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Verleiblichung bei Peter Stamm und Annie Ernaux

in „Nacht ist der Tag“ und „Erinnerung eines Mädchens“

von Cornelia Pechota (Autor:in)
©2020 Monographie 226 Seiten

Zusammenfassung

Im Zentrum dieser Publikation stehen die Erzählungen Nacht ist der Tag (2013) von Peter Stamm, Träger des Schweizer Buchpreises 2018, sowie die Erinnerung eines Mädchens (2018) der französischen Bestseller-Autorin Annie Ernaux. Damit widmet sie sich zwei Schreibenden der Gegenwart, die als prominente Stimmen der europäischen Öffentlichkeit umfassend und hitzig in den internationalen Feuilletons besprochen werden. Gerade im Rahmen des viralen Hashtags #MeToo und den nachfolgend diskutierten Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern haben Annie Ernaux’ Erinnerung und das Thema dieses Buchs jüngst an Bedeutung gewonnen. Mithilfe aktueller literaturwissenschaftlicher Zugänge werden in den ausgewählten Romanen zwei Liebesbeziehungen untersucht, von denen eine autobiografische Züge trägt. Die Interpretation der vielschichtigen Texte im Anschluss an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Leiblichkeit konkretisiert die Rolle und Relevanz von Literatur in aktuellen politischen und sozialen Diskussionen. Merleau-Pontys Unterscheidung von corps objectif (,Körper’) und corps propre (,Leib’) erweist sich in dieser Analyse als bedeutungsvoll, markiert sie doch die Problematik der Außen- und Innenwahrnehmung im medizinischen und zwischengeschlechtlichen Bereich.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dank
  • Vorwort
  • Inhalt
  • VERLEIBLICHUNG BEI PETER STAMM
  • Am Leitfaden des Leibes zu Nacht ist der Tag
  • 1 „Nacht ist der Tag“ als Shakespeare-Zitat
  • 1.1 Von Shakespeares Sonett 43 zu Nacht ist der Tag
  • 1.2 Paradoxe Wahrnehmung in Nacht ist der Tag
  • 2 Versehrung als Verleiblichung
  • 2.1 Faziale Entstellung und leibliche Reflexion
  • 2.2 Exkurs: Die Nase im kulturellen Kontext
  • 3 Das zwischenleibliche Paradigma in Nacht ist der Tag
  • 4 Die „Enthüllung des Andern als Blick“ (Sartre)
  • 4.1 Die Erblickte zwischen Leiblichkeit und Scham
  • 4.2 Der Blickende zwischen Leiblichkeit und „Wille zum Schein“ (Nietzsche)
  • 5 Der Leib als „Lebewesen mit Bewegungen und Wahrnehmungen“ (Merleau-Ponty)
  • 5.1 Chiasmus zweier Schicksale – die Verflechtung
  • 5.1.1 Der Zweifel des Künstlers als Chance der Liebe
  • 6 Zur Phänomenologie der Geschlechtlichkeit in Nacht ist der Tag
  • 6.1 Jill und Hubert zwischen Spiegelung und Anerkennung
  • 6.2 Jills Weg vom Spiegelleib zum Erfahrungsleib
  • 6.3 Weibliche ‚Entliebung‘ als Welterschließung
  • 7 Stamms Phänomenologie der Liebe als „Ganzes“
  • 8 Literaturverzeichnis
  • VERLEIBLICHUNG BEI ANNIE ERNAUX
  • Am Leitfaden des Leibes zu Erinnerung eines Mädchens
  • 1 Die soziale Scham
  • 2 Annie Ernaux zwischen Pierre Bourdieu und Maurice Merleau-Ponty
  • 3 Das Mädchen von 58: Vom Traum zum Trauma
  • 3.1 Die sexuelle Scham
  • 3.2 Der Text als Intertext
  • 3.2.1 Chiasmus von ich und sie: Die textinterne Verflechtung
  • 3.2.2 Vom Roman zum Palimpsest: Die erotische Verflechtung
  • 3.2.3 Spiegelung in Literatur und Film: Die fiktionale Verflechtung
  • 3.3 Der religiöse Hypotext
  • 3.4 Exkurs: Jungfräulichkeit zwischen Mythos und Wissenschaft
  • 3.5 Annies Leib zwischen Sehen und Denken
  • 3.5.1 Der Blick der Anderen
  • 3.5.2 Der Blick eines Anderen, eines Einzigen
  • 3.5.3 Die Erblickte als Liebende
  • 4 Vom Trauma zum „wahren Ort“
  • 4.1 Das Mädchen von Ernemont: Die Folgen des Traumas
  • 4.1.1 Der Wille zum Unglück und die Sprache des Leibes
  • 4.1.2 Die intellektuelle Befreiung: Simone de Beauvoir
  • 4.2 Das Mädchen von London: Die Geburt der Autorin
  • 5 Das Transpersonale als anonyme Zwischenleiblichkeit
  • 5.1 Die anonymen Anderen als Welt
  • 5.2 Das „individuell Allgemeine“ als Mann
  • 6 Dekonstruktion und différance zwischen Präsenz und Ereignis
  • 7 MON HISTOIRE C’EST L’HISTOIRE D’UN AMOUR
  • 8 Literaturverzeichnis
  • Personenregister

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VERLEIBLICHUNG BEI PETER STAMM
Zur Phänomenologie der Liebe in Nacht ist
der Tag

In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge ‚dieser Welt‘, – sie liebten ihre Sinne.3

Friedrich Nietzsche

Die Orte meines Schreibens sind […] Momente intensiver Wahrnehmung.4

Peter Stamm

Wenn ich Personen beschreibe, lasse ich sie nicht nur sprechen, sondern beschreibe auch ihre Gesten, ihre Körpersprache. Daran lassen sich Menschen oft viel besser erkennen als an dem, was sie sagen.5

Peter Stamm

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3 Nietzsche, KSA 11, 587

4 Peter Stamm 2014: „In fremden Gärten“ (Mai 2002). In: Ders.: Die Vertreibung aus dem Paradies. Bamberger Vorlesungen und verstreute Texte. Fischer, Frankfurt/Main (VP): 226.

5 Olga Olivia Kasaty 2007: „Ein Gespräch mit Peter Stamm“ (Krakau, 24. April 2004). In: Dies.: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur. Edition Text + Kritik, München: 395–430, hier 415.

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Am Leitfaden des Leibes zu Nacht ist der Tag

In der Tat aber bedarf die Wahrheit der Enthüllung. […] Jener Schatten also vollbrachte es, daß dieses eitle Licht dazu kam, erst wirklich etwas zu erhellen; und so wird es endgültig unmöglich, den Schatten im Licht aufgehoben zu denken. (PhW 410f.)

Maurice Merleau-Ponty

Am Anfang von Nacht ist der Tag stand wohl die Frage inwiefern wir als Personen mit unseren Körpern übereinstimmen. […] [V];erändert sich meine Persönlichkeit mit meinem Körper? […] Eine Antwort auf meine Ausgangsfrage habe ich nicht gefunden, aber vielleicht Bilder, die meine Leserinnen und Leser zu eigenen Gedanken über das Thema anregen.6

Peter Stamm

Als einfühlsamer Schriftsteller, der seine melancholischen Figuren ohne weltanschauliche Scheuklappen in unsere Gegenwart entlässt, hat sich Peter Stamm weit über die Grenzen seiner Schweizer Heimat hinaus einen Namen gemacht. Seine vielfach übersetzten Werke zeigen Menschen, die ihren Platz oft nur finden, um ihn wieder zu verlieren, was sie veranlasst, existenzielle Unsicherheit durch eine Intensivierung ihrer Wahrnehmung zu kompensieren. Dies gilt in besonderer Weise für den Roman Nacht ist der Tag, der 2013 erschien.7 Das Schicksal der beruflich erfolgreichen Gillian, die ein schwerer Unfall zwingt, ihr Leben in einem veränderten Körper neu zu erfinden, und die damit verstrickte Krise des Malers Hubert, auf den sie ihr Begehren richtet, entfalten sich im intersubjektiven Zusammenspiel sensorischer Erfahrungen, denen der Autor seine bildhafte Sprache leiht.

Davon ausgehend, dass Wahrnehmung phänomenologisch betrachtet auch in der Literatur eine Wahrnehmung des Leibes ist, lese ich Nacht ist der Tag als narrative ‚Verleiblichung‘, in der ein intersubjektives Begehren den Hauptfiguren die Richtung vorgibt. Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty (1908–1961), dessen „Theorie des Leibes als Grundlegung einer Theorie der Wahrnehmung“ (PhW 239) der ästhetischen Welterschließung ←17 | 18→einen beziehungsreichen Ort zuweist, eröffnet zwischen Philosophie und Kunst neue Deutungsräume, die ich für meine Studie nutzen kann. Eine Hermeneutik „dem Leitfaden des Leibes“ entlang hat sich mir für die Interpretation von Nacht ist der Tag geradezu aufgedrängt. Der psychologisch geschulte Autor, der seinen Protagonisten hautnah auf der Spur bleibt, bewegt sich gewandt im Bereich der körperlichen Erscheinung, in dem die heutige Kunst so oft angesiedelt ist.8 Die empathische Begleitung seiner Figuren veranlasst ihn jedoch, ihre Identität gemäß Merleau-Pontys Unterscheidung von corps propre (Leib) und corps objectif (Körper) narrativ zu hinterfragen und sie während der erzählten Zeit als wahrnehmende und wahrgenommene Wesen mehrmals neu zu definieren. Die besondere Bedeutung, mit der Stamm die Zwischenleiblichkeit (intercorporéité)9 seiner heillos weltlichen Protagonisten auflädt, entspringt einem Seinsmangel, zu dessen Füllung sich nur noch die Mitmenschen anbieten. Zwar kann der Andere im Sinne der agonalen Blick-Theorie von Jean-Paul Sartre (1905–1980) die eigene Welt bedrohen, indem er sie für sich selbst beansprucht und sein Gegenüber zum innerweltlichen Objekt macht.10 Gemäß der inkorporierten Intentionalität, die für Merleau-Ponty die Sartre’sche Problematik unterläuft11, bildet die oder der Andere bei Stamm aber stets die Fortsetzung eigener Intentionen und kommt dem Begehren eines Begehrens entgegen, das in statu nascendi gerade dieser Ausdehnung bedarf:

[I];ch tue in gewisser Weise alles, was in meiner Macht steht, damit die Anderen an meiner Lebenswelt partizpieren, da ich […] meinen Leib, meine Vorstellung und selbst meine Gedanken […] in das Spiel der Welt einbringe, und da alles, was man als Ich bezeichnet, sich grundsätzlich einem fremden Blick darbietet, wenn er nur in Erscheinung treten will.

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[…] Der Andere entsteht an meiner Seite als eine Art Ableger von mir oder durch eine Art von Verdoppelung, ebenso wie der erste Andere – laut Genesis – aus Adams Leib geschaffen wurde. (SU 86)

Den Unterschied zwischen subjekthaftem Leib und objekthaftem Körper werde ich in Nacht ist der Tag als dialektisches Verhältnis sichtbar machen und im jeweiligen Kontext kommentieren. Dass der Autor selbst das Wort Körper, das auf 253 Seiten 50-mal vorkommt, nie durch das Wort Leib ersetzt, ist bei einem heutigen Prosatext verständlich. Den Begriff in meinen Kommentaren dennoch zu gebrauchen, erlaubt mir sein eingestandenes Interesse an philosophischen Reflexionen, das in Nacht ist der Tag Termini wie Gestalt, Präsenz, Intensität, Transzendenz und indirekte Bezüge auf Sören Kierkegaard und Walter Benjamin belegen. Angesichts der reflexiven Prosa, die Stamm praktiziert, ist es sicher angemessen, vom bloß physischen Körper, der in seiner Thematisierung von Kunst und Wissenschaft natürlich auch eine Rolle spielt, den corps phénoménologique zu unterscheiden, der bei Merleau-Ponty den beseelten Leib bezeichnet, „der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält“.

In seiner Laudatio zur Verleihung des Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg an Peter Stamm nannte ihn der Dichter Michael Hofmann, der seine Bücher ins Englische übersetzt, einen „Existentialisten der dritten Generation“.12 Die Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) und Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) gehörten zur ersten Generation dieser Richtung, so dass Stamm (1963) tatsächlich als ihr literarischer ‚Enkel‘ betrachtet werden kann. Eine Historisierung des Existenzialismus in der Literatur führt indes nicht an Sartre vorbei, der wie Merleau-Ponty von Edmund Husserl (1859–1938) und Martin Heidegger (1889–1976) beeinflusst war und zu den wichtigsten Phänomenologen der Nachkriegszeit gehörte. Hat sich Stamm selbst schon früh für den Existenzialismus interessiert, so attestiert sein Übersetzer auch die Bedeutung der Wahrnehmung in seinem Schaffen, das ihm seit langem vertraut ist. In diese Richtung weist etwa seine Feststellung, dass Stamm schon immer „good at the world“ gewesen sei und dass er immer besser werde. Erzähler müssten sich besser in der Wirklichkeit auskennen als andere Menschen, und Peter sei einer der Allerbesten.13 Mit seinem expliziten Hinweis auf Rainer Maria Rilkes ←19 | 20→„Gedeutete[] Welt“14 bestätigt Hofmann, dass sich das leibliche „In-der-Welt-sein“ als ein „Zur-Welt-sein“ (Merleau-Ponty) nicht auf die empirische Lebenswirklichkeit beschränkt, sondern als ursprüngliche Intentionalität aus Kunst und Literatur nicht wegzudenken ist. Wird es von Dichtern im Sinne einer Entfremdung oft problematisiert, so betreten auch erfundene Menschen leiblich wahrgenommene Räume, sei es im Wohnen in der Welt (Merleau-Ponty) oder im Machen einer Welt (Sartre).

In Nacht ist der Tag schildert der welterfahrene Stamm menschliche Krisen und Tragödien mit der ihm eigenen Lakonie, in der seine Anteilnahme dennoch spürbar ist. Die kunstvoll verwobene Handlung, die sich aus der komplexen Wechselbeziehung seiner Protagonisten entwickelt, gestaltet er als postmodernen Text, der moralische Beliebigkeit dadurch einschränkt, dass er Gefühle von Scham und Schuld zulässt, die keiner göttlichen oder weltlichen Rechtsinstanz bedürfen. Die narrative Kohärenz, die einst ein religiöses Weltbild garantierte, leistet Stamm über ein sinnliches Verhältnis zur Welt, das libidinösen Wünschen und Fantasien viel Raum lässt, ohne sie einer ethisch wertfreien Perspektive preiszugeben. Da er die Widersprüche seiner Sehnsuchts-Figuren im narrativen Kontext empathisch registriert, traut man ihm eine therapeutische Absicht zu, von der er sich indes distanziert. Als Phänomenologe mehr denn als Analytiker interessiert sich der einstige Psychologie-Student mit Psychiatrie-Erfahrung ganz einfach für Menschen, die, wie er sagt, „nicht genau wissen, wo sie hinwollen“. Den Erfolg seiner Gestaltung menschlicher Ambivalenzerfahrungen erklärt er sich durch ihre Authentizität:

Ich habe festgestellt, dass Leute es mögen, wenn sie die Wahrheit gesagt bekommen. Und beim puren Beschreiben liegt das Problem offen: Niemand verhält sich nur gut oder klar. Das Leben ist nicht immer leicht. Wir täuschen uns, wir werden enttäuscht. […] Lesen ist zum Teil auch Selbsterkenntnis und Selbstreflexion.15

Stamms Protagonisten Gillian und Hubert wissen nach individuellen Schicksalsschlägen tatsächlich nicht mehr, „wo sie hinwollen“. Dank ihrer fiktionalen Verleiblichung bleiben sie aber stets aufeinander bezogen und erleben in ihrer Beziehung schließlich eine Heilung, aus der Neues entstehen kann. Stamms ←20 | 21→Strategie, den Leib im Sinne Merleau-Pontys als „Vehikel des Zur-Welt-seins“ (PhW 106) einzusetzen, erhält ihren schicksalshaften Zug dadurch, dass eine mondäne Medien-Frau im enthüllenden Blick eines Künstlers ihr wahres Selbst zu entdecken hofft. Gemäß seiner „ursprüngliche[n]; Intentionalität“ (PhW 188) steht der Leib „als geschlechtlich Seiendes“ somit im Zentrum einer Erkundung, die danach fragt, „welchergestalt ein Gegenstand oder ein Wesen im Begehren oder in der Liebe für uns Existenz gewinnt, um von daher besser zu begreifen, wie überhaupt Gegenstände und Wesen zu existieren vermögen“ (PhW 185).

Die phänomenologische Ausrichtung meiner Studie entspricht weitgehend der Hermeneutik Merleau-Pontys, bei dem die Wertung vorprädikativer Erfahrungen nicht zum Dogma erstarrt, sondern als endlose Bewegung, die ihr eigenes Ziel nicht kennt, verschiedene – auch widersprüchliche – Aussagen zulässt. Als Philosoph der Existenz mehr denn als Existenzialist suchte Merleau-Ponty nach neuen Begriffen und Formulierungen für jene unmittelbaren Erfahrungen, die sich sonst am ehesten „durch den Roman oder die Malerei“ ausdrücken lassen.16 Noch kurz vor seinem frühen Tod eröffnete er eine ontologische Dimension, die unter dem Begriff chair (‚Fleisch‘) zu kontroversen Deutungen führte und die ich in meine Betrachtungen einbeziehe. In meiner Analyse von Nacht ist der Tag geht es mir weniger um die Rechtfertigung philosophischer Axiome als um das „Aufmerken und Erstaunen“ (PhW 18) gegenüber einer erschriebenen Welt, mit der ich mich reflexiv auseinandersetze. Stamms Gewichtung leiblicher Wahrnehmung im Spiegel des Begehrens lese ich als Phänomenologie der Liebe, für die mir neben Merleau-Ponty auch Sartre theoretische Argumente liefert.

1 „Nacht ist der Tag“ als Shakespeare-Zitat

Nacht ist der Tag, der mir dein Bild entzieht,

Und Tag die Nacht, die dich im Traume sieht.

William Shakespeare

Mit diesen Verszeilen und dem Namen ihres Autors verrät uns Stamm auf der fünften Seite seines Romans, bevor wir mit der Lektüre begonnen haben, dass er den Titel Nacht ist der Tag bei Shakespeare gefunden hat. Da das betreffende ←21 | 22→Werk dabei nicht genannt wird, füllten KritikerInnen diese Lücke, indem sie das Zitat berechtigterweise in Shakespeares Sonetten verorteten.17 Die beiden Zeilen aus dem 43. Sonett bilden in vielen Rezensionen einen Bezugspunkt, doch wird sein thematischer Anspruch nicht immer niveauvoll gedeutet. So behandelt eine Schweizer Kritikerin die Zeilen als „lyrische Klumpen“, deren ‚Auflösung‘ sie vorerst in Aussicht stellt:

Die Reise fängt bei diesen zwei letzten Zeilen eines Shakespeare-Sonnets an, die anfangs nur grausam unverständlich scheinen. Stamm-Kenner wissen aber: Hier geht es um ein Bild, das in keinster Weise schon zu Beginn scharf gezeichnet werden soll und sich im Verlauf von Nacht ist der Tag langsam herauskristallisieren wird.18

Die prophetische Qualität dieses Bildes bestätigt die Rezensentin aber erst am Ende ihrer süffisanten Besprechung, wo sie den offenen Schluss des Romans faute de mieux einem Tag-und-Nacht-Zyklus einschreibt. Ihr hermeneutisches Versagen gegenüber jenen, die „diese[m]; verflixte[n] Sonett“ dennoch eine Bedeutung abringen wollen, lässt sie auf die Originalfassung ausweichen, die sie „um einiges verständlicher“ findet als ihre deutsche Übersetzung. Sie zitiert das Motto daher abschließend auf Englisch, ohne damit die durchaus verständliche deutsche Version zusätzlich zu erhellen. Einer Interpretation der isolierten Zeilen steht in beiden Sprachen nichts entgegen, vermitteln doch beide die Synthese des ganzen Sonetts, wie dies in der englischen Form des Sonetts allgemein üblich ist19:

Die englische Form des Reimpaarverses drängt auf einen pointiierten Schluss. […] Das Logische wird einbezogen durch Vortragen eines Arguments, Bestärkung durch Beispiele oder Variationen und Auslaufen in eine Conclusio, die das Vorherige zusammenfasst, bricht und als Sentenz an den Leser oder Hörer weitergibt.20

Ein kurzer Blick auf den Text und dessen Verdeutschung, die Shakespeares „Conclusio“ im 43. Sonett vorausgehen, scheint mir angesichts ihrer Vernachlässigung durch die Stamm-Kritik dennoch angebracht. Seine Relevanz für den ←22 | 23→Roman, dem er gewissermaßen Pate stand, ist nämlich jene eines pars pro toto des gesamten Zyklus, der im Zeitalter der englischen Renaissance (1500–1649) bereits von einem ‚Existenzialisten‘ verfasst wurde. Auch Shakespeare, der mehr als „good at the world“ war, hat dem zwischenmenschlichen Verkehr in seinen Sonetten keinen helfenden oder strafenden Gott zugeordnet.

Details

Seiten
226
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783034340618
ISBN (ePUB)
9783034340625
ISBN (MOBI)
9783034340632
ISBN (Paperback)
9783034340427
DOI
10.3726/b17307
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Wahrnehmung Erfahrungsleib Chiasmus Blick Befreiung Scham
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 226 S.

Biographische Angaben

Cornelia Pechota (Autor:in)

Cornelia Pechota lebt als Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Übersetzerin in Genf. Nach langjähriger Tätigkeit im Verlagswesen als Übersetzerin, Herausgeberin und Redakteurin in deutscher, französischer und englischer Sprache studierte sie Germanistik, Anglistik und Assyriologie an der Universität Genf. Sie promovierte an der Universität Lausanne mit einer Dissertation über Schriftstellerinnen des Fin de siècle und publizierte Bücher in diesem Zusammenhang. Über ihre Forschungsthemen hielt sie Vorträge in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Russland und der Schweiz. Sie schrieb zahlreiche Rezensionen und Beiträge für die Blätter der Rilke-Gesellschaft, die Nietzsche-Forschung und andere Jahrbücher, Zeitschriften und Sammelbände.

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