und damit auch seiner Idee von Nation ist der individuelle Charakter. Humboldt zufolge besteht der Charakter aus den Gewohnheiten und Denkweisen eines Menschen: Der Nationalcharakter ist mit dem Volksgeist identisch. Der Nationalcharakter, also die Geisteseigentümlichkeit einer Nation - so Humboldt - ist historisch situiert, aber nicht erklärbar und hängt mit der Sprache zusammen. Seinem Humanitätsideal entsprechend entwickelt Humboldt sein Konzept von Nation im Sinne eines neuen anti-ständischen Gemeinschaftskonzeptes. 32 Wichtig ist es hier, den Unterschied zwischen Volk und Nation noch einmal zu betonen: Mit Volk ist eine Form von Gemeinschaft gedacht, in der man sich durch die Sitten, die Sprache und einen gemeinsamen Kult identifiziert. Das Volk repräsentiert eine wichtige Vorstufe für die Nationenbildung. Nation stützt sich auf die Mitbestimmung: Das Individuum schreibt sich nicht allein eine Ordnung zu, sondern es gehorcht den von der Gesellschaft bestimmten Regeln. Nation bedeutet bei Humboldt die Individualität eines Volkes, den Audruck einer ewigen Ordnung der Dinge, es handelt sich um eine kosmopolitische Gemeinschaft als Symbol der Menschheit. In der Eigentümlichkeit einer Sprache drückt sich die Eigentümlichkeit der sie sprechenden Nation aus. Die Sprache ist Ausdruck eines nationalen 31 Ebd., Bd. III: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, VI 189, S. 235. 32 Vgl. ebd., Bd. V: Schriften zur Politk. Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 125 individuellen Lebens, und somit ist die Nation Subjekt der Sprache. Sprache existiert nur in der Rede der Individuen und wird von diesen auch als etwas Fremdes, Selbständiges in zweifacher Hinsicht erfahren: 1. als gegebenes System von Regeln und Wörtern 2. als unpersönliche Kraft, mit Humboldt gesprochen als „Energeia“. Humboldt sieht eine Identifikation von Nationalcharakter und Sprache. Man „kann sich beide nie identisch genung denken“, sagt er (s.o.) und vertritt die These, dass Sprachen Nationen brauchen, die sie sprechen, und Nationen gar nicht anders existieren können als sprechend. In diesem Zusammenhang scheint es wichtig, noch einmal den Begriff des Fremden ins Gedächtnis zurückzurufen. In einer gut gelungenen Übersetzung soll nach Humboldt die Identität des Anderen im Zieltext anwesend und spürbar sein. Er hält es für grundlegend, über das Fremde und die Fremdheit nachzudenken und sieht das fremde Element als etwas an, das die eigene Kultur durch die wechselseitige Auseinandersetzung bereichern kann. Humboldt betont die sprachliche Verschiedenheit und behauptet, dass Übersetzungen existieren, weil die Menschen verschiedene Sprachen sprachen. Die Übersetzung ist ein Beweis für die menschliche Fähigkeit, andere Fremdsprachen kennenzulernen, um mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren. Bei dem Erkennen des Fremden, des Andersseins, der Alterität, erkennt der Mensch seine eigene und nationale Identität. Das bedeutet, dass die Übersetzung nicht nur eine geistige Tätigkeit ist, sondern auch eine moralische: In der Anerkennung und Akzeptanz des Anderen, des Fremdem sieht Humboldt die Anerkennung der verschiedenen Kulturen: Es ist nicht zu kühn zu behaupten, dass in jeder, auch in den Mundarten sehr roher Völker, die wir nur nicht genug kennen (womit aber gar nicht gesagt werden soll, dass nicht eine Sprache urspünglich besser als eine andre, und nicht einige andren auf immer unerreichbar wären), sich Alles, das Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste ausdrücken lässt. 33 Übersetzen bedeutet also Verstehen, es ist ein objektivierendes Wissen, ein Handeln, eine Verwandlung, ein kultureller Faktor. Die Akzeptanz des Fremden ist unbedingt notwendig, um die eigene Sprache und Kultur zu bereichern und sich ihrer bewusst zu werden. Die Verschiedenheit ist kein Mangel, sondern die Affirmation der Menschheit in einer mannigfaltigen Vollkommenheit. Das Fremde und die Verschiedenheit signalisieren die Eigentümlichkeit jeder Sprache und somit jeder Nation. Auf diese Weise beteiligt sich die Übersetzung am Prozess der Bildung, da sie zuerst eine Bildung des Einzelnen ist: Sie symbolisiert den Übergang von einer Kultur 33 Ebd., Bd. V: Einleitung, VIII 131, S. 139. Isabella Ferron 126 zu einer anderen und den Zusammenhang der gesellschaftlichen Beziehungen. Diesbezüglich ist sie das Schlussmittel für die Entstehung von Identität: Denn Uebersetzungen sind doch mehr Arbeiten, welche den Zustand der Sprache in einem gegebenen Zeitpunkt, wie an einem bleibenden Massstab, prüfen, bestimmen, und auf ihn einwirken sollen, und die immer von neuem wiederholt werden müssen, als dauernde Werke. Auch lernt der Theil der Nation, der die Alten nicht selbst lesen kann, sie besser durch mehrere Uebersetzungen, als durch eine, kennen. Es sind eben so viel Bilder desselben Geistes; denn jeder giebt den wieder, den er auffasste, und darzustellen vermochte; der wahre ruht allein in der Urschrift. 34 Bei Humboldt steht der Mensch als Kulturwesen im Zentrum, und die Kultur wird als das begriffen, was den Menschen erst wahrhaft zum Menschen macht. Humboldts Interesse an der Kultur ist zum einen theoretisch in dem Sinne, dass er Kultur und Kultiviertheit begreifen will; zugleich ist dies Interesse aber auch praktisch, weil er den Kulturprozess selbst förden will. Letzterer richtet sich sowohl auf die Gattung (die Nation) als auch als das einzelne Wesen (die einzelnen Individuen). Die Pluralität der Weltansichten, die sich in den kontigenten Einzelsprachen ausdrücken, sind ergänzende Perspektiven auf die objektive Welt, so dass sie alle nötig und wichtig sind. Im Hintergrund einer Sprache steht der Geist oder die Subjektivität der Menschheit, die sich durch die Entwicklung der vielen Sprachen enthüllt. Die Sprachen können als Band zwischen den Nationen begriffen werden: Die Nationen und die Individualität der Sprachen werden nicht als das betrachtet, was zu überwinden, sondern was für die Sprachen und die Identität der Sprachteilnehmer konstitutiv ist. 35 Sprache ist ein kulturelles und soziales Phänomen und somit auch Wegweiser der Sittlichkeit, die als das richtige Verhältnis zwischen Individualität und Universalität, von Besonderem und Allgemeinem zu verstehen ist. Das soll die Nation, der Staat fördern: Beide sind sittlich erst wenn sie die Entwicklung der Individualität erlauben. Umgekehrt sucht und braucht jede Individualität Gemeinschaften und die Geltung allgemeiner Prinzipien. Individuum und Staat bzw. Nation sind die Pole eines Kraftfeldes, die sich nur in Beziehung zueinander entwickeln können. In Humboldts früher Schrift über die Grenzen des Staates wird das staatliche Handeln ganz auf die Schutzfunktion reduziert, damit dem Einzelnen Freiheit gewährleistet wird. Das soll der Staat auch durch Verbindungen und Beziehungen mit anderen Nationen erreichen. Der Begriff der Nation ist bei Humboldt aber noch nicht staatspolitisch, sondern in der ursprünglichen Bedeutung von natio (= Herkunft aus einem 34 Ebd., V 136/ 137, S. 144f. 35 Menschheit und Individualität. Zur Bildungstheorie und Philosophie Wilhelm von Humboldts. Hg. von Erhard Wicke, Wolfgang Neuser [u.a.]. Weinheim 1997. Wilhelm von Humboldts Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) 127 bestimmten Landstrich) zu verstehen; er wird in der Einleitung wie auch in den sprachphilosophischen und anthropologischen Schriften an Hand des Korrelats der Sprache bestimmt: Insofern die Sprachkunde und die Untersuchung des Einflusses der Sprache auf ein Volk, und der Beziehung, in welcher die Völker zu dem Entwicklungsgange der Menschheit stehen, des Begriffes der Nation bedürfen, muss er auf eine zu der oben gegebenen Bedeutung passende Weise genommen werden. In diesem Sinne ist eine Nation ein solcher Theil der Menschheit, auf welchen so in sich gleichartige und bestimmt von andren verschiedene Ursachen einwirken […]. Insofern ist der Begriff auch ein relativer, da es mehrere unter einander begriffene Sphären der Eigenthümlichkeit geben, und Völker, die in einer beschränkteren einander als verschiedene Nationen entgegenstehen, in einer weiteren zu der nämlichen gehören können. Die wirkliche Verschiedenheit prägt sich allemal auch in Verschiedenheit der Sprache […]. Was nun die Nationen im Grossen gestaltet, lässt sich auf allgemeine Punkte zurückführen. Obenan stehen in diesen Einwirkungen Abstammung und Sprache. Dann folgen das Zusammenleben und die Gleichtheit der Sitten. Die dritte Stelle nimmt die bürgerliche Verfassung ein, und die vierte die gemeinschaftliche That und der gemeinschaftliche Gedanke, die nationelle Geschichte und Literatur. […] Eine Nation wird erst wahrhaft zu einer, wann der Gedanke es zu wollen in ihr reift, das Gefühl sie beseelt eine solche und solche zu seyn. In Masse, wie einzeln, ist es der Gedanke, in dem der Mensch sich zusammenfasst, seine Naturanlagen sichtet, läutert und ins Bewusstseyn bringt, und sich seine eigenthümliche Bahn bricht. Das Streben, dies Nationalgefühl zu wecken und zu leiten, ist der Punkt, wo die bürgerliche Verfassung in den Entwicklungsgang der Menschheit eingreift […]. 36 Humboldt sieht sehr genau, dass die Nation zu seiner Zeit immer noch eine Idee ist und als solche behandelt werden muss, solange die Deutschen zu einer Nation nicht erzogen werden. Das bedeutet: Die Gesellschaft muss zuerst deutsch werden und das Volk muss zuerst lernen, seine Angelegenheiten selbst zu verwalten. Um das zu verwirklichen, muss das deutsche Volk sich anderen Völkern vergleichen, die sich bereits als Nation gefunden haben. Als sehr guter Kenner Frankreichs, mit dem Humboldt während seines Pariser Aufenthalts vertraut geworden war und das er hoch schätzte, sieht er für die Deutschen keine Möglichkeit darin, sich als Nation mit den Franzosen zu vergleichen. 37 Denn im Brief an Jacobi vom 26. Oktober 1798 stellt er fest, dass für ihn Frankreich keine Nation ist, da es nicht von seinen inneren Triebkräften geleitet wird. Er wünscht sich dagegen, dass die Deutschen in diesem Sinne zu einer Nation werden können, und denkt, dass das passendste Beispiel das der antiken Griechen ist. Es handelt sich bei Humboldt also nicht nur um eine schöpferische Auseinandersetzung mit den 36 Humboldt: Werke, Bd. III: Ueber die Verschiedenheiten, VI 188/ 189, S. 234f. 37 Siehe ebd., Bd. IV: Denkschrift über die deutsche Verfassung and den Freiherrn vom Stein. XI 95/ 96-XI 11, S. 302-322. Isabella Ferron 128 Griechen, sondern auch um den Versuch, die Existenz der deutschen Nation zu legitimieren. Das, was die antiken Griechen und die modernen Deutschen nach Humboldts Vorstellung gemeinsam haben sollen, ist die Überzeugung, dass der allerletzte Zweck sowohl der Bildung als auch des Staates der Mensch ist. Ruth Neubauer-Petzoldt „eine neue Welt den Deutschen aufzuschließen“: Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares zwischen Aktualisierung und Universalisierung Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande zu bringen und schwerer, seltener. Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Ich bin überzeugt, daß der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist. Novalis Ludwig Tieck war einer der vielfältigsten Übersetzer seiner Epoche, der sich nicht nur mit englischer und spanischer, italienischer und schwedischer Literatur beschäftigte, 1 sondern dessen Übersetzungen durchgängig eine extensive Lektüreerfahrung seiner Leser voraussetzten und diese als didaktischen Impetus auch thematisierten, um den intertextuellen Echoraum seiner eigenen Texte ausleuchten zu können. Diese angestrebte individuelle Bildung durch die Kenntnis fremder Literatur und Kultur zielte auf ein geschärftes Bewusstsein und eine erhöhte Sensibilität für die Qualitäten der eigenen Literatur ab, so dass Übersetzungen wie romantische Literatur im Dienst der Bildung eines Nationalbewusstseins standen, das sich an der deutschen Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart der modernen Werke und an einem überzeitlichen Kanon vorbildlicher Weltliteratur orientierte. Die national-patriotische Absicht der Übersetzungen Ludwig Tiecks aus dem Althochdeutschen, der Minnelieder und Ulrich von Lichtensteins Frauendienst, und die Begeisterung für das Volksbuch als identitätsstiftende Volksliteratur ist offensichtlich und nachvollziehbar, indem so die eigene Geschichte und das kulturelle Erbe aufgewertet werden. 2 Nach romantischem und wieder modernem Verständnis könnte man auch von einer eigentlich übersetzungsfeindlichen Haltung sprechen, der es 1 Dies ist nur eine Auswahl, wie der „Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck qui sera vendue a Berlin le 10 Décembre 1849 par MM. A. Asher & Comp.“ (Wiesbaden 1970) dokumentiert, der 7930 Titel aufführt. 2 Vgl. zu Tieck als Übersetzer meinen so betitelten Artikel in: Tieck-Handbuch. Hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer. Im Druck (Berlin/ New York 2011) und Marek Zybura: Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber. Zur frühromantischen Idee einer „deutschen Weltliteratur“. Heidelberg 1994. Ruth Neubauer-Petzoldt 130 nicht um Belebung und Austausch, sondern um die Bestätigung konstruierter nationaler Kulturwerte ging - ein Verhalten, daß typisch ist für Länder, die sich im Prozess der nationalen Einigung und Identitätsbildung befinden. 3 Doch genau diese Einstellung ist bei Tieck nicht festzustellen, vielmehr werden der Don Quixote 4 wie Shakespeares Werke als unübertroffene Leitbilder und Modelle anerkannt, deren Kenntnis in Deutschland zu einer Verbesserung des literarischen Geschmacks und der Urteilsfähigkeit führen und die Rezeption der romantischen, an dieser Literatur geschulten Poetik erleichtern und von jeder Rechtfertigung gegenüber konservativen Kräften entlasten sollte. Die Leser der romantischen Übersetzungen sollten mit neuen Formen, sprachlicher Vielfalt und die Grenzen der Gattungskonventionen überschreitenden Texten vertraut werden und so einen kritischeren Geschmack gegenüber dem französischen Klassizismus, der höfisch glatten Literatur des 18. Jahrhunderts entwickeln, die „Tieck zeitlebens als Zerrbild einer Nationalliteratur“ galt und die „allzu zentralistisch und mit höfischem Reglement, ganz Europa normierte“ 5 . Nachdem also in den vorangehenden Jahrhunderten vor allem die französische Literatur die europäischen Literaturen dominiert hatte, fand nun eine dezidierte Hinwendung zu anderen Sprachen und zu der eigenen Vergangenheit statt, die in die (Wieder-)Entdeckung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur mündet sowie die Öffnung hin zu populären, volkstümlichen Überlieferungen und einfachen Formen favorisiert. Die Leser sollen außerdem eine Offenheit für die Experimente des Arabesken und Grotesken, des Spiels im Spiel und der Romantischen Ironie zulassen, die sich bei aller Originalität damit in die Tradition überzeitlicher, genialischer Dichtung stellen. Tieck ist gerade an dem interessiert, was die fremdsprachigen Texte anders, komplex, irritierend fremd macht, und ist bereit, dies möglichst adäquat in seiner Übersetzung wiederzugeben und nicht zu tilgen oder zu glätten, wie dies dann im 19. Jahrhundert geschieht. Für Tieck ist gerade der innovatorische Charakter der Werke von Bedeutung, um einen Paradigmenwechsel - von der französischen zur englischen Literatur - einleiten und die Herausbildung einer nationalen deutschen Literatur durchsetzen zu können. Dazu gehören auch Parteikämpfe zwischen literarischen Gruppen, die sich in ihren jeweiligen Publikationsorganen, den literarischen Zeitschrif- 3 Angela Hünig: Übersetzung im Schatten des Kanons: Untersuchungen zur Deutschen Shakespeare-Übersetzung im 19. Jahrhundert am Beispiel des Coriolanus. Erfurt 1999 (verfügbar unter: http: / / deposit.ddb.de / cgi-bin/ dokserv? idn=960767525&dok_var =d1&dok_ext=pdf&filename=960767525.pdf, letzter Zugriff 5. August 2010), S. 26; vgl. auch Susan Basnett: Translation and Ideo-logy. In: Koiné 1, 2 (1991), S. 7-32. 4 Ich zitiere im Folgenden den Titel in der von Tieck verwendeten Version Don Quixote, während sonst in der Regel die Schreibweise Don Quijote bevorzugt wird. 5 Achim Hölter: Ludwig Tieck. Literaturgeschichte als Poesie. Heidelberg 1989, S. 237. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 131 ten, den Rezensionen und programmatischen Vorreden, erbittert bekämpfen, in Literatursatiren bloßstellen und um Verleger, Aufträge und öffentliche Aufmerksamkeit streiten. Dies sind oft Scheingefechte zur programmatischen Abgrenzung. So hatte etwa Lessing 1759 in seinem 17. Literaturbrief die Rolle der französischen Literatur abgewertet, indem er, vorausweisend auf Christoph Martin Wielands Shakespeare-Übersetzung (erschienen 1762 bis 1766), die zentrale Bedeutung der englischen Literatur und vor allem Shakespeares für Deutschland herausstellte, da „unsre alten Stücke wirklich sehr viel Englisches gehabt haben“. 6 Aber so wie der junge Goethe sich gegen Wieland abgrenzte, etwa mit seiner Literatursatire Götter, Helden und Wieland, 7 so setzen sich Tieck und die Brüder Schlegel gegen Friedrich Nicolai und andere durch, indem etwa Tieck in Reaktion auf die kritische Rezension, die in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Neuen Allgemeinen Bibliothek erschienen war, schrieb: „Es müssen nun überhaupt einige gelehrtere Stücke [wie die zuvor genannten neu zu übersetzenden Shakespeare-Schauspiele] kommen, damit den Nikolaiten der deutschen Bibliothek u. dgl. Ihr dummes Gewäsch auch in dieser Hinsicht nichts fruchtet. Wenn [man] die allgemeine Dummheit ansieht, möchte man allen Muth verlieren.“ 8 Tieck verfolgt diese programmatische romantische Kanonisierung in seinen intertextuell aufgeladenen Werken weiter und nimmt die als vorbildlich geltenden Autoren der Weltliteratur in seine allumfassende romantische „Universalpoesie“ auf, wenn Cervantes zusammen mit Shakespeare und Dante in seinem Drama Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack (1799) 9 als romantische Dichter im „Garten der Poesie“ auftreten. Es ist also ausgehend von einem historischen Interesse an der zu übersetzenden Literatur ein Prozess zu beobachten, in dem diese zuerst aktualisiert wird. Die 6 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hg. von Paul Rilla. 6 Bde. Berlin 1954, Bd. V, S. 71. Vgl. Christoph Martin Wielands Der Geist Shakespeares von 1773, das im selben Jahr erschien wie Herders Sturm und Drang-Manifest Shakespeare und mehr Gemeinsamkeiten in der Wertschätzung des elisabethanischen Dichters aufweist, als man dem Aufklärer Wieland von Seiten der jungen Revolutionäre unterstellte. Vgl. hierzu Ken Larsson: Shakespeare between Aufklärung und Sturm und Drang. In: http: / / aurora.wells.edu/ -klarson/ papers/ mla87.html (letzter Zugriff 26. Juli 2010). 7 Vgl. meinen Aufsatz: Literaturkritik im Totenreich. Das literarische Totengespräch als Literatursatire am Beispiel von Johann Wolfgang von Goethes Farce Götter, Helden und Wieland. In: Wirkendes Wort 45 (1995), H. 3, S. 406-417. 8 Tieck an Friedrich Fromann, Berlin, 30. Januar 1801, in: Dichter über ihre Dichtungen: Ludwig Tieck. Hg. von Uwe Schweikert. 3 Bde. München 1971, hier Bd. III, S. 18. Nicolai wird auch meist als der geistig unflexible Nestor in Tiecks Drama Prinz Zerbino identifiziert, obwohl er hier mehr einen Typus als eine konkrete Person darstellen sollte. 9 Der vollständige Titel lautet: Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack, gewissermaßen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers. Ein Spiel in sechs Aufzügen. (Leipzig, Jena 1799; Schriften Bd. X. Berlin 1828.) Ruth Neubauer-Petzoldt 132 Werke und ihr Kontext werden in Analogie zur Gegenwart gelesen, die Dichter quasi als Parteigänger vereinnahmt und in der Gegenwart durch die Übersetzung nachgeschöpft, wiedergeboren. Daher ist auch die relativ freie Übersetzung legitimiert, da es sich um eine romantisch-intuitive Anverwandlung der Literatur handelt, die sich jedoch durch den Respekt vor dem Original selbst Grenzen setzt. In einem zweiten Schritt erfahren die übersetzten Werke eine Erhebung in die Zeitlosigkeit: durch die Rubrizierung als Weltliteratur, als romantische „Universalpoesie“ werden sie gleichsam ahistorisch und erfahren eine romantische Universalisierung. Sie werden in das kollektive Gedächtnis der Deutschen überführt, nicht zuletzt auch mit politischen Implikationen. Denn zum einen soll sich ein deutscher Nationalstaat nach dem Vorbild des englischen ausbilden, zum anderen soll das Verständnis und die Begeisterung für die fremde Literatur und Kultur zu außenpolitischer Toleranz führen, ja sogar letztlich Kriege verhindern. Im Einzelnen wird dieser Prozess bei Don Quixote in der Abgrenzung von den bereits vorliegenden Übersetzungen und in der Rezeption deutlich; bei Tiecks frühen Shakespeare-Übersetzungen und -kommentaren ist besonders seine Abgrenzung zu Ben Jonson aufschlussreich, denn nur Shakespeare verkörperte für ihn den vorbildlichen Nationaldichter. Nachschöpfend legitimiert Tiecks Beschäftigung mit Shakespeare sein eigenes Projekte einer Nationalliteratur. Fremde Literatur als Modell oder Vorbild aufzunehmen, ist seit der Antikenrezeption, also seit dem Bestehen von Literatur und der Kanonisierung von Gattungen und Formen, ein selbstverständliches Vorgehen, das sich jedoch auch immer wieder vor den nachfolgenden Generationen, die sich von vorangehenden absetzen wollen, zu rechtfertigen hat. So ist hier ein Paradigmenwechsel, ein deutlicher Epochenumbruch am Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachten, der sich auch in der Auswahl der zu übersetzenden Texte und in der Übersetzungstheorie spiegelt. Um 1800, und nicht zuletzt durch die Konfrontation mit den Folgen der Französischen Revolution, ist das selbstreflexive Bewusstsein ausgebildet, „in einer Übergangszeit zu leben, in der es immer schwerer wird, die überkommenen Traditionen mit den notwendigen Neuerungen zu vermitteln.“ 10 Der implizite Paradigmenwechsel verdeutlicht, dass die Ablehnung der Aufklärer um 1800 Teil eines notwendigen Ablösungsprozesses war, auch wenn ohne sie die weiteren Entwicklungen nicht möglich wären. So müssen sich auch alle nachfolgenden Übersetzungen immer mit den vorangehenden auseinandersetzen und sind dadurch modern, dass sie andere Kriterien anlegen als ihre Vorgänger. So etablieren sich Klassik und Romantik und heroisieren als gemeinsamen 10 Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck. München 1987, S. 269-282, hier S. 280f. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 133 Nenner Johann Wolfgang von Goethe zum deutschen Nationaldichter, verbunden mit einem entsprechenden Goethe-Kult, auch wenn dieser Prozess nicht spannungsfrei ablief. 11 Die Romantiker stehen in der Nachfolge der Aufklärer, die ein dezidiert didaktisches Programm der Volksaufklärung betreiben, das gezielt die Übersetzung fremder Literatur mit einbezieht: So wird einerseits die transnationale Gemeinsamkeit der Literatur, der Gattungen und Stoffe betont, die aber doch in ihrer individuellen Ausprägung „eine Art von National- Stempel erhalten haben“ 12 . Auffällig ist die Verwendung einer Naturmetaphorik, die durch ihre Analogiesetzung mit der Natürlichkeit jeden Einwand unterminiert: So schreibt etwa Friedrich Justin Bertuch in der Vorrede zu seiner Blauen Bibliothek aller Nationen, dass mit den „Feen-Mährchen […] ein moderner Zweig Europäischer Literatur auf orientalischem Stamm aufgepfropft“ 13 wurde und der Dichter so zum Gärtner im vielfältigen und eben nicht epochal begrenzten Pflanzenreich der Literatur wird. Dies ist ein Bild, das auch Ludwig Tieck im „Garten der Poesie“ im fünften Akt des Prinz Zerbino aufgreift, um hier einen neuen Kanon romantischer Literatur zum Erblühen zu bringen: Er stellt einen entsprechenden Dichterkatalog vor mit Dante, Petrarca, Ariost, Tasso, Cervantes, Hans Sachs und Sophokles. 14 Dante zeigt die aufsteigende Linie zu einer deutschen Nationalkunst, die nicht ohne fremdsprachige Literatur entstehen kann. So formuliert die poetische Autorität, die Göttin dieses poetologischen Elysiums: Ein blumenvoller Hain ist zubereitet Für jenen Künstler, den die Nachwelt ehrt, Mit dessen Namen Deutschlands Kunst erwacht, Der Euch noch viele edle Lieder sing, […] Der große Brite hofft ihn zu umarmen, Cervantes sehnt nach ihm sich Tag und Nacht. 15 Damit wird Goethe neben Shakespeare und Cervantes gestellt. Shakespeare spielt auch im Garten der Poesie eine Sonderrolle, denn er ist derjenige, der sich in diesem Labyrinth der Natur am besten auskennt und dem verirrten 11 Vgl. Marianne Thalmann: Tiecks Goethebild. In: Ludwig Tieck. Hg. von Wulf Segebrecht. Darmstadt 1976, S. 279-302. 12 Friedrich Justin Bertuch: Vorrede bzw. „Ankündigung“ zur anonym publizierten Märchensammlung Die Blaue Bibliothek aller Nationen. Gotha 1790, Bd. I, S. 4. 13 Ebd., S. 5. 14 „Die wichtigste Rolle spielt Dante, vermutlich, weil sein Name und die damit verbundenen noch vagen Vorstellungen sich besser als z.B. Shakespeare eignete, den schroffen Antagonismus zur Nicolai-Gruppe zu profilieren“, so Hölter: Literaturgeschichte als Poesie, S. 357. 15 Tieck: Prinz Zerbino, S. 280f. Ruth Neubauer-Petzoldt 134 Prinz Zerbino den Weg zu seinem Ziel zeigt. 16 Ziel der Blauen Bibliothek aller Nationen ist das Amüsement des Lesers, was auch Kinder miteinschließt, aber auch „Nahrung des Geistes, und Ausbildung des Geschmacks zu liefern“ 17 - eine Intention, die sie mit den Übersetzungen der Romantiker teilt. Die romantischen Autoren konzentrieren sich auf jene überzeitlich wirksamen literarischen Werke, die sich für die jeweils aktuellen Tendenzen auch funktionalisieren lassen. Ein dafür besonders geeigneter Text ist der parodistische Ritterroman Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Literaturtheoretische Äußerungen von Friedrich Schlegel machen dieses Einverleiben fremder Literatur in das romantische Programm deutlich und zeigen, wie auch im begrifflich-poetischen Ausdruck ein dezidiert anti-aufklärerischer Diskurs etabliert wird, der gerade die Werke Cervantes’ und Shakespeares und damit auch ihre Übersetzung als Teil der Neuen Mythologie 18 proklamiert und so legitimiert: Da finde ich nun eine große Ähnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Konstruktion des Ganzen sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie. Weder dieser Witz noch eine Mythologie können bestehn ohne ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern läßt, wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrückten, oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter. 19 Tieck wirkte im Gegensatz zu den Brüdern Schlegel weniger als Wissenschaftler, sondern als Dichter und Berufsschriftsteller und berühmter Vorleser und schuf nicht in seinen kritischen Schriften, sondern in Werken wie Der gestiefelte Kater oder Franz Sternbalds Wanderungen, Die sieben Weiber des 16 Ebd., S. 298. 17 Bertuch: Vorrede, S. [7]. 18 Zur romantischen Idee der Neuen Mythologie vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt/ Main 1982, vor allem die 6. und 7. Vorlesung, S. 107-188. 19 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. München [u.a] 1967, 1. Abt., Bd. II, S. 311-329, hier S. 318f. Als Freund wird hier wohl direkt Ludwig Tieck angesprochen. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 135 Blaubart oder Die verkehrte Welt einen Kanon romantischer Poesie, der alle ihm bekannte europäische Literatur amalgamierte und radikale Neuschöpfungen vorführte. Bei seinen Übersetzungen aber lebte er auch gewissermaßen in der Zeit seiner literarischen Helden: „Es geht mir wie dem Don Quixote, welcher überhaupt nicht so unrecht hatte, ich denke von diesen Rittern und Zeiten und träume von ihnen, und suchte alles aus dem Zirkel dieser Gedichte und der sogenannten wahren Geschichte zu ergänzen“. 20 1. Ludwig Tieck und William Shakespeare „Das Centrum meiner Liebe und Erkenntniß ist Shakespeare’s Geist, auf den ich alles unwillkürlich und oft, ohne daß ich es weiß, beziehe, alles, was ich erfahre und lerne, hat Zusammenhang mit ihm,“ 21 so schrieb Ludwig Tieck 1800 über seine bereits seit Jahren anhaltende Begeisterung. Diesem Geniekult Shakespeares folgte er sein Leben lang. Eine seiner ersten Übersetzungen als 21jähriger, wie er später entschuldigend betonte, war die Übersetzung des Dramas Der Sturm. Ein Schauspiel von Shakspear, für das Theater bearbeitet. Nebst einer Abhandlung über Shakspears Behandlung des Wunderbaren v. L. Tieck. 22 Die Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 1797 23 lobt das Werk, denn Tieck „scheint […] seinen Dichter mit Liebe studiert zu haben, sollte er auch nicht überall in den Geist desselben eingedrungen seyn. Eigentliche Abänderungen kommen nur wenige und nicht sehr bedeutende vor, was Rec. keineswegs als tadelnswerth bemerkt“. Mit den Übersetzungen von Christoph Martin Wieland, der möglichst inhaltsgetreu übersetzte und noch nicht den formalen, rhythmischmetrischen Vorgaben zu folgen versuchte, wie dies später die Schlegel- Tiecksche Übersetzung unternahm, war Tieck natürlich vertraut. Tieck begann zuerst, The Tempest in Prosa und dann in metrischen Versen zu übersetzen, und ist hier von einer verskongruenten Version noch weit entfernt. An Shakespeares Werken interessiert ihn vor allem die „Behandlung des 20 Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. II, S. 277. 21 Ludwig Tieck: Briefe über Shakespeare (1800). In: Kritische Schriften. Zum erstenmale gesammelt und mit einer Vorrede hg. von Ludwig Tieck. 3 Bde. Leipzig 1848-1952. [Reprint Berlin, New York 1974], Bd. I, S. 133-184, hier S. 141. Vgl. zum biographischen Kontext Roger Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie. München 1988, S. 211-227. Bereits in der Schule las Tieck Shakespeares Werke. 1792 berichtet Tieck in einem Brief an Sophie Tieck (Göttingen, 23. Dezember 1792) von seiner Shakespeare- Lektüre. 22 Berlin, Leipzig: Nicolai 1796; seine Vorreden und nicht-literarischen Texte sind abgedruckt im ersten Band der Kritischen Schriften. 23 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 13 (1797) Nr. 78, S. 619-624. Die Kritik berücksichtigt auch die gleichzeitig erschienene Übersetzung von W. von Bube, Shakespear, für Deutsche bearbeitet. Ruth Neubauer-Petzoldt 136 Wunderbaren“, so wie in Hamlet der Wahnsinn. Er sieht die spannungsreichen Kontraste, das Fürchterliche und das Lächerliche, die gattungsüberschreitenden Formen. Tieck rühmt in seinen Briefe[n] über Shakespeare die Nachahmungskunst des Übersetzers Schlegel, „die für uns wohl die erste wahre Übersetzung aus einer anderen Sprache ist.“ 24 In der Vorrede zum ersten Band Shakespeare’s dramatische Werke. Uebersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck (Berlin 1825 bis 1833) grenzt er die Freiheit der Übersetzung deutlich ab: so „kann auch der Deutsche nicht ganz die Fülle jener Töne wiederholen, ihr alle Formen nachspielen, die sich im Original mannigfaltiger, willkürlicher und seltsamer gestalten“. In der Übersetzung soll einerseits das Fremdartige und die Originalität der Sprache Shakespeares auch und gerade im englischen Kontext bewusst gemacht werden, andererseits stößt die Übersetzung hier an die Grenzen der übersetzerischen Nachschöpfung, die ohnehin darauf achten sollte, nicht der „Lust der genialen Neuerung“ zu sehr zu verfallen, sondern dem „feinste[n] Geschmack“ zu folgen. 25 Genau die allzu freie Nachdichtung geißelt er kurz darauf erneut, denn „der übereilte Überdruß an wörtlichen Übersetzungen hat sich den verdorbenen Gaumen an einer Freiheit wieder schärfen wollen, die man dem großen Briten gegenüber […] nur Frechheit nennen kann.“ 26 Tieck setzt einen „nothwendige[n] Zusammenhang Eines Gemüthes“ 27 voraus, um sich einfühlend in der Nachschöpfung dem Original des fremden Genies würdig zu erweisen. In extremis formuliert dies Novalis im Athenäumsfragment 287: „Nur dann zeig ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualitaet zu schmälern, übersetzen und mannichfach verändern kann.“ Schlegel und Tieck waren sich einig, dass Auslassungen und Zusätze tabu waren, außer wenn allzu Unverständliches, etwa nur noch von Zeitgenossen des Originals Nachvollziehbares, erläutert, also im doppelten Sinne sprachlich und historisch übersetzt werden mußte. In den Vorreden zum Alt-Englischen Theater oder Supplemment zum Shakespear (Berlin 1811) befasst Tieck sich mit den historischen Gegebenheiten zu Shakespeares Zeit und hält „sich in seiner Widergabe des Inhalts und der Form treu an die Originale und folgt darin seinem Vorbild, das August W. Schlegel in seinen Shakespeare-Übersetzungen bot“. 28 Shakespeare’s Vorschul. Herausgegeben und mit Vorreden begleitet von Ludwig Tieck (Leipzig 1823) vollendet Tieck nicht. Laut einem Brief vom 8. Dezem- 24 Tieck: Briefe über Shakespeare, S. 146. 25 Zitiert nach Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. III, S. 72-75, hier S. 73. 26 Ebd., S. 74. 27 Tieck: Kritische Schriften, Bd. I, S. 233. 28 Zybura: Tieck als Übersetzer, S. 99. Vgl. Annamaria Borsano Fiumi: La critica shakespeariana di Ludwig Tieck. Mailand 1970. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 137 ber 1807 an den Verleger Reimer wollte Tieck dem Leser damit „eine Beispielsammlung“ an die Hand geben, die diesem die notwendigen formalen und geschichtlichen Hintergründe vermittelt, um Shakespeares Werke verstehen und würdigen zu können - in seiner Vorschul vertritt Tieck also durchaus didaktische Intentionen. Die ersten beiden Vorreden beschreiben den Elisabethanischen Dichter biographisch aus der Perspektive einer „romantisch-intuitive[n] literarhistorische[n] Kritik par excellence“. 29 Tieck betont aber auch, „daß die Übersetzungen nicht von mir selbst herrühren, daß ich sie aber mit Bedacht durchgesehen und manches verbessert habe“. 30 Shakespeares Bedeutung als Nationaldichter heißt, „das Individuum als Verkörperung stellvertretend für die gesamte Geschichte einer Nation zu erfassen“ 31 und ihn als Modell für eine deutsche Nationaldichtung zu abstrahieren. Die Vorrede zu Alt-Englisches Theater. Oder Supplemente zum Shakspear (Berlin 1811) zeichnet daher die „Entwicklung des englischen und spanischen Nationaltheaters aus dem historisch-poetischen bzw. romantisch-poetischen Geist“ 32 nach und legt eine analoge Entwicklung für die deutsche Literatur nahe, die Tieck selbst vorführt, indem er altdeutsche Werke vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert ediert und als Intertexte in seinen Werken anspielungsreich mitspielen lässt, um so die deutsche Literaturgeschichte literarisch zu inszenieren. Ben Jonson’s Volpone übersetzte er 1798 als Ein Schurke über die andern oder die Fuchsprelle. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Jonson ist für ihn der literarische Vertreter des Englischen, dessen Werk er sehr frei bearbeitet bzw. nachdichtet und als Literatursatire aktualisiert. 33 Shakespeare hingegen steht als Genie über solchen historisch-nationalen Bedingungen, die Tieck jedoch zur Interpretation der Werke und vor allem im Blick auf die Aufführungspraxis des Theaters studierte. Er sah beide Autoren als kontrastierende, einander aus romantischer Sicht ergänzende Erscheinungen ihrer Epoche: Shakespeare als zeitlosen Genius und Jonson als Verkörperung des Altenglischen. Tieck unhistorischer Blick auf Shakespeare zeigt sich z.B in seiner Lektüre der Sonette, über die er in seinem Penelope-Aufsatz Ueber Shakespeares Sonette von 1825 berichtet, den er mit Übersetzungsproben seiner Tochter illustriert. Er liest die Sonette umstandslos als biographische Quelle und 29 Zybura: Tieck als Übersetzer, S. 107. 30 Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. 2, S. 333. 31 Roger Paulin: Ludwig Tieck. Stuttgart 1987, S. 98. 32 Ebd., S. 99. 33 Vgl. Edwin H. Zeydel: Ludwig Tieck as a translator of English. In: Publications of the Modern Language Association of America 51 (1936), H. 2, S. 221-242, besonders zu Volpone S. 228. Ruth Neubauer-Petzoldt 138 schreibt: „das meiste, was ich von ihm [Shakespeare] weiß, habe ich in diesen Sonetten erfahren“. 34 Emphatisches Einfühlen und objektivierendes Verstehen gehen hier zusammen, um anhand der Sonette den Dichter und den Menschen Shakespeare, Zeitgeschichte, Welt und Individuum, Öffentliches und Privates gleichermaßen ins Recht zu setzten. Tieck liest Shakespeares Sonette als Erlebnislyrik Goethescher Provenienz, d.h. er projiziert ein zeitgenössisches, modernes Lyrikverständnis auf die Renaissance-Gedichte. 35 Tieck war der Ansicht, von außen, gerade als Deutscher und als Dichter, Shakespeares Bedeutung auch für England (und für die Welt) besser beurteilen zu können als die Engländer selbst. 36 So schrieb auch Schlegel 1797 ohne Skrupel vor Vorurteilen an Tieck, er hoffe, dass dieser in seinen Briefen über Shakespeare „unter anderem beweise, Shakespeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unter die frostigen, stupiden Seelen auf diese brutale Insel? “ 37 Viel eher sei Shakespeare ein romantischer Deutscher, er sei dem deutschen Geist viel vertrauter und werde von diesem angemessener gewürdigt. Tiecks Beschäftigung mit Hamlet ist daher nicht nur von einer zeittypischen Schwärmerei geprägt, sondern auch von seiner Neigung, sich mit dem Helden Shakespeares zu identifizieren und ihn zu einer romantischen Figur, etwa im Sinne des William Lovell, zu machen. 38 Tieck sah in Shakespeare das ideale historische Modell eines Dichters, dessen Patriotismus und Verbindung von Leben und Werk ihn auch zu 34 Ludwig Tieck: Ueber Shakespeares Sonette einige Worte, nebst Proben einer Uebersetzung derselben. In: Penelope. Taschenbuch für das Jahr 1826. Hg. von Theodor Hell. 15. Jg. Leipzig 1826, S. 314-339, hier S. 339. Vgl. Gesa Horstmann: Shakespeares Sonette in Deutschland. Zur Geschichte der Übersetzungen zwischen dem 18. Jahrhundert und den Übertragungen von Stefan George und Karl Krauß [Diss. Berlin 1995], zu Tieck S. 116-126. Veröffentlich unter: http: / / deposit.ddb.de/ cgibin/ dokserv? idn=965459535 &dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=965459535.pdf (letzter Zugriff 3. August 2010). 35 Gesa Horstmann: Shakespeare in Goldschnitt oder der Weg zum deutschen Bücherschrank: Wissenschaftliches Seminar Online der deutschen Shakespeare-Gesellschaft. 2 (2004). (http: / / www.shakespeare-gesellschaft.de/ ? id=408#_ftnref9; letzter Zugriff am 3. August 2010). Dies beschreibt ein Verfahren, das bis in die Gegenwart üblich und oft kaum zu vermeiden ist. 36 Er stand mit dieser Ansicht nicht allein, vgl. Goethe zu Eckermann am 15. Juli 1827: „Dagegen sind wir über Shakespeare und Byron im klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selbst“. (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Hendrik Birus [u. a.]. 40 Bde. Frankfurt/ Main 1987ff. 2. Abt., Bd. XII, S. 257. 37 Ludwig Tieck und die Gebrüder Schlegel: Briefe. Hg. von Edgar Lohner. München 1972, S. 23. 38 Vgl. Roger Paulin: The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682-1914. Native Literature and Foreign Genius. Hildesheim [u.a.] 2003, Part Four: Shakespeare in Classicism and Romanticism, hier S. 272ff. Derartige Projektionen sind ja bis in die Gegenwart der Literatur wie der Literaturwissenschaft oft nicht auszuschließen. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 139 seiner Trilogie Dichterleben (1826 bis 1831) inspirierte. Shakespeare wird hier zu einem „Träger der historischen und moralischen Ideale Tiecks“, 39 dem jedoch in dieser Künstlernovelle kein historisch glaubwürdiges Bild des englischen Dichters gelingt. Der englische Dichter wird zum Vorbild für die Bestrebung einer politisch engagierten, historisch selbstbewussten und reflektierten deutschen Nationalliteratur, die aber sogleich die nationalen Grenzen hin zu einer Weltliteratur überschreiten will - und dies nicht nur vom ästhetisch literarischen Anspruch her, sondern auch um einen wechselseitigen Einfluss herzustellen und abzubilden: Nach der gründlichen Schule, die wir Deutschen in der Kunst des Übersetzens durchgemacht haben, nach all diesen Anstrengungen, Mustern, Übertreibungen und Kritiken wissen wir so scheint es, weniger als je, wie man denn übersetzen müsse. Manche Arbeiten großer Autoritäten haben es mit tiefsinnigem Fleiß dahin gebracht, daß vor genauer Wörtlichkeit Original und Kopie sich nicht mehr ähnlich sehen. Vieles muß in jeder Übersetzung verloren gehn, denn der echte Schriftsteller lebt und dichtet ganz in seiner Sprache und wird eins mit ihr. […] Es kann also nur Sache des feinsten Taktes und des gebildeten Geschmackes sein, was der echte Übersetzer mit Bewußtsein aufgibt, um das, was er als das Wahrste und Notwendigste anerkennt, zu retten. Ein solcher Übersetzer wird Künstler und selbst schaffender Autor […]. 40 So äußert sich Ludwig Tieck, einerseits abgeklärt, andererseits voll Stolz auf die Leistung der Übersetzer, im Jahr 1833 im Nachwort der Schlegel- Tieckschen Shakespeare-Ausgabe. Tiecks wissenschaftliche Arbeiten konzentrierten sich vor allem auf Shakespeare und die Zuschreibung verschiedener Dramen des 17. Jahrhunderts, die wissenschaftlich zwar längst nicht mehr haltbar sind, aber dennoch einen wichtige Etappe deutscher Shakespeare-Forschung markieren. 41 War es vor allem der Dramatiker Shakespeare, der Tieck auch wissenschaftlich und literaturgeschichtlich interessierte, so konzentrierte er sich in der Beschäftigung mit Don Quixote vor allem auf die sprachliche Herausforderung und gattungsinnovatorische Qualität des Werkes, die seine eigenen arabesken Werke, wie etwa Die sieben Weiber des Blaubart, deutlich beeinflusste. 39 Paulin: Tieck 1987, S. 102. 40 Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. III, S. 84. 41 Vgl. Roger Paulin (Tieck und Shakespeare. In: Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit. Hg. von Walter Schmitz. Tübingen 1997, S. 253-264), der Tiecks Shakespearebild in den zeitgenössischen Kontext der Shakespeare-Hagiographie einbindet. Hier ist auch weitere Literatur zur Shakespeare- Rezeption aufgeführt, u.a. Hansjürgen Blinn: Der deutsche Shakespeare. Eine annotierte Bibliographie zur Shakespeare-Rezeption des deutschsprachigen Kulturraums (Literatur, Theater, Film, Funk, Fernsehen, Musik und bildende Kunst). Berlin 1993. Ruth Neubauer-Petzoldt 140 2. Ludwig Tiecks Don Quixote Im Vorfeld der Don Quixote-Übersetzung, die unter dem Titel: Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck in vier Bänden in Berlin zwischen 1777 und 1801 erschien, kam es zu teilweise heftigen Querellen darüber, wer denn nun eine neue, moderne Übersetzung des Don Quixote anfertigen und über den Literaturmarkt verbreiten dürfe, denn für zwei konkurrierende Übersetzungen des Don Quixote war der Markt zu klein. 42 Die Bedeutung des spanischen Romans stand außer Frage, so dass es hier vor allem um das Antreten eines Erbes, um die Autorität ging, wer über dieses Werke der Weltliteratur verfügen dürfe. Denn wer die Autorität über die Übersetzung hat, gewinnt damit auch Macht innerhalb der Setzung des Kanons und auf den färbt der Ruhm des Don Quixote ab. Mit Hilfe der Brüder Schlegel, die diese Auseinandersetzung als Kampf der romantischen gegen die aufklärerische Partei sahen und entsprechende Artikel in den romantischen Literaturzeitschriften veröffentlichten, siegte schließlich Tiecks Übersetzungsauftrag, so dass diese Übersetzung, die kritische Würdigung und ihre Rezeption zu einer für die Romantiker als Gruppe identitätsstiftenden Aufgabe wurde. Die Übersetzung selbst wird so zum Schauplatz einer ideologischen Abgrenzung, die sich dann auch in den Dienst einer nationalen Bildungsidee stellt. Neben dem Original in verschiedenen Ausgaben lagen Tieck die vorangehenden Übersetzungen, vor allem die Übersetzung von Friedrich Justin Bertuch (erschienen 1775 bis 1777) vor. 43 Im Falle des Spanischen gab es Schwierigkeiten, an gute Lexika zu gelangen. So schrieb Friedrich Schlegel 1799 an seinen Bruder: „Das Uebel liegt eigentlich darin, dass Tieck so wenig Hülfsmittel hatte, denn an Fleiß hat er es nicht fehlen lassen. Nicht einmal das Lexikon der Akademie hat ihm Unger [der Verleger] verschafft.“ 44 So sind sicher auch diese organisatorischen Hindernisse eine Quelle für die später bemängelten Fehler. Tieck ließ vereinzelt Teilsätze weg und es gab „punktuelle Missverständnisse“ 45 -, doch wurde er im Laufe der Arbeit zunehmend versierter und gewann an Wissen über den historischen Kontext. Tiecks Spanisch-Kenntnisse waren nicht überragend, denn er hatte erst 1792 begonnen, die Sprache zu erlernen und verbesserte seine Kenntnisse, während er an der Übersetzung arbeitete. 1816 schrieb er an Karl Wilhelm F. Solger über seine aktiven Spanischkenntnisse, dass er „noch 42 Vgl. Zybura: Tieck als Übersetzer, S. 40-46 und Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. II, S. 259- 262. 43 Vgl. Jürgen Jacobs: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992. 44 Schweikert (Hg.): Tieck Bd. II, S. 262. 45 Zybura: Tieck als Übersetzer, S. 51. Vgl. die zweibändige textkritische Ausgabe der Übersetzung Tiecks von Hans Rheinfelder. Düsseldorf 1951. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 141 niemals eine Zeile Spanisch geschrieben habe, selbst, wie in allen fremden Sprachen, ohne Uebung im Sprechen“ 46 sei. Vor diesem Hintergrund mutet seine Übersetzungsleistung umso erstaunlicher an. Tieck zielte dabei weniger auf eine freie Nachschöpfung aus spanisch-romantischem Geist ab, vielmehr ging es ihm um eine Verbreitung des Urtextes durch eine Nachdichtung. So schreibt er auch am 15. Mai 1802 an seinen Verleger, daß er sich „durchaus an die Formen der Spanischen Verse binden will, alles beibehalten, wie es im Original ist und etwas versuchen, was noch Niemand in unsrer Sprache bisher versucht hat“. 47 Ein Vergleich der Übersetzungen Bertuchs und Tiecks zeigt, dass ersterer immer wieder ganze Kapitel gekürzt oder zusammengefasst hat; Tieck hingegen hielt sich strikt an das Original und übersetzte vollständig, ohne Auslassungen, auch alle eingestreuten Gedichte. Tiecks Stil tendierte zwar dahin, Cervantes‘ konkrete und realistische, ja auch grobe, alltagsnahe Wortwahl abzuschwächen, doch folgte er „den grammatikalischen und stilistischen Wendungen und Schwingungen der Sprache Cervantes und erreichte darin fast Unmögliches, […] sogar die Reihenfolge der einzelnen Wörter des Originals beizubehalten“ 48 - und vor allem die Musikalität der Sprache wiederzugeben. Dies bedeutet etwa, Cervantes‘ Sonettform zu übernehmen, die indirekte Rede des Originals zu belassen und dennoch nicht in eine starre Wort-für-Wort-Übersetzung zu verfallen. Tieck suchte bei Sprichwörtern das deutsche Äquivalent; die Eigennamen mit häufig sprechender, komischer Bedeutung übersetzte er, nur die bekanntesten der Hauptfiguren beließ er, da sie aus früheren Übersetzungen bereits geläufig waren. (So wie sich etwa in der Schlegel- Tieckschen Shakespeare-Übersetzung die Redewendungen so verselbständigt haben, dass auch neuere Übersetzer - etwa Erich Fried - diese übernehmen.) Tieck geht es nicht vorrangig um eine philologisch korrekte Wiedergabe des Don Quixote in deutscher Sprache, sondern er will ihn als Dichter nachschöpfen, indem er nicht nur den Inhalt, sondern auch Rhythmus und Satzbau zu übernehmen versucht, wo immer dies möglich ist. Auch wenn er nicht mit all den zeitgenössischen Anspielungen vertraut sein konnte, die für seine Leser ohnehin kaum zu entschlüsseln waren, hat er doch als Autor von Literatursatiren ein großes Gespür für Doppeldeutigkeiten und für die unterschiedlichen Sprachebenen der Figuren. Tieck fiel es oft schwerer, originalgetreu zu übersetzen, als frei nachzudichten, wie eine Äußerung in seinem Brief an August Wilhelm Schlegel vom 22. Dezember 1798 belegt: 46 Ludwig Tieck in einem Brief an K. W. F. Solger vom 1. April 1816. (Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. I, S. 289.) 47 Ebd., Bd. II, S. 346. 48 Zybura: Tieck als Übersetzer, S. 54. Ruth Neubauer-Petzoldt 142 „Seit ich den Don Quixote wirklich übersetze, möchte ich oft ganze Seiten so schreiben, lieber und leichter, als ich so übersetze.“ 49 August Wilhelm Schlegel geht 1799 in seiner Rezension in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung auf Tiecks Vorgehen und die Vorzüge seiner Übersetzung im Detail ein: Er habe den Grundsatz festzusetzen, dass ein Werk ganz wie es ist, übersetzt werden müsse. Das ist die Absicht der gegenwärtigen Verdeutschung […]. Nur wer mit dem sprachlichen Original vertraut ist, und aus eigener Erfahrung weiß, was es überhaupt mit poetischen Nachbildungen auf sich hat, kann den ganzen Umfang der diesem Unternehmen anhängenden Schwierigkeiten übersehen. […] um ihre Übertragung der Vollkommenheit näher zu bringen, die eigentlich eine unendliche Aufgabe ist. 50 Er bewertet Tiecks Übersetzung als „in den meisten Punkten sehr befriedigend“, da jener Vollständigkeit zugrunde lege, auch seien „die eingestreuten Sonette und Gedichte“ im „Ton und Geist der Originale […] auch in den ursprünglichen Sylbenmaßen übertragen.“ 51 So konnte sich der Leser auch in der deutschen Übersetzung ein Bild von den spezifischen Qualitäten des spanischen Originals machen. Don Quixote ist nicht nur Ritterroman und Parodie eines Ritterromans, sondern auch einer der frühen gattungsprägenden Schelmenromane, ein philosophischer Roman, dessen metatextuelle Exkurse und Kommentare die Verfasstheit von Dichtung ironisch spielerisch zum Thema machen. 52 So ist es zum einen geradezu erstaunlich, mit welcher Chuzpe Tieck an die Übersetzung des Don Quixote heranging, ohne die spanische Sprache wirklich zu beherrschen. Ganz offensichtlich jedoch war seine poetisch-nachvollziehende, enorme literarische Kompetenz doch so groß, dass seine Übersetzung trotz einiger eher marginaler Fehler bis in die Gegenwart nachgedruckt wird. 53 49 Schweikert (Hg.): Tieck, Bd. II, S. 261. 50 Allgemeine Literatur-Zeitung 15 (1799) Nr. 230, S. 177-184, hier S. 180. (Einsehbar in: http: / / zs.thulb.unijena.de/ content/ main/ journals/ alz.xml; jsessionid=50FA220E8E74 1115186A75BDDDCC517F; letzter Zugriff 5. August 2010). 51 Ebd., S. 181. 52 Vgl. Bernhard H. F. Taureck: Don Quijote als gelebte Metapher. München 2008. Zur lebhaften Rezeption des Don Quixote in Deutschland vgl. u.a. Jürgen Jacobs: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992; Der widerspenstige Klassiker. „Don Quijote“ im 18. Jahrhundert. Hg. von Klaus-Dieter Ertler, Andrea Maria Humpl. Frankfurt/ Main 2007; Don Quijotes Spuren in Deutschland. Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hg. von Gernot U. Gabel. Köln 2005. 53 Aktuell ist seine Übersetzung in einer einbändigen Ausgabe im Diogenes Verlag (Zürich 1987) verfügbar. 1884 erschien die Übersetzung von Ludwig Braunfels, die noch am ehesten mit Tiecks Ausgabe konkurrierte, sowie Versionen von Konrad Thorer und Anton Maria Rothbauer. 2008 erschien eine in Rezensionen viel gelobte Neuübersetzung von Susanne Lange im Münchner Hanser Verlag. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 143 3. Schluss In der „produktiven Rezeptionsgemeinschaft“ der fiktiven Erzähler, 54 Dichter und Zuhörer des Phantasus (1812 bis 1816), der in eine metatextuelle Rahmenhandlung eingebetteten Novellensammlung Tiecks, werden die Möglichkeiten und Grenzen einer künstlerischen Anverwandlung zwischen Aktualisierung und Willkür diskutiert: Wenn es aber gar nicht erlaubt sein soll, wandte August ein, alte, bekannte Geschichten nach Gutdünken und Laune abzuändern, und sie unserm Geschmack zuzubereiten, so würden wir ohne Zweifel viel verlieren, denn manches ginge ganz unter, das uns so erhalten bleibt. Sind dergleichen Erfindungen schon ehemals umgeschrieben und neu erzählt worden, so begreife ich nicht, warum diese Freiheit nicht jedem neuern Dichter ebenfalls vergönnt sein soll. […] Sie mögen nicht Unrecht haben, antwortete Friedrich; wenn aber eine alte Erzählung einen so herzlichen Mittelpunkt hat, der der Geschichte einen so großen und rührenden Charakter gibt, so ist es doch wohl nur die Verwöhnung einer neuern Zeit und ihrer Beschränktheit, diese Schönheit ganz zu verkennen, und sie mit einer willkürlichen Abänderung verbessern zu wollen, durch welche das ganze eben so wohl Mittelpunkt als Zweck verliert. 55 Gerade Tieck als Berufsschriftsteller und vormals junger Autor von Trivialliteratur wie den Straußfedern war daran interessiert, nicht nur ein Publikum von Eingeweihten zu erreichen, sondern auf breites Interesse zu stoßen, um von seinem Schreiben leben zu können. Später gehörte Tieck dann „zur literarischen ‚Prominenz’ und verfügte über entsprechende Instrumentarien zur Propagierung der eigenen Werke und Anschauungen“ 56 - wie dies besonders für die Schlegel-Tiecksche Shakespeare-Übersetzung galt und gilt. Ist Tieck bei Übersetzungen von Märchen so großzügig, dass es sich hier eher um Adaptionen handelt, so fühlt er sich doch dem Genius Shakespeares bzw. Cervantes’ und ihrer künstlerischen Autorität so weit verpflichtet, dass er hier möglichst textgetreue Nachschöpfungen versucht, die im Dienst des fremden Textes stehen - und nicht seiner eigenen Schöpfung; als Übersetzer tritt er zurück in die zweite Reihe. Aber zugleich ist ihm bewusst, wie schwierig es ist, einen alten Dichter einem breiteren Publikum nahebringen zu wollen. Er muß Kompromisse in der Sprache, in den Anspielungen und Worterklärungen eingehen, damit der fremde Text aus einer fremden Kultur und Zeit nicht in Teilen unverständlich oder zumindest schwer 54 Ruth Petzoldt: Albernheit mit Hintersinn. Intertextuelle Spiele in Ludwig Tiecks Komödien. Würzburg 2000, S. 115. 55 Ludwig Tieck: Phantasus. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt/ Main 1985, S. 301f . 56 Hünig: Übersetzung im Schatten des Kanons, S. 73. Ruth Neubauer-Petzoldt 144 zugänglich ist. Dies jedoch widerspricht wiederum der angestrebten Popularisierung des neuen Kanons von Weltliteratur und der Anverwandlung in ein nationales Modell. Friedrich Schleiermacher hielt künstlerisches Übersetzen im Unterschied zum Dolmetschen geschäftlicher Texte grundsätzlich für unmöglich, wie er auch in seiner Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813) ausführt. Es kann nur eine Annäherung an diese unendliche Aufgabe geben und den Versuch, so nah wie möglich an der Sprache und dem Geist des Originals zu bleiben, bis hin zu einer „fremden Aehnlichkeit“ 57 in der Übersetzung, um fremde Kulturen und Sprachen zu vermitteln und die eigene Kultur zu erweitern. Tieck schreibt im Sinne Schleiermachers im Mai 1829 über sein allerdings gescheitertes Projekt der Nibelungen-Edition von dem Ziel, „eine neue Welt den Deutschen aufzuschließen“ 58 . Er nimmt in der künstlerischen Praxis seiner Übersetzungen vieles vorweg von dem, was Schleiermacher als einer der ersten Theoretiker der Übersetzung formulierte. Schleiermachers abschließende Forderung, „alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen zugleich in seiner Sprache gleichsam zu einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde,“ 59 weist auf die Idee der Weltliteratur voraus, die vor allem Goethe zugeschrieben wird, jedoch auch bereits in den theoretischen und kritischen Schriften der Romantiker als Idee der Aktualisierung und Universalisierung von Literatur diskutiert wurde. Immer wieder entwarf Tieck Hierarchien seiner Dichter und stellt etwa Goethes Wilhelm Meister gegen Cervantes‘ Don Quixote. 60 Er unterscheidet dabei zwischen „Dichtern, die bloß dichterisch groß sind, und denjenigen, die darüber hinaus noch eine vaterländische Größe besitzen.“ 61 Zur Charakteristik eines Nationaldichters gehört eine über das Regionale hinausgehende, die nationale Tradition spiegelnde, bewahrende und überhöhende Literatur, wie sie sich bei Shakespeare vor allem in den Historiendramen finden lässt. Denn „Shakespeare war in seinem Zeitalter, mehr als jeder andere Schriftsteller, der Dichter seiner Nation; er schrieb nicht für den Pöbel, aber für sein Volk […] als Volksdichter ließ er sich zu der Tradition seines Volkes hinab.“ 62 Dies überschneidet sich mit dem Begriff und Ver- 57 Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. In: Das Problem des Übersetzens. Hg. von Hans Joachim Störig. Stuttgart 1963, S. 38-69, hier S. 46. 58 Schweikert (Hg.). Tieck Bd. II, S. 285. 59 Schleiermacher: Methoden des Uebersetzens, S. 69. 60 „dieser Wilhelm verdient gewiß alle Achtung, wenn man ihn nur nicht gegen den einzigen Don Quixote messen will.“ (Tieck: Schriften, Bd. XXIII, S. 46.) 61 Roger Paulin: „Ohne Vaterland kein Dichter“. Bemerkungen über historisches Bewusstsein und Dichtergestalt beim späten Tieck. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 13 (1972), S. 125-150, hier S. 131. 62 Tieck: Kritische Schriften, Bd. I, S. 38f. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 145 ständnis von Nationalliteratur als Volksliteratur, denn „Volksnähe […] meint Nation und breite Leserschicht.“ 63 Indem diese Nationalliteratur die eigene Geschichte und typische Ästhetik in einem durchaus nicht unpolitischen Zusammenhang aufnimmt, bilden Volkspoesie und Nationaldichtung gemeinsam mit der Weltliteratur Shakespeares und Cervantes’ Don Quixote eine Schnittmenge, da sich diese Werke gerade durch eine unverwechselbare Reflexion der nationalen englischen bzw. spanischen Geschichte und Gattungen auszeichnen. Auch wenn Tieck selbst kein Literaturtheoretiker war und den Begriff Weltliteratur nicht verwendet hat, so implizieren doch seine Ideen und die Thesen des theoretisch versierteren und provokativeren Friedrich Schlegel von einer „Universalpoesie“ im Zusammenhang mit der Übersetzung ein ähnliches Modell, das auf der zentralen Formel einer „transzendentalen universalen Poesie der Poesie“ beruht. Im Athenäumsfragment 247 schreibt Schlegel: Dantes prophetisches Gedicht ist das einzige System der transzendentalen Poesie, immer noch das höchste seiner Art. Shakespeares Universalität ist wie der Mittelpunkt der romantischen Kunst. Goethes rein poetische Poesie ist die vollständigste Poesie der Poesie. Das ist der große Dreiklang der modernen Poesie, der innerste und allerheiligste Kreis unter allen engern und weitern Sphären der kritischen Auswahl der Klassiker der neuern Dichtkunst. 64 Abschließend imaginiert Schlegel in seinem poetologischen Brief über den Roman und seiner Schau der Weltliteratur einen prospektiven idealen romantischen Roman, der natürlich auch sogleich in den Kanon der ewigen Weltliteratur einginge: Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen, der jeden ewigen Ton der Fantasie fantastisch wiedergäbe, und das Chaos der Ritterwelt noch einmal verwirrte. Da würden die alten Wesen in neuen Gestalten leben; da würde der heilige Schatten des Dante sich aus seiner Unterwelt erheben, Laura himmlisch vor uns wandeln, und Shakespeare mit Cervantes trauliche Gespräche wechseln; - und da würde Sancho von neuem mit dem Don Quixote scherzen. Das wären wahre Arabesken und diese nebst Bekenntnissen, seien, behauptete ich im Eingang meines Briefs, die einzigen romantischen Naturprodukte unsers Zeitalters. 65 63 Hölter: Literaturgeschichte als Poesie, S. 238. Hölter bezieht sch hier auf Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder. Zwei Teile 1778/ 79. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1975. 64 Athenäum. Berlin 1798, Bd. I, 2. Stück, S. 68. 65 Friedrich Schlegel: Brief über den Roman. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. München [u. a.] 1967ff., 1. Abt., Bd. II, S. 329-339, hier S. 337. Ruth Neubauer-Petzoldt 146 Die Weltliteratur 66 erhält aus romantischer Perspektive einen transzendierenden Überbau und wird als eine Art Mythenersatz zur Einrichtung einer Nationaldichtung, eines Nationalmythos und einer nationalen Identität funktionalisiert; was als Modelle der National- und Weltliteratur für England mit Shakespeare gilt und für Cervantes’ Don Quixote in Spanien, soll etwa mit dem Nibelungenlied in Deutschland etabliert werden. Doch ist man um 1800 zugleich auf der Suche nach modernerer Literatur. In der Nachfolge der Aufklärer und der Stürmer und Dränger, denen sich die noch junge Bewegung der Romantiker naturgemäß näher fühlt, wird diese europäische Nationaldichtung auf deutsche Dichtung übertragen, so dass in einer Emanzipationsbewegung bisher abgelehnte Epochen und Genres, Dichter und Werke entdeckt oder wiedererweckt werden. Während der Begriff der Weltliteratur „bei Goethe weder in quantitativer Hinsicht (‚alle Einzelliteraturen umfassend’) noch in qualitativer (‚die besten Werke aus ihnen’) angemessen zu fassen ist“ 67 und von der Antike bis in die zeitgenössische Gegenwart extensiv alle europäischen Volksliteraturen und die Übersetzungen mit einbezieht, ist dies für Tieck anders: Hier wird die Konstituierung einer deutschen Nationalliteratur zur Voraussetzung für eine Weltliteratur nach dem Vorbild Shakespeares. Für Goethe scheint nach 1800 - auch durch die selbstbewusste Inszenierung der eigenen Person und durch die Anerkennung des Literaturbetriebs - die Frage nach einer deutschen Nationalliteratur beantwortet zu sein. Er reflektiert in seiner Theorie einer Weltliteratur eine Metaebene sich gegenseitig beeinflussender und pädagogisch im Sinne des Toleranzgedankens wirkender Nationalliteraturen sowohl europäischer wie auch orientalischer Provenienz. Tieck formuliert in seiner Vorstellung von sich gegenseitig befruchtenden Nationalliteraturen hingegen eine Kanonstiftende, auf qualitativer Vorbildlichkeit beruhende Auswahl von Einzelwerken, die repräsentativ für eine Nation sind und auch die Volkspoesie mit einbeziehen. Die Idee der Weltliteratur dient damit als epistemologisches Modell. Indem von anderen Literaturen und Kulturen gelernt werden kann, soll eine innenpolitisch stabilisierende, das nationale und historische Selbstbewusstsein stärkende Wirkung vermittelt werden. Wie einst die französische Literatur, so soll auch die deutsche Literatur im Nachgang zu Shakespeare eine Vorbildfunktion für die Welt haben, ja 66 Der Erstbeleg bei Goethe findet sich in den Tagebuchaufzeichnungen vom 15. Januar 1827. (Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919, 3. Abt., Bd. XI, S. 8.) Vgl. aber auch Hans-J. Weitz: Weltliteratur zuerst bei Wieland. In: Arcadia 22 (1987), S. 206-208. 67 Henrik Birus: Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung. In: Goethezeitportal. http: / / www.goethezeitportal.de/ fileadmin/ PDF/ db/ wiss/ goethe/ birus_weltliteratur.pdf, S. 8 (letzter Zugriff 10. August 2010). Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares 147 August Wilhelm Schlegel kann sich sogar die deutsche Sprache als zukünftige Weltsprache vorstellen: Es ist auf nichts Geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften. Universalität, Kosmopolitismus ist die wahre deutsche Eigentümlichkeit. […] Es ist daher wohl keine zu sanguinische Hoffnung anzunehmen, dass der Zeitpunkt gar nicht so fern ist, wo das Deutsche allgemeines Organ der Mitteilung für die gebildeten Nationen sein wird. 68 Diese allumfassende Vorstellung von Weltliteratur basiert auf einem Modell Herders, der nicht nur eine reine Sammlung von Volkspoesie verfolgte, sondern - so Goethe - auf eine natürliche Poesie als „Zeugnis, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei“ 69 , abzielt. Gemeint war damit also keine elitäre Selbstbespiegelung der herrschenden, gebildeten Klasse, sondern eine überzeitliche, repräsentative National- und Weltliteratur, die nach der historischen Selbstverortung in der eigenen Literaturgeschichte eine Aktualisierung in der Gegenwart herbeiführen sollte. Goethe waren der prozesshafte Charakter der Weltliteratur und die mögliche Vorreiterrolle des Deutschen, auch gerade durch die Übersetzungen, bewusst. Henrik Birus betont zudem, dass für Goethe die Zuweisung eines Werkes zur Weltliteratur kein Kanonisierungsprozess im Sinne eines Klassikers war, da für ihn das unübertroffene literarische Vorbild die griechische Antike blieb. 70 Dies impliziert jedoch gerade gegenüber dem klassizistischen Literaturverständnis eine Ablösung der bisher kanonisierten Literatur durch einen neuen romantischen Kanon, der im Falle Shakespeares Überschneidungen bietet: Die Genialität Shakespeares, die bereits Wieland konstatierte, bleibt über die Jahrhunderte unangefochten und wird auf der Basis dieses Konsens von Tieck aktualisiert, der Shakespeare gemäß der romantisch-idealistischen Vorstellung seiner auf Höhepunkte zielenden Epoche an die Spitze aller Genies stellt. 71 Shakespeare wird nun heroisiert und als Modell für einen Nationaldichter betrachtet, als der er sich - in Abgrenzung von Ben Jonson - für Tieck darstellt. Die dabei ablaufenden Prozesse zwischen Aktualisierung und Universalisierung, zwischen nationaler Vereinnahmung und transnationaler Weltliteratur sind an Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und 68 August Wilhelm Schlegel: Geschichte der romantischen Literatur. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1965, S. 36. 69 Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 1. Abt., Bd. XIV, S. 445. Vgl. auch Birus: Goethes Idee der Weltliteratur, S. 15. 70 Vgl. ebd., S. 4f. 71 Vgl. Tiecks Brief an Solger vom 10. November 1818. (Tieck and Solger: The Complete Correspondence. New York, Berlin 1933, S. 477.) Damit kritisierte er u.a. die Brüder Schlegel, die Goethe an die Spitze stellten. (Tieck: Schriften, Bd. XXVII, S. 259.) Ruth Neubauer-Petzoldt 148 den Übersetzungen sowie der Herausgeberschaft von Shakespeares Werken besonders gut nachvollziehbar. Sie orientieren sich an der Vergangenheit und weisen zugleich als romantische Avantgardisten in die Zukunft einer idealen Übersetzung voraus: „Die romantischen Autoren, und mit ihnen Ludwig Tieck, werden zu Schöpfern einer Nationalliteratur, die sich von der Weltliteratur herleitet und zugleich wieder in diese mündet.“ 72 72 Petzoldt: Albernheit mit Hintersinn, S. 260. Sikander Singh Reden an die deutsche Nation. Ludwig Tieck, Jacob Grimm und das romantische Ideal mittelhochdeutscher Dichtung 1. In den Briefen Friedrich von Hardenbergs findet sich in einem auf den 30. November 1797 datierten Schreiben an August Wilhelm Schlegel eine Betrachtung über die Bedeutung von Übersetzungen für die deutsche Literatur und - damit verbunden - die Genese eines Nationalbewusstseins. Novalis spricht davon, dass der „Hang des Übersetzens“ national sei, dass es „keinen deutschen Schriftsteller von Bedeutung“ gegeben habe, der „nicht übersetzt hätte“, dass Deutschland in diesem Punkt sogar dem antiken Rom gleichkäme. „Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigen Individualität gemischt“, konstatiert er mit einer Emphase, die von jenem hoffnungsvollen Ernst getragen ist, mit dem das ausgehende 18. Jahrhundert auf die Möglichkeit einer Überwindung des spätzeitlichen Partikularismus des alten Reiches zu blicken vermochte. Eine Rezension, die der an der Universität Jena Poesie und Beredsamkeit lehrende Christian Gottfried Schütz 1797 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung über die im selben Jahr von August Wilhelm Schlegel begonnene Übertragung der Werke William Shakespeares veröffentlicht hatte, war Anlass dieser Überlegungen, die mit dem programmatischen Gedanken schließen: „Übersetzen ist so gut dichten, als eigne Werke zustanden bringen - und schwerer, seltner.“ 1 Die Gleichwertigkeit von literarischem Schreiben und literarischer Übertragung, die Friedrich von Hardenberg in seinem in Weißenfels verfassten Brief konstatiert, verweist auf die von der romantischen Schule postulierte Vorstellung, nach der alles Heterogene, Verschiedenartige und Auseinanderstrebende in einer letzten Identität sich verbinde. Das dichterische Kunstwerk wie seine Übersetzung in eine andere Sprache werden nur als äußere Erscheinungsformen einer Idee verstanden, an die sich anzunähern im Medium der Sprache lediglich der Versuch unternommen werden kann. Die endliche Einheit allen geistigen Seins, die Aufhebung von Divergenz 1 Novalis Schriften. Im Verein mit Richard Samuel hg. von Paul Kluckhohn. Leipzig o. J., Bd. IV, S. 213. Sikander Singh 150 und Kontingenz in der Transzendenz und die gleichzeitig eingeforderte unbedingte Individualität des Künstlers - die sowohl in Reflexionen über den schöpferisch-kreativen Prozess als auch in Betrachtungen über die Möglichkeiten der Übersetzung zwischen Novalis, Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich und August Wilhelm Schlegel intensiv diskutiert worden ist - ist eine jener Aporien, die den romantischen Weltentwurf kennzeichnen. Der Autor des Heinrich von Ofterdingen, der im Gegensatz zu seinen Freunden und Weggefährten nicht als Übersetzer in Erscheinung getreten ist, formuliert in dem gegen Ende jenes dunklen Jahres verfassten Brief, zu dessen Beginn seine erste Verlobte Sophie von Kühn so quälend langsam gestorben war, einen Gedanken, den Ludwig Tieck in der Vorrede zu seiner Edition der Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter im Jahr 1803 aufgreifen wird. „Denn es giebt doch nur Eine Poesie“, erläutert der Verfasser von Franz Sternbalds Wanderungen in diesem programmatischen Text, eine Poesie, „die in sich selbst von den frühesten Zeiten bis in die fernste Zukunft, mit den Werken die wir besitzen, und mit den verlohrnen, die unsre Phantasie ergänzen möchte, so wie mit den künftigen, welche sie ahnden will, nur ein unzertrennliches Ganzes ausmacht.“ 2 Während Novalis die deutsche Ausgabe der Dramen Shakespeares zum Anlass nimmt, über Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzens nachzudenken, entwickelt Tieck seine Ideen im Zusammenhang mit einer neuhochdeutschen Bearbeitung mittelhochdeutscher Werke aus der Liederhandschrift der Zürcher Patrizierfamilie Manesse. Als einer der ersten der jüngeren Generation erhebt Tieck den Anspruch, die mittelalterlichen Dichtungen durch behutsame Modernisierungen den Lesern seiner Zeit wieder zugänglich zu machen. „Deutschland hatte indessen fast auch die Erinnrung seiner alten Poesie verlohren“, beklagt er in diesem Sinne in der Vorrede. 3 Wenngleich es seit dem von dem Schweizer Schriftsteller und Literaturtheoretiker Johann Jakob Bodmer 1757 unter dem Titel Chriemhilden Rache neuzeitlich erstmals edierte Nibelungenlied wiederholt Versuche gegeben hat, Werke der deutschen Literatur des Mittelalters wiederzubeleben, reagierte das Lesepublikum nur sehr verhalten auf diese Bemühungen. Vor diesem Hintergrund halten die Minnelieder die Balance zwischen ursprünglicher syntaktischer und semantischer Gestalt und bearbeitendem Fremdeingriff. 4 So stellt Tieck in der Vorrede einerseits fest: „Wenn es uns vielleicht unmöglich fällt, die alte Poesie ganz auf ihre eigenthümliche Art zu verstehn und zu fühlen, so macht wieder die Entfer- 2 Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter. Neu bearbeitet und hg. von Ludewig Tieck. Berlin 1803 [Reprint: Hildesheim 1966], S. III. 3 Ebd., S. XXIII. 4 Vgl. hierzu die immer noch grundlegende Studie von Joseph Brüggemann: Ludwig Tieck als Übersetzer mittelhochdeutscher Dichtung. Eine Kritik. Diss. Tübingen 1908. Ludwig Tieck, Jacob Grimm & das romantische Ideal mittelhochdeutscher Dichtung 151 nung ein innigeres Verständnis möglich, als es die Zeitgenossen selbst fassen konnten.“ 5 Und andererseits betont er: „Die bisherigen Proben, die man mittheilte, waren meist zu sehr modernisirt und verändert […].“ 6 2. Die übersetzerischen Eingriffe und Bearbeitungen, die Tieck mit dem Begriff der Modernisierung problematisiert, werden in einer vergleichenden Lektüre sichtbar, die Jacob Grimm in der Leipziger Literatur-Zeitung im Rahmen seiner Rezension der von Wilhelm Müller herausgegebenen Blumenlese aus den Minnesingern veröffentlicht hat. Wie bereits in seiner kleinen Betrachtung Über das Nibelungen Liet, die, zehn Jahr zuvor, 1807 im Neuen literarischen Anzeiger erschienen war, gelten dem kurhessischen Bibliothekar die von Tieck herausgegebenen Minnelieder als Maßstab und „muster“ für die Edition mittelalterlicher Dichtungen. 7 So urteilt er über die 1816 in der Maurerschen Buchhandlung in Berlin veröffentlichte Sammlung des Dichters der Winterreise: in diesen alten gedichten hängt so auszerordentlich viel an dem leisen, kleinen und unvermerkten, dasz nur durch eine grosze nachgibigkeit gegen die ursprünglichen formen und wendungen etwas von dem duft und geist zu übertragen war; blieben hin und wieder ungewohnte, ja unverständliche wörter und redensarten stehen, so verschlug das weniger, da auch das neue, das an ihre stelle hätte gesetzt werden müssen, doch etwas anderes war. man darf es sich auch aus einer art von trauer erklären, die einen wahren dichter wol befallen muste, wenn er die eben noch gefühlten schönheiten unbarmherzig hätte zerschneiden sollen. an andern stellen mochte ihn blosz etwas anderes zu dem neuen treiben, nämlich die schwierigkeit und unverständlichkeit der alten texte, über die mit irgend einer gemachten phrase weg zu gleiten war. in solchen fällen hat sich Tiek einigemal getäuscht, anderemal mehr oder minder glücklich geholfen, meistentheils immer gewandt benommen. unser neuer verarbeiter gleitet nun ungleich mehr und würde wirkliche misgriffe und blöszen in sofern eher bedecken können […]. 8 Tieck präsentiert mit seinem Band keine Übersetzungen, vielmehr unternimmt er den Versuch, die mittelhochdeutsche Sprache der neuhochdeutschen anzunähern. Somit bezeichnet der von ihm gebrauchte Begriff der Modernisierung ein Verfahren, das darauf zielt, eine ältere Sprachstufe durch behutsame Adaption von im Prozess des Sprachwandels dunkel gewordenen Wort- und Flexionsformen, orthographischen und phonetischen Gegebenheiten für die Gegenwart lesbar zu machen. Dass dieses Verfahren 5 Tieck: Minnelieder, S. III. 6 Ebd., S. XXV. 7 Jacob Grimm: Kleinere Schriften. Berlin 1864-1890 [Reprint Hildesheim 1965-1966], Bd. IV, S. 7. 8 Ebd., Bd. VI, S. 234. Sikander Singh 152 allein deshalb problematisch ist, weil zahlreiche Worte einen Bedeutungswandel durchgemacht haben, wird weder von Tieck noch von Jacob Grimm thematisiert. Die orthographische und damit verbunden auch die phonetische Angleichung suggeriert stattdessen, dass die Worte, trotz der Jahrhunderte, die zwischen der Niederschrift und der erneuten Lektüre liegen, wesenhaft die gleiche Bedeutung beibehalten hätten. Dies ist nicht nur deshalb ein erstaunlicher Befund, weil Jacob Grimm in späteren Jahren gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm, im Prozess der Arbeit an dem Deutschen Wörterbuch, Phänomene des Sprachwandels präzise untersucht hat, sondern auch, weil seit seinem Studium bei dem Juristen Friedrich Carl von Savigny an der Universität Marburg sein wissenschaftliches Interesse in besonderer Weise der Historizität literarischer und sprachlicher Denkmale galt. In seinem Beitrag über das Nibelungenlied wird diese, sein Verständnis und seine Rezeption mittelhochdeutscher Dichtung bestimmende Haltung ebenfalls deutlich. Johann Jacob Bodmer habe erklärt, führt Grimm auf dessen Edition des Heldenepos Bezug nehmend aus, „dasz man die sprache des mittelalters wie eine todte betrachten und studiren müsse.“ 9 Er lehnt diese Position des Schweizer Literaturtheoretikers jedoch mit der ihm eigenen entschlossenen Deutlichkeit ab: „in diesem anspruche liegt wenig wahres, allenfalls nur in beziehung auf einzelne wörter, deren gebrauch aufgehört hat. im ganzen“, fährt er in diesem Sinne fort, „ist es unsere jetzt noch lebende sprache, die wir ohne grosze mühe verstehen, nur noch in der kindheit, im gegensatz zu der ausgebildetheit der heutigen“. 10 Die Vorstellung einer genealogischen Entwicklung wird mit der bildhaften Auffassung einer „kindheit“ der Sprache zwar nur angedeutet, ist jedoch grundlegend für das Verständnis der Denkfigur, die seine Position im Umgang mit den Werken der mittelalterlichen Literatur theoretisch begründet. Grimm überträgt geschichtsphilosophische Vorstellungen und Modellbildungen, die seit Johann Gottfried Herder und Friedrich Schiller den literarischen Diskurs maßgeblich bestimmt haben, auf die Sprache und den Prozess des Sprachwandels. Dabei ist sein Denken nur bedingt auf die Vergangenheit ausgerichtet: Geleitet von der Suche nach einem neuen Sinnzusammenhang in einer im Zerfall begriffenen Welt, sind seine Betrachtungen über die mittelhochdeutsche Dichtung auch als Kritik an den geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklungen seiner von den Koalitionskriegen erschütterten Gegenwart zu lesen. „die poesie bedarf, um sich auszusprechen, durchaus nicht einer ausgebildeten sprache, und lebendig durchdrungen von ihrem groszen gegenstande, findet sie allzeit worte“, konstatiert er. „[U]nd dieses mehr angedeutete, das unbeholfene, durch 9 Ebd., Bd. IV, S. 6. 10 Ebd. Ludwig Tieck, Jacob Grimm & das romantische Ideal mittelhochdeutscher Dichtung 153 welches eine mächtige empfindung bricht, sagt mehr als die durchdachtere auswahl kunstreicher worte.“ 11 Der Gedanke, den Jacob Grimm im Zusammenhang seiner Betrachtungen über das Nibelungenlied formuliert und der damit auch im Kontext jener seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verbreiteten Ansätze zu lesen ist, die das mittelalterliche Werk als ein nationales Epos zu vereinnahmen bestrebt waren, ist unter einer doppelten Perspektive zu verstehen. Zum einen überträgt er jene programmatische, bereits bei dem frühromantischen Dichter Friedrich von Hardenberg formulierte Vorstellung, nach der das Kunstwerk lediglich die äußere Form einer Idee sei, auf die Literaturgeschichte und somit auf den Umgang mit historischen Denkmalen der Literatur. In der Idee, dass in dem „mehr angedeutete[n]“ und „unbeholfene[n]“, das in der mittelhochdeutschen Dichtung zum Ausdruck komme, mehr liege als in der „auswahl kunstreicher worte“, klingt zum anderen jenes dialektische Konzept von Natur- und Kunstpoesie an, das die Geschichte der Literatur als einen stufenweisen Prozess von dem anfänglichen Mythos bis zur Gegenwart auffasst. In seinen Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte, die in Friedrich Schlegels Deutschem Museum im Jahr 1813 erstveröffentlicht wurden, kleidet Jacob Grimm diese Vorstellung in die Form einer rhetorischen Frage: „Lösen sich alle Sagen in einfache, immer einfachere Offenbarungen des Heiligsten auf? sind sie nur ein wechselndes für das Unendliche, Unfaßliche, sich neuversuchendes Wort und fließen sie, im Schein wandelbar, im Grund unwandelbar, endlich in dem Urgedicht zusammen, von dem sie ausgegangen waren? “ 12 Das Nibelungenlied, aber auch die von Tieck edierten Minnelieder, sind literarische Zeugnisse einer Kulturstufe, die dem Ursprünglichen, das es zu rekonstruieren gilt, näher sind als die eigene Gegenwart. In Bezug auf die Sprache und den Sprachwandel schreibt Grimm vor diesem Hintergrund: „Betrachten wir aber nun auch das Wesen der Poesie, welche Fülle von Sprachlebendigkeit hat sich zwischen der Ursprache (der offenbarten) und den heutigen Mundarten bewegt; welch ein Wachstum des epischen Lebens liegt zwischen der göttlichen Idee und den folgenden Zeiten“, um dann auf das Epos überleitend fortzufahren: „Die Poesie, das Epos ist nun gerade die nährende Mitte, diese irdische Glückseligkeit, worin wir weben und athmen, dieses Brod des Lebens; weiter und freyer als die Gegenwart, (die Geschichte, eine vergangene Gegenwart) enger und eingeschränkter als die Offenbarung (der zeitlose Ursprung).“ 13 Vor diesem Hintergrund erweisen sich seine Gedanken über das von Ludwig Tieck in seiner Sammlung 11 Ebd. 12 Jacob Grimm: Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen. Hg. von Ulrich Wyss. München 1984, S. 93. 13 Ebd., S. 104. Sikander Singh 154 mittelhochdeutscher Dichtungen erprobte Verfahren der Modernisierung als Paralipomena eines wissenschaftlichen Programms. 3. In den Rezensionen, die der ältere Grimm-Bruder in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts über Editionen und Übersetzungen mittelhochdeutscher Dichtungen publiziert hat, thematisiert er sowohl die programmatischen Versuche einer Wiederbelebung und Erneuerung der sogenannten „altdeutschen Literatur“, die aus den Reihen der romantischen Bewegung in diesen Jahren unternommen werden, als auch die Möglichkeiten der Bearbeitung, Modernisierung oder Übersetzung. So widmet er sich in einer 1812 in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur veröffentlichten, ebenso umfangreichen wie detailgenauen Besprechung der Neuausgabe des Armen Heinrich von Hartmann von Aue, die zwei Jahre zuvor bei Orell in Zürich erschienen war. Über das von Johann Gustav Büsching bei der Herausgabe dieses Bandes praktizierte Verfahren urteilt Grimm, es sei dem Germanisten, Archäologen und Volkskundler „nothwendig erschienen, die schönheit“ des Werkes „vorher erst zu trüben und zu verunstalten, bevor er“ gewagt habe, „es seiner zeit wieder anzubieten, und zu empfehlen“. Und mit der ihm eigenen Schärfe fügt er auf seine früheren Äußerungen zum Thema verweisend hinzu: „gegen diese fatale manier, alte poesieen zu modernisieren […] hat sich rec. schon mehrmals bestimmt erklärt.“ 14 Zum einen moniert Grimm, dass Büsching dem Leser die Grundsätze seiner Bearbeitung nicht offenlege. Ohne dies explizit zu sagen, deutet er damit grundlegende Zweifel an dem wissenschaftlichen Verfahren des Editors und dem Wert seiner Arbeit an. Zum anderen macht er ihm den Vorwurf, „zwischen alt und neu“ zu schwanken, was „der form und dem inhalt auf beiden seiten abbruch“ tue, da nunmehr „alles bunt unter einander“ gerate. 15 Der Hauptteil der Besprechung besteht im Folgenden aus einer detailgenauen Aufstellung der Ungenauigkeiten und Fehler, die dem Herausgeber unterlaufen seien. Grimm spricht in diesem Zusammenhang von „untreuen“, aus „denen unverzeihliche nachlässigkeit und unkenntnis der alten sprache zu bestimmt“ hervorleuchte, als dass er sie übergehen könne. 16 Bemerkenswert an den kritischen Urteilen, die Grimm über Büsching - der als Herausgeber einer Sammlung von Volks-Sagen, Märchen und Legenden in seiner Zeit sowohl Bekanntheit als auch Anerkennung erlangt hatte - fällt, 14 Grimm: Kleinere Schriften, Bd. VI, S. 64. 15 Ebd., S. 64f. 16 Ebd., S. 66. Ludwig Tieck, Jacob Grimm & das romantische Ideal mittelhochdeutscher Dichtung 155 ist weder der zuweilen schroffe Ton, der angeschlagen wird, noch der systematische und für den Leser nachvollziehbar gestaltete Nachweis von im Detail ungenauen oder zumindest unscharfen Übertragungen. Bemerkenswert ist, dass Jacob Grimm an den Beginn seiner Rezension eine Betrachtung über das seit der frühen Romantik wiederholt erörterte Problem des möglichen Einflusses mittelhochdeutscher Dichtungen auf die literarischen (und in der Konsequenz auch politischen) Diskurse seiner Gegenwart stellt: nach dem einflusse unsrer modernisierungen auf die jetzige poesie kann nur der fragen mögen, welcher die letztere einer äuszerlichen erweckung und neubelebung, die nicht von innen kommt, für fähig hält. wer an die trefflichkeit der alten poesie glaubt, und darnach begehrt, der soll sich auch mühe geben, und sie mit fleisz studieren. musz aber für die bequemlichen und neugierigen durchaus etwas erleichterndes geschehen, so wundern wir uns, warum man nicht auch anfange, den Homer in das griechische des neuen testaments und römische classiker in das lateinische des mittelters umzusetzen, indem man diese schweren autoren alsdann auch leichter und dem anscheine nach mehr lesen und nutzen würde. 17 Einerseits deutet Grimm auf das bereits in Folge der ersten Editionen mittelhochdeutscher Dichtungen sichtbar gewordene Problem, dass sowohl die lyrischen als auch prosaischen Werke der mittelalterlichen Literatur lediglich im Kreise derjenigen wahrgenommen und produktiv verarbeitet wurden, die sich der Mühe unterwarfen, die alte Sprachform zu erlernen und deshalb in der Konsequenz auch zu den ersten Editoren dieser Werke geworden waren. 18 Der programmatische Anspruch, der mit der Herausgabe von zunächst vornehmlich aus dem Hochmittelalter stammenden Dichtungen verbunden war, der Anspruch, das Echte und Usprüngliche, das man in diesen Werken zu erkennen glaubte, möchte zu einer Erneuerung der Literatur und des Lebens führen, war recht bald - dies zeigt Grimms Äußerung deutlich - der Ahnung gewichen, dass breitere Leserschichten durch lediglich behutsame Modernisierung nicht zu erreichen waren. Gleichwohl weigert sich Grimm, wie eine ebenfalls im Jahrgang 1812 der Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur publizierte Rezension der von Felix Franz Hofstäter herausgegebenen Altdeutschen Gedichte aus den Zeiten der Tafelrunde dokumentiert, hieraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Über das in dem in Wien bei Schaumburg 1811 veröffentlichten Band angewandte Verfahren bemerkt er mit jener Haltung, die bereits in 17 Ebd., S. 65. 18 In einer in den Nummern 62 bis 64 des Jahrgangs 1812 der Leipziger Literatur-Zeitung veröffentlichten Rezension des von Karl Friedrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching herausgegebenen Buches der Liebe (Berlin 1811) spricht Grimm in diesem Zusammenhang von dem „jetzigen antheil, den die gebildeten an wiederherstellung des verwahrlosten schatzes“ der mittelalterlichen Literatur nähmen. (Grimm: Kleinere Schriften, Bd. VI, S. 85.) Sikander Singh 156 seiner Besprechung der Minnelieder Ludwig Tiecks sichtbar war: „wie man leicht sieht, sind die letzten [die Reime im Lanzelet des Ulrich von Zatzikhoven, S. S.] so reich und so vielfältig, dazs sie schon an sich auf die blosz neugierigen Leser müszten gewirkt haben […] wir versichern, dasz er gerade alle poesie darin getrübt und gelöscht, und mitsammt seinen schwellenden, wallenden worten die baare prosa geliefert hat, oder vielmehr die unposie […].“ 19 Die Übersetzung bzw. modernisierende Bearbeitung kann zwar das Original nicht erreichen, sollte jedoch den Versuch unternehmen, im Prozess der Annäherung die naive Qualität und ursprüngliche Poetizität des Ausgangstextes sichtbar zu machen. 4. Bereits in seiner Betrachtung Über das Nibelungen Liet aus dem Jahr 1807 hatte Jacob Grimm über das Versepos, „dessen charakter, die höchste naivetät“ sei, festgestellt, dass „wort, zusammenstellung, silbenmasz, darstellung“ unbewusst hervorgingen aus einer „innersten nothwendigkeit“ und auf diese Weise ein Ganzes bildeten, „dessen zarter anhauch von der leisestesten berührung verletzt“ werde. Vor diesem Hintergrund kam er zu dem Schluss: „diese ausdrücke einer kindlichen sprache erlauben schlechthin keine übertragung in die ausgebildete, und ihr höchster reiz würde verloren gehen.“ 20 Die Sprache seiner Gegenwart kann also nur, so die These Jacob Grimms, auf eine höchst unvollkommene Weise die unverbildete Einfachheit der älteren Sprachform sowie die Korrespondenz von inhaltlicher Natürlichkeit und metrischer Gestalt abbilden. Die hier herausgestellte Differenz zwischen den mittelhochdeutschen Dichtungen und ihren neuhochdeutschen Übertragungen verweist jedoch nicht nur auf Prozesse des Sprachwandels, die aus übersetzungstheoretischer Perspektive erörtert werden. Seine Reflexionen haben zugleich eine politische Implikation: Zum einen stehen sie in Bezug auf das Nibelungenlied in der Nachfolge jener Debatten um das Epos, die in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert geführt worden sind. Im Kontext des von Johann Gottfried Herder entwickelten Konzeptes nationaler Literaturen wurde seit der Mitte des aufgeklärten Jahrhunderts die Notwendigkeit eines Nationalepos als eines patriotischen Identifikationsmusters nach dem Vorbild der Ilias für Griechenland, der Aeneis für Rom, des Rolandsliedes für Frankreich und des Beowulfs für England von deutschen Schriftstellern erörtert. Das von Bodmer herausgebene Nibelungenlied galt in den Anfängen dieser Diskussionen als ebenso identitätsstiftend wie das zwischen 1748 und 1780 veröffentlichte empfindsam-religiöse Versepos Der Messias. Ein Heldengedicht von Friedrich 19 Ebd., S. 71. 20 Ebd., Bd. IV, S. 6. Ludwig Tieck, Jacob Grimm & das romantische Ideal mittelhochdeutscher Dichtung 157 Gottlieb Klopstock. In der Folge der Besetzung deutscher Staaten durch die französischen Revolutionstruppen und in der Konsequenz eines erwachenden Nationalismus im Zeitalter der Koalitionskriege hatte die Diskussion, der Jacob Grimm sich mit seinen übersetzungstheoretischen Betrachtungen über das Epos anschloss, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts deshalb nicht nur eine literarische sondern auch eine signifikante politische Aktualität. Zum anderen stehen Grimms Reflexionen im Zusammenhang jener geschichtsphilosophischen Reflexionen, die im Anschluss an die von Herder und Schiller angestoßenen Debatten für das Selbstverständnis der romantischen Generation relevant geworden sind und die vor dem Hintergrund der Erfahrungen der napoleonischen Fremdherrschaft in Deutschland ebenfalls eine politische Implikation hatten. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur des Mittelalters ist für Grimm insofern politisch als in diesen Werken jene ursprüngliche Einheit und Reinheit erhalten ist, die im Prozess der Geschiche verloren gegangen ist und die zu rekonstruieren er als Aufgabe des romantischen Wissenschaftlers betrachtet. Mit der Differenz von „wahrhafte[r] Dichtung“ und „Erdichtung“ bezeichnet er das Defizit seiner eigenen Epoche. 21 Die Übertragung, Bearbeitung und Kommentierung der mittelalterlichen Literatur ist einerseits ein Beitrag zur Erforschung der nationalen Vergangenheit. Indem sie aber die unverdorbene Naivität und Reinheit sowie die vorbewusste Interdependenz von Gehalt und Form behauptet, liegt in ihr zum anderen auch eine politische Utopie für die von krisenhafter Diskontinuität, Verfall althergebrachter Strukturen und Fremdherrschaft bestimmte Gegenwart in den deutschen Ländern. In dem Prozess einer solchermaßen definierten philologischen Arbeit ist die unscharfe begriffliche wie methodologische Unterscheidung zwischen Übersetzung, Bearbeitung und Modernisierung Ausdruck der programmatischen Auffassung, dass die Dichtung und Sprache des Mittelalters nicht übertragen werden müssen, weil sie mit der Sprache und Literatur seiner Gegenwart nicht nur verwandt sind, sondern jenes Ideal der deutschen Nation in sich tragen, dessen die eigene Zeit bedarf und das für sich selber spricht. 21 Grimm: Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen, S. 93. Susanne Gramatzki Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein: De l’Allemagne von Germaine de Staël und die deutschen Gesamtübersetzungen des 19. Jahrhunderts Spätestens seit Benedict Andersons Definition der Nation als imaginierter politischer Gemeinschaft sind Historizität und Konstruktivität wichtige Kategorien des Nachdenkens über die Entstehung von Nationen. 1 Diese Auffassung der Nation als identitäts- und sinnstiftende Narration, als „imagined community“ im Sinne Andersons, als „narrative strategy“ 2 oder „Erfindung der Intellektuellen, um ihr unruhiges Selbst zu beruhigen“, 3 erhält in Bezug auf Germaine de Staëls De l’Allemagne noch eine besondere Akzentuierung, da die Autorin in diesem Buch das fiktionalisierte Bild eines fiktiven Landes entwirft. Die Rede von der deutschen Nation war um 1810 zwar geläufig, 4 aber die deutsche Nation besaß keine „territoriale Wirklichkeit“ 5 , keine staatsrechtliche oder institutionelle Realität. Selbst die Existenz 1 „Sie [die Nation, S. G.] ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän.“ (Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/ Main, New York 1996, S. 15.) 2 Homi K. Bhabha: DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation. In: Nation and Narration. Hg. von Homi K. Bhabha. London, New York 1990, S. 291-322, hier S. 292. 3 So Bernhard Giesen über den Nation-Begriff der deutschen Romantiker, vgl. Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt/ Main 1993, S. 155. 4 Vgl. den Eintrag „Nation“ in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. II, Leipzig 1798, Sp. 439 [Reprograf. Nachdruck Hildesheim 1970]. Ursprünglich sollte De l’Allemagne 1810 veröffentlicht werden, die Vernichtung der Erstauflage durch die französische Zensurbehörde verzögerte das Erscheinen des Werkes aber bis 1813. Zu einer politischen Lektüre von De l’Allemagne vgl. Simone Balayé: Madame de Staël. Écrire, lutter, vivre. Genf 1994, S. 213-229. 5 James J. Sheehan: Nation und Staat. Deutschland als „imaginierte Gemeinschaft“. In: Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. Hg. von Manfred Hettling, Paul Nolte. München 1996, S. 33-45, hier S. 36. Vgl. auch Dieter Langewiesche: Kulturelle Nationsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In: ebd., S. 46-64. Susanne Gramatzki 160 einer deutschen Nation war nicht unumstritten 6 und wurde nicht zuletzt von der grausamen Faktizität der Befreiungskriege, in denen Deutsche gegen Deutsche kämpften, in Frage gestellt. Im Folgenden sollen zwei Kapitel aus De l’Allemagne mit Blick auf ihre im 19. Jahrhundert erschienenen deutschen Gesamtübersetzungen untersucht werden. Die erste Übertragung wurde 1814 veröffentlicht, noch im Bann der zu Ende gehenden Napoleonischen Ära, die zweite 1882, als es zur deutschen Nation auch einen deutschen Staat gab. Leitender Gesichtspunkt der vergleichenden Analyse ist die Überlegung, dass die Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere eine erste Form der Rezeption und damit auch Aneignung darstellt. An der Übersetzungsgeschichte des wohl prominentesten Beispiels deutsch-französischen Kulturtransfers um 1800 wird deutlich, 7 dass sich nationale Identität in einem dynamischen Wechselspiel aus Abgrenzung und Aneignung konstituiert. In Bezug auf de Staëls Schrift De l’Allemagne und ihre Übersetzungen liegt es nahe, von einem plurivalenten Transferprozess zu sprechen, da die Autorin zunächst die deutsche Kultur, Literatur und Philosophie in den Verstehenshorizont ihrer französischen Leserschaft übersetzt, die deutschen Übertragungen wiederum diese kommunikative Aneignung des Fremden für ein deutschsprachiges Publikum rückübersetzen und resemantisieren. 1. Die übersetzungstheoretische Position von Germaine de Staël Neben De l’Allemagne, das eine Reihe grundsätzlicher Bemerkungen der Autorin zu Fragen der Übersetzungspraxis und -theorie enthält, hat sich Madame de Staël auch explizit mit der Übersetzungsproblematik auseinandergesetzt: Der 1816 in Italien veröffentlichte Essay Sulla maniera e l’utilità delle traduzioni ist vordergründig der italienischen Literatur gewidmet, beschäftigt sich aber, wie der Titel andeutet, mit dem weiter gefassten Thema der transnationalen Literatur- und Kulturvermittlung. Zunächst 6 Vgl. die Xenien von Schiller und Goethe: „Deutscher Nationalcharakter: Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens, / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“ (Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. München 1968, Bd. I, S. 267.) 7 Zu Begriff und Konzept des Kulturtransfers vgl. grundsätzlich: Michel Espagne, Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze. In: Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace francoallemand (XVIII e et XIX e siècle). Hg. von Michel Espagne, Michael Werner. Paris 1988, S. 11-34; Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt: Kulturtransfer im Epochenumbruch. Fragestellungen, methodische Konzepte, Forschungsperspektiven. In: Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich - Deutschland 1770 bis 1815. Hg. von Hans-Jürgen Lüsebrink [u. a.]. Leipzig 1997, Bd. I, S. 9-26; Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart, Weimar 2008, S. 129-170. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 161 einmal hebt de Staël die enorme Bedeutung der übersetzerischen Tätigkeit für die Literatur hervor: „Il n’y a pas de plus éminent service à rendre à la littérature, que de transporter d’une langue à l’autre les chefs-d’œuvre de l’esprit humain“. 8 Diese Wertschätzung gründet darauf, dass de Staël Übertragungen fremdsprachiger Texte als produktiven Zugewinn für die jeweilige Nationalsprache und -literatur betrachtet: „Ces beautés naturalisées donnent au style national des tournures nouvelles et des expressions plus originales“. 9 Den Übersetzungen kommt dabei aber nicht nur eine dienende Funktion zu, wie die Formel des „rendre service“ zunächst vermuten lassen könnte: Im Folgenden führt de Staël aus, dass die Lektüre einer guten Übersetzung selbst dann Genuss verschaffe, wenn man aufgrund ausgangssprachlicher Kompetenz gar nicht auf sie angewiesen sei, und weist damit den Übertragungen eine ästhetische Qualität zu, die ihre pragmatische Funktion bei weitem übersteigt. Madame de Staël bezieht hier deutlich Gegenposition zu der in der französischen Klassik geläufigen Auffassung, dass Übersetzungen der Originalität und damit des künstlerischen Eigenwertes entbehrten. 10 Neben der Debatte um die ästhetische Valenz von Übersetzungen wurde seit der Antike, beginnend mit Ciceros De optimo genere oratorum, die Frage diskutiert, ob einer wörtlichen oder einer sinngemäßen Übertragung der Vorzug zu geben sei. An August Wilhelm Schlegels Shakespeare- Übersetzungen bewundert Madame de Staël zwar die kongeniale Verbindung von „exactitude“ und „inspiration“, 11 tendiert jedoch dazu, letzterer den Vorzug zu geben, wenn sich, wie bei der Übertragung von Lyrik, die Forderungen nach semantischer und formaler Äquivalenz nur schwer vereinbaren lassen: „Traduire un poëte, ce n’est pas prendre un compas, et copier les dimensions de l’édifice; c’est animer du même souffle de vie un instrument différent“. Die sprachlich-kulturelle Differenz soll demnach nicht durch eine möglichst exakte linguistische und formale Nachbildung überwunden, sondern durch den kreativen Nachvollzug des Sinngehalts fruchtbar gemacht werden. Dass Madame de Staël die „jouissance“ höher schätzt 8 Germaine de Staël: De l’esprit des traductions. In: Œuvres complètes de Madame la Baronne de Staël-Holstein. Paris 1861 [Reprint Genf 1967], Bd. II, S. 294-297, hier S. 294. (Im Folgenden mit der Sigle OC und der Angabe der Seitenzahl zitiert.) Zu de Staëls Übersetzungsessay vgl. auch Stephen Bann: Théorie et pratique de la traduction au sein du Groupe de Coppet. In: Le Groupe de Coppet. Actes et documents du deuxième Colloque de Coppet 10-13 juillet 1974. Hg. von der Société des Etudes Staëliennes sous la dir. de Simone Balayé et de Jean-Daniel Candaux. Genf, Paris 1977, S. 217-233, hier S. 223f. 9 Dieses Zitat und der folgende Verweis: OC, S. 294. 10 In literarischem Gewand findet sich dieser Vorwurf in Montesquieus Lettres persanes (Nr. 128), vgl. Montesquieu: Œuvres complètes. Hg. von Roger Caillois. Paris 1979, Bd. I, S. 322. 11 Dieses Zitat und die folgenden: OC, S. 296. Susanne Gramatzki 162 als die „traits parfaitement semblables“, zeugt von einem rezeptionsorientierten Translationskonzept, das sich von der Übersetzungsdoktrin der französischen Klassik mit ihrer Forderung nach vollständiger Assimilation des Ausgangstextes an die Zielsprache abgrenzt. Dem klassischen Grundsatz der imitatio setzt de Staël die Produktivkraft der sprachlichen, literarischen und kulturellen Alterität entgegen. Ihr Ratschlag, statt auf emprunter und imiter auf connaître und s’affranchir zu setzen, auf neugierige Annäherung und selbstbewusste Abgrenzung also statt auf unreflektierte sklavische Nachahmung, 12 geht über den unmittelbaren Bezug Italien hinaus und umreißt formelhaft ihre Konzeption transnationalen Kulturaustauschs. Sowohl die Kultur selbst als auch der Kontakt zwischen Kulturen bzw. Nationen werden so als dynamischer, interaktiver Prozess aufgefasst, der das Eigene im Fremden entdeckt und das Fremde zum Eigenen macht. In De l’Allemagne arbeitet Madame de Staël den Zusammenhang zwischen Sprach- und Nationalcharakter heraus. Ihre kontrastive Beschreibung des Deutschen und des Französischen lässt die beiden Sprachen als Widerspiegelung des jeweiligen Nationalcharakters erscheinen: „L’allemand est une langue très brillante en poésie, très abondante en métaphysique, mais très positive en conversation. La langue française, au contraire, n’est vraiment riche que dans les tournures qui expriment les rapports les plus déliés de la société“. 13 Die deutsche Sprache bildet demnach das adäquate Ausdrucksmedium für ein „Volk von Dichtern und Denkern“, während das Französische in idealer Weise das intrikate, fein nuancierte Beziehungsgeflecht der französischen Gesellschaft reflektiert. Die Differenzierung zwischen einem metaphysisch-poetischen und einem mondänkommunikativen Sprach- und Nationalcharakter impliziert, dass sich für den interlingualen Diskurstransfer bereits aufgrund des unterschiedlichen Sprachtyps Schwierigkeiten ergeben müssen, 14 hinzu kommen die divergenten kulturellen Signifikate. Zu den für das soziokulturelle Selbstverständnis relevanten und daher übersetzungsproblematischen Schlüsselbegriffen zählen im genannten Zitat etwa „conversation“ und „société“, deren Eindeutschungen „Unterhaltung“ und „Gesellschaft“ aufgrund des unterschiedlichen nationalkulturellen Kontextes eine andere semantische Wertigkeit besitzen. 15 Die Schwierigkeit der deutschen Übersetzer, angemessene 12 „Il importe aux progrès de la pensée, dans la belle Italie, de regarder souvent au delà des Alpes, non pour emprunter, mais pour connaître, non pour imiter, mais pour s’affranchir de certaines formes convenues qui se maintiennent en littérature comme les phrases officielles dans la société […]“ (OC, S. 296). 13 Germaine de Staël: De l’Allemagne. 2 Bde. Paris 1968, hier Bd. I, S. 112. (Im Folgenden mit der Sigle ST, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) 14 Texte, die dem gleichen Sprachentyp angehören - dem „teutonischen“ oder dem lateinischen - seien dagegen leicht untereinander zu übersetzen. (Vgl. ST I, S. 159.) 15 Zur Definition von Schlüsselbegriffen vgl. Susanne Feldmann: Kulturelle Schlüsselbegriffe in pragma-semiotischer Perspektive. In: Übersetzung als Repräsentation frem- Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 163 sprachliche Äquivalente zu finden, korreliert mit der Problematik Madame de Staëls, die sich bei ihrer Darstellung der deutschen Literatur und Philosophie vor die Herausforderung gestellt sah, Termini und Formulierungen der romantischen Dichtungsästhetik und der idealistischen Philosophie in eine französische Begrifflichkeit zu fassen. 16 Ohne Scheu weder vor der Pauschalisierung noch vor der Simplifizierung bindet de Staël Deutschland und Frankreich in ein System aus binären Oppositionen zusammen, das Nationalstereotypen und Sprachklischees, Fremdwahrnehmungen und Selbstidentifikationen überblendet. 17 Diese essentialistisch anmutende Charakterisierung der beiden Nachbarvölker und ihrer Sprachen wird dabei jedoch von ihrer Auffassung ausbalanciert, dass nationale Sitten, Normen und Praktiken in einem historischen Prozess entstanden und daher variabel seien. An de Staëls Nationenkonzept lassen sich somit zwei Facetten aufweisen: Eine naturalisierende Konzeptionalisierung von Volk bzw. Nation, die (darin noch dem Aufklärungsdiskurs verhaftet) versucht, Unterschiede mit empirischen Fakten wie dem Klima oder der Geographie zu erklären, und ein geschichtsoptimistischer Konstruktivismus, der mit der Aufforderung zu interkultureller Kommunikation auf die fortschrittliche Weiterentwicklung dieser nationalen Charakteristik drängt. 18 Germaine de Staël selbst agierte und schrieb aufgrund ihrer familiären Herkunft und ihrer Lebensumstände aus der „Neutralität“ eines kulturell hybriden, transnationalen Raums heraus, der in ihrem Schloss Coppet am Genfer See als einem exterritorialen Sammder Kulturen. Hg. von Doris Bachmann-Medick. Berlin 1997, S. 275-280, und Hermann Krapoth: Einleitung: Übersetzung als kultureller Prozeß. In: Übersetzung als kultureller Prozeß. Rezeption, Projektion und Konstruktion des Fremden. Hg. von Beata Hammerschmid, Hermann Krapoth. Berlin 1998, S. 1-10, hier S. 4-7. 16 Vgl. hierzu Kurt Mueller-Vollmer: Übersetzen - Wohin? Zum Problem der Diskursformierung bei Frau von Staël und im amerikanischen Transzendentalismus. In: Hammerschmid, Krapoth (Hg.): Übersetzung als kultureller Prozeß, S. 11-31, hier S. 18-23. Zum Problem der französischen Übersetzung deutscher Philosophie vgl. Jean- Pierre Lefebvre: L’introduction de la philosophie allemande en France au XIX e siècle. La question des traductions. In: Espagne, Werner: Transferts, S. 465-476, insbes. S. 467f. 17 „Il faut se mesurer avec les idées en allemand, avec les personnes en français; il faut creuser à l’aide de l’allemand, il faut arriver au but en parlant français; l’un doit peindre la nature, et l’autre la société“ (ST I, S. 113). Zur deutsch-französischen Nationaltopik vgl. die umfangreiche Quellensammlung: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Hg. von Ruth Florack. Stuttgart, Weimar 2001. 18 Flagrant in dieser Hinsicht z.B. das Ende von Teil II, Kap. 31. Zur Verbindung von essentialistisch-deterministischen und historistisch-konstruktivistischen Ansätzen bei Madame de Staël vgl. Umberto Marcelli: Il Gruppo di Coppet e il concetto di nazionalità. In: Le Groupe de Coppet, S. 401-415, hier S. 402-406, und Udo Schöning: Madame de Staël in der französischen Romantik. In: Germaine de Staël und ihr erstes deutsches Publikum. Literaturpolitik und Kulturtransfer um 1800. Hg. von Gerhard R. Kaiser, Olaf Müller. Heidelberg 2008, S. 17-44, hier S. 41. Susanne Gramatzki 164 lungspunkt europäischer Intellektueller auch konkrete Gestalt annahm. 19 Ihre national nicht vereinnehmbare Intellektualität führte dementsprechend zum Verdikt der Napoleonischen Zensurbehörde über ihr Buch De l’Allemagne: „Votre [...] ouvrage n’est point français“. 20 2. Zu den untersuchten Übersetzungen von De l’Allemagne Die erste deutsche Übersetzung von De l’Allemagne, die 1814 in Berlin erschien, war ein Gemeinschaftsprojekt von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Eduard Hitzig. 21 Als Publizisten, Literaten und Sprachlehrer bilden sie eine soziologisch homogene Gruppe, die für den inter- und intrakulturellen Austausch eine wichtige Rolle spielt. 22 Die schlüssigste Hypothese zur Identität von Friedrich Buchholz sieht in ihm den Publizisten Paul Ferdinand Friedrich Buchholz (1768-1843), der nach dem Studium der Theologie und Philologie als Lehrer in Brandenburg tätig war. 23 1800 ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder und machte damit sein politisches und literarisches Interesse, das ihn schon während seiner Lehrtätigkeit zur Mitarbeit an politischen Zeitschriften bewogen hatte, zum Hauptberuf. Er gehörte zu den „führenden Propagandisten der Französischen Revolution“ und vertrat „liberale und demokratische Gedan- 19 Über die Gruppe von Coppet vgl. auch Michel Espagne: „De l’Allemagne“. In: Deutsche Erinnerungsorte. Bd. I. Hg. von Etienne François, Hagen Schulze. München 2001, S. 225-241, hier S. 235-238. Genf wurde erst 1814 Kanton der Schweiz. 20 So der Herzog von Rovigo, Polizeiminister an Madame de Staël, vgl. ST I, S. 39. 21 Anne Germaine de Staël: Über Deutschland. Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814 in der Gemeinschaftsübersetzung von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Monika Bosse. Frankfurt/ Main 1985. (Im Folgenden mit der Sigle BCH und der Angabe der Seitenzahl zitiert). 22 Zu den Trägern des Kulturtransfers, zu denen selbstverständlich auch andere Berufsgruppen wie Handwerker, Kaufleute, Künstler oder Ärzte zählen, vgl. Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (1750-1850). Hg. von Michel Espagne, Werner Greiling. Leipzig 1996; Michel Espagne: Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer. In: Lüsebrink: Kulturtransfer im Epochenumbruch, Bd. I, S. 309-329; Werner Greiling: Die ‚Deutsch-Franzosen’. Agenten des französisch-deutschen Kulturtransfers um 1800. In: Kaiser, Müller: Germaine de Staël und ihr erstes deutsches Publikum, S. 45-59. 23 Für die biographischen Informationen über Buchholz wurden herangezogen: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Bd. III. Leipzig 1876 [Neudruck Berlin 1967], S. 480; Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hg. von Walther Killy. Bd. II. München 1995, S. 184; Deutsches Literatur-Lexikon. Begründet von Wilhelm Kosch, fortgeführt von Carl Ludwig Lang, hg. von Bruno Berger. Bern [u. a.] 1979, Sp. 221-223. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 165 ken“ in den von ihm gegründeten Zeitschriften Journal von und für Deutschland und Neue Monatsschrift für Deutschland. 24 Samuel-Heinrich Catel (1758-1838) ist als in Preußen geborener Sohn französischer Hugenotten bereits qua Herkunft für eine Vermittlerrolle im deutsch-französischen Kulturtransfer prädestiniert. Zunächst Prediger in der hugenottischen Gemeinde, später Professor für Griechisch in Berlin und ab 1806 Redakteur der Vossischen Zeitung, hat sich Catel außerdem intensiv mit Fragen des Spracherwerbs und der Sprachvermittlung beschäftigt. Als Übersetzer, Verfasser von Sprachlehrwerken und Herausgeber von Wörterbüchern machte Catel seine Bilingualität für die Sprach- und Literaturvermittlung zwischen Deutschen und Franzosen fruchtbar. 25 Die besondere Diglossie-Situation der Hugenotten in Preußen bildet ein ganz eigenes Kapitel in der Geschichte des deutsch-französischen Kulturtransfers. Stand Catel „zwischen zwei Sprachen, nicht aber zwischen zwei Kulturen“, 26 so lässt sich diese Aussage für Julius Eduard Hitzig (1780-1849) nahezu umkehren. 27 Hitzig (eigentlich Isaac Elias Itzig) war als assimilierter Jude ein Grenzgänger zwischen der jüdischen und der christlichen Lebenswelt, als Berliner Kammergerichtsrat und Begründer der „Mittwochsgesellschaft“ ein Grenzgänger zwischen der bürgerlich-rechtlichen und der literarisch-romantischen Kultur. Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber, u.a. von Werken E. T. A. Hoffmanns, mit dem er befreundet war, trat er auch als Übersetzer hervor und übertrug vor der Mitarbeit an der deutschen Fassung von De l’Allemagne bereits Germaine de Staëls Aspasia. 1882 legte Robert Habs eine neue Gesamtübersetzung vor, 28 an der vor allem die paratextuelle Rahmung auffällt: Eine ausführliche Einleitung, zahlreiche Anmerkungen und ein Anhang mit Dokumenten bieten sich als Orientierungshilfe für den Leser an. In der Einleitung skizziert Habs zunächst den biographischen Hintergrund der Deutschlandreise Madame de Staëls und nimmt anschließend eine Gesamtbewertung von De l’Allemagne vor. Er lobt das Buch als „Ereignis“, zu dem sich Deutschland „Glück wünschen“ könne, sieht aber davon ab, die „einzelnen Schönheiten des Werkes“ vorzustellen, 24 Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. II, S. 184. 25 Annett Volmer: Sprachbewußtsein durch Diglossie. Der Übersetzer Samuel-Henri Catel. In: Sprache und Sprachen in Berlin um 1800. Hg. von Ute Tintemann, Jürgen Trabant. Berlin 2004, S. 55-66. 26 Volmer: Sprachbewußtsein durch Diglossie, S. 57. 27 Zu Hitzig siehe Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XII (1880 [1969]), S. 509-511; Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. V (1997), S. 77; Deutsches Literatur- Lexikon, Sp. 1264f.; Killy Literaturlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Zweite, vollständig überarbeitete Auflage. Bd. V. Berlin [u. a.] 2009, S. 463f. 28 [Germaine] de Staël: Ueber Deutschland. Mit Einleitung und Anmerkungen deutsch von Robert Habs. 2 Bde. Leipzig 1882. (Im Folgenden mit der Sigle HA, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) Susanne Gramatzki 166 um sich statt dessen auf den folgenden Seiten den „Irrthümern und Schwächen“ zu widmen, unter die er u.a. die Verklärung des Mittelalters und die Vernachlässigung der deutschen Musik einreiht. Mit Blick auf die Wirkungsgeschichte beklagt er, dass de Staëls Darstellung „bei den Franzosen die irrige Meinung [veranlasst habe, S. G.], als sei unsere Philosophie ein mystisch nebelhaftes Gebräu und unsere Denker und Dichter eine Gattung frommer Seher, die nichts als Gottesfurcht athmeten“, hebt aber hervor, dass die Autorin gerade durch ihre Subjektivität „beiden Nationen, und besonders ihrer eigenen, einen großen Dienst geleistet“ habe. 29 Diese eigentümliche Ambivalenz von Anerkennung und Ablehnung 30 wird im Folgenden bei der exemplarischen Betrachtung des Faust- und des Nationalmoral- Kapitels aus De l’Allemagne (II, Kap. 23 und III, Kap. 13) wiederzufinden sein. 3. Literarischer National-Topos: Faust (De l’Allemagne II, Kap. 23) „Es dürfte keine Nation geben, in der ein einziger Name zum Synonym für ihre Kultur geworden ist“ 31 - dies sowohl in der Selbstals auch in der Fremdwahrnehmung, ließe sich ergänzen. Über die Wellentäler einer zwischen enthusiastischer Affirmation und kategorischer Ablehnung oszillierenden Rezeptionsgeschichte hinweg hat sich Johann Wolfgang von Goethe einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis Deutschlands gesichert. Bereits zu Lebzeiten galt der Dichterfürst als herausragende intellektuelle und kulturelle Leitfigur, nach seinem Tod wurde er zum „Kronzeugen der nationalen Identität der Deutschen“ stilisiert. 32 Es erscheint daher sinnvoll, sowohl de Staëls Blick auf Goethe und seinen Faust, der zum „nationalen Literaturheiligtum schlechthin“ erklärt wurde, zu untersuchen, als auch die Brechung dieser Perspektive in den deutschen Übertragungen von De l’Allemagne. Germaine de Staël ist die erste, die es unternimmt, Goethes Faust I auszugsweise ins Französische zu übersetzen. Durch Inhaltsparaphrasen, die Übersetzung von Schlüsselszenen und kommentierende Bemerkungen versucht sie, ihrer französischen Leserschaft ein anschauliches Bild von Goethes Faust-Dichtung zu vermitteln. Hatte sich die Autorin in den vorher- 29 Alle Zitate: HA, I, S. 7-10. 30 Dass deutsch-französische Kulturvermittlung nicht simplifizierend mit unkritischer Germanobzw. Frankophilie gleichzusetzen ist, zeigen Michel Espagne, Werner Greiling: Einleitung. In: Espagne, Greiling: Frankreichfreunde, S. 7-22, hier S. 7-10, und Espagne: Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, S. 325-329, auf. 31 Dieter Borchmeyer: Goethe. In: François, Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, S. 187-206, hier S. 187. 32 Dieses und das folgende Zitat Borchmeyer: Goethe, S. 196. Borchmeyer zeichnet in seinem Essay anschaulich die Ambivalenzen der deutschen Goethe-Rezeption nach. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 167 gehenden Kapiteln mit Wilhelm Tell, Götz von Berlichingen, Egmont, Iphigenia in Tauris und Torquato Tasso beschäftigt, stellt das Faust-Kapitel nun den Abschluss und Höhepunkt ihrer Präsentation der Dramen Goethes dar. Madame de Staël findet einen zweifachen Nenner für den Faust: Zum einen sei er ein typisch deutsches Werk und zum anderen das einzigartige Produkt eines ebenso einzigartigen Genies. Der deutsche Charakter der Faust-Dichtung fungiert als thematische Klammer des Kapitels: Dem ersten Satz, „Parmi les pièces des marionnettes, il y en a une intitulée le Docteur Faust, ou la Science malheureuse, qui a fait de tout temps une grande fortune en Allemagne“, 33 entspricht gegen Ende des Kapitels die Feststellung, dass der Glaube an böse Geister und Teufel in der deutschen Literatur, im Gegensatz zur französischen, häufig anzutreffen sei. 34 Auch passim verweist de Staël im Faust-Kapitel auf das deutsche Lokalkolorit, etwa bei der Beschreibung des Leipziger Schülers, 35 und verortet somit die Faust- Erzählung fest im deutschen Sprach- und Kulturraum. Diesem Denkmuster folgend konnte im Laufe der Zeit aus dem literarischen Stoff, d.h. der Volkslegende um den historischen Dr. Faustus, und dessen einzelnen Motiven - dem Erkenntnisdrang, der Selbstüberhebung, der Sehnsucht nach Erlösung - ein Nationalmythos werden und der ursprünglich literarische Topos im Nationaltopos aufgehen. 36 Madame de Staëls zweiter interpretatorischer Anhaltspunkt neben der Nationaltypik betrifft die Originalität des Werkes. Noch vor jeder Aussage zu Inhalt und Form des Textes konstatiert de Staël in apodiktischer Manier die intellektuelle Sprengkraft des Faust, der die Grenzen einer gewöhnlichen Dichtung überschreite: „On ne saurait aller au-delà en fait de hardiesse de pensée, et le souvenir qui reste de cet écrit tient toujours un peu du vertige“. 37 Bewunderung und Befremden gehen in Madame de Staëls Bewertung unmerklich ineinander über, was die Übersetzer vor die Herausforderung stellt, Entscheidungen hinsichtlich der positiven oder negativen Gewichtung zu treffen. Das neutrale französische „aller au-delà de“ wird von 33 ST I, S. 343. Mit dem Hinweis, dass einige englische Autoren ebenfalls über Doktor Faustus geschrieben haben (vgl. ST I, S. 349f.), ordnet Madame de Staël auch den Faust-Stoff in ihre vor allem in De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) entwickelte oppositionelle Kategorisierung von nordischgermanischen Kulturen einerseits und südlich-romanischen Kulturen andererseits ein. 34 Vgl. ST I, S. 366. 35 „Un écolier de Leipsick, sortant de la maison maternelle, et niais comme on peut l’être à cet âge dans les bons pays de l’Allemagne […] rien n’est plus naïf que l’empressement gauche et confiant de ce jeune Allemand, qui arrive pour la première fois dans une grande ville […]“ (vgl. ST I, S. 349f.). 36 Zum Faust als Nationalmythos und zur Apostrophierung der Deutschen als faustische Nation vgl. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, S. 109-139. 37 ST I, S. 343. Susanne Gramatzki 168 Buchholz/ Catel/ Hitzig zu „weitertreiben“ intensiviert und dynamisiert, 38 während Habs de Staëls Formulierung in ein unmissverständliches Kompliment für Goethe verwandelt. 39 Habs wiederum verbleibt bei der Übersetzung des zweiten Halbsatzes näher am französischen Original; 40 die Version von Buchholz/ Catel/ Hitzig verleiht der lesenden und reflektierenden Beschäftigung mit dem Goethe-Text einen stärker repetitiven Charakter. 41 Es ist die Neuartigkeit des Faust, welche die ambivalente Haltung Madame de Staëls bedingt, wie ihr abschließendes Fazit verdeutlicht: La pièce de Faust cependant n’est certes pas un bon modèle. Soit qu’elle puisse être considérée comme l’œuvre du délire de l’esprit ou de la satiété de la raison, il est à désirer que de telles productions ne se renouvellent pas; mais quand un génie tel que celui de Gœthe s’affranchit de toutes les entraves, la foule de ses pensées est si grande, que de toutes parts elles dépassent et renversent les bornes de l’art. 42 Dem einmaligen literarischen Faktum Faust I zollt Madame de Staël höchste Anerkennung, warnt jedoch zugleich davor, das transgressive Potential von Goethes Dichtung zur neuen ästhetischen Norm werden zu lassen. Was in den nachfolgenden Jahrzehnten zum Inbegriff der deutschen Literatur werden sollte, wird aus der Perspektive des französischen Klassizismus als revolutionär und destruktiv wahrgenommen. Die postulierte Genialität von Werk und Verfasser verbindet sich dabei mit der Nationaltypizität des Faust-Stoffes, wenn Madame de Staël konstatiert, dass Goethes Faust „le goût“, „la mesure“ und „l’art qui choisit et termine“ fehlten, 43 genau jene Eigenschaften also, die unabdingbar zum klassizistischen Regelrepertoire gehören. Je nicht-französischer in stofflicher, gedanklicher und formaler Hinsicht Faust I ist, als desto deutscher erscheint er - und umgekehrt. Die aus Begeisterung und Skepsis gemischte Haltung Madame de Staëls manifestiert sich auch hier in einer sprachlichen Ambivalenz, die in der deutschen Übertragung kaum aufrechterhalten werden kann. Die Formulierung „délire de l’esprit“ aus dem obigen Zitat übersetzen Buchholz/ Catel/ Hitzig als „Verirrung des Verstandes“, während sie bei Habs zur „geistigen Fieberglut“ wird; die „satiété de la raison“ wird von den Erstübersetzern im Sinne eines genitivus subiectivus als „Sättigung der Vernunft“ aufgefasst, von Habs als genitivus obiectivus und „Überdruss[es] an 38 „Es ist unmöglich, die Kühnheit der Gedanken weiterzutreiben […]“ (BCH, S. 350f.). 39 „In Bezug auf Kühnheit der Gedanken wird man das Stück nie übertreffen […]“ (HA I, S. 383). 40 „[…] die Erinnerung, die uns nach der Lectüre bleibt, gleicht immer ein wenig dem Schwindel“ (HA I, S. 383). 41 „[…] und nach dem Lesen des Faust, oder wenn man auch nur daran denkt, ergreift uns immer eine Art von Schwindel“ (BCH, S. 351). 42 ST I, S. 367. 43 ST I, S. 343. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 169 der Vernunft“ übersetzt. 44 Bei der Wiedergabe des polyvalenten „étonnant“ als Qualifizierung des Faust 45 entscheiden sich Buchholz/ Catel/ Hitzig für „seltsam“, Habs hingegen wählt „großartig“. 46 Madame de Staëls Faust-Übersetzungen verzichten auf unbedingte wörtliche Treue und bieten mehr oder weniger freie Prosaversionen des Goethe- Textes, deren Spannbreite von der verknappenden Paraphrase bis zum Versuch der poetisierenden Nachdichtung reicht. Die beiden hier untersuchten deutschen Übersetzungen von De l’Allemagne ersetzen die Staël-Version des Goethe-Textes durch das Original; nur Habs lässt durch Übersetzungsproben und Kommentare einen - negativ perspektivierten - Blick auf die Transferleistung Madame de Staëls zu. Als charakteristisches Beispiel für den Umgang de Staëls mit dem Faust sei ihre Übertragung der Worte des Geistes aus der ersten Studierzimmer-Szene angeführt: In Lebensfluten, im Tatensturm Wall’ ich auf und ab, Wehe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben, So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. […] Du gleichst dem Geist den du begreifst, Nicht mir! 47 C’est à nous, […] c’est à nous de nous plonger dans le tumulte de l’activité, dans ces vagues éternelles de la vie, que la naissance et la mort élèvent et précipitent, repoussent et ramènent; nous sommes faits pour travailler à l’œuvre que Dieu nous commande, et dont le temps accomplit la trame. Mais toi, qui ne peux concevoir que toi-même, toi, qui trembles en approfondissant ta destinée et que mon souffle fait tressaillir, laisse-moi, ne me rappelle plus. 48 Schon der erste flüchtige Blick auf die beiden Texte offenbart den Verlust an dichterischer Aussagekraft, der durch die Entscheidung für eine Prosaübersetzung und den damit einhergehenden Verzicht auf die prägnanten 44 BCH, S. 385 und HA I, S. 411. 45 „Voilà le premier mot qui a fourni à Gœthe l’étonnant ouvrage dont je vais essayer de donner l’idée“ (ST I, S. 343). 46 „Diese wenigen Umstände haben Goethe den Stoff zu dem seltsamen Werke gegeben, von dem ich im folgenden eine Vorstellung vermitteln will“ (BCH, S. 350); „Das ist die Grundlage, welche dem deutschen Dichter Veranlassung zu dem großartigen Werke gegeben hat, von dem ich nachstehend dem Leser ein Bild zu geben suchen werde“ (HA I, S. 382). 47 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Friedmar Apel [u.a.] 40 Bde. Frankfurt/ Main 1985-1999, Abt. 1, Bd. VII/ 1. Frankfurt/ Main 1994, hier V. 501-513. 48 ST I, S. 345. Susanne Gramatzki 170 Goetheschen Kurzverse unweigerlich entstehen muss. Die rhetorische Gestaltung des Originals durch Metrum und Reim, aber auch durch Alliterationen und Assonanzen, geht in der Prosafassung verloren. Die Wiedergabe des alliterativen „Geburt und Grab“ durch „la naissance et la mort“ und der Metaphern „Lebensfluten“ und „Tatensturm“ durch „le tumulte de l’activité“ erscheint als im doppelten Wortsinn prosaisch, nämlich als auch zu sachlich-nüchtern, um einen Eindruck von der tatsächlichen Sprachgewalt des Textes zu vermitteln. Die von Goethe kunstvoll miteinander verschränkten Bilder des Meeres, des Sturmes und des Webstuhls erscheinen bei Madame de Staël in einer distinktiven Klarheit, die sie ihrer poetischen Vieldeutigkeit entkleidet. Schließlich entfernt sich de Staël in der mit „Mais toi“ beginnenden Passage deutlich vom Originalwortlaut. Dieser freie Umgang der französischen Autorin mit dem Faust wird von Habs in einer Fußnote kritisch kommentiert: Diese Stelle ist für die Weise, in welcher Frau von Staël unsere Dichter übertragen hat, so charakteristisch, daß ich die Mittheilung ihrer eigenen Worte für angebracht halte, um mit dieser kleinen Probe einen Anhalt für die Beurtheilung ihrer Übersetzungsweise zu geben. Die Stelle lautet bei ihr: [Es folgt die Version von Madame de Staël, S. G.] - Wie man sieht, ist vom Goethe’schen Texte in dieser Übersetzung keine Spur geblieben. 49 Das in dieser Schärfe sicher überspitzte Urteil wird der Intention von Madame de Staël nicht gerecht: Hätte sie den Anspruch besessen, eine mustergültige französische Übersetzung des Faust vorzulegen, so hätte sie eine vollständige Version des Textes angefertigt und auf Auslassungen und zusammenfassende Paraphrasierungen verzichtet. Mögen defizitäre Deutschkenntnisse und das ihr nachgesagte mangelhafte Gespür für Poesie schwer wiegende Hinderungsgründe für eine adäquate Übersetzung des Faust gewesen sein, 50 so bleibt doch festzuhalten, dass Madame de Staëls vorrangiges Anliegen war, durch Textproben, Resümees und erläuternde Bemerkungen ein möglichst anschauliches Bild der in Frankreich noch weitgehend unbekannten zeitgenössischen deutschen Literatur zu vermitteln, dies letztlich wiederum, dies gilt es zu erinnern, nur als Teil einer umfassenden Kultur- und Gesellschaftsstudie über Deutschland. Diesen Kontext und damit die Pionierleistung Madame de Staëls für den deutsch-französischen Kulturaustausch im Allgemeinen und die französische Rezeption des Faust im Besonderen übergeht Habs. Er stellt wiederholt Madame de Staëls 49 HA I, S. 386, dort Anm. 1. 50 In seiner ausführlichen Analyse des Faust-Kapitels in De l’Allemagne kommt John Clairborne Isbell zu dem Schluss, dass Madame de Staël durch absichtsvolle Veränderungen versucht habe, Goethes Drama zu einer neoklassizistischen Tragödie zu transformieren, vgl. ders.: The Birth of European Romanticism. Truth and Propaganda in Staël’s „De l’Allemagne“, 1810-1813. Cambridge 1994, hier S. 70-90. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 171 Verständnis des Faust in Frage 51 und bezieht dabei auch einen nationalen Standpunkt, wenn er von „unsere[n] Dichtern“ spricht und damit insinuiert, dass Madame de Staël als Französin der Zugang zur deutschen Dichtung fehle. Neben der summarischen Paraphrasierung finden sich in de Staëls Faust- Übertragung auch Textstellen, die sich der Sprachgestalt des Originals anzunähern versuchen. Beispielhaft sei Fausts Monolog in Marthes Garten genannt, der Gretchens berühmt gewordene Frage nach seinem Verhältnis zur Religion beantwortet. 52 Madame de Staëls Übersetzung 53 ist von späteren Nachdichtungen übertroffen worden, dennoch wird, insbesondere wenn man auch ihre Fassung versweise anordnet, ihr Bemühen spürbar, einen Einblick in die Sprachgestalt des Faust zu geben. Dass sie auf die Übertragung dieser Textpassage besondere Sorgfalt verwendet hat, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass sie die „éloquence inspirée“ dieses Monologs betont, womit sie die Aufmerksamkeit ihrer Leser auf die sprachliche Formung und damit ihre eigene Übersetzungsleistung lenkt. Auch hier findet sich eine kritische Anmerkung von Habs, die sich aber bezeichnenderweise nicht auf de Staëls Übersetzung bezieht, sondern auf ihre Interpretation dieser Stelle. 54 Es ist nicht einfach, Madame de Staëls Faust-Übersetzung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, da bei einem Text, der im Verlaufe seiner Wirkungsgeschichte zum Inbegriff einer Nationalliteratur geworden und für die Schaffung eines Nationalmythos instrumentalisiert worden ist, Verständnisfehler und Übersetzungseigenwilligkeiten stärker auffallen. 55 Habs beurteilt de Staëls Kommentierung des Faust selbstgewiss aus der Position des späten 19. Jahrhunderts, ohne den durch die historische Distanz gewonnenen Wissensvorsprung zu thematisieren. Madame de Staëls These, dass am Ende 51 Vgl. HA I, S. 392, Anm. 1. Hier findet sich Habs in Übereinstimmung mit der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, vgl. exemplarisch Albert Fuchs: Goethe und sein Werk in Mme de Staëls Deutschlandbuch. In: Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zur deutschen Literatur (Festschrift Hans Heinrich Borcherdt). Hg. von Albert Fuchs, Helmut Motekat. München 1962, S. 206-226, hier S. 215-218. Isbell: The Birth of European Romanticism, S. 80, spricht von „deliberate untruth“ und „systematic distortion“. 52 Goethe: Faust, V. 3431-3458. 53 Vgl. ST I, S. 352, dort auch das folgende Zitat. 54 Habs moniert, dass Madame de Staël diese Stelle als Goethes Bekenntnis zum Glauben auffasst: „Frau v. Staël hat eben immer nur ein Auge, sobald sie auf ihr Lieblingsthema kommt“ (HA I, S. 396, Anm. 1). 55 Dies natürlich insbesondere bei jenen Textstellen, die als Geflügelte Worte Eingang in die Alltagskommunikation gefunden haben. Margarethes Ausruf „Heinrich! Mir graut’s vor dir“ (Goethe: Faust, V. 4610) überträgt Madame de Staël abweichend als „Faust, c’est ton sort qui m’afflige“ (ST I, S. 365). Vgl. hierzu auch Ursula Wienen: „Ici je suis homme, ici j’ose l’être.“ Geflügelte Worte aus Goethes Faust in französischer Übersetzung. In: Trennstrich oder Brückenschlag? Über-Setzen als literarisches und linguistisches Phänomen. Hg. von Susanne Gramatzki [u.a.]. Bonn 2009, S. 73-88. Susanne Gramatzki 172 von Faust I Fausts Leben gerettet, seine Seele aber verloren sei, 56 rückt Habs unter Hinweis auf Faust II in den Bereich der Lüge. 57 Der zweite Teil des Faust erschien indessen erst 1832, vierundzwanzig Jahre nach dem ersten Teil und fünfzehn Jahre nach dem Tod Madame de Staëls. Die Über Deutschland-Ausgabe von Buchholz/ Catel/ Hitzig bietet wie Habs die Goethe-Verse, an keiner Stelle aber machen die Übersetzer auf die Auslassungen und Modifikationen Madame de Staëls aufmerksam. Da die Übersetzer de Staëls Übertragungen kommentarlos durch den Goetheschen Text substituieren, können die Leser keine Rückschlüsse auf die Qualität der Übersetzung de Staëls ziehen. Die ausführliche Zitation des Original-Faust führt jedoch bei ihnen zu anderen Eingriffen in den Text, nämlich zum Wegfall explikativer Passagen, in denen Madame de Staël ihrem französischen Publikum kulturelles Wissen über das Nachbarland vermittelt, das man in der deutschen Fassung als überflüssig erachtet. 58 4. Das Verhältnis von Moral und Nationalinteresse (De l’Allemagne III, Kap. 13) Unter der Überschrift „De la morale fondée sur l’intérêt national“ setzt sich Madame de Staël mit dem Verhältnis von Moral und nationalstaatlichen Interessen auseinander und transponiert die im vorhergehenden Kapitel (III, 12) erörterte Frage nach der Grundlage der persönlichen Moral auf eine überindividuelle Ebene. Moralische Prinzipien, so lautet ihr Credo, dürfen niemals nationalen Interessen untergeordnet werden: „[…] l’intégrité des principes de la morale importe plus que les intérêts des peuples“. 59 Im Zeitalter des beginnenden Nationalismus formuliert Madame de Staël damit eine Wertehierarchie, die die Moral als universal verbindliches Absolutum festsetzt, das von nationalen und als solchen partikularen Interessen nicht in Frage gestellt werden darf. Der Verabsolutierung der Moral entspricht die Relativierung des Konzepts Nation, unter dem Germaine de Staël nur eine Form des menschlichen Kollektivs unter anderen versteht und die daher 56 ST I, S. 365. 57 „Wie bekannt, straft der zweite Theil des ‚Faust’ diese Vermuthung Lügen: Faust wird selig, und der arme Mephistopheles hat Zeit und Genie ganz umsonst verschwendet“ (HA I, S. 409, Anm. 1). In der Sache hat Habs Recht, entscheidend ist die Form seiner Aussage. 58 Warum der Schüler Mephisto sein Stammbuch überreicht, erläutert Madame de Staël ihren Lesern folgendermaßen: „Avant de le [Méphistophéles, S. G.] quitter, il [l’écolier, S. G.] le prie d’écrire quelques lignes sur son Album, c’est le livre dans lequel, selon les bienveillants usages de l’Allemagne, chacun se fait donner une marque de souvenir par ses amis“ (ST I, S. 350), Buchholz/ Catel/ Hitzig zitieren hier nur die entsprechenden Verse des Faust. 59 ST II, S. 188. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 173 nicht qua Benennung ein besonderes Recht für sich in Anspruch nehmen dürfe: […] mais quand une réunion quelconque, fût-elle aussi peu considérable que celle des Romains dans leur origine, quand cette réunion, dis-je, s’appelle une nation, tout lui serait permis pour se faire du bien! Le mot de nation serait alors synonyme de celui de légion que s’attribue le démon dans l’Evangile; néanmoins il n’y a pas plus de motif pour sacrifier le devoir à une nation qu’à toute autre collection d’hommes. 60 Noch bevor es seinen eigentlichen Siegeszug in Europa antreten sollte, dekonstruiert Madame de Staël das Konzept des Nationalismus, indem sie es als rhetorische Strategie ausstellt. Geschickt verbleibt sie bei ihrer Argumentation auf der sprachlichen Ebene und entlarvt die Arbitrarität der Absolutsetzung von „Nation“ durch eine Verschiebung zum biblischen Begriff „Legion“. Bei der Übertragung des mit „néanmoins“ beginnenden Satzes differieren die beiden hier betrachteten Übersetzungen erheblich. Habs formuliert dem französischen Original entsprechend „Es giebt jedoch ebenso wenig einen Grund, einer Nation, als jeder andern Vereinigung von Menschen die Pflicht aufzuopfern“, während Buchholz/ Catel/ Hitzig den Text offenbar missverstehen und Madame de Staëls Aussage eine andere Richtung geben: „Gleichwohl gibt es für eine Nation keinen Beweggrund mehr zur Aufopferung im Dienste der Pflicht als für jede andere Menschenklasse“. 61 Da Buchholz/ Catel/ Hitzig die vorhergehenden Textpassagen sinngemäß übersetzt haben, entsteht hier ein logischer Bruch. In der Übersetzung von Habs findet sich an dieser Stelle wieder ein Kommentar. Nach der einleitenden Bemerkung, dass die „Hinfälligkeit dieser Ausführung in die Augen [springt]“, versucht Habs Madame de Staëls sprachzentrierte Argumentation zu widerlegen, indem er anmerkt, „daß nicht der Name, sondern die achtunggebietende (wirkliche oder geglaubte) Macht das Wesen der Autorität bildet“. 62 Dass zwei Nationen Krieg führen und dabei auch unmoralische Mittel gebrauchen, erklärt Habs damit, dass sie „eben zwei Autoritäten [sind], die über dem Sittengesetz stehen, und deren Handeln nur durch den Nutzen bestimmt wird“. Ein Politiker, der von dieser machtpragmatischen Linie abweiche, würde unweigerlich als „moralische[r] Don Quixote“ in die Geschichtsbücher eingehen. Habs vertritt eine realpolitische, die Rivalitäten der Nationen im späten 19. Jahrhundert widerspiegelnde Position, der die moralistische, die Nationalinteressen relativierende Haltung einer Madame de Staël als weltfremder, sogar gefährlicher Idealismus erscheinen musste. Wiewohl er de Staël dafür kritisiert, 60 ST II, S. 188f. (Hervorhebung im Text.) 61 HA II, S. 230 und BCH, S. 609. 62 Dieses und die beiden folgenden Zitate HA II, S. 229, Anm. 1. Die Sperrung im Original wird durch Kursivierung wiedergegeben. Susanne Gramatzki 174 dass sie dem linguistischen Akt zuviel Bedeutung beimisst, argumentiert auch Habs auf der sprachlich-fiktionalen Ebene, wenn er, ohne Quellenangabe, eine Anekdote zitiert, die Madame de Staëls Glaube an die eigene These in Frage stellen soll: Ein Bonmot, das seine Authentizität einem „wenigstens wird erzählt“ verdankt, dient dazu, eine unzeitgemäße These zu desavouieren. 63 In einer ausführlichen Fußnote zu Madame de Staëls weiter oben zitierter Auffassung, dass die Unverletzlichkeit der moralischen Prinzipien höher zu werten sei als das Interesse der Völker, wendet sich Habs gegen die Verabsolutierung der Moral mit dem Hinweis, dass diese nicht ein „Absolutes, ein ursprünglich Gegebenes“ sei, sondern Recht und Moral ein „geschichtlich Gewordenes“ seien. 64 Die Einsicht in die historische und kulturelle Relativität moralischer Werte und Normen verbindet Habs mit der Behauptung, dass die „Autoritäten“, zu denen er „die Nationen, die Fürsten und die großen Männer“ zählt, über der Moral stehen. Habs dekliniert Geschichte demnach als Ereignisgeschichte, als Abfolge der Großtaten herausragender Individuen; eine solche Sicht muss konsequenterweise darauf verzichten, „die weltgeschichtlichen Thaten auf die Quentchenwage der Moral zu legen“. Der entscheidende Maßstab ist für ihn nicht die Moral, sondern „die Größe des Ziels, die Tragweite und Wirkung der That für das Wohl der Nationen“. Der Plural „Nationen“ verdeckt, dass die von Habs genannten Autoritäten ein partikulares - in der Regel das eigene - Interesse vertreten. Die Loslösung politisch-nationalstaatlichen Handelns von moralischen Prinzipien perpetuiert den bellum omnium contra omnis, ohne die Möglichkeit eines Interessenausgleichs zwischen Subjekten, Gruppen und Nationen überhaupt in Erwägung zu ziehen. Madame de Staël, „pénétrée d’esprit européen“, 65 nimmt mit ihren Überlegungen Forderungen des 20. Jahrhunderts nach einem transnational verbindlichen Ethos vorweg. Mit ihrem Postulat einer unhintergehbaren, religiös fundierten Moral zieht sie die Schlussfolgerung aus einer rezenten geschichtlichen Erfahrung. Jede sprachliche Äußerung ist bereits ein Sprechakt und kann als politisches Instrument gebraucht werden, mit dem sich die Wirklichkeit manipulieren lässt: „Quand, à l’époque la plus sanglante de la Révolution on a voulu autoriser tous les crimes, on a nommé le gouverne- 63 „Übrigens scheint auch Frau von Staël später ihre Ansicht geändert zu haben, wenigstens wird erzählt, als es sich 1817 um eine Ermäßigung der Frankreich auferlegten Kriegsentschädigung handelte, habe sie einem deutschen Diplomaten gegenüber geäußert: ‚Nehmen Sie sich in Acht: wir haben das erste Mal in Gold, das zweite Mal in Silber gezahlt - das dritte Mal könnte uns leicht eine Zahlung in Blei und Eisen belieben.’ Der Deutsche wußte ihr jedoch zu dienen. ‚Gut’, erwiderte er, ‚dann werden wir mit Stahl die Quittung schreiben.’“ (HA II, S. 229, Anm. 1). 64 Dieses und die folgenden Zitate HA II, S. 227, Anm. 1. 65 Michel Winock: Madame de Staël. Paris 2010, S. 389. Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 175 ment comité de salut public; c’était mettre en lumière cette maxime reçue, que le salut du peuple est la suprême loi“. 66 Es fällt auf, dass die deutsche Terminologie hinsichtlich der Französischen Revolution insbesondere zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht gefestigt ist: comité de salut public geben Buchholz/ Catel/ Hitzig als „Ausschuß der öffentlichen Wohlfahrt“ wieder, 67 in der späteren Übersetzung findet sich der französische Wortlaut und, gleichsam als Vorschlag eines deutschen Äquivalents, der heute gebräuchliche Terminus „Wohlfahrtsausschuß“. 68 Akzeptiere man das Eigeninteresse als privates Handlungsmotiv, so legt Madame de Staël mit nahezu syllogistischer Präzision dar, so gelte dies erst recht für den Staat, der damit die größten Verbrechen legitimieren könne: „[…] car si la morale privée est fondée sur l’intérêt personnel, à plus forte raison la morale publique doit-elle l’être sur l’intérêt national, et cette morale, suivant l’occasion, pourrait faire un devoir des plus grands forfaits, tant il est facile de conduire à l’absurde celui qui s’écarte des simples bases de la vérité“. 69 Die moralpsychologische Erkenntnis, dass jede Abweichung von den ethischen Grundprinzipien dazu führen kann, im Namen einer staatlich verordneten „Pflicht“ größtes Unrecht zu begehen und alle moralischen Schranken zu vergessen, enthält die Forderung des initiis obsta in sich. Ihrer Überzeugung von der Unverletzlichkeit der Moral verleiht Madame de Staël hier dadurch Ausdruck, dass sie mit der begrifflichen Opposition von Wahrheit und Unwahrheit argumentiert: Das christliche geprägte Moralethos bildet den Pol der Wahrheit, jede Abweichung hiervon bedeutet Unwahrheit, in ihrer extremsten Ausprägung schließlich Absurdität als Negation jedweder Wahrheit und Vernunft. Dieser oppositäre Dualismus wird von der Buchholz/ Catel/ Hitzig-Übersetzung nicht erfasst, die absurde verharmlosend als „Abgeschmacktheit“ wiedergibt und durch die Verwendung des Präteritums eine nach Ansicht de Staëls jederzeit mögliche Gefahr in die 66 ST II, S. 188. 67 Die Verwendung des unbestimmten Artikels deutet darauf hin, dass der zeitliche Abstand noch nicht groß genug war, um das comité de salut public als singuläre, an einen bestimmten historischen Moment geknüpfte politische Institution aufzufassen: „Als man in der blutigsten Periode unserer Revolution alle Verbrechen autorisieren wollte, nannte man die Regierung einen Ausschuß der öffentlichen Wohlfahrt“ (BCH, S. 608f.). 68 HA II, S. 227. Ähnliches gilt für den Begriff Terreur: „les époques les plus funestes de la Terreur“ (ST II, S. 191) übersetzen Buchholz/ Catel/ Hitzig als die „unheilvollsten Epochen des Schreckens“ (BCH, S. 612), Habs trifft das Phänomen der Terreur als historischer Periode genauer, wenn er von den „verhängnisvollsten Momente[n] der Schreckenszeit“ spricht (HA II, S. 234). 69 ST II, S. 189. Susanne Gramatzki 176 Vergangenheit verlegt. 70 Habs überträgt mit der Formulierung „ad absurdum“ und der Beibehaltung des Konditionals wiederum wörtlicher. 71 Bemerkenswert sind hier zwei Punkte. Zum einen erstaunt de Staëls hellsichtige Analyse der Einflussnahme struktureller Macht auf das Verhalten des Einzelnen: Ausgehend von der historischen Erfahrung der Französischen Revolution, aber über dieses Ereignis hinausgehend, beschreibt sie, wie leicht sich individuelle Moralvorstellungen manipulieren und wie bereitwillig sich selbst „rechtschaffene Menschen“ für ein Unrechtssystem instrumentalisieren lassen. 72 Da jeder im Nachhinein zur Rechtfertigung seiner Mitläuferschaft auf besondere Umstände verweisen könne, die ihn dazu genötigt hätten, 73 ist die einzig akzeptable Haltung die des moralischen Rigorismus im Sinne eines unbedingten Festhaltens an den einmal für wahr erachteten ethischen Prinzipien. Madame de Staëls kompromisslose Moralität, dies ist der zweite bemerkenswerte Punkt, stößt im Deutschland des Jahres 1882 auf absolutes Unverständnis: Habs’ Randbemerkungen zu seiner Übersetzung dementieren ironischerweise Madame de Staëls romantisches Bild der „nation métaphysique“. 74 In summarischer Form lässt sich bilanzieren, dass beide hier untersuchten Übersetzungen eine angemessene Übertragung von de Staëls Deutschland- Buch bieten, wobei diejenige von Buchholz/ Catel/ Hitzig etwas freier, die von Habs ein wenig wörtlicher ist: Buchholz/ Catel/ Hitzig entfernen sich bisweilen vom Originalwortlaut 75 und zeigen insgesamt ein größeres Interesse für die stilistische Formung des Textes. 76 Der größeren Freiheit 70 „[…] denn wenn die Privatmoral auf den persönlichen Eigennutz gegründet ist, um wieviel mehr muß es die öffentliche Moral auf das National-Interesse sein! Gleichwohl konnte diese Moral gelegentlich aus den größten Verbrechen eine Pflicht machen; so leicht ist es, denjenigen zur Abgeschmacktheit hinzuführen, der sich von den einfachen Grundlagen der Wahrheit entfernt“ (BCH, S. 610). Nicht auszuschließen ist ein Druckfehler, der aus einem ursprünglichen „könnte“ ein „konnte“ gemacht hat. 71 Vgl. HA II, S. 231 (Hervorhebung im Text). 72 „Pendant les époques les plus funestes de la Terreur, beaucoup d’honnêtes gens ont accepté des emplois dans l’administration, et même dans les tribunaux criminels […]“ (ST II, S. 191). 73 Vgl. ebd., S. 191f. 74 Ebd., S. 141. 75 So ist bei ihnen z.B. von „Aftergeburten des Geistes“ die Rede, wo im Französischen nur „esprits“ steht, „frivolité“ wird als „Kleingeistigkeit“ übersetzt und das Adverbialpronomen „y“ zu „Seelenaussatze“ aufgelöst (vgl. ST I, S. 97, 95, 343; BCH, S. 71, 67, 350). 76 Beispielsweise greifen sie für die Wiedergabe des französischen Wortspiels mit „sens“ und „son“ auf die Paronomasie „Wendung“ und „Endung“ zurück oder überbieten das Original rhetorisch: „Si l’enthousiasme enivre l’âme de bonheur […]“ transformiert zu „Wenn der Enthusiasmus die Seele mit Seligkeit berauscht […]“ (vgl. ST I, S. 131 und II, S. 314; BCH, S. 106 und 744). Fremdwahrnehmung und Differenzbewusstsein 177 korreliert andererseits eine gleichsam automatisierte Wiedergabe bestimmter Begriffe, 77 die einer denotativen Äquivalenz 78 nicht immer zuträglich ist. Spürbar sind zudem terminologische Unsicherheiten, die etwa die Eindeutschung von französischen Schlüsselbegriffen wie z.B. „esprit“ oder die Rückübersetzung von Termini der deutschen Philosophie betreffen. Habs’ Ausgabe von De l’Allemagne weist, bedingt durch den historischen Abstand, in linguistischer und intellektueller Hinsicht einen höheren Reflexionsgrad auf. Habs bemüht sich um sprachliche Genauigkeit, wobei ihm die zeitliche Distanz, etwa in Bezug auf die Verfestigung der philosophischen Terminologie, entgegen kommt. Er bietet nicht nur eine Übersetzung, sondern, anders als die Ausgabe von 1814, zugleich eine kritische Annotation des von ihm übersetzten Textes. Seine zahlreichen Kommentare zeugen von der intensiven Auseinandersetzung mit den Thesen der Autorin. Stand bei der Erstübersetzung der Aspekt der Vermittlung im Vordergrund, die sprachliche Erschließung eines fremdnationalen Blicks in einer Zeit der nationalen Ungewissheit, so ist die Übersetzung von Habs in einem anderen historischen und kulturellen Kontext zu verorten. Sie erscheint 1882, also nach dem siegreich geführten Krieg gegen Frankreich und der daran anschließenden Gründung des ersten deutschen Nationalstaates. Zugleich zeichnet sich der Beginn des imperialistischen Zeitalters ab, in dem das Deutsche Reich im Wettlauf mit den anderen europäischen Nationen danach strebte, sich ebenfalls einen „Platz an der Sonne“ zu sichern. Habs’ Ridikülisierung der de Staëlschen Thesen über das Verhältnis von Moral und Nationalinteresse als „Inconsequenzen“, „Hirngespinst“ und „Chimäre“ und seine verächtliche Haltung gegenüber den „Tugendpredigern“ 79 zeugen von einem im 19. Jahrhundert entwickelten National(selbst) bewusstsein, dessen erste Ansätze Madame de Staël noch registrieren konnte. 80 77 Der Begriff „lumières“ wird von Buchholz/ Catel/ Hitzig meistens mit „Aufklärung“ wiedergegeben, während Habs differenzierend übersetzt („Bildung“, „geistiger Entwicklung“, „Aufklärung“, „Geist“, „Licht“). 78 Zum Kriterium der „denotativen Äquivalenz“ vgl. Werner Koller: Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Heidelberg 1979, S. 187. 79 Zitate: HA II, S. 232-234. 80 Vgl. das Vorwort, das aus der Distanz des Jahres 1813 auf das 1810 fertiggestellte Buch zurückblickt: „J’ai dit dans mon ouvrage que les Allemands n’étaient pas une nation; et certes ils donnent au monde maintenant d’héroïques démentis à cette crainte“ (ST I, S. 42; Hervorhebung im Text). - Florian Trabert „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption im Spannungsfeld von Patriotismus und Exilerfahrung 1. Dante, Petrarca und Boccaccio, die als „tre corone fiorentine“, also „die drei Florentiner Kronen“ bezeichneten Dichter, haben für das italienische Nationalbewusstsein einen Stellenwert, der dem Goethes und Schillers in Deutschland vergleichbar ist: Die drei Florentiner und die beiden Weimarer Autoren gelten als die Nationaldichter ihrer Vaterländer. Da sich in Italien wie in Deutschland der Nationalstaat im Vergleich zu anderen europäischen Nationen verspätet ausbildete, erfüllten diese „Nationaldichter“ eine kompensatorische Funktion: Sie verbürgten die kulturelle und sprachliche Einheit, bevor die politische erreicht wurde. Bereits Ernst Robert Curtius hat in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter darauf hingewiesen, dass „die italienischen Dante-Feiern von 1865 - wie die deutschen Schiller-Feiern von 1859 - […] der nationalen Einigung“ präludierten. 1 Dabei ist allerdings auf den entscheidenden Unterschied hinzuweisen, dass die Italiener zu dieser Zeit bereits den 600. Geburtstag Dantes, die Deutschen hingegen „nur“ den 100. Geburtstag Schillers feiern konnten. Gleichwohl ist die italienische Literatur nicht älter als die deutschsprachige. Dass deutsche Dichter des Mittelalters wie Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straßburg nicht in dem Maße wie die „tre corone fiorentine“ als Nationaldichter vereinnahmt werden konnten, ist vor allem auf die unterschiedliche Entwicklung der beiden Sprachen zurückzuführen. Seit der zweiten Lautverschiebung können nur noch Spezialisten die mittelhochdeutschen Texte lesen und selbst Hauptwerke der frühneuhochdeutschen Literatur wie Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch erschließen sich breiteren Leserschichten mittlerweile nur noch als „Übertragungen“, die sprachliche Eigenheiten des Textes größtenteils 1 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl., Tübingen 1993, S. 355. Florian Trabert 180 tilgen; 2 Dantes Divina Commedia, Petrarcas Canzoniere und Boccaccios Decamerone sind hingegen auch heutigen Italienern noch weitgehend verständlich. Das Selbstbewusstsein, das die politisch geteilte und unter dem Einfluss der Habsburgischen Mächte Österreich und Spanien stehende Halbinsel aus ihren Nationaldichtern ziehen konnte, wurde noch durch den Umstand gesteigert, dass der italienischen Literatur im Gegensatz zur deutschen schon früh eine europaweite Wirkung beschieden war. Zentrale Gattungen und Formen der europäischen Literatur wie die Novelle oder das Sonett sind italienischen Ursprungs. Auf diesen Umstand spielt auch Heinrich Heine in den Florentinischen Nächten an, wenn er den Erzähler Maximilian von den Gesichtern der Italienerinnen schwärmen lässt, auf denen dieser „sehr viel süße und intressante Dinge“ zu lesen vermeint: „Geschichten die so merkwürdig wie die Novellen des Boccaccio, Gefühle die so zart wie die Sonette des Petrarcha, Launen die so abentheuerlich wie Ottavarime des Ariosto, manchmal auch furchtbare Verrätherey und erhabene Boßheit, die so poetisch wie die Hölle des großen Dante“. 3 Über die italienische Literatur sagt diese Bemerkung weitaus mehr aus als über italienische Frauen, und tatsächlich ist die scheinbar beiläufige Stelle im Hinblick auf das Thema dieses Beitrags, Heinrich Heines produktive Dante-Rezeption, von gleich mehrfachem Interesse: So fällt auf, dass Dante im Gegensatz zu Boccaccio, Petrarca und Ariosto keine literarische Gattung oder Form zugeordnet wird, sondern dass sein Werk auf den berühmtesten Teil seines berühmtesten Werks reduziert wird: auf das Inferno. 4 Diese Reduktion lässt sich als ein erstes Indiz für den Befund werten, dass sich Heines Dante-Kenntnis weitgehend auf die erste Cantica der Divina Commedia beschränkte. Da Dante zudem entgegen der Chronologie als letztes genannt wird, liegt es nahe, die Passage als Klimax und damit als Urteil über den Rang der klassischen italienischen Dichter zu deuten: An deren Spitze stünde dann, durchaus im Einklang mit der vorherrschenden Meinung, Dante. Für diese Deutung spricht auch, dass Dante als einziger Dichter das Attribut „groß“ erhält. Heines Werk und die in ihm sichtbare Rezeption der italienischen Literatur scheinen diesem Urteil jedoch zumindest auf den ersten Blick nicht zu entsprechen. Von den „tre corone fiorentine“ scheint gerade Dante der Autor zu sein, der Heine am wenigsten beeinflusst hat. So hat Manfred Wind- 2 Vgl. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von Reinhard Kaiser. Frankfurt/ Main 2009. 3 Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973-1997, hier Bd. V, S. 209. (Im Folgenden mit der Sigle DHA, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) 4 Vgl. Eva Hölter: „Der Dichter der Hölle und des Exils“. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002, S. 273. „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 181 fuhr gezeigt, dass die bereits im Titel angedeutete Nähe des Buchs der Lieder zu Petrarcas Canzoniere auf der Darstellung einer oxymorischen Liebeserfahrung basiert, die dem Liebenden - im deutlichen Gegensatz zum Werk Dantes oder auch Novalis’ - den Trost vorenthält, dass seine Liebe im Jenseits erfüllt wird. 5 Was hingegen die bereits erwähnten Florentinischen Nächte betrifft, hat Heine selbst diese als „eine Reihe harmloser Mährchen“ bezeichnet, „die, gleich den Novellen des Dekamerone, dazu dienen könnten, jene pestilenzielle Wirklichkeit, die uns dermalen umgiebt, für einige Stunden zu vergessen“. 6 Einen Text, in dem sich auf vergleichbare Weise die Divina Commedia niedergeschlagen hätte, scheint Heine jedoch nicht geschrieben zu haben. Der Nachweis für die im Titel dieses Beitrags formulierte These einer produktiven Dante-Rezeption Heines steht somit zunächst noch aus. 2. Bevor jedoch den Spuren Dantes in Heines Werk weiter nachgegangen werden soll, ist auf die entscheidende Voraussetzung von Heines Dante- Rezeption einzugehen: die „Wiedergeburt Dantes“ in der Romantik, um eine Formulierung des Romanisten Erich Auerbach zu verwenden. 7 Wenn August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über die romantische Literatur Dante, Petrarca und Boccaccio als „[d]ie drey Häupter und Stifter Aller modernen Kunstpoesie“ bezeichnet, 8 so ist „modern“ als Gegenbegriff zur „klassischen“ Literatur der Antike zu verstehen; ein keinesfalls selbstverständliches Urteil, wenn man bedenkt, dass Vergil nicht nur im wörtlichen Sinne Dantes Führer durch die Hölle und das Fegefeuer ist, sondern dass die Aeneis zugleich das wichtigste Modell für die Divina Commedia darstellt. Zudem ist die Kehrseite von Schlegels Lob für die italienische Literatur in seiner nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch motivierten Kritik an der französischen Literatur zu sehen, die er in einem heillosen Klassizismus befangen sah. 9 Schlegels Formulierung verleiht der hohen Wertschätzung 5 Vgl. Manfred Windfuhr: Rätsel Heine. Autorprofil - Werk - Wirkung. Heidelberg 1997, S. 213-235. 6 DHA XI, S. 154. 7 Erich Auerbach: Entdeckung Dantes in der Romantik. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern und München 1967, S. 176-183, hier S. 176. 8 Vgl. August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hg. von Georg Braungart. Paderborn [u.a.] 2007, Bd. II/ 1, S. 144. 9 Vgl. Jochen Strobel: Blumensträuße für die Deutschen. August Wilhelm Schlegels produktive Rezeption der romanischen Poesie als Übersetzer und Literaturhistoriker. In: Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer - romantische Wissenswelten. Hg. von York-Gothart Mix, Jochen Strobel, Berlin 2010, S. 159-183, hier S. 180. Die antifranzösische Tendenz Schlegels hatte bereits Heine in Die Romanti- Florian Trabert 182 der Romantiker für die „tre corone fiorentine“ Ausdruck, verdeckt aber für heutige Leser einen entscheidenden Unterschied: Während die italienische Literatur seit Petrarca und Boccaccio ohne große Verzögerung in Deutschland Einzug gehalten hatte, blieb gerade Dante als ihr bedeutendster Vertreter bis weit ins 18. Jahrhundert nahezu unbekannt. 10 Zwei fast gleichlautende Passagen aus zwei im Abstand von ungefähr einem halben Jahrhundert entstandenen Werken, aus Ludwig Tiecks frühem Roman Franz Sternbalds Wanderungen und Heines Versepos Deutschland. Ein Wintermährchen veranschaulichen die Wiederentdeckung Dantes durch die Romantiker. Während in Tiecks Roman dem Protagonisten die Frage gestellt wird „Kennst du Dantes großes Gedicht? “ 11 endet Heines Versepos bekanntlich mit einer noch ausführlicher zu kommentierenden Apostrophe an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV, die in die Frage mündet: „Kennst du die Hölle des Dante nicht […]“? 12 Beide Fragen sind wohl als rhetorische Fragen zu verstehen, und dementsprechend lautet die vom Frager suggerierte Antwort im ersten Fall „nein“, 13 im zweiten „ja, doch“. Tieck konnte also 1798 noch nicht mit Lesern rechnen, denen das Werk Dantes bekannt war, Heine hingegen setzte Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest eine ungefähre Vorstellung vom Inferno bei seinen Lesern voraus. Die entscheidende Rolle bei dieser Wiederentdeckung Dantes kommt fraglos August Wilhelm Schlegel zu, der als erster eine brauchbare, wenn auch fragmentarische Übersetzung der Divina Commedia ins Deutsche vorlegte. 14 Die kulturtheoretische These Homi Bhabhas, der zufolge Übersetzung die „performative nature of cultural communication“ darstellt, 15 wird durch Schlegels Übersetzungstätigkeit nachdrücklich bestätigt, da diese sche Schule hervorgehoben: „Was den Ruhm des Herren Schlegel noch gesteigert, war das Aufsehen, welches er später hier in Frankreich erregte, als er auch die literarischen Autoritäten der Franzosen angriff. Wir sahen mit stolzer Freude, wie unser kampflustiger Landsmann den Franzosen zeigte, daß ihre ganze klassische Literatur nichts werth sey, daß Molière ein Possenreißer und kein Dichter sey, daß Racine ebenfalls nichts tauge“ (DHA VIII, S. 170). 10 Vgl. Achim Hölter: Religiosität und mystische Sprache in der Dante-Lektüre Ludwig Tiecks. Zum romantischen Verständnis von Mehrdeutigkeit. In ders.: Frühe Romantik - frühe Komparatistik. Gesammelte Aufsätze zu Ludwig Tieck. Frankfurt/ Main [u.a.] 2001, S. 171-188, hier S. 171. 11 Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Hg. von Marianne Thalmann. Darmstadt 1969, Bd. I, S. 699-985, hier S. 867. 12 DHA IV, S. 157. 13 Dies gilt hier auch für die „tatsächliche“ Antwort, denn Sternbald beantwortet die Frage unumwunden mit „Nein“ (Tieck: Werke, Bd. I, S. 867). 14 Vgl. hierzu ausführlicher Maria Enrica D’Agostini: August Wilhelm Schlegel und Dante Alighieri. In: Ein Leben für Dichtung und Freiheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Joseph P. Strelka. Hg. von Karlheinz F. Auckenthaler [u.a.]. Stauffenberg 1997, S. 557-569. 15 Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London, New York 2003, S. 228. „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 183 nicht nur Dantes Divina Commedia erstmalig einem deutschen Leserkreis erschloss, sondern zugleich den Ausgangspunkt einer philosophischen und literarischen Auseinandersetzung mit Dantes Hauptwerk in den Jahren um 1800 bildete. Schlegel selbst hat diesen Prozess mit Anklängen an das mittelalterliche Konzept der translatio studii beschrieben, wenn er in seiner 1791 entstandenen Schrift Dante. Über die Göttliche Komödie konstatiert, dass sich die Auseinandersetzung mit Dante von Italien nach Deutschland verlagert habe, wobei aus dieser Perspektive seine Übersetzungstätigkeit einen wichtigen Bestandteil dieser translatio bildet. Da Schlegel das kulturelle Leben Italiens durch eine „Erschlaffung“ gekennzeichnet sieht, ruft er Deutschland zur neuen „Heimat“ Dantes aus: „Jenseits der Alpen, mit den Italienern zu sprechen, findet Dante vielleicht noch mehrere, die fähig sind, gerade diese Art des Dichterwertes zu begreifen.“ 16 Zu diesen Berufenen nördlich der Alpen zählten nicht zuletzt die Vertreter des deutschen Idealismus. Während Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik in der Divina Commedia „das eigentliche Kunstepos des christlichen katholischen Mittelalters“ sieht, 17 geht Schelling noch einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er 1802 in seiner Schrift Über Dante in philosophischer Beziehung den italienischen Schriftsteller ganz im Sinne der romantischen Kunsttheorie als „Hohepriester“ rühmt, der „Religion und Poesie“ verbündet und damit „die ganze moderne Kunst für ihre Bestimmung ein[geweiht]“ habe. 18 Parallel zu der theoretischen Auseinandersetzung der idealistischen Philosophen mit Dante verläuft die Rezeption seines Werks in der frühromantischen Literatur, die sich jedoch selten als expliziter Bezug, sondern häufiger als implizite Adaption manifestiert. Für diese Adaptionen ist eine entscheidende Akzentsetzung kennzeichnend: So treten sowohl in Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen als auch in Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen Frauenfiguren auf, die eine ähnliche Funktion wie Beatrice in der Divina Commedia übernehmen: Als Figurationen der donna angelicata, der engelsgleichen Frau, lenken sie die Entwicklung der männlichen Protagonisten durch eine mehr mystische als irdische Liebeserfahrung. 19 Insbesondere die Mathilde aus Novalis’ Roman tritt weniger als 16 August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1962, Bd. I, S. 67-87, hier S. 68. 17 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Hg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt/ Main 1986, Bd. XV, S. 406. 18 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über Dante in philosophischer Beziehung. In: ders.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Kritisches Journal der Philosophie. Leipzig 1981, S. 412-427, hier S. 413. 19 Vgl. Irmgard Osols-Wehden: Dante im Tempel der deutschen Kunst. Eine Betrachtung zur Dante-Rezeption in der frühromantischen Dichtung. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 66 (1991), S. 25-42 und Silvio Vietta: Dantes „Matelda“ und Novalis’ „Mathilde“. Die säkularisierte Gestalt des irdischen Paradieses. In: Ästhetik - Religion - Säkularisie- Florian Trabert 184 eigenständig agierende Romanfigur auf, sondern ist, ähnlich wie die berühmte blaue Blume, mit der sie in Heinrichs erstem Traum bezeichnenderweise zusammenfällt, 20 als Allegorie der Dichtkunst zu verstehen, durch deren Begegnung der Protagonist überhaupt erst zum Künstler wird. Die Parallele zwischen Dantes Hauptwerk und dem Heinrich von Ofterdingen ist auch der Aufmerksamkeit Heines nicht entgangen, der in seiner Schrift Die romantische Schule Novalis’ Roman als „das Fragment eines großen allegorischen Gedichtes, das, wie die göttliche Comödie des Dante, alle irdischen und himmlischen Dinge feyern sollte“ bezeichnet hat. 21 Nicht zuletzt die „himmlischen Dinge“, denn tatsächlich ist eine Fokussierung auf die Teile der Divina Commedia, in denen Dante unter der Führung Beatrices steht - also die Schlußpartie des Purgatorio und das Paradiso - für das idealisierende Dante-Bild der Romantik höchst charakteristisch. In diesem Sinne rühmte August Wilhelm Schlegel in einem Brief an Schiller vom 4. Juni 1795 die letzten Gesänge des Purgatorio als „fast die schönsten und lieblichsten des ganzen Gedichts“, und das Paradiso gilt ihm als „der schwerste, tiefsinnigste, erhabendste, glänzendste Teil der göttlichen Komödie“. 22 3. Die „Wiedergeburt Dantes“ in der Romantik stellt für Heines produktive Dante-Rezeption gleichermaßen die notwendige Voraussetzung dar wie die Tradition, von der sich Heine unbedingt abgrenzen wollte. Der Initiator dieser Wiedergeburt, August Wilhelm Schlegel, machte mit einiger Wahrscheinlichkeit als zeitweiliger akademischer Lehrer Heines diesen mit dem Werk des italienischen Dichters vertraut. 23 Allerdings wandte sich Heine schon früh von Schlegel ab und stellte in Die romantische Schule auf der wörtlichen Ebene die sexuelle, auf der übertragenen Ebene hingegen die schriftstellerische Potenz seines ehemaligen Lehrers in Frage. 24 Nicht viel besser erging es in dieser Schrift Schelling, dem zweiten wichtigen romantischen rung. Hg. von ders., Herbert Urlings. München [u.a.] 2008, Bd. I: Von der Renaissance zur Romantik, S. 111-131. 20 Vgl. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Hg. von Wolfgang Frühwald. Stuttgart 1987, S. 11f. 21 DHA VIII, S. 194. 22 August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart [u.a.] 1974, Bd. VII, S. 12. 23 Hierfür gibt es allerdings keine unmittelbaren Belege. Als wenig plausibel muß jedoch die Vermutung Eva Hölters gelten, daß Heine während seiner Italien-Reise mit dem Werk Dantes vertraut geworden ist (vgl. Hölter: Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, S. 272). Denn bereits in dem vor der Italienreise entstandenen Reisebild Ideen. Das Buch Le Grand findet sich eine explizite Referenz auf Dantes Inferno. 24 Vgl. DHA VIII, S. 175. „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 185 Fürsprecher Dantes, den Heine vollkommen in den „Schlingen der katholischen Propaganda, deren Hauptquartier zu München“ befangen sah. 25 Zudem hat Heine seine Kritik an den Romantikern, mit ihrem Spiritualismus die apolitische Haltung der Deutschen befördert und damit letztlich die Sache der deutschen Fürsten zu betrieben zu haben, auch an Werken wie Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen exemplifiziert. Bezeichnend ist jedoch, dass Heine die Übersetzungstätigkeit der Romantiker von seiner Kritik ausdrücklich ausgenommen und insbesondere Tiecks Übersetzung des Don Quijote in den höchsten Tönen gelobt hat; 26 zu der Zeit, als Heine Die romantische Schule verfasste, war Tieck Mitglied des Kreises um den Prinzen Johann von Sachsen, der unter dem Pseudonym Philalethes die Divina Comedia übersetzte. 27 Gleichwohl kann es angesichts von Heines umfassender Romantik-Kritik nicht verwundern, dass Heines Dante-Rezeption unter gänzlich anderen Vorzeichen als die der Romantiker steht. Die im Vergleich zu den romantischen Autoren völlig anderen Akzentsetzungen, die für Heines Dante- Rezeption kennzeichnend sind, treten bereits in einer längeren Passage aus dem ersten Kapitel der frühen Schrift Ideen. Das Buch Le Grand mit besonderer Deutlichkeit zutage, die deshalb stellvertretend für viele weitere Referenzen auf Dante in Heines Werk ausführlich zitiert werden soll: 28 [I]n der Hölle ist es ganz höllisch heiß, und als ich mahl in den Hundstagen dort war, fand ich es nicht zum Aushalten. Sie haben keine Idee von der Hölle, Madame. Wir erlangen von dorther wenig offizielle Nachrichten. Daß die armen Seelen da drunten den ganzen Tag all die schlechten Predigten lesen müssen, die hier oben gedruckt werden - das ist Verläumdung. So schlimm ist es nicht in der Hölle, so raffinirte Qualen wird Satan niemals ersinnen. Hingegen Dantes Schilderung ist etwas zu mäßig, im Ganzen allzupoetisch. Mir erschien die Hölle wie eine große bürgerliche Küche, mit einem unendlichen langen Ofen, worauf drey Reihen eiserne Töpfe standen, und in diesen saßen die Verdammten und wurden gebraten. In der einen Reihe saßen die christlichen Sünder, und sollte man es wohl glauben! ihre Anzahl war nicht allzuklein, und die Teufel schürten unter ihnen das Feuer mit besonderer Geschäftigkeit. In der anderen Reihe saßen die Juden, die beständig schrieen und von den Teufeln zuweilen geneckt wurden, wie es sich denn gar possierlich ausnahm, als ein dicker, pustender Pfänderverleiher über allzugroße Hitze klagte und ein Teufelchen ihm einige Eimer kaltes Wasser über den Kopf goß, damit er sähe, daß die Taufe eine wahre erfrischende Wohltat sey. In der dritten Reihe saßen die Heiden, die, ebenso wie die Juden, der Seligkeit nicht theilhaftig werden können, und ewig brennen müssen. Ich hörte, wie 25 Ebd., S. 187. 26 Vgl. ebd., S. 184. 27 Vgl. Elisabeth Stopp: Ludwig Tieck and Dante. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 60 (1985), S. 73-95, hier S. 87. 28 Nahezu alle Verweise auf Dante, die sich in Heines Werk finden, führt Eva Hölter an (vgl. Hölter: Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante- Rezeption, S. 272-276). Florian Trabert 186 einer derselben, dem ein vierschrötiger Teufel neue Kohlen unterlegte, gar unwillig aus dem Topfe hervorrief: „Schone meiner, ich war Sokrates, der Weiseste der Sterblichen, ich habe Wahrheit und Gerechtigkeit gelehrt und mein Leben geopfert für die Tugend.“ Aber der vierschrötige, dumme Teufel ließ sich in seinem Geschäfte nicht stören und brummte: „Ey was! alle Heiden müssen brennen, und wegen eines einzigen Menschen dürfen wir keine Ausnahme machen.“ 29 An die Stelle des idealisierenden Dante-Bildes der Romantiker ist hier eine drastische Profanisierung und Ironisierung der Dantes Divina Commedia entnommenen Motive getreten. Zwar gibt der Ich-Erzähler wie Dante vor, selbst in der Hölle gewesen zu sein, entkleidet seine Jenseitsvision aber jeglicher metaphysischen Dimension, indem er die Hölle mit einer „große[n] bürgerliche[n] Küche“ vergleicht und einen Einfluss des irdischen Wetters auf die unterweltlichen Temperaturverhältnisse suggeriert. Die Komik dieser Stelle wird noch durch die tautologischen Eingangsbemerkung gesteigert, der zufolge es „in der Hölle […] ganz höllisch heiß“ sei. Noch markanter erscheinen die Abweichungen von der durch das contrapasso-Prinzip bestimmten Rechtsmetaphysik Dantes, die zwischen Sünde und Strafe eine unmittelbare Beziehung herstellt. Während Schelling am Inferno gerade die „fast beispiellose[.] Invention“ lobte, mit der „[d]ie Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Strafen“ ausgedacht sind, 30 kennt Heines Hölle nur drei Klassen von Sündern: Christen, Juden und Heiden; diese werden alle der gleichen primitiven Feuerstrafe unterzogen, die weitaus mehr an volkstümliche Höllenvorstellungen erinnert als an Dantes Jenseitsvision. In markantem Gegensatz zu Dantes Inferno, in dem „edle Heiden“ wie die antiken Philosophen und Schriftsteller - zu denen auch Dantes Führer Vergil zählt - in einem den elysischen Feldern der antiken Unterwelt nachempfundenen „nobile castello“ 31 von jeglichen körperlichen Strafen ausgenommen sind und lediglich von der Sehnsucht nach dem Paradies gepeinigt werden, 32 verschont Heines Teufel auch einen Sokrates nicht. Bedeutsamer im Hinblick auf Heines Biographie erscheint jedoch die Gestalt des jüdischen Pfänderverleihers, fällt doch die Entstehung von Ideen. Das Buch Le Grand in die beiden Jahre nach Heines 1825 erfolgtem Übertritt zum Protestantismus. Dass Heine gerade hier Dantes contrapasso-Prinzip adaptiert, indem er den Ich-Erzähler ein „Teufelchen“ schildern lässt, das an Stelle der Taufe „einige Eimer kaltes Wasser über den Kopf“ des Pfänderverleihers gießt, ist am 29 DHA VI, S. 172. 30 Schelling: Über Dante in philosophischer Beziehung, S. 420. 31 Inf. IV, 106. Die Divina Commedia wird hier und im Folgenden mit den für die drei Cantiche üblichen Abkürzungen (Inf., Pur., Par.) nach folgender Ausgabe zitiert: Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und deutsch, übers. und komm. von Hermann Gmelin. 6. Bände, München 1988. Auch die Übersetzungen ins Deutsche sind dieser Ausgabe entnommen. 32 Vgl. Inf. IV, V. 25-151. „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 187 ehesten als ironische Distanzierung Heines von seiner Konversion zu verstehen, die ihm seine Außenseiterstellung nur noch quälender bewusst werden ließ. 33 Es fällt jedenfalls auf, dass der Ich-Erzähler keinen christlichen Verdammten genauer beschreibt, sondern lediglich deren überraschend große Zahl konstatiert. Aus der frühen Reisebilder-Prosa Heines ließen sich noch weitere Stellen benennen, die gleichfalls die Tendenz zur Profanisierung und Ironisierung der Divina Commedia erkennen lassen. So kleidet der Ich-Erzähler der Reise von München nach Genua seine Begeisterung für die Melodienseligkeit von Rossinis Opern in eine ironische Anspielung auf das contrapasso-Prinzip: „Die Verächter italienischer Musik […] werden einst in der Hölle ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen, und sind vielleicht verdammt, die lange Ewigkeit hindurch nichts anderes zu hören, als Fugen von Sebastian Bach.“ 34 Einen weitaus deutlicheren Bruch mit dem idealisierenden Dante- Bild der Romantik markieren jedoch die in Frankreich entstandenen Schriften Heines: Dante erscheint in diesen als Modell des politisch aktiven Schriftstellers, der - wie Heine selbst - bereit ist, für sein Engagement den Preis des Exils zu zahlen. 35 Bereits in Französische Maler, seinem Bericht über die Pariser Gemäldeausstellung von 1831, beruft sich Heine an einer entscheidenden Stelle auf das Vorbild Dantes. Am Ende der Schrift ruft er das Ende der Trennung von Kunst und Politik aus, wie sie für die Goethesche „Kunstperiode“ charakteristisch war: „Dante schrieb seine Comödie nicht als stehender Commissionsdichter, sondern als flüchtiger Guelfe, und in Verbannung und in Kriegsnoth klagte er nicht über den Untergang seines Talentes, sondern über den Untergang der Freyheit.“ 36 Bekanntlich beinhaltet diese Schrift auch eine Würdigung von Delacroix’ berühmten Gemälde La Liberté guidant le peuple, das als Verherrlichung der Julirevolution die von Heine geforderte Verbindung von Kunst und Politik geradezu exemplarisch verkörpert. 37 Insofern scheint es plausibel anzunehmen, dass sich Heine zu seiner Berufung auf Dante durch ein anderes, bereits acht Jahre zuvor entstandenes Werk Delacroix’ inspirieren ließ: durch das Gemälde La Barque de Dante ou Dante et Virgile aux Enfers, das die im achten Gesang des Inferno geschilderte Überfahrt Dantes und Vergils über den Styx darstellt. 33 Vgl. Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 35. 34 DHA VII, S. 48. 35 Vgl. Gerhard Höhn: Ein „ganz neues Genre“. Tradition und Innovation in Heines Wintermährchen. In: Von Sommerträumen und Wintermährchen. Versepen im Vormärz. Hg. von Bernd Füllner. Bielefeld 2007, S. 225-248, hier S. 229. 36 DHA XII, S. 47. 37 Vgl. ebd., S. 20f. Florian Trabert 188 Eine deutliche Vertiefung erfährt die Berufung auf Dante in Heines Schriften der 1840er Jahre, als aus dem zunächst freiwilligen Aufenthalt Heines in Frankreich endgültig ein Exil geworden war. Das von den Romantikern allenfalls beiläufig erwähnte Exil Dantes lässt Heine zur wesentlichen Inspirationsquelle des italienischen Schriftstellers werden: 38 Wenn Dante durch die Straßen von Verona ging, zeigte das Volk auf ihn mit Fingern und flüsterte: „der war in der Hölle! “ Hätte er sie sonst mit allen ihren Qualen so treu schildern können? Wie weit tiefer, bey solchem ehrfurchtsvollen Glauben, wirkte die Erzählung der Franceska von Rimini, des Ugolino und aller jener Qualgestalten, die dem Geiste des großen Dichters entquollen... Nein, sie sind nicht bloß seinem Geiste entquollen, er hat sie nicht gedichtet, er hat sie gelebt, er hat sie gefühlt, er hat sie gesehen, betastet, er war wirklich in der Hölle, er war in der Stadt der Verdammten... er war im Exil! 39 Diese Stelle verdeutlicht die Akzentverschiebung, die sich im Vergleich zu den Dante-Bezügen in Heines frühen Schriften vollzogen hat. Waren diese durch eine Profanisierung und Ironisierung der Divina Commedia gekennzeichnet, so ist nun lediglich die erstgenannte Tendenz weiter wirksam: Heine profanisiert die Hölle, indem er diese mit dem Exil gleichsetzt. An die Stelle der Ironisierung ist jedoch die Politisierung Dantes getreten, da Heine sein eigenes Exilschicksal in der Gestalt des berühmtesten Exilanten der mittelalterlichen Literatur spiegelt, der gleichfalls gezwungen war, wie er es seinen Ahnherren Cacciaguida im 17. Gesang des Paradiso verkünden lässt, das salzige „pane altrui“, das Brot der Fremde, zu essen. 40 4. Die bisher angeführten Referenzen auf die Divina Commedia und das Schicksal Dantes unterscheiden sich von der romantischen Dante-Rezeption nicht nur durch die beschriebenen Tendenzen der Profanisierung, Ironisierung und Politisierung, sondern auch durch ihren geringeren Grad an intertextueller Intensität, da die eher punktuellen Dante-Bezüge für keines der genannten Werke Heines konstitutiv waren - zumindest nicht in dem Maße, wie dies für Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen oder Novalis’ Heinrich von Ofterdingen gilt. Dennoch erscheint die These Eva Hölters, dass sich trotz der tieferen inneren Verwandtschaft zwischen Heine und Dante nicht von „einer produktiven Dante-Rezeption bei Heine“ sprechen lässt, da sich dieser „in seinen Versen nur selten der Formen der romanischen Literaturrenaissance 38 Vgl. Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, Bd. I, S. 81. 39 DHA XI, S. 130. 40 Par. XVII, 58. „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 189 bedient [hat]“, 41 schon wegen der im Falle Heines selten aussagekräftigen Begrenzung auf formale Aspekte problematisch. So hat Manfred Windfuhr gezeigt, dass für den Petrarkismus Heines ein Auseinanderklaffen von Form und Inhalt charakteristisch ist, da Heine die petrarkistischen Elemente in eine liedhafte Form überträgt. 42 Die relativ geringe Bedeutung des Sonetts im Buch der Lieder taugt somit genausowenig als Argument gegen eine produktive Petrarca-Rezeption Heines wie das gänzliche Fehlen der Terzine in Heines Werk gegen eine produktive Dante-Rezeption spricht. Von einer solchen lässt sich vor allem im Hinblick auf Deutschland. Ein Wintermährchen sprechen, wie dies bereits gattungstypologische Überlegungen nahelegen. So hat Gerhard Höhn darauf hingewiesen, dass die paradoxe Verbindung von radikaler Deutschlandkritik und der scheinbar anachronistischen Adaption der Versepik als einer der ältesten poetischen Gattungen für das Wintermährchen konstitutiv ist. 43 Gesteigert wird dieses Paradox noch durch den Umstand, dass gerade die klassischen Werke der Versepik oft einen aktiven Beitrag zur nationalen Mythenbildung geleistet haben, wie dies insbesondere der wichtigste Prätext der Divina Commedia, Vergils Aeneis, belegt. Am Ende des sechsten Gesangs, der den Abstieg des Titelhelden in die antike Unterwelt schildert, prophezeit die Seele von Aeneis’ Vater Anchises seinem Sohn die künftige Größe Roms und formuliert dabei den imperialistischen Leitfaden der pax romana: „Du aber, Römer, gedenke mit Macht der Völker zu walten, / Dies sei Deine Berufung - des Friedens Gesetze zu ordnen, / Schon den, der sich gefügt, doch brich den Trotz der Rebellen! “ 44 Den sich aus der Gattungstradition ergebenden Widerspruch zwischen Form und Inhalt löst Heine durch die Bezugnahme auf das Modell Dantes, der bereits die Kritik an seiner Heimat mit der epischen Form verknüpft hatte. Die sarkastische Apostrophe des Jenseitswanderers an seine ehemalige Heimatstadt Florenz, die den 26. Gesang des Inferno eröffnet: Godi, Fiorenza, poi che sei sì grande Che per mare e per terra batti l’ali E per lo inferno il tuo nome si spande! 45 findet ein deutliches Echo in Heines Deutschlandkritik. Trotz des ironischen Zugeständnisses, dass Hamburg „ [a]ls Republik […] nie / So groß war wie 41 Hölter: Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, S. 276. 42 Vgl. Windfuhr: Rätsel Heine, S. 228. 43 Vgl. Höhn: Tradition und Innovation in Heines Wintermährchen, S. 225. 44 Vgl. Vergil: Aeneis. Unter Verwendung der Übertragung Ludwig Neuffers übers. und hg. von Wilhelm Plankl, Stuttgart 1989, V. 851-853. 45 Inf. XXVI, 1-3. In der Übersetzung Hermann Gmelins lautet die Stelle wie folgt: „Freu dich, Florenz, daß du so groß geworden, / Um über Land und Meere hinzufliegen, / Und durch die Hölle sich dein Name breitet.“ Florian Trabert 190 Venedig und Florenz“, 46 schildert Heine die Stadt an der Alster vor allem in der Hammonia-Episode kaum weniger „höllisch“ als Dante die Stadt am Arno. Explizit bezieht sich Heine dabei nur an einer einzigen, gleichwohl markanten Stelle auf das Vorbild Dantes: in den beiden Schlussstrophen des Wintermährchens, mit denen die Apostrophe an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. - in Heines Augen einer der Hauptverantwortlichen für den politischen Stillstand in Deutschland - endet: Kennst Du die Hölle des Dante nicht, Die schrecklichen Terzetten? Wen da der Dichter hineingesperrt, Den kann kein Gott mehr retten - Kein Gott, kein Heiland erlöst ihn je Aus diesen singenden Flammen! Nimm dich in Acht, daß wir dich nicht zu solcher Hölle verdammen. 47 Eher beiläufig ironisiert Heine hier die theologische Anmaßung Dantes, für sich das Urteil Gottes zu beanspruchen - einen Umstand, den Hegel weitaus poetischer mit dem Hinweis beschrieben hatte, dass „[d]ie Verewigung durch die Mnemosyne des Dichters […] hier objektiv als das eigene Urteil Gottes [gilt], in dessen Namen der kühnste Geist seiner Zeit die ganze Gegenwart und Vergangenheit verdammt oder seligspricht“. 48 Die Hölle, von der Heine hier spricht, ist weder der Ort der theologischen Verdammnis, noch das Exil, sondern die Verurteilung durch das Dichterwort, auf das auch die zweideutige Formulierung von den „singenden Flammen“ nachdrücklich verweist. Selbstverständlich gibt Heine sein Urteil nicht als das Urteil Gottes aus, was zur anti-metaphysischen und religionskritischen Tendenz des Wintermährchens ohnehin schlecht genug passen würde, beharrt aber mit Hegel auf der Möglichkeit einer „Verewigung durch die Mnemosyne des Dichters“, die sich mit Jan und Aleida Assmann als Eingang ins kulturelle Gedächtnis bezeichnen ließe. 49 Heine warnt den preußischen König davor, als ein zweiter Papst Bonifatius VIII. in die Geschichte einzugehen, der im kulturellen Gedächtnis vor allem als Intimfeind Dantes präsent geblieben ist. Letztlich stellt Heine die für jegliche litterature engagée zentrale Frage: Welche Wirkung können literarische Texte auf die gesellschaftliche Entwicklung ausüben? Unter Berufung auf Dante beantwortet Heine diese Frage mit einem Optimismus, der im Zusammenhang mit der im Caput VI 46 DHA IV, S. 141. 47 Ebd., S. 157. 48 Hegel: Werke, Bd. XV, S. 407. 49 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 191 in Erscheinung tretenden „Liktor“-Gestalt, der sich als blutiger Vollstrecker des Dichterworts zu erkennen gibt, eine bedrohliche Dimension gewinnt. Die Analogien zwischen dem Wintermährchen und der Divina Commedia beschränken sich jedoch nicht auf die ohnehin schon ungewöhnliche Verbindung von epischer Struktur und Gesellschaftskritik. In beiden Texten begegnen wir einem Ich-Erzähler, der zugleich seine Identität mit dem empirischen Autor suggeriert, wodurch die für das klassische Epos typische Objektivität gesprengt wird. 50 Diese paradoxe „epische Subjektivität“ ermöglicht die für beide Texte charakteristische Verquickung privater und öffentlicher Erfahrungen, zu der insbesondere die glaubhafte Darstellung der Haltung zu zählen ist, die Dante und Heine vielleicht am stärksten verband: der unerschütterliche Exilpatriotismus. Diesem verleiht Heine am deutlichsten im Vorwort zum Wintermährchen Ausdruck, in dem er sich gegen den Vorwurf verwahrt, ein vaterlandsloser „Nestbeschmutzer“ zu sein. Nur aus einer nationalistischen, nicht aber aus einer patriotischen Perspektive besteht Heines Argumentation zufolge ein Widerspruch zwischen Exil und Vaterlandsliebe: „Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland eben so sehr, wie Ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreyzehn Jahre im Exile verlebt, und wegen eben dieser Liebe kehre ich wieder zurück in’s Exil, vielleicht für immer […].“ 51 Diese Befürchtung sollte sich bewahrheiten, wie Heine spätestens nach dem Scheitern der 1848er Revolution schmerzlich bewusst wurde; und auch der von Dante im 25. Gesang des Paradiso formulierte Wunsch, eines Tages in seiner Heimatstadt Florenz zum Dichter gekrönt zu werden, 52 erfüllte sich bekanntlich nicht. Zumindest ging der mit dem Lorbeerkranz gekrönte Dante in die ikonographische Tradition ein, auf die der Ich- Erzähler des Wintermährchens ironisch Bezug nimmt, wenn er die gehaltvolle westfälische Küche lobt: „Noch immer schmückt man den Schweinen bei uns / Mit Lorbeerblättern den Rüssel.“ 53 Heine überlässt es dem Leser, 50 Vgl. Höhn: Heine-Handbuch, S. 120. Dies gilt, wenn auch in geringerem Maße, für den Atta Troll, wie Winfried Woesler geltend gemacht hat: „Diese subjektiven Einsprengsel, etwa bei der häufigen Anrede des Lesers, haben sich im ‚Atta Troll’ so ausgeweitet, daß dieser sich gelegentlich mit dem Typ des lyrischen Epos berührt. Als entferntes Vorbild konnte Heine auf Dante verweisen, dessen ‚Göttliche Komödie’ […] als ‚romantische’ Dichtung betrachtet wurde.“ (Winfried Woesler: Heines Tanzbär. Historisch-literarische Untersuchungen zum Atta Troll. Hamburg 1978, S. 121) Woesler hat zudem darauf aufmerksam gemacht, daß Heine die Norm der ‚epischen Objektivität’ bereits in einer frühen Rezension von Wilhelm Smets Drama Tassos Tod in Frage gestellt hatte: „Dieses subjektive Aufblitzen, wovon unsere zwey besten epischen Gedichte, die Odyssee und die Nibelungen nicht frey sind, und welches vielleicht zum Charakter des Epos gehört, zeigt schon, daß das Talent des gänzlichen Heraustretens aus der Subjektivität beim Epos nicht in so hohem Grade erforderlich ist, als beim Drama.“ (DHA X, S. 199) 51 Ebd. IV, S. 300f. 52 Vgl. Par. XXV, 1-12. 53 DHA IV, S. 112. Florian Trabert 192 Rückschlüsse auf das kulturelle Leben eines Landes zu ziehen, in dem die Schweine und nicht die Dichter den Lorbeer tragen. Das Wintermährchen und die Divina Commedia gleichen sich zudem in ihrer episodischen und dialogischen Struktur, da beide Texte zu einem nicht unerheblichen Teil aus einer Abfolge von Dialogen zwischen den beiden Ich- Erzählern und Figuren bestehen, 54 die exemplarisch die von den Dichtern formulierten Kritikpunkte verkörpern. Mythisch-allegorische Dialogpartner haben dabei im Wintermährchen keinen geringeren Stellenwert als in der Divina Commedia. Die Dialoge des Ich-Erzählers mit Vater Rhein, Kaiser Barbarossa und Hammonia strukturieren zu einem wesentlichen Teil das Versepos, wobei sich diese drei Figuren unterschiedlichen Stadien der deutschen Geschichte zuordnen lassen: Während im Gespräch mit Vater Rhein vor allem die durch die Rheinkrise geprägte Gegenwart steht, personifiziert Barbarossa die mythisch-mittelalterliche Vergangenheit Deutschlands. Hammonia zuletzt lässt den Ich-Erzähler im Nachtstuhl Karls des Grossen die im wahrsten Sinne des Wortes „beschissene“ Zukunft Deutschlands erblicken respektive riechen; bezeichnenderweise wird diese Episode, mit der sich Heine viele Feinde gemacht hat, durch eine implizite Allusion auf Dantes Inferno eingeleitet: „Schreit’ du voran, ich folge dir, / und ging’ es in die Hölle! “ 55 Zuletzt lässt sich die Kälte-Metapher des Titels Deutschland. Ein Wintermährchen nicht nur als offenkundige Anspielung auf Shakespeares Komödie A Midsummer Night’s dream verstehen, sondern zugleich als Verweis auf den untersten Höllenkreis von Dantes Inferno, in dem die als Verräter verdammten Seelen wie der berühmte Ugolino in einem riesigen Eissee festgefroren sind. Wer aber sind die „Verräter“ im Wintermährchen? Wohl vor allem die deutschen Fürsten mit König Friedrich Wilhelm IV. an der Spitze, die nach dem Befreiungskrieg jeglichen politischen Fortschritt in Deutschland unterbunden und somit aus der Perspektive Heines Verrat am deutschen Volk begangen haben. 54 Vgl. Höhn: Tradition und Innovation in Heines Wintermährchen, S. 245f. 55 DHA IV, S. 145. Ganz ähnliche Formulierungen finden sich mehrfach im Inferno: „Allor si mosse, ed io gli tenni retro“ (Inf. I, 136); „Or va, chè un sol volere è d’ambedue: Tu duca, tu signore, e tu maestro.“ (Inf. II, 139f.); „‚Or discendiam quaggiù nel cieco mondo’ / Cominciò il poeta tutto smorto; / ‚Io sarò primo, e tu sarai secondo.’“ (Inf. IV, 13- 15). („Dann brach er auf, und ich begann zu folgen.“; Nun geh, uns beide treibt der gleiche Wille, / Du bist der Führer, bist der Herr und Meister.“; „‚Nun steigen wir hinab zur blinden Tiefe’, / Begann der Dichter, gänzlich sich verfärbend, / ‚Ich geh zuerst, du wirst als zweiter folgen.’“). „Die Hölle des Dante“. Zu Heinrich Heines produktiver Dante-Rezeption 193 5. Die Summe der inhaltlichen und strukturellen Parallelen zwischen der Divina Commedia und dem Wintermährchen hebt die besondere Funktion Dantes für Heines satirisches Versepos hervor, so dass es tatsächlich plausibel erscheint, in diesem Fall von einer produktiven Dante-Rezeption Heines zu sprechen. Die Bezugnahmen auf Dante dienen Heine insbesondere dazu, die Spannung zwischen Patriotismus und Exilerfahrung durch ein historisches Beispiel zu legitimieren, das sich nur schwerlich von den reaktionären Kräften in Deutschland angreifen ließ. Versteht man unter „Übersetzung“ nicht nur die Übertragung eines literarischen Textes von einer Sprache in die andere, sondern auch die Adaption literarischer Motive und Strukturen, so lassen sich die Beiträge, die August Wilhelm Schlegel und Heine mit ihren „Übersetzungen“ Dantes in das Deutschland der Revolutionszeit zwischen 1789 und 1848 geleistet haben, nicht unterschiedlicher bewerten. Schlegel suchte durch seine Auseinandersetzung mit der romanischen Literatur im Allgemeinen und mit Dante im Besonderen Deutschlands Rang als Kulturnation zu befördern, und tatsächlich markiert sein Eintreten für den italienischen Dichter den Beginn einer deutschsprachigen Dante-Rezeption, die sich weitgehend unabhängig vom Fortwirken des „Nationaldichters“ in seinem Heimatland vollzog. Heine hingegen bezog den italienischen Dichter in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit mit ein und stilisierte ihn zum frühen Vertreter einer gleichermaßen klassischen wie politisch engagierten Literatur. Gleichwohl ist - und dies wirft ein Schlaglicht auf Heines ambivalentes Verhältnis zur Romantik - die Übersetzungsleistung Schlegels eine notwendige Voraussetzung der späteren Rezeption Dantes durch Heine. Die Apostrophe Dantes als „Dichter der Hölle und des Exils“ in dem noch nach dem Wintermährchen entstandenen Gedicht „Die Libelle“ hebt die Schwerpunktsetzungen von Heines Dante-Rezeption im Vergleich zum idealisierenden Dante-Bild der Romantik noch einmal prägnant hervor. 56 Mit einiger Zuspitzung ließe sich sagen, dass die Dante-Rezeption in Deutschland den umgekehrten Weg wie der Jenseitswanderer selbst genommen hat: nicht von der Hölle ins Paradies, sondern vom Paradies in die Hölle. Dass er mit dem Fokus auf die erste Cantica der Divina Commedia und Dantes Exilschicksal auch der deutschsprachigen Dante-Rezeption im 20. Jahrhundert den Weg weisen würde, konnte der Verfasser des Wintermährchens wohl nicht ahnen. Bezeichnend ist allerdings, dass auch einer der wichtigsten im Exil entstandenen Texte des 20. Jahrhunderts deutlich auf die Divina Commedia Bezug nimmt: Thomas Manns Doktor Faustus ist der Musenanruf aus dem zweiten Gesang des Inferno als Motto vorangestellt, zudem vertont Manns „deutscher Tonsetzer“ Adrian Leverkühn Stellen aus 56 DHA III, S. 206. Florian Trabert 194 der Divina Commedia. 57 Mann schrieb diesen Roman zwischen 1943 und 1947 im amerikanischen Exil, als die im Wintermährchen formulierte Prophezeiung über die Zukunft Deutschlands auf eine Weise in Erfüllung gegangen war, die Heine vermutlich nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen für möglich gehalten hätte. 57 Vgl. hierzu vom Verfasser: „Il mal seme d’Adamo“. Dante’s Inferno and the Problem of the literary Representation of Evil in Thomas Mann’s Doktor Faustus and Wolfgang Koeppen’s Der Tod in Rom. In: Metamorphosing Dante. Appropriations, Manipulations and Rewritings in the Twentieth and Twenty-first Centuries. Hg. von Manuele Gragnolati, Fabio Camiletti, Fabian Lampart. Wien, Berlin 2011, S. 89-99. Bernd Kortländer Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit Für Heinrich Heine war die Arbeit an der „entente cordiale“ zwischen Deutschland und Frankreich die große Aufgabe seines Lebens, „la grande affaire de ma vie“, wie er in seinem Testament formulierte. 1 Er verstand sich als Vermittler, dessen „pazifike Mission“ darin bestand, 2 die beiden Völker einander näher zu bringen, ihnen ihre gemeinsamen Interessen zu erläutern und sie auf das Eigenste im Fremden und das Fremde im Eigensten aufmerksam zu machen. Insbesondere dem deutschen Volk, das seine Nationalität als „Vaterland der Feinde“ vor allem in Absetzung von Frankreich aufbaute, 3 wollte er die Augen öffnen über die wahren Absichten, die hinter den Hetzkampagnen von Nationalisten und Militaristen gegen die Franzosen standen. Denn das fürchten die Aristokraten am meisten; mit der Zerstörung der nationalen Vorurtheile, mit dem Vernichten der patriotischen Engsinnigkeit schwindet ihr bestes Hülfsmittel der Unterdrückung. Ich bin daher der inkarnirte Kosmopolitismus, ich weiß, daß dieses am Ende die allgemeine Gesinnung wird in Europa […]“. 4 Die Berichte, die er dem deutschen Publikum in großen deutschen Zeitungen und Zeitschriften und später dann in Buchform über französische Politik und das soziale Leben in Frankreich lieferte, betonen jenes Moment von Bewegung, das durch die Julirevolution in den ‚Französischen Zuständen’ wieder gestärkt worden war und von dem er sich wünschte, dass es nach Deutschland übergreifen sollte. Aber auch den Franzosen wollte er deutlich machen, warum die Deutschen, wie er meinte, „in der Philosophie und im Liede“ alle anderen Nationen überflügelt hatten und welche weitreichenden 1 Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973-1997, hier Bd. XV, S. 210, Testament vom 13. November 1851. (Im Folgenden mit der Sigle DHA, gefolgt von römischer Band- und arabischer Seitenzahl zitiert.) 2 So in einem offenen Brief in der Zeitschrift Unser Planet. 4. Jg., Nr. 87, 11. April 1833, S. 348. 3 Vgl. das Buch von Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918. Stuttgart 1992. 4 Unser Planet, 1833, S. 348. Bernd Kortländer 196 Folgen das in der Zukunft auch für sie haben würde. 5 Er publizierte Berichte Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und über die Romantische Schule, die er dann 1835, vermehrt um volkskundliche Exkurse, unter dem provokant gegen Madame de Staël gesetzten Titel De l’Allemagne als Buch herausbrachte. Heines Projekt der Vermittlung, des Ausgleichs, unter extrem widrigen Bedingungen begonnen, erscheint uns heute zu Recht als bewunderungswürdig und zukunftsweisend, zumal wenn man den europäischen Aspekt mit bedenkt. In Grundzügen entwickelte er bereits jenes in den letzten Jahrzehnten so oft beschworene Bild eines Europas jenseits der Nationalstaaten mit dem Paar Deutschland und Frankreich als Herzstück, eine Vision, die angesichts des Umstands, dass Deutschland als nationale Einheit ja noch gar nicht existierte, wirklich kühn zu nennen ist. 6 Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass seiner ambitionierten kulturellen Übersetzungsarbeit der Erfolg versagt blieb: der politischen Mission und ebenso dem Versuch, das Deutschland-Bild der Madame de Staël abzulösen und durch ein neues Bild zu ersetzen. Politisch musste er selbst noch erleben, wie die zunächst begrüßte Februarrevolution von 1848 nicht den erhofften Schritt in eine gemeinsame friedliche Zukunft Europas brachte, sondern nur die Entfesselung des Kapitals begünstigte und damit in Richtung Ausbeutung und Krieg führte. Im Vergleich dazu erschien ihm Napoleon III. dann sogar noch als das kleinere Übel. Und was ihr Deutschland- Bild angeht, waren die Franzosen keineswegs bereit, aufgrund von Heines Warnungen vor den radikalen Konsequenzen der idealistischen Geschichtsphilosophie, die von de Staël formulierten bzw. verstärkten stereotypen Vorstellungen vom romantischen Deutschland und den versponnenlebensuntüchtigen Deutschen aufzugeben, die in den 1830er Jahren durch die sich damals ausbreitende Woge der E. T. A. Hoffmann-Begeisterung in Frankreich eine ganz besondere Ausprägung erfahren hatten. Erst im Zuge der Ereignisse von 1870/ 71 wurden die Franzosen, dann allerdings sehr brutal, aus ihren realitätsfernen Deutschland-Fantasien herausgerissen. Nun hatte Heine sein Projekt aber weder als politisches noch als philosophisches, sondern als literarisches Projekt gestartet. Im Zentrum seiner Arbeit stehen der Text, das Wort, die literarischen Mittel, die Schreibart. Er selbst hat das einmal im Hinblick auf die Zensur so formuliert: Nicht der gefährlichen Ideen wegen welche „das junge Deutschland“ zu Markte brachte, sondern der popularen Form wegen worin jene Ideen gekleidet waren hat man das berühmte Anathema dekretirt über die böse Brut und namentlich 5 DHA XV, S. 55: Geständnisse. 6 Vgl. Joseph A. Kruse: „…alle edeln Herzen des europäischen Vaterlandes“. Heine und Europa. In: Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Literatur - Geschichtsschreibung - Wissenschaft. Hg. von Lothar Jordan, Bernd Kortländer. Tübingen 1995 [Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 10], S. 53- 72. Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit 197 über ihren Rädelsführer, den Meister der Sprache, in welchem man nicht eigentlich den Denker sondern nur den Stylisten verfolgte. Nein, ich gestehe bescheidentlich, mein Verbrechen war nicht der Gedanke, sondern die Schreibart, der Styl. 7 Auch seine große Lebensaufgabe, die deutsch-französische Vermittlungsarbeit, stellte sich als literarische, als stilistische Aufgabe. Wenn sie gelingen sollte, musste Heine eine Schreibweise entwickeln, in der das Miteinander von Deutschem und Französischen sich abbildete, und eben nicht nur diskursiv als Behauptung, sondern auch intuitiv als Form. In Deutschland, das zeigt sowohl die zustimmende, mehr noch aber die ablehnende Kritik, hat man ihn durchaus in diesem Sinne gelesen. 8 Er wurde für die jungen liberalen Autoren, aber auch für das junge Publikum zum Prototypen der neuen europäischen Literatur nach Goethe und nach der Romantik, der mit seinen Reisebildern die Bewegung der Zeit abbildete und mit seinen Gedichten das Erbe der Romantik in die postrevolutionäre Moderne transportierte. Und für die konservative Kritik im Gefolge des „Franzosenfressers“ Wolfgang Menzel, für die die gesamte französische Literatur der Romantik ein einziger Großangriff auf die Grundfesten von Religion, Moral und Monarchie darstellte, wie für die Polizei war Heine ohnehin nur Sprachrohr der Franzosen. 9 Das französische Publikum im Allgemeinen sah das allerdings völlig anders, und Heine ist es nur zu kleinen Teilen gelungen, wirklich ins kulturelle Bewusstsein der Franzosen einzudringen. Als Autor ist er in Frankreich auf merkwürdige Weise gescheitert. 10 Ich möchte im Folgenden untersuchen, inwieweit das auch an genau jenem Schreibansatz lag, von dem oben die Rede war und in dem Heine die Beziehung von Deutschem und Französischem abzubilden suchte. Heine war nach seiner Ankunft in Paris mit großem Schwung und unter lautem Beifall in den Zirkel der französischen Literatur aufgenommen worden und blieb im Übrigen für die meisten französischen Autoren stets ein 7 DHA IX, S. 294: Entwurf zu Die Götter im Exil. 8 Vgl. dazu insgesamt Sikander Singh: Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. 1821-1856. Stuttgart, Weimar 2006 [Heine-Studien]. 9 Vgl. Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. 2. Auflage. 4 Bde. Stuttgart 1835-1836, hier Bd. IV, S. 340f.: „Das junge Deutschland schloß sich [...] durch Heine an die neufranzösischen Freigeister an, die gegen die Religion und noch mehr gegen die Moral kämpfen, und derselben den Vernichtungskrieg erklärt haben. [...] Da aber auch Heine nur aus französischen Quellen geschöpft hatte, so giengen sie folgerecht auf diese zurück und sammelten alles Gift, das die Juliussonne in der Stagnation der französischen Zustände erzeugt hatte, sorgfältig auf, um auch uns damit zu besudeln und anzustecken.“ 10 Vgl. das entsprechende Kapitel in Jan-Christoph Hauschild, Michael Werner: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst“. Heinrich Heine. Eine Biographie. Köln 1997, S. 273-299. Bernd Kortländer 198 ebenbürtiger Partner. Doch unterscheidet sich die Bewunderung durch die Kollegen deutlich von der Breitenrezeption. Gipfelpunkt seines frühen französischen Ruhms war der Start einer Gesamtausgabe seiner Werke bereits im Jahre 1832 bei dem berühmten Verleger Renduel, der die junge französische Literatur mit Victor Hugo an der Spitze vertrat. Das Interesse an dieser Ausgabe entsprach dann aber in keiner Weise den Erwartungen, weshalb sie bereits 1836 und vor ihrem Abschluss abgebrochen wurde. Die Begeisterung über den Neuankömmling in Paris flaute in der Folge sehr schnell ab. Schaut man auf seine Wahrnehmung in Frankreich, so zeigt sich, dass die Zahlen der öffentlichen gedruckten Erwähnungen Heines über die Jahre sparsam ausfallen, sieht man von drei Höhepunkten ab: 1832-36 (181 Erwähnungen), als im Rahmen der Gesamtausgabe De la France, Tableaux de voyage und De l’Allemagne erschienen und besprochen wurden; 1840/ 41 (60), wobei es meist um die Willis und das Ballett Giselle von Gautier/ Adam geht; schließlich die Jahre 1854-56 (84) im Umkreis der Oeuvres complètes im Verlag Lévy. 11 Diese drei Gipfelphasen, ein Drittel der Aufenthaltszeit Heines in Frankreich, decken zwei Drittel aller Heine-Nennungen in der französischen Öffentlichkeit ab. Dazwischen gibt es Zeiträume, in denen Heine in Frankreich völlig verschollen war, etwa zwischen 1849 und 1851, wo in drei Jahren nur fünf Mal in der französischen Presse von ihm die Rede ist. Aber was hat man sich in Frankreich, wenn man den Namen Henri Heine in der Zeitung las, unter diesem Autor vorgestellt? Anders als in Deutschland, hat er sich dem französischen Publikum zunächst ausschließlich als Prosaautor präsentiert: erst mit Auszügen aus den Reisebildern, dann mit der Artikelserie in der Zeitschrift L’Europe littéraire über deutsche Literatur und Philosophie und mit De la France, Auszügen aus den Französischen Zuständen und der Gemäldeausstellung von 1831. Der Kritiker Charles- Augustin Sainte-Beuve hat am 8. August 1833 einige interessante Beobachtungen zu Papier gebracht, die die Stellung Heines im französischen Betrieb, aber auch im Publikum recht genau bezeichnen. Sainte-Beuve schreibt, Heine habe sich mit großer Schnelligkeit in das literarische Leben in Frankreich eingefügt. Dann bemängelt er aber an seinen Texten ein Übermaß an Ironie und Sarkasmus, Adels- und Religionskritik: „Herr Heine wäre noch mehr auf der Höhe der Franzosen, wenn er etwas weniger geistreich wäre.“ 12 Dieser Vorwurf, dass Heine französischer zu sein versuche als die Franzosen, begleitete ihn ständig. Immer wieder wird ihm ein leichtfertiger, auf die 11 Einen vorzüglichen Überblick geben die drei von Hans Hörling edierten Bände: Die französische Heine-Kritik. Rezensionen und Notizen zu Heines Werken. 3 Bde. Stuttgart, Weimar 1996-2002. (Im Folgenden mit der Sigle Hörling, gefolgt von römischer Bandzahl, arabischer Nummer und Seitenzahl zitiert.) 12 Hörling, I, Nr. 76, S. 268: „[…] M. Heine sera davantage encore à notre niveau de Français, quand il aura un peu moins d’esprit.“ [Übersetzung hier und im Folgenden von mir. B. K.] Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit 199 Pointe zielender Umgang mit sensiblen Themen vorgeworfen, mit Religion, Philosophie und Literatur, besonders auch mit den diese Themen vertretenden Personen. Heine kannte diese Vorwürfe aus Deutschland. Nur waren sie in Frankreich anders begründet und kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Ist die deutsche Kritik bemüht, diesen frivolen Heine als ideologischen und stilistischen Parteigänger der Franzosen darzustellen, so sieht Sainte- Beuve in seiner Kritik das Problem genau andersherum. Er verweist auf den Dichter Béranger, der in seinen Vorworten gezeigt habe, wie man auch als Poet in der Prosa „limpide, facile et logique“ bleiben könne, also klar, leicht und zusammenhängend. 13 Das sind die Tugenden, die sich die Franzosen gemeinhin zusprechen. Dagegen steht dann Heine, der in seinem […] Überschwang weit weniger französisches Verhalten zeigt; sein Denken lässt sich von der Farbenpracht mitreißen, […] es lässt sich aus Vergnügen irre leiten […]; hinterher hat er Mühe, den Faden wieder aufzunehmen oder vielmehr man hat Schwierigkeiten ihn mit ihm wieder aufzunehmen. 14 Und Sainte-Beuve fährt fort: All dies zeigt uns, wie sehr Herr Heine im Kern auch seiner französischen Eigenschaften im Grunde Dichter ist und zwar Dichter seines Landes, und man darf umso mehr bedauern, dass wir ihn von dieser Seite nicht angemessen zu würdigen vermögen. Man müsste, um ihn beurteilen zu können, anders als nur vom Hörensagen über seine Lieder und die Reiseberichte sprechen können. 15 Heine - und zwar der Prosaautor, Sainte-Beuve spricht über De la France mit seinen Politikberichten - wird hier ganz am Anfang seiner Karriere in Frankreich aus französischer Sicht als ein im Kern typischer deutscher Dichter hingestellt, der dort, wo er französisch sein will („au milieu de ses qualités françaises“), die Regeln der französischen Klarheit und Eindeutigkeit mutwillig übertritt, weil er - typisch deutsch - die Überfülle seiner Bilder und seine ausufernde Fantasie nicht zu bändigen weiß. Bei allen französischen Eigenschaften, die ihm zugesprochen werden, Ironie, Sarkasmus, Kritik etc., ist dies doch sein herausragender Charakterzug, hinter den die „französische“ Seite deutlich zurücktritt, ja Sainte-Beuve und andere bedauern, dass der „deutsche“ Poet, den sie zugegebenermaßen gar nicht kennen und auch nicht kennen können, durch seinen Hang zum Französischen Schaden nimmt und verfälscht wird. Sainte-Beuve - und mit ihm die 13 Ebd. S. 269. 14 Ebd.: „dans sa […] exubérance, a des allures bien moins françaises; sa pensée […] se laisse prendre à cette efflorescence, et s’égare comme à plaisir […]; elle a peine ensuite à reprendre le fils du chemin, ou de moins on a peine à le reprendre avec elle.“ 15 Ebd.: „Tout ceci, en nous prouvant combien, au milieu de ses qualités françaises, M. Heine est au fond poète et poète de son pays, nous donne un vif regret de ne pouvoir l’apprécier dignement par ce coté. Il faudrait, pour prétendre à le juger, parler autrement que par ouï dire de ses Chansons, de ses Impressions de voyage; […].“ Bernd Kortländer 200 gesamte französische Kritik - ist nicht bereit, Heines Programm einer stilistischen Mischung und Überblendung von Eigenem und Fremden, Französischem und Deutschem, zu akzeptieren. Er insistiert darauf, dass die bestehenden Einteilungen und Kategorien eingehalten werden. Dabei fußte Heines stilistisches Programm einer Annäherung beider Kulturen gerade darin, Elemente aus beiden Sphären in seinem Stil, seiner Schreibart zusammenzubinden - Gautier spricht von der eigentlich unmöglichen, bei Heine aber geglückten Verbindung des „Geistreichen“ mit dem „Poetischen“ und prägt dafür den sehr Heinischen Begriff „esprit materiél“. 16 Es ist verständlich, dass Heine Gautiers Besprechung für „das beste“ hielt, „was ein Franzose über ein deutsches Buch zu sagen im Stande war.“ 17 Verständnisvolle Kritiker wie Gautier waren selten. Deutlich sichtbar wird das Problem, das die französische Kritik mit Heines Grenzüberschreitungen hat, an einem besonders heiklen Punkt. Im französischen Heine-Bild gab es von Beginn an einen weißen Fleck, eine Leerstelle, die zu Phantasmen und Konstrukten Anlass bot. Denn wie schon Sainte-Beuve sprachen die französischen Kritiker zwar ständig vom Poeten Heine, auch im Zusammenhang mit seiner Prosa, konnten, sofern sie kein Deutsch verstanden, von ihm bis weit in die 1840er Jahre hinein aber nur vom Hörensagen sprechen. Übersetzungen seiner Lyrik existieren lediglich in wahrlich winzigen Dosen, hier und da in Besprechungen oder längere Würdigungen eingestreut. Es ist für den französischen Leser nicht nachzuvollziehen, wenn ein Rezensent wie Xavier Marmier, der des Deutschen mächtig war, offen gesteht, er nehme es Heine übel, dass er so schnell das Paradies der Poesie verlassen habe, „denn Sie sind ein geborener Dichter, Heine, und sie täten gut daran, nicht so leichtherzig alle Myrtenkränze und blauen Vergissmeinnicht wegzuwerfen“. 18 Auch Marmier will bei Heine wieder eine klare Unterscheidung zwischen deutsch und französisch herstellen, will ihn von seinen französischen Vorlieben, jenen „Sarkasmen à la Voltaire“ und „Witzen à la Beaumarchais“ abbringen und ruft ihm zu: 19 „Erinnern Sie sich des Buchs der Lieder, erinnern Sie sich Ihrer ersten Verse und der Zeit, als Sie auf beiden Knien so schön das Mädchen mit den blonden Haaren angebetet haben […]“. 20 Solche Besprechungen arbeiten an einem quasi mythischen Heine-Bild, dem Bild 16 In seiner Besprechung der Tableaux de voyages in La Presse, 30. November 1837, Nr. 152, S. 2-3 (Hörling, II, Nr. 201, S. 201-207) heißt es dazu: „Chez Henri Heine l’esprit ne nuit pas à la poésie; il naît de la poésie même; l’humour n’éteint pas le lyrisme.“ 17 Brief an August Lewald, 4. Dezember 1837. 18 Xavier Marmier in: Le Monde dramatique, 1835 (Hörling, II, Nr. 124, S. 85): „[…] car vous êtes né poète, Heine, et vous aurez beau faire, vous ne vous dépouillerez pas si facilement de toutes ces guirlandes de myrtes et de bleus vergissmeinnicht […].“ 19 Ebd. spricht Marmier von „sarcasmes voltairiens“ und „saillies à la Beaumarchais“. 20 Ebd., S. 85f.: „Souvenez-vous du Buch der Lieder, souvenez-vous de vos premiers vers, et du temps où vous adoriez si bien à deux genoux la jeune fille aux cheveux blonds,…“ Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit 201 des deutschen romantischen Dichters, der eigentlichen und wahren Profession dieser deutschen Nachtigall, die zu ihrem Nachteil ihr Nest in der Perücke des Herrn Voltaire gemacht hat. 21 Zwar wird der die Gegensätze vermittelnde Schreibansatz Heines, sein Pendeln zwischen den beiden sich widersprechenden Seiten, auch immer wieder anerkennend herausgestellt, doch selbst aus den wohlwollenden Artikeln eines Saint-René Taillendier, der sich in Frankreich sehr für Heine eingesetzt hat, ist stets ein Bedauern über seine Neigung zum Französischen und die angebliche „Vernachlässigung“ der „genuin deutschen“ romantischen Poesie herauszuhören. 22 Heine hat diese Tendenz der französischen Kritik gespürt, er wusste, dass er mit Übertragungen seines frühen Gedichtbandes, aber auch des Neuen Frühling und der Verschiedenen hätte gegensteuern müssen, gegen das falsche Bild vom erzromantischen Dichter ebenso wie gegen das ebenso falsche Bild vom Totengräber der Romantik. Aber das war ein sehr komplexes Unterfangen, das leicht auch wieder in neue Missverständnisse münden konnte. Zudem hegte er große Vorbehalte gegen Übersetzungen seiner Gedichte, von denen er selber eigentlich bis zum Schluss meint, sie seien unmöglich. Nichts als in Stroh eingewickeltes Mondlicht könne dabei herauskommen. 23 Man kennt die vielen Bemerkungen, die Heine über die Schwierigkeit der Übersetzung seiner Verse ins Französische gemacht hat, etwa die von Martin Cohn überlieferte Geschichte, in der er das Verhältnis von Schriftsteller und Übersetzer mit dem von Mensch und Affe gleichsetzt und sagt, er sei „an seinen eigenen Werken zum Affen geworden“, indem er sie „den Franzosen vorgesticulirt“ habe. 24 Es besteht kein Zweifel, dass Heines Befürchtungen nur zu berechtigt waren und, trotz der vielfältigen neueren Übersetzungsbemühungen - zuletzt im Rahmen der französischen Gesamtausgabe in den éditions du cerf - immer noch berechtigt sind. Zugleich muss man zusätzlich in Rechnung stellen, dass Heine, der 21 Vgl. DHA XIV, S. 301: „Ursprünglicher Schluß der ‚Préface’ zu ‚Poëmes et Légendes‘, 1. Teil“: „…que j’étais un rossignol allemand qui a fait son nid dans la peruque de M. de Voltaire…“ 22 Vgl. etwa den großen Artikel von Taillendier über Heine in der Revue des deux Mondes vom 1. April 1852, wo er ihm, inmitten von viel Lob, vorhält: „Pourquoi faut-il qu’il n’ait pas toujours gardé la mesure? pourquoi sa verve […] a-t-elle si peu respecté tant de choses saintes? “ (Hörling, III, Nr. 379, S. 152. 23 Vgl. DHA I, S. 570: Préface zu Poëmes et Légendes: „La pensée intime de l’original s’évapore facilement dans la traduction, et il ne reste que du clair de lune empaillé, comme a di tune méchante personne qui se moquait de mes poésies traduites.“ 24 Zitiert nach: Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen. Hg. von Michael Werner. Bd. II: 1847-1856. Hamburg 1973, S. 228. Dort ist die Bemerkung auf Oktober (? ) 1850 datiert. Bernd Kortländer 202 sich ja stets dezidiert als „deutscher Dichter“ 25 definierte, überhaupt die Vorstellung abgeschreckt hat, seine Verse im „Truthahnpathos“ 26 der französischen Lyrik wiederzufinden. Das Problem wurde drängender. Marmier, der ihn zunächst noch sanft weg vom Französischen und hin zur deutschen romantischen Poesie zu schieben sucht, schlägt 1840 schon ganz andere Töne an: er sei „davon überzeugt, dass die eleganteste Ode und die eindringlichste Elegie von Herrn H. Heine keine noch so einfache Seite von Herrn de Lamartine oder Herrn Victor Hugo aufwiegen könnte.“ 27 Spätestens jetzt musste Heine auf eine Gegenstrategie sinnen, und er beginnt wider besseres Wissen, nach einem Übersetzer für seine Lyrik zu suchen, was sich aber schwierig gestaltet. Von den Neuen Gedichten von 1844 wird in Frankreich ausschließlich das Wintermährchen übersetzt und wahrgenommen. Wieder heißt es, Heine habe sein Talent missbraucht, habe statt Balladen zu schreiben französische Pirouetten gedreht. In ihm sei aber viel zu viel „sauvagerie germanique“, „germanische Wildheit“, als dass er jemals tatsächlich wie Voltaire werde schreiben können. 28 Atta Troll dagegen wird drei Jahre später vom selben Rezensenten gelobt, weil Heine hier endlich seinen poetisch-romantischen Möglichkeiten entsprechend geschrieben habe: Das Werk atme den „esprit romantique“. 29 Gérard de Nerval oder Heine oder beide zusammen fassten schließlich den Plan, eine Art Anthologie aus Heines Gedichten zusammenzustellen. Wann genau diese Idee geboren wurde, lässt sich nicht sagen. Aber Nerval, der bereits früher deutsche Lyrik übersetzte, hat seit Beginn der 1840er Jahre über Heine-Übertragungen nachgedacht. 30 Mit Nervals Übersetzung, die 1848 unter Mitwirkung Heines zustande kam und im selben Jahr in der Revue des deux Mondes erschien, 31 tritt der Versuch, das Heine-Bild in Frankreich zu erweitern und damit schärfer zu konturieren, in eine neue Phase. Schauen wir auf die Auswahl, die Nerval aus den vorliegenden Gedicht- 25 Vgl. bereits das frühe Gedicht „Heimkehr 13“ mit dem Auftakt: „Ich bin ein deutscher Dichter,/ Bekannt im deutschen Land./ Nennt man die besten Namen,/ So wird auch der meine genannt.“ 26 Dieser Ausdruck im Artikel Retrospektive Aufklärung aus Lutetia. (DHA XIV, S. 84.) 27 Xavier Marmier in: Revue des deux Mondes, 1840, zitiert nach Hörling, II, Nr. 228, S. 242: „je suis […] convaincu que l’ode la plus gracieuse ou l’élégie la plus pénétrante de M. H. Heine ne vaut pas une des pages les plus simples de M. de Lamartine ou de M. Victor Hugo.“ 28 de Molènes in: Journal des Débats, 1845, Hörling, II, Nr. 325, S. 428. 29 de Molènes in: Journal des Débats, 1847, Hörling, III, Nr. 355, S. 95. 30 Vgl. dazu die Überlegungen Pierre Grappins im Kommentar zu DHA I. 31 Die beiden Artikel erschienen im Bd. XXIII, 1848, am 15. Juli (S. 224-243) und am 15. September (S. 914-930). Hörling, III, Nr. 367, S. 115-126 bringt den Text Nervals ohne die Übersetzungen. Insgesamt zum Komplex Heine und Nerval vgl. Florian Höllerer: „Les Poésies de Henri Heine“. Heinrich Heine in der Lesart Gérard de Nervals. Stuttgart, Weimar 2004 [Heine-Studien]. Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit 203 bänden Buch der Lieder und Neue Gedichte getroffen hat: Sie zeigt, dass er bemüht ist, die Erwartungen des französischen Publikums hinsichtlich eines deutschen „romantischen Dichters“ zu erfüllen. Er beginnt mit einer kleinen Gruppe Romanzen aus den Neuen Gedichten: Nixen und Sagenfiguren beherrschen die Szene und auch der alte Tambourmajor passt in diese Reihe. Es folgen 16 der 22 Gedichte der Nordsee-Zyklen und schließlich das fast vollständige Lyrische Intermezzo. Nerval geht in seinem Begleittext zur Übersetzung zwar von den bekannten Gegensätzen des französischen Heine-Bildes aus und setzt sie als konstitutiv an, verschiebt das Bild, das er speziell vom Lyriker Heine entwirft, aber deutlich in die gewünschte romantische Richtung. In den Nordsee-Zyklen fehlt ein ironischer Text wie Untergang der Sonne, Nervals Auswahl betont vielmehr das Erhabene: Die unendliche Weite lässt uns ernst werden; der Mund des Dichters […] entspannt sich. In sicherer Entfernung von der Gefahr, will sagen von der Frau, ist Henri Heine weniger auf der Hut; das zwischenliegende Meer gibt ihm Sicherheit; das keusche und edle Ideal bildet sich neu aus; der reine Engel verdrängt das anmutige Untier“ usw. 32 Von der Nordsee schlägt er den Bogen zum Intermezzo, wo er den Schlüssel zu Heines Geheimnis vermutet: „Dort hebt sich die angebetete Form deutlicher ab, die zugleich ideale wie reale Schönheit, die für Heine das ist, was Laura für Petrarka war.“ 33 Nerval erkennt den Petrarkismus in Heines früher Liebeslyrik und betont zu Recht den Formaspekt der Gedichte, in dem Reales und Ideales zusammengehen. 34 Das Konzept des Gegensatzes, das als Gegensatz zwischen Französisch und Deutsch hinter dem landläufigen französischen Heine-Bild steht, verschiebt sich in Nervals Sicht auf den Lyriker Heine auf die ästhetische Ebene. Er erläutert die Verbindung von Realität und Idealität bei Heine anhand der Konstruktion seiner Frauenfiguren: Diese seien, bei aller Galanterie, stets „ein wenig Nixe oder Willi.“ Die Liebe ist ein blühender, schattiger Garten, aber ein Garten mit giftigen Blumen und tödlichen Schatten: „in diesem gefährlichen Paradies sind die Lieder Zauberformeln, der Anblick schlägt uns in Bann, die Farben blenden, die Anmut ist falsch und die 32 Hörling, III, Nr. 367, S. 120f.: „L’immensité rend sérieux; la bouche du poète, […] se détend. Éloigné du danger, c’est-à-dire de la femme, Henri Heine se tient moins sur ses gardes; la mer interposée le rassure; l’idéal chaste et noble se reforme; l’ange pur succède au monstre gracieux […].“ 33 Ebd., S. 121: „Là se découpe plus nettement la forme adorée, la beauté à la fois idéale et réelle qui fut pour Heine ce qu’est Laure pour Pétrarque […].“ 34 Manfred Windfuhr: Heine und der Petrakismus. Zur Konzeption seiner Liebeslyrik. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 10 (1966), S. 266-285. Bernd Kortländer 204 Schönheit verhängnisvoll.“ 35 Nicht mehr Französisch - Deutsch, Voltaire - Hoffmann sind die Pole, zwischen die das Heine-Bild hier eingespannt ist, sondern Anmut und Schrecken, Wahrheit und Lüge, Leben und Tod. Dieses Heine-Bild, das Théophile Gautier 1837 in der bereits erwähnten Besprechung der Tableaux de voyages zuerst in Umrissen entworfen hatte, 36 macht verständlich, warum Baudelaire, der Nervals Übersetzungen kannte, so ein eifriger Verteidiger Heines wurde: 37 Les Fleurs du Mal passen in ein Konzept, das um den Bruch von Idealität und Realität kreist, das diesen Bruch nicht mit „grünen Lügen“ verkleistert, sondern ihn in durchaus grellen Farben beleuchtet. 38 Nerval bemüht sich in seiner Darstellung sichtbar, Heine, den er als einen Gleichgesinnten empfindet, in seinen frühen Werken als einen Vorbereiter der modernen französischen Lyrik darzustellen. Er legt damit eine Spur, die weiter zu Baudelaire und von dort zu den Parnassiens, zu Gautier und Banville, zu den Symbolisten wie Jules Laforgue und schließlich bis zu Lautréamont, Mallarmé, Rimbaud und Apollinaire führt. 39 Und er war damit ziemlich erfolgreich, denn auf dieser Linie und nur auf dieser Linie ist Heine in Frankreich von einer ganzen Reihe bekannter Dichter rezipiert worden. Die Darstellung Nervals, seine Auswahl, die die Gedichte der Heimkehr ganz unberücksichtigt lässt, für uns heute doch der Kern des Buchs der Lieder, und vor allem der Tonfall seiner Übersetzungen unterschlagen allerdings in erstaunlichem Maße bestimmte Eigenarten von Heines früher Lyrik: das Mischen der Töne und Tonlagen etwa, und, was Florian Höllerer in seiner Untersuchung zu Heine und Nerval herausgestellt hat, die Dekonstruktion der theatralischen romantischen Kulissen, die Nerval im Gegenteil als „magische Intensivierung“ begreift. 40 Nervals Übertragung schärft den Blick für eine Übersteigerung der Bilder, im Sinne der […] Revolution der Bildsprache, ihrer Farbkraft, ihrer Eigendynamik. Er vernachlässigt jene andere Form der Übersteigerung, die sich in den Dienst einer Strategie entlarvender Brechung stellt. 41 35 Hörling, III, Nr. 367, S. 120: „dans ce dangereux paradis, les chants sont des incantations, le regard fascine, les parfums causent le vertige, les couleurs éblouissent, la grâce est perfide, la beauté fatale; […].“ 36 Vgl. oben Anm. 16. 37 Vgl. die Quellen bei Gerhard R. Kaiser: Baudelaire pro Heine contra Janin. Text - Kommentar - Analyse. In: Heine-Jahrbuch 22 (1983), S. 135-178. 38 Vgl. Heines Verdikt im Reisebild Die Bäder von Lukka (DHA VII, S. 95). 39 Diese Spuren sind mehrfach verzeichnet worden, zuletzt von Oliver Boeck in: Heines Nachwirkungen und Heine-Parallelen in der französischen Dichtung. Göppingen 1972. 40 Höllerer: Heine in der Lesart Nervals, S. 174. 41 Ebd., S. 115f. Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit 205 Heine selbst hat die durch Nerval eröffneten Chancen, sein Bild in Frankreich in dieser Weise zu schärfen, nicht ergriffen. 42 Der Band Poëmes et Légendes von 1855 ist eher ein Versuch, nach der einseitig-dezidierten Auswahl Nervals dem französischen Publikum nun doch in einer vielstimmigunentschiedenen Auswahl noch die gesamte Breite seiner lyrischen Töne vorzuführen, von den frühen Gedichten - die Auswahl Nervals hat er komplett, aber in überarbeiteter Version in Poëmes et Légendes übernommen - über den politischen Dichter bis zum Romanzero und das eigens gebildete Livre de Lazare. Die Wirkung des Bandes war ohnehin durch die Dominanz der beiden Versepen eingeschränkt. Zwar war der Verkauf nicht schlecht, doch lag das eher am Erfolg der äußerst preiswerten Lévy-Ausgabe insgesamt. Besprechungen des Lyrik-Bandes gab es nicht eine einzige. Heine selbst, sieht man auf die überlieferten Äußerungen, blieb sehr skeptisch. 43 Als Autor, der Geist und Poesie zu einer modernen, nachromantischen Literatur mit europäischer Geltung zu mischen verstand, ist Heine wohl bei einzelnen Schriftstellerkollegen in Frankreich, aber nicht beim breiten französischen Publikum angekommen, nicht als Prosaautor, und schon gar nicht als Lyriker, dessen Gedichte sich durch jene Durchmischung der Töne auszeichnen, durch jenes unentwirrbare Ineinander von hohem und niederem Ton, Pathos und Ironie, von heiligem Ernst und trivialem Scherz. Die Franzosen suchten in ihm genau den Typus des deutschen Romantikers, den Madame de Staël ihnen beschrieben hatte und gegen den Heine zu Felde gezogen war. Und da sie ihn weder in seiner Prosa noch in seinen Versen in dieser reinen Form fanden, bogen sie ihn sich zurecht oder legten ihn dort, wo das nicht möglich war, mehr oder weniger uninteressiert zur Seite. Dieses Missverstehen von Heines Schreibart musste selbstverständlich durchschlagen auf seine kulturelle Übersetzungsarbeit. Weder konnten sich die Franzosen mit Heines Bild von Deutschland und den Deutschen anfreunden, das sie für ebenso übertrieben hielten wie die geistreiche Manier des deutschen Autors; noch gelang es ihm, sie von der Notwendigkeit einer friedlichen Kooperation mit den deutschen Nachbarn zu überzeugen, in deren Poesie und Philosophie sie keinen Anknüpfungspunkt für den französischen Geist erkennen wollten. Offenkundig war man in Frankreich nicht bereit, die säuberliche Trennung des Eigenen und des Fremden aufzugeben, die Heine in seiner Schreibart aufgehoben hatte. Man hielt fest an den überkommenen Klischees, die der deutsche Dichter nicht nur diskursiv, sondern vor allem auch stilistisch außer Kraft zu setzen suchte. So ist denn auch die breite positive Heine-Rezeption innerhalb der französischen Lyrik nur durch die von Nerval in seinen Übersetzungen vorge- 42 Die These von Hauschild und Werner (Heinrich Heine, S. 299), die Lévy-Ausgabe habe die Rezeption bei den französischen Dichtern ausgelöst, ist eher unwahrscheinlich. Alles spricht für Nerval als wichtigsten Vermittler. 43 Vgl. die entsprechenden Kommentare in DHA I. Bernd Kortländer 206 nommenen Akzentverschiebungen möglich geworden. Wie wenig sich ein recht verstandener Heine als Apostel des Ästhetizismus eignet, zeigt der historische Verlauf - hier trifft das Wort von der Ironie der Geschichte einmal wirklich zu. Denn derselbe Heine, der eine französische Tradition wesentlich beeinflusste, die von Baudelaire bis Mallarmé reicht, wird von den deutschen Adepten dieser Tradition mit Verachtung gestraft. In der Anthologie Deutsche Dichtung, 44 die Stefan George mit Karl Wolfskehl herausgab, sind von Heine nur wenige, zu Bruchstücken verstümmelte Gedichte enthalten, in den abschätzigen Worten Georges noch „die schönsten farben dieser verwesten seele […]“. 45 Mit Baudelaires emphatischer Ehrenrettung Heines im Ohr erscheint Georges Urteil nicht nur als eine weitere Merkwürdigkeit in der an Merkwürdigkeiten so reichen Rezeptionsgeschichte des Dichters Heine. Es beleuchtet zugleich schlaglichtartig die komplexen Probleme bei der Entzifferung des Eigensten im Fremden und des Fremden im Eigensten, zumal wenn uns, wie hier George, aber auch den französischen Heine-Lesern des frühen 19. Jahrhunderts, das Eigenste in der Gestalt des Fremden gegenübertritt. 44 Vgl. zuletzt den Neudruck: Deutsche Dichtung. Hg. u. eingel.von Stefan George, Karl Wolfskehl. Dritter Band: Das Jahrhundert Goethes. Stuttgart 1995. 45 Vgl. Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Hg. von Dietmar Goltschnigg, Hartmut Steinecke. Bd. II: 1907-1956. Berlin 2008, S. 58. Verzeichnis der Beiträger Joshua Billings, Merton College, Oxford OX1 4JD, United Kingdom Larisa Cercel, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar - Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg im Breisgau Dr. phil. Stefan Elit, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn, Warburger Straße 100, 33098 Paderborn Isabella Ferron, Dipartimento di studi linguistici culturali e comparati, Ca’ Bembo, Università Ca’ Foscari, Venedig, Italien Dr. phil. Susanne Gramatzki, Bergische Universität Wuppertal, Forschungsstelle Visuelle Poesie, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal Professor Dr. phil. habil. Christine Ivanovic, University of Tokyo, Graduate School of Humanities and Sociology, German Language and Literature, Hongo 7-3-1, Bunkyo-ku, Tokyo 113-0033, Japan Privatdozent Dr. phil. Jürgen Joachimsthaler, Institut für Deutsch als Fremdsprache, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Plöck 55, 69117 Heidelberg Dr. phil. Sonja Klein, Institut für Germanistik II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf Professor Dr. phil. Bernd Kortländer, Heinrich-Heine-Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf, Bilker Straße 12-14, 40213 Düsseldorf Dr. phil. Ruth Neubauer-Petzoldt, Department Germanistik und Komparatistik, Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen, Bismarkstraße 1, 91054 Erlangen Privatdozent Dr. phil. Sikander Singh, Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Universität des Saarlandes, Beethovenstraße Zeile 6, 66125 Dudweiler Dr. des. Florian Trabert, Institut für Germanistik II, Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Außenwirkungen französischer Literatur und Kultur wurden oft untersucht. Dagegen fehlt eine übergreifende Geschichte des Übersetzens ins Französische. Der vorliegende Entwurf einer solchen Geschichte strebt an, den Transfer - über Spitzenliteraten und Großübersetzer hinaus - auch in der Breite zu erfassen und Variable ebenso herauszustellen wie Langzeit-Konstanten. Skizziert wird eine sozialhistorische Übersetzer-Typologie (Konfession, Stand und Beruf usf.), neben Vernetzungen und Affi nitäten, nationalkulturellen Auslesefaktoren (Spenderliteraturen, Genres) und typischen Anpassungsprozessen. Zielgruppen oder Intensität und Art der Wirkung sind ebenso angesprochen wie graduell unterschiedliches Aktualitätsstreben, die Theorie und Praxis der Sprachbereicherung, die Spannung zwischen Übertragungs- Polen wie Treue und Freiheit, Verderb oder angepeilte Überbietung des Originals usf. In einer Fülle von Facetten wird das wohl wichtigste Instrument interkultureller Kommunikation erstmals in seiner ganzen historischen Tiefe anschaulich gemacht. Fritz Nies Schnittpunkt Frankreich Ein Jahrtausend Übersetzen Transfer, Band 20 2009, VI, 254 Seiten €[D] 49,00/ SFr 81,00 ISBN 978-3-8233-6505-1 091909 Auslieferung Oktober.indd 15 06.10.09 09: 13