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Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen

1996
978-3-8233-3015-8
Gunter Narr Verlag 
Claudia Fraas

Der Diskurs zur deutschen Einheit bildet das Szenario für die Beschreibung von Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz von Konzepten, die in der öffentlichen Auseinandersetzung brisant geworden sind. Mit Hilfe eines systematischen Instrumentariums wird gezeigt, wie sich Vorstellungen von Sprechergruppen einer Sprachgemeinschaft über kommunikativ zentrale Konzepte verändern, wie Sprecher Konzepte problematisieren und Bedeutungen aushandeln und wie Gebrauchswandel zu Bedeutungsverschiebungen lexikalischer Einheiten führen kann.

Studien zur deutschen Sprache i'ORScni n<; i: n düs institi ts i i k di: i tsciii: sprachi: Claudia Fraas Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen Die Konzepte Identität und deutsche im Diskurs zur deutschen Einheit gn Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Hartmut Günther, Reinhard Fiehler und Bruno Strecker Band 3 • 1996 Inhalt 1. Einleitung 4 2. Gegenstand und Voraussetzungen 7 2.1 Zentrale lexikalische Einheiten im Diskurs zur deutschen Vereinigung 7 2.2 Der theoretische Rahmen ein dynamisches Bedeutungskonzept 11 2.3 Die Methode - Frames als Darstellungsrahmen für konzeptgebundenes Wissen 15 2.3.1 Konerding (1993): Linguistische Fundierung einer Frame- Theorie als Theorie der Wissensdarstellung 15 2.3.2 Möglichkeiten und Grenzen des Frame-Konzepts - Eine Erweiterung zur Beschreibung der Vertextung konzeptuellen Wissens 27 3. Fallbeispiel I: IDENTITÄT 30 3.1 Die Erschließung von Bedeutungswissen über IDENTITÄT 31 3.1.1 Wörterbucheintrag und Verwendungsweise 32 3.2 IDENTITÄT in der öfTentlichen Kommunikation vor 1989 34 3.2.1 Der Frame für IDENTITÄT und die kontextuelle Verarbeitung von IDENTITÄT in Medientexten der 80er Jahre 40 3.2.2 Zusammenfassung: Wie wurde IDENTITÄT in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens wurden verbalisiert? 50 3.3 Die kontextuelle Verarbeitung von IDENTITÄT im Einheitsdiskurs 53 3.3.1 Kontextualisierungen von IDENTITÄT in Medientexten der Jahre 1989-1992 53 3.3.2 Zusammenfassung: Wie wird IDENTITÄT im Diskurs zur deutschen Einheit verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens werden verbalisiert? 70 3.4 Vergleich der Kontextualisierungen von IDENTITÄT vor und nach 1989 72 3.4.1 Allgemeine Einschätzung 73 3.4.2 Problematisierung des Konzeptes 75 3 .4.3 Verschiebung des Konzeptes 77 3.4.4 Zusammenfassung 78 2 4. Fallbeispiel II: DEUTSCHE 79 4.1 Die Erschließung von Bedeutungswissen über DEUTSCHE 79 4.1.1 Wörterbucheinträge, Stereotype und Verwendungsweise 79 4.1.2 Der Frame für DEUTSCHE 8 8 4.2 Die kontextuelle Verarbeitung von DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 92 4.2.1 Kontextualisierungen von DEUTSCHE in Medientexten der 80er Jahre 92 4.2.2 Zusammenfassung: Wie wurde DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens wurden verbalisiert? 105 4.3 Die kontextuelle Verarbeitung von DEUTSCHE im Einheitsdiskurs 109 4.3.1 Kontextualisierungen von DEUTSCHE in den Texten des Einheitsdiskurses 109 4.3.2 Zusammenfassung: Wie wird DEUTSCHE im Einheitsdiskurs verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens werden verbalisiert? 135 4.3.2.1 Welche wesentlichen Aussagen über DEUTSCHE werden im Einheitsdiskurs getroffen? 13 6 4.3.2.2 Auf welche Weise werden die Aussagen über DEUTSCHE im Einheitsdiskurs getroffen? 146 4.4 Die Kontextualisierungen von DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 und im Einheitsdiskurs - Gebrauchswandel und Konzeptverschiebung 148 4.4.1 Allgemeine Einschätzung 149 4.4.2 Kontinuität und neue Tendenzen 151 4.4.2.1 Problematisierung des Konzeptes 153 4.4.2.2 Neue Tendenzen des Gebrauchs 154 4.4.3 Zusammenfassung 159 5. Zusammenfassung und Ausblick 160 5.1 IDENTITÄT und DEUTSCHE im Einheitsdiskurs 161 5.2 Ausblick und weiterfuhrende Forschungen 166 5.2.1 Intertextuelle Aspekte 167 5.2.1.1 Intertextuelle Vernetzung durch Wiederaufnahme desselben Konzeptes 167 5.2.1.2 Intertextuelle Vernetzung durch referentielle Bezüge zwischen unterschiedlichen Konzepten 170 5.3 Schluß 171 6. Anhang 172 7. Literatur 173 Claudia Fraas Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen Die Konzepte Identität und deutsche im Diskurs zur deutschen Einheit gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fraas, Claudia: Gcbrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen: die Konzepte “Identität" und “Deutsche" im Diskurs zur deutschen Einheit / Claudia Fraas. - Tübingen : Narr, 1996 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 3) ISBN 3-8233-5133-8 NE: GT © 1996 ■ Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das güt insbesondere für Vervielfälügungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Druck: Müller + Bass, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutlingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5133-8 Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen eines IDS-Projektes, das sich mit sprachlichen Veränderungsprozessen im Kontext der Wende in der DDR und der deutschen Vereinigung auseinandersetzt. Dieses Vorhaben wurde auf der Grundlage eines umfangreichen Text-Korpus in verschiedenen Teilprojekten durchgefuhrt, die sowohl auf die lexikologisch-lexikographische Beschreibung von Wortschatzveränderungen als auch auf die Analyse von Argumentationsstrategien, Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in größeren Textzusammenhängen ausgerichtet waren. Im Ergebnis dieses Projektes wurden neben dem hier vorliegenden Band drei weitere Publikationen erarbeitet: der Beitrag von Kathrin Steyer zu Reformulierungen im öffentlichen Diskurs, das Wörterbuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989-1990 von Dieter Herberg, Doris Steffens und Elke Tellenbach und das Alphabetische Wörterverzeichnis zum „Wendekorpus“ des IDS von Manfred W. Hellmann (vgl. Literaturverzeichnis). Die von mir vorgelegte Arbeit beschreibt im Rahmen des Phänomenbereichs Sprache der Wende und Vereinigung, wie sich Vorstellungen von Sprechergruppen einer Sprachgemeinschaft über kommunikativ zentrale Konzepte verändern, wie Konzepte in der öffentlichen Kommunikation brisant werden, wie Sprecher Konzepte problematisieren und Bedeutungen aushandeln und wie Gebrauchswandel zu Bedeutungsverschiebungen lexikalischer Einheiten fuhren kann. Da die Untersuchungen konsequent von der realen Sprachverwendung ausgehen und große Datenmengen mit Hilfe eines systematischen Instrumentariums auswerten, kann die Arbeit auch als ein Beitrag zur methodischen Fundierung begriffsgeschichtlicher Forschungen gelten. Für anregende Diskussionen und kritische Anmerkungen möchte ich vor allem Gisela Harras und Klaus-Peter Konerding herzlich danken. Darüber hinaus gilt mein Dank allen, die dazu beigetragen haben, daß dieses Buch entstehen konnte. 4 1. Einleitung Die vorliegende Untersuchung ist im Grenzbereich zwischen lexikalischer Semantik, Textbetrachtung und Sprachveränderungsforschung angesiedelt. Sie leistet zum einen einen Beitrag zur Beschreibung von sprachlichen Prozessen, die sich im Zusammenhang mit der Wende und Vereinigung vollzogen haben und hinterfragt auf der Basis einer breiten Datenanalyse gängige Urteile über den Sprachgebrauch in diesem Zeitraum. Zum anderen trägt sie durch die konsequente Herleitung der Aussagen aus der realen Sprachverwendung und durch die Begründung der Analysen in einem systematischen und operationalisieroaren Instrumentarium zur methodologischen Fundierung begriffsgeschichtlicher Forschungen bei. Auf der Grundlage großer Textmengen wird die Kontextualisierung von Konzepten vorgefuhrt und dadurch sprachliche Vernetzungs- und Veränderungsphänomene in einem ausgewählten Bereich der öffentlichen Kommunikation, im Diskurs zur deutschen Einheit, beschrieben. Diskurs heißt hier (im Unterschied zum Diskursbegriff der Gesprächsanalyse) eine Menge von Texten, die unter dem Aspekt einer gemeinsamen Einordnungsinstanz eines gemeinsamen globalen Themas aufeinander bezogen sind (vgl. Kapitel 2.1). Aufgrund dieses gemeinsamen Themenbezugs sind die Texte des Diskurses referentiell und sprachlich vielfältig miteinander verflochten, so daß sie in ihrer Gesamtheit metaphorisch auch als Textnetz bezeichnet werden können. Anhand von zwei Fallstudien wird exemplarisch gezeigt, wie Sprecher diskursiv zentrale Konzepte kontextualisieren, welche Elemente konzeptgebundenen Wissens sie dabei aktualisieren oder auch anzweifeln und problematisieren. Auf diese Weise wird dargestellt, wie sich Konzepte in Textmengen entfalten, wie dabei aktualisierte Wissensbereiche variieren, wie allmählicher Gebrauchswandel zu Konzeptverschiebungen fuhren kann und wie durch diese Phänomene intertextuelle Relationen unterstützt werden. Der Diskurs zur deutschen Einheit ist für dieses Vorhaben sehr ergiebig und dabei gut zugänglich, denn dieser Bereich der öffentlichen Kommunikation läßt sich thematisch und zeitlich relativ gut abgrenzen. Vor allem aber spiegelt er die ganze Dynamik des deutschen Vereinigungsprozesses wider und fuhrt anschaulich vor, wie sich gesellschaftliche Umbrüche auf sprachliche Gebrauchsmuster auswirken. Am Beispiel des Einheitsdiskurses wird es möglich, über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg sprachliche Dynamik und Veränderungsprozesse zu verfolgen und zu zeigen, wie Sprecher Konzepte problematisieren und Bedeutungen explizit aushandeln. 5 Als Analysegrundlage dienen verschiedene computergestützt gespeicherte und recherchierbare Korpora des Instituts für deutsche Sprache. Zunächst das sogenannte Wende-Korpus, das Texte der öffentlichen Kommunikation aus den Jahren 1989-1990 enthält, die sich thematisch auf die Wende in der DDR und den deutschen Vereinigungsprozeß beziehen. Dieses Korpus umfaßt Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik, Flugblätter, Handzettel, Protokolle von Volkskammertagungen und vom Bundestag, Reden, Erklärungen von Parteien und politischen Gruppierungen usw. Um den Einheitsdiskurs über das Jahr 1990 hinaus verfolgen zu können, wurde dieses Korpus ergänzt durch ost- und westdeutsche Zeitungstexte der Jahre 1991-1992, die den Prozeß der deutschen Einheit thematisieren. Beide Korpora dienen als Grundlage für die Zusammenstellung des Korpus, das die für die Analyse im engeren Sinne wesentlichen Texte enthält, die Texte nämlich, die die deutsche Vereinigung thematisieren und somit Elemente des Diskurses zur deutschen Einheit sind. Als Vergleichsgröße wurde ein Korpus mit Texten der öffentlichen Kommunikation aus den 80er Jahren herangezogen. Damit basiert die gesamte Analyse auf Korpora im Umfang von insgesamt etwa 15 Millionen Wortformen. Der methodische Ansatz (vgl. Kapitel 2.3) basiert auf der Annahme, daß der sprachliche Zugang zu konzeptgebundenem Wissen über in einer Sprachgemeinschaft gebräuchliche Prädikationen möglich ist. Das Potential dieser Prädikationen, also das Potential der kommunikativ sinnvollen Kontextualisierungen eines Konzeptes, ist mit Hilfe von Frames darstellbar. Frames werden hier aufgefaßt als systematisch aufgestellte Listen von Fragen, die das Kontextualisierungspotential von Konzepten vorgeben und konzeptgebundenes Wissen detailliert veranschaulichen können. Der methodische Zugang ergibt sich daraus, sprachliche Spuren konzeptuellen Wissens ausfindig zu machen, indem die Prädizierungen der zu untersuchenden Konzepte in den Textmengen erfaßt werden. Um zu sichern, daß die Datenmengen überschaubar und somit der Analyse zugänglich bleiben, wird ein systematisches und operationalisierbares Instrumentarium eingeführt, das auf dem oben erwähnten Framekonzept beruht. Da dieses Framekonzept ursprünglich auf die Beschreibung von Lexikonwissen ausgerichtet ist, das Erkenntnisziel der Analyse jedoch die Vertextung von Wissen fokussiert, wird das Instrumentarium um die Option erweitert, sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen einzubeziehen. Der Vorzug des Instrumentariums ist es, die konkreten Prädizierungen der zu untersuchenden Konzepte in einen abstrakteren Rahmen stellen zu können und so analysierbar und vergleichbar zu machen. Auf diese 6 Weise kann anhand großer Textmengen gezeigt werden, wie Sprecher Konzepte vertexten, ob und wie sie sich dabei auf andere Sprecher oder Aussagen beziehen, ob sie Stereotype realisieren oder in Zweifel ziehen usw. In den Kapiteln 3 und 4 werden nach diesem Prinzip zwei Fallbeispiele - IDENTITÄT und DEUTSCHE analysiert und beschrieben. Zunächst werden jeweils die Lesarten ermittelt, die in der Sprachgemeinschaft vor 1989 gebräuchlich waren. Die Grundlage hierfür bilden nicht nur die betreffenden Wörterbucheinträge, sondern vor allem Prädizierungen von IDENTITÄT bzw. DEUTSCHE, die Sprecher in Texten der öffentlichen Kommunikation der 80er Jahre vornehmen. Solche Prädizierungen enthalten Aussagen der Sprecher über diese Konzepte und können als Verbalisierungen von Elementen konzeptgebundenen Wissens interpretiert werden. So explizieren Sprecher z.B. einen Ausschnitt ihres Wissens über IDENTITÄT bzw. DEUTSCHE, wenn sie formulieren, Identität ist... / die Deutschen sind...; Identität drückt sich aus in ...; die Deutschen kennzeichnet ...; Identität ist verflochten mit ...; die Deutschen neigen zu ...; etc. (vgl. Kapitel 3.1-3.2 und 4.1-4.2). Als Ergebnis dieses Analyseschrittes wird eine Einschätzung über den Gebrauch der Konzepte IDENTITÄT bzw. DEUTSCHE in Texten der öffentlichen Kommunikation der 80er Jahre gegeben. In einem nächsten Schritt wird der Gebrauch von IDENTITÄT und DEUTSCHE im Einheitsdiskurs detailliert beschrieben, indem wieder die Kontextualisierungen entsprechend systematisiert und ausgewertet werden. Dabei werden Aussagen darüber getroffen, welche Aspekte von Wissen über IDENTITÄT bzw. DEUTSCHE im Einheitsdiskurs von den Sprechern realisiert werden und welche Bereiche der Konzepte sie problematisieren und neu aushandeln. So kann im Vergleich der Kontextualisierungen von IDENTITÄT und DEUTSCHE vor und nach 1989 festgestellt werden, welche Veränderungsprozesse sich mit dem Einheitsdiskurs vollzogen haben (vgl. Kapitel 3.3-3.4 und 4.3-4.4). Im Schlußkapitel (vgl. Kapitel 5) werden zum einen die wesentlichen Ergebnisse kurz resümiert. Zum anderen wird ein Ausblick auf weiterfuhrende Forschungen gegeben, der vor allem Überlegungen zu intertextuellen Aspekten der Untersuchungen enthält. 7 2. Gegenstand und Voraussetzungen 2.1 Zentrale lexikalische Einheiten im Diskurs zur deutschen Vereinigung In den vergangenen Jahren hat sich die sprachwissenschaftliche Forschung immer komplexeren Gegenständen zugewandt und brauchte immer komplexere Kategorien, um diese Gegenstände zu beschreiben. So wurden Kategorien wie z.B. Intertextualität oder Diskurs eingefuhrt, die umstritten und noch ungenügend geklärt sind, aber offensichtlich einen großen heuristischen Wert haben, denn sie etablieren sich allmählich im linguistischen Instrumentarium. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist vor allem der Diskursbegriff von Bedeutung. Deshalb soll zunächst geklärt werden, wie Diskurs hier verwendet wird. Der Diskursbegriff der germanistischen Linguistik wurde wesentlich durch die englische discourse analysis geprägt und meint Dialog oder Gespräch. In den letzten Jahren ist in der deutschen Sprachwissenschaft das Bestreben zu beobachten, den Diskursbegriff auch auf andere linguistische Gegenstände zu übertragen. So werden Mengen von Texten, die auf eine gemeinsame inhaltliche Einordnungsinstanz, ein gemeinsames globales Thema bezogen sind, als Diskurse bezeichnet. Diese Verfahrensweise knüpft an die Tradition der französischen Diskursanalyse an, die eng mit den Arbeiten von Foucault verbunden ist und in der deutschen Sprachwissenschaft erst in jüngster Zeit zunehmend rezipiert wird. In Übereinstimmung mit Busse/ Teubert (1994, S. 14ff.) stützt sich die vorliegende Untersuchung darauf, unter Diskursen Textkorpora zu verstehen, deren Zusammensetzung im wesentlichen durch inhaltliche Kriterien bestimmt wird. Das heißt, die Texte eines Diskurses referieren alle mehr oder weniger auf ein gemeinsames globales Thema. Sie leisten quasi die thematische Ausdifferenzierung dieses globalen Themas und sind auf diese Weise vielfältig miteinander verbunden. Aufgrund dieses komplexen referentiellen und sprachlichen Beziehungsgefuges zwischen Diskurstexten können Diskurse metaphorisch auch als Textnetze bezeichnet werden. Der sprachwissenschaftliche Fachbegriff Diskurs ist also eine abstrakte Kategorie, die es ermöglicht, bestimmte Bereiche der (öffentlichen) Kommunikation unter inhaltlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen, wodurch eine relativ gut abgrenzbare, jedoch offene Menge von Texten entsteht, die als Grundlage für ganz unterschiedliche linguistische Analysen dienen kann. Offene Menge heißt, daß nicht die Gesamtheit aller das Diskursthema betreffenden Texte erfaßt sein muß. Dies wäre unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität 8 und aufgrund der Quellenlage auch kaum machbar. Ein für einen bestimmten Bereich der Kommunikation zusammengestelltes Korpus von Diskurstexten ist weniger hinsichtlich seiner Vollständigkeit repräsentativ, sondern vielmehr wegen eines jeweils als Untersuchungsleitfaden gewählten Inhaltsaspekts (vgl. Busse/ Teubert 1994, S. 15). Auf der Grundlage dieser Art Textmengen sind Untersuchungen möglich, die über die lexikographische Auswertung weit hinaus gehen, weil die Korpora nicht nur als Beleg-Pool benutzt, sondern selbst zum Untersuchungsgegenstand werden. Auf diese Weise kann gut nachgewiesen werden, wie sich der Gebrauch bestimmter lexikalischer Einheiten über bestimmte Zeiträume hinweg entwickelt, wie Wissen, das an diese lexikalischen Einheiten gebunden ist, von Sprechern kontextualisiert und damit aktualisiert wird und wie die unterschiedlichen Kontexte zu Bedeutungsvarianz bzw. Uminterpretation beitragen. Die Kategorie Diskurs im eben beschriebenen Sinne ermöglicht eine empirisch verifizierbare und dynamische Herangehensweise an linguistische Fragestellungen und ist deshalb für die vorliegende Untersuchung unentbehrlich. Für die weitere Analyse wurde als Arbeitsgrundlage der Diskurs zur deutschen Einheit gewählt. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Zum einen ist dies ein Bereich der öffentlichen Kommunikation, der sich was den Beginn der öffentlichen Debatten im Herbst 1989 betrifft zeitlich gut abgrenzen läßt. Zum anderen stammen die Diskurstexte aus einer Zeit, in der Konzepte massiv in Frage gestellt werden, unterschiedliche kommunikative Muster aufeinander treffen und sich vielschichtige sprachliche Wandlungsprozesse vollziehen. Der Einheitsdiskurs bietet also für die Beschreibung von Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz eine reichhaltige Basis. Eine Gesamtschau der Korpustexte des Einheitsdiskurses läßt erkennen, daß das globale Thema des Diskurses DEUTSCHE EINHEIT in einer Reihe von thematischen Ausdifferenzierungen behandelt wird, die jeweils bestimmte Aspekte des globalen Themas fokussieren. Wenn man eine grundlegende Überlegung der Textlinguistik auf die Betrachtung von Diskursen übertragen will, dann können diese thematischen Ausdifferenzierungen als Fragen formuliert werden. Fragen spielen für eine bestimmte Ausrichtung der Textlinguistik eine besondere Rolle, denn hier wird die Themenstruktur eines Textes als Struktur von Fragen dargestellt. Die thematische Progression des Textes beruht dabei auf dem Abarbeiten dieser Fragen (vgl. Hellwig 1984; von Stutterheim 1992). In Übereinstimmung damit können die thematischen Ausdifferenzierungen des globalen Diskursthemas als Antworten auf Fragen formuliert werden, die die Themenstruktur des Diskurses tragen. Aus der Kenntnis der Diskurstexte her- 9 aus sind beispielsweise folgende Fragen formulierbar, deren Antworten in den konkreten Texten die thematische Ausdifferenzierung des Diskursthemas leisten: I. Welche Rolle soll ein vereintes Deutschland in Europa spielen? II. Wie soll mit Rechtsextremismus, Fremdenhaß und Gewalt im vereinten Deutschland umgegangen werden? III. Soll Bonn oder Berlin die Hauptstadt des vereinten Deutschland sein? IV. Wie soll die Vergangenheit der DDR bewältigt werden? V. Wie kann der Rezession begegnet werden? VI. Welche Folgen hat die Abwicklung ganzer Industriezweige und Institutionen im Osten Deutschlands? VII. Wie stehen die Deutschen zu ihrer Identität? Diese thematischen Ausdifferenzierungen sind in gewisser Weise diskursive Subthemen, denn sie fokussieren einzelne Aspekte des globalen Themas. Die Aspekte des globalen Themas, die zu thematischen Ausdifferenzierungen fuhren, werden als neue Information und in diesem Sinne als rhematisches Element eingebracht und von den Konzepten der lexikalischen Einheiten getragen, die jeweils zum globalen Diskursthema DEUTSCHE EINHEIT in Beziehung gesetzt werden. Dies sind in den oben genannten diskursiven Subthemen folgende: Europa, Rechtsextremismus, Fremdenhaß, Gewalt, Hauptstadt, Vergangenheit, Rezession, Abwicklung, Osten, Deutsche, Identität Diese lexikalischen Einheiten signalisieren den Bezug zum globalen Diskurs- Thema und werden als zentrale lexikalische Einheiten bezeichnet, weil sie im Diskurs wie Indikatoren für Äußerungen wirken, die auf thematische Ausdifferenzierungen des globalen Themas Bezug nehmen Um die thematische Struktur des Einheits-Diskurses beschreibbar zu machen, ist es wesentlich, zwei Ebenen in der Betrachtung voneinander zu trennendie Textebene, die jeweils einen Text in den Blick nimmt und die Diskursebene, die textübergreifende Beziehungen fokussiert. Die thematischen Ausdifferenzierungen bilden zum Teil das zentrale Thema eines Textes, oder um die Terminologie von Stutterheims (1992) zu verwenden, die Quaestio, die die Hauptstruktur und die Nebenstrukturen des jeweiligen Textes festlegt. In den 10 meisten Fällen allerdings sind sie nicht das Textthema, sondern textintem der Nebenstruktur (vgl. von Stutterheim 1992, S. 164) zuzuordnen. In bezug auf das globale Diskursthema jedoch, d.h. innerhalb der referentiellen Struktur des Diskurses, erlangen diese nebenstrukturellen Textsequenzen thematische Qualität, indem sie auf einen Aspekt des globalen Diskursthemas referieren. Auf diese Weise erhalten Textsequenzen, die auf der Ebene eines Textes thematisch eine untergeordnete Rolle spielen, auf der Diskursebene unter dem Gesichtspunkt der thematischen Ausdifferenzierung des globalen Diskursthemas eine zentrale Rolle. In der Reaütät der Diskurs-Texte manifestiert sich das auf die Weise, daß z.B. in einigen Texten zum diskursiven Subthema IV (Wie soll die Vergangenheit der DDR bewältigt werden? ) nebenstrukturell auch IDENTITÄT thematisiert wird. Damit wird durch eine Textsequenz, die textintern als thematisch nebenstrukturell zu charakterisieren ist, textübergreifend ein Beitrag zum diskursiven Subthema VII (Wie stehen die Deutschen zu ihrer Identität? ) geleistet. D.h., diese Sequenz erhält auf der Diskursebene eine thematische Qualität, die von ihrer textintemen thematischen Quahtät verschieden ist. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, im Rahmen von Texten zum diskursiven Subthema I (Welche Rolle soll ein vereintes Deutschland in Europa spielen? ) wird mitunter auch RECHTSEXTREMISMUS thematisiert und damit textübergreifend auf das diskursive Subthema II (Wie soll mit Rechtsextremismus, Fremdenhaß und Gewalt im vereinten Deutschland umgegangen werden? ) Bezug genommen. Auf diese Weise sind die Texte des Einheits-Diskurses referentiell vielfältig und mehrdimensional miteinander verbunden, denn die thematischen Ausdififerenzierungen des globalen Diskurs-Themas vollziehen sich weniger textintem, sondern vor allem intertextuell. Darin hegt eine wesentliche Ursache für die thematische Vernetzung, die den inhaltlichen Zusammenhang des Diskurses ausmacht. Diese ganze sehr komplexe Problematik kann hier nicht ausführlich abgearbeitet werden, aber sie soll einen Hintergrund bilden, vor dem die folgenden Analysen zu sehen und in den sie einzuordnen sind. Das eigentliche Anhegen dieser Arbeit ist auf die Beschreibung von diskursiv zentralen Konzepten gerichtet. Diskursiv zentral meint, daß diese Konzepte einen Beitrag zur thematischen Ausdifferenzierung des globalen Diskursthemas leisten und so das Diskursthema mit tragen. Die lexikahschen Einheiten, die diese Konzepte verbahsieren, wirken als Indikatoren für Äußerungen, die thematische Ausdifferen- 11 zierungen leisten. In Fallstudien werden zwei dieser Einheiten ausführlich untersucht und exemplarisch beschrieben. Dabei werden folgende Fragen behandelt: - Wie werden die Konzepte dieser lexikalischen Einheiten in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 und im Einheitsdiskurs kontextuell verarbeitet, d.h. welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens werden aktualisiert und welche nicht? - Auf welche Weise ist der Kontext an der Bedeutungskonstitution dieser Einheiten beteiligt? Wie werden die Bedeutungen dieser Einheiten kontextuell gestützt und angereichert oder auch variierend modifiziert? - Läßt sich im Einheitsdiskurs im Vergleich zur öffentlichen Kommunikation vor 1989 Gebrauchswandel nachweisen ? - Auf welche Weise werden im Einheitsdiskurs Konzepte problematisiert und von den Sprechern ausgehandelt? - Können durch die Wiederaufnahme und variierende Verwendung zentraler lexikalischer Einheiten relativ zu einer globalen Einordnungsinstanz, dem Diskursthema DEUTSCHE EINHEIT, textübergreifende Zusammenhänge nachgewiesen werden? 2.2 Der theoretische Rahmen ein dynamisches Bedeutungskonzept Die Untersuchungen basieren auf einem dynamischen Bedeutungskonzept, d.h. Bedeutungen werden nicht als gegeben und innerhalb eines statischen Strukturzusammenhangs beschreibbar angenommen, sondern als durch kognitive und kontextuelle Faktoren beeinflußte Entitäten, (vgl. SchwarzeAVunderlich 1985, Rieger 1988, Harras 1991, Schwarz 1992). In Übereinstimmung mit der kognitiven Linguistik wird die Sprachfähigkeit des Menschen sowohl als mentales Kenntnissystem als auch als Verarbeitungsprozessor verstanden, was einen erweiterten Kompetenzbegriff voraussetzt. Die semantische Komponente einer Sprache stellt sich somit als funktionales Kenntnissystem dar, das sowohl durch ein strukturelles Repräsentationssystem, als auch durch ein prozedurales System konstituiert wird, das Teile des Repräsentationssystems in konkreten Situationen aktualisiert und auf entsprechende Referenzbereiche abbildet. Sprachkompetenz wird also nicht nur als Wissen über Sprachstrukturen verstanden, sondern auch als Fähigkeit zur Verarbeitung und Interpretation von Sprachwissen: 12 „Über semantische Kompetenz Sem zu verfugen, bedeutet für einen Sprecher s der Sprache S, daß er ein Wissenssystem sem r aktivieren kann, das die Bedeutungen der Wörter seiner Sprache repräsentiert. Die Aktivation von sem r erfolgt mittels sem p , dem prozeduralen System, das die Realisierungsmechanismen für einen situationsadäquaten Gebrauch (sowohl rezeptiver als auch produktiver Art) bereitstellt.“ (Schwarz 1992, S. 26) Die Annahme von strukturellen und prozeduralen Strukturkomponenten korrespondiert mit einem mehrstufigen Semantikmodell, das folgende Repräsentationsebenen voraussetzt (vgl. Bierwisch 1983 b, Schwarz 1992): 1. Die konzeptuelle Ebene, die die mentalen Inhalte für die Semantik einer Sprache enthält. 2. Die Ebene der lexikalischen Bedeutungen, auf der Konzeptinhalte an phonologische Formen und syntaktische Raster gekoppelt sind. 3. Die Ebene der aktuellen Bedeutungen, die den Einfluß des konkreten Verwendungskontextes einbezieht. Konzepte stehen sehr global ausgedrückt für elementare mentale Organisationseinheiten, die Wissen über die Welt in einem abstrakten Format speichern. „Als Mikrobausteine unseres Kognitionssystems ermöglichen sie die ökonomische Speicherung und Verarbeitung subjektiver Erfahrungseinheiten durch die Einteilung der Informationen in Klassen nach bestimmten Merkmalen.“ (Schwarz 1992, S. 55) Der Konzept-Begriff ist in der Semantikforschung oft unreflektiert eingeführt und unmotiviert verwendet worden. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich an dem von Schwarz in Anlehnung an Piaget (1974) präferierten Konzept-Begriff, wonach Konzepte mentale Struktureinheiten sind, mit denen die mit der Umwelt gemachten Erfahrungen langfristig repräsentiert werden können (vgl. Schwarz 1992, S. 56). Präzisiert wird diese Vorstellung von Konerding (1993, S. 94/ 104), der im Anschluß an Engelkamp (1985, S. 313) das Moment der (individuenspezifischen) episodischen Erfahrung als zentral ansieht und Konzepte, in seiner Terminologie intraindividuelle Texturtypen, als Typen strukturierter Inhalte von subjektiven Wahmehmungserlebnissen festlegt. Die Beziehung zwischen der ersten und der zweiten Ebene des Semantikmodells, also die Repräsentation konzeptueller Einheiten als semantische Informationen, läßt sich in Anlehnung an Schwarz (1992, S. 104) durch das folgende Schema darstellen: Kon (xi-x„) <-> Sem syn (X2-X7) 13 Kon soll eine Konzepteinheit mit einer bestimmten Anzahl konzeptueller Primitiva (x r x n ) symbolisieren. Die Anzahl der Primitiva kann von Konzept zu Konzept variieren. Schwarz nimmt dieselben elementaren Informationseinheiten für Wortbedeutungen und Konzepte an, die bei der Lexikalisierung jedoch nicht alle repräsentiert werden müssen. Die mit einem syntaktischen Subkategorisierungsraster versehene Bedeutungseinheit Sem syn lexikalisiert in der Regel nur einen Teil der konzeptuellen Komponenten (X2-X7). Da beim Prozeß der Verbalisierung Konzepte derart ausschnitthaft auf eine sprachliche Form abgebildet werden, bezeichnet Schwarz (1992, S. 73) die Beziehung zwischen Konzepten und semantischen Lexikoneinheiten als selektive Verbalisierung. Semantische Einheiten beziehen ihre Inhalte aus konzeptuellen Einheiten, sind mit diesen aber nicht zu identifizieren, da sie durch ihre Bindung an syntaktische Raster einer eigenen Struktur unterliegen. Die permanent im Langzeitgedächtnis gespeicherten Lexikonbedeutungen Sem syn können in konkreten Verwendungssituationen kontextuell ausdifferenziert werden (vgl. Ebene 3 des Semantikmodells), was sich in Bierwischs Notation (1983a, S. 41) folgendermaßen darstellen läßt: sem (ct) = m Die Äußerungsbedeutung m wird als Funktion der Intension einer Lexikoneinheit sem relativ zu einem Kontext ct aufgefaßt. Das heißt, relativ zu einem bestimmten Kontext wird eine aktuelle Bedeutung der Lexikonbedeutung ausgewählt. Bierwisch (1983b, S. 86) demonstriert dies an den verschiedenen Lesarten von Schule (als Gebäude, als Institution, als Beschäftigungsart, als Institutionstyp) und zeigt, daß die lexikalische Einheit Schule kontextuell gesteuert auf verschiedene konzeptuelle Varianten einer „Konzeptfamilie“ zurückfuhrbar ist. Die mit den verschiedenen Lesarten eines Lexems verknüpften Bedeutungserklärungen lassen sich zu einer übergeordneten (Alltags-)Theorie über einen abstrakten Gegenstand zusammenfuhren. Dabei können sich aus den lesartspezifischen Bedeutungen gruppen- oder bereichsspezifisch beschränkte, möglicherweise konträre oder inkompatible Sichtweisen zu einem Gegenstandsbereich ergeben. Die mit den lesartspezifischen Bedeutungen verbundenen unterschiedlichen Extensionen können sich überlappen oder disjunkt zueinander sein und eventuell nur durch metonymisch bzw. metaphorisch motivierte Beziehungen verglichen werden (vgl. Konerding 1992, S. 363). Für die vorliegende Studie ist der Aspekt der kontextuellen Verarbeitung von Konzepten und Lexikonbedeutungen von besonderer Wichtigkeit. Die dem Diskurs zur deutschen Einheit zugeordneten Texte wurden daraufhin unter- 14 sucht, wie bestimmte zentrale lexikalische Einheiten diskursadäquat vertextet werden. Dabei ist weniger das Problem der Vagheit und kontextuellen Disambiguierung von Interesse, sondern vielmehr die kontextuell und situativ bedingte Variabilität von Bedeutungen. Diese Variabilität wird erklärbar, wenn der Inhalt eines Konzepts als durch eine Menge von Variablen charakterisiert verstanden wird, die mit Erfahrungswerten besetzt sind. Auf diese Weise wird die Menge der Instanzen festgelegt, die dem Konzept zugerechnet werden können. Konzeptuelle Einheiten fungieren demzufolge zum einen wie Prozessorkomponenten, sie steuern die Welt- und Wissenserfahrung und reduzieren die Komplexität und Heterogenität der Umweltreize (vgl. Schwarz 1992, S. 64). Andererseits ermöglicht diese Variabilität den flexiblen Einsatz der lexikalischen Entsprechungen konzeptueller Einheiten. Die Variablen (Slots) werden in Verstehensprozessen mit konkreten Werten (Fillers) besetzt, was vom Sprecher gezielt durch die Verwendung bestimmter Kontextpartner und somit durch eine kontextuelle Voreinstellung des Verarbeitungsprozesses beeinflußt werden kann. Auf diese Weise können Sprecher im Rahmen einer Sprachgemeinschaft durch gezielte kontextuelle Einbettung sprachlicher Einheiten dazu beitragen, Bedeutungen auszuhandeln (vgl. Lutzeier 1985, S. 128; Harras 1991, S. 26/ 29f ). Die kontextuelle Bedeutungskonstitution läuft jedoch in der Regel nicht bewußt ab. „Obwohl das Individuum seine Begriffe aktiv konstmiert, in der ständigen Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt fortlaufend differenziert und korrigiert, mit ihnen also seine Realität aufbaut und interpretiert, ... (ist) ihm sein begriffliches Verständnis (nicht) notwendigerweise bewußt ... Bewußtheit über seine Begriffe (kann das Individuum nur dann erlangen), wenn es ihm gelingt, sie durch andere Begriffe zu rekonstruieren.“ (Wannenmacher/ Seiler 1985, S. 194). Der situative und sprachliche Kontext hat also in doppelter Weise Einfluß auf die Aktualisierung von Bedeutungen: Einerseits steuert er die Aktualisierung bestimmter konzeptueller Strukturen (vgl. Jackendoff 1983, S. 63/ 140; Wannenmacher/ Seiler 1985, S. 195). Andererseits kann er die den Lexikalisierungen zuzuordnenden konzeptuellen Einheiten modifizieren (vgl. Johnson-Laird 1989, S. 474). In Übereinstimmung mit dem bisher Gesagten basieren die hier vorgelegten Untersuchungen mit Schwarz (1992, S. 91/ 110) auf folgenden Annahmen über die Struktur von Bedeutungseinheiten und über aktuelle Äußerungsbedeutungen: Bedeutungen sind nicht als Merkmalsmengen mit hinreichenden und notwendigen Merkmalen zu beschreiben, sondern als mentale Repräsentationseinheiten mit obligatorischen und fakultativen Bestandteilen, die durch Standard- 15 werte (Defaults) mental begrenzt werden, jedoch Optionen zulassen und daher als instanziierbare Variablen fungieren, wobei der Kontext eine wesentliche Rolle spielt. Eine konkrete Äußerungsbedeutung wird konstituiert durch die Aktivierung der semantischen Repräsentation im mentalen Lexikon, durch kontextuelle Faktoren und durch kognitive Operationen. Kontextuelle Faktoren können die Auswahl einer bestimmten Lesart beeinflussen, eine Bedeutung spezifizieren, bestimmte Bedeutungsbestandteile hervorheben oder verschieben. In diesem Rahmen kann die systembezogene lexikalische Bedeutung einer sprachlichen Einheit nur eine idealisierende linguistische Abstraktion von der Menge der Bedeutungen sein, die in einer Sprachgemeinschaft durch die Verwendung der betreffenden Wortformen in konkreten Kontexten aktualisiert werden (vgl. Lutzeier 1985, S.127; Konerding 1993, S. 118). Als zentrale Frage bleibt, in welcher Weise derart flexibel strukturierte Bedeutungen einer linguistischen Beschreibung zugänglich gemacht werden können. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder versucht, dieses Problem durch die Adaption außerlinguistischer Ansätze zu lösen, die es im Gegensatz zur traditionellen Merkmalsemantik ermöglichen, die Dynamik von Bedeutungen in den Blick zu nehmen. Hier kommen vor allem die Frame-Theorie aus der Künstlichen-Intelligenz-Forschung (vgl. Minsky 1975), die Prototypentheorie aus der kognitiven Psychologie (vgl. Rosch 1977) und die Stereotypentheorie aus der Erkenntnistheorie (vgl. Putnam 1979) in Frage. Diese in ihrer Denkungsart sehr anregenden Theorien haben die linguistische Semantik in ihrer Programmatik in den vergangenen Jahren stark beeinflußt (vgl. Fillmore 1977/ 1982/ 1985; Metzing 1980; Raskin 1981/ 1986; Jackendoff 1983; Lutzeier 1985; Lakoff 1987; Harras 1991). Bisher sind jedoch kaum Ansätze verfügbar, die diese Anregungen befriedigend in ein handhabbares linguistisches Instrumentarium überfuhren. Für die linguistische Adaption der Frame-Theorie liegt inzwischen mit Konerding (1993) ein Vorschlag vor, der es erlaubt, Phänomene der Variabilität lexikalischer Einheiten zu operationalisieren. Deshalb soll im folgenden besonders auf diesen Vorschlag eingegangen werden. 2.3 Die Methode - Frames als Darstellungsrahmen für konzeptgebundenes Wissen 2.3.1 Konerding (1993): Linguistische Fundierung einer Frame-Theorie als Theorie der Wissensdarstellung Konerding (1993) entwickelt ein Instrumentarium zur Erschließung und sprachlichen Darstellung von Wissen auf der Grundlage von Frames. Dabei 16 verwendet er den Terminus Frame nicht als alternative Bezeichnung für Konzept, sondern er bestimmt Frames als sprachliche Texte, die den rationalen Zugang zu stereotypischem Wissen ermöglichen, das an die Lexik gebunden ist. Damit knüpft er an den Frame-Begriff in der Künstlichen-Intelligenz-Forschung an (vgl. Minsky 1975; Winograd 1975), der Frames als sprachliche Texte versteht, die konzeptgebundenes Wissen detailhert zur Darstellung bringen. Konerding interpretiert Frame-Theorie als Theorie der sprachgebundenen Wissensvergegenwärtigung oder -darstellung und baut das Frame-Konzept linguistisch aus. Die sprachlichen Texte, die Frames darstellen, sind als Listen strategisch entscheidender Fragen konzipiert. Konerding bezieht sich hier auf Überlegungen von Hintikka (1985) zu einer allgemeinen Theorie des Informationserwerbs durch Befragung, die eine Explizierung stillschweigenden Wissens durch Befragung vorsieht. Die betreffenden Fragen werden deshalb als strategisch entscheidend charakterisiert, weil sie die Aktivierung und Vertextung desjenigen stillschweigenden Wissens steuern, das an eine bestimmte konzeptuelle Einheit gebunden ist und typischerweise mittels eines Substantivs einer bestimmten Lesart entsprechend benannt und klassifiziert ist. Vor diesem Hintergrund werden Fragen als zentrale Instanzen für die Vertextung von Wissen und in einem umfassenderen Sinne folgüch auch für die Textproduktion angesehen. Konerding baut hier auf Hellwig (1984) auf, der Fragen eine zentrale Rolle bei der thematisch-progressiven Textproduktion zuschreibt und dafür plädiert, Themen mit Fragestellungen gleichzusetzen (vgl. hierzu auch die Rolle der Quaestio für die Textproduktion bei von Stutterheim 1992). Konerding entwickelt ein Verfahren, das es erlaubt, Frames nicht einfach ad hoc, sondern systematisch nach durchschaubaren Kriterien und Prozeduren zu konstituieren. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, daß der sprachliche Zugang zu konzeptuellem Wissen durch Prädikationen ermöglicht wird, die in einer Sprachgemeinschaft gebräuchlich sind, d.h. die mit usuellen Benennungskontexten übereinstimmen (vgl. S. 166ff). Die Auswahl der für die Konstituierung von Frames relevanten Prädikatorenschemata wird auf der Basis der Kategorienbildung bei Ballmer/ Brennenstuhl (1986) vorgenommen. Diese Kategorien bilden das Material, um die Fragen für die Herleitung der betreffenden Frames bestimmen zu können. Dabei wird die Transformation in Fragen durch die modellspezifischen Valenzstellen der Prädikatorenschemata festgelegt. In diesem Sinne füngieren die Prädikatorenschemata als Präsuppositionen von Fragen, denn die durch die Valenzslots der Schemata festgelegten Ergänzungen und fakultativen Angaben werden über Fragen bestimmt Die 17 Slots der Frames werden also wie syntaktische Valenzstellen von Verbschemata behandelt. Konerding leitet aus dem Substantivbestand des Deutschen sogenannte Matrixframes her, die die Basis für die Konstituierung der Frames jedes beliebigen nominalen Lexikoneintrages bilden sollen. Als Systematisierungsgrundlage dient eine Typologie der Substantive, die aus Tendenzen von Hyperonymtypenreduktionen in Wörterbüchern abgeleitet werden (vgl. S. 176fF.). Hyperonyme treten in den Bedeutungserklärungen typischerweise als Hauptelement von Nominalphrasen auf. Über das Lemma des Hyperonyms wird das nächste Hyperonym identifiziert usw. So entstehen Reduktionsketten, deren Endglieder die Kandidaten für die Substantivtypen bilden. Die Reduktionskette von Flunsch zu Bereich (S. 177), die Konerding auf der Grundlage des DUW (Duden Deutsches Universalwörterbuch 1989) durch das Verfahren der Hyperonymreduktion ermittelt, soll hier kurz wiedergegeben werden. Ausgangspunkt ist der Wörterbucheintrag zu Flunsch, der in der Bedeutungserklärung das Hyperonym Mund enthält. Folglich ist der nächste relevante Wörterbucheintrag Mund. Die Bedeutungserklärung zu Mund fuhrt zum nächsten Hyperonym, zu Öffnung usw.: Flunsch, der (...) verdrießlich oder zum Weinen verzogener Mund (...) (Hyperonym: Mund) Mund, der (...) durch Unter- und Oberkiefer gebildete, durch Lippen verschließbare Öffnung im unteren Teil des menschlichen Gesichts, die zur Nahrungsaufnahme und zur Hervorbringung sprachlicher Laute dient (...) (Hyperonym: Öffnung) Öffnung, die (...) Stelle, wo etwas offen ist, etwas hinaus oder hineingelangen kann (...) (Hyperonym: Stelle) Stelle, die (...) lokalisierbarer Bereich am Körper, an einem Gegenstand, der sich durch seine besondere Beschaffenheit von der Umgebung deutlich abhebt (...) (Hyperonym: Bereich) Bereich, der (...) abgegrenzter Raum. Gebiet von bestimmter Ausdehnung (...) (Hyperonyme: Raum, Gebiet) Raum, der (...) in Länge, Breite und Höhe fest eingegrenzte Ausdehnung (...) (Hyperonym: Ausdehnung) Gebiet, das (...) unter bestimmten Gesichtspunkten in sich geschlossener räumlicher Bereich von größerer Ausdehnung (...) (Hyperonym: Bereich) 18 Ausdehnung, die (...) das Ausdehnen. Sichausdehnen (...) (Synonyme) {ausdehnen (...) sich (räumlich) erstrecken, über einen größeren Bereich ausbreiten (...)) Bei dem Hyperonym Bereich wird die Reduktion abgebrochen, da sich bei fortgefuhrten Reduktionsversuchen eine Zirkularität abzeichnet (von Bereich gelangt man zu Raum und Gebiet, von Raum zu Ausdehnung, von Ausdehnung schließlich mittelbar wieder zurück zu Bereich, Gebiet fuhrt unmittelbar auf Bereich zurück). Als Endglieder der Reduktionsketten ergeben sich bezüglich des DUW nach Konerding folgende Hyperonyme (S. 178/ 179): - Dauer / Zeitabschnitt / Zeitraum Ort / Platz / Stand / Gebiet / Bereich / Fach / Sektor / Position (innerhalb des Raumes, Geländes) etwas Masse / Substanz / Stoff Gegenstand / Ding Vorrichtung / Konstruktion / Gerät - Tier / Pflanze / Organismus / Lebewesen - Person / Mensch/ jemand / Wesen - Vorgang, Ereignis - Handlung / Handeln / Verfahren - Mitteilung - Einrichtung Form menschlichen Zusammenlebens / Bund / Verband / Vereinigung / Gruppe / Bewegung - Lehre / Lehrgebäude / Gedanken / Glaubenssystem / Kenntnis / Wissen - Teil von / Stück von / Abschnitt von / (lokalisierbarer) Bereich - Gesamtheit / Bestand / Menge / Ganze / Einheit / Zusammenstellung / Zusammenfugung / Zusammenordnung - Zustand / Beschaffenheit / Verhalten / Fähigkeit / Verfahrensweise / Hang / Neigung / Art u. Weise 19 Aus diesen Endgliedern der Hyperonymreduktionen leitet Konerding durch Übernahme von einzelnen, repräsentativ stehenden Substantiven oder durch zusammenfassende Paraphrase der jeweiligen Ähnlichkeitsgruppen von Substantiven folgende Liste von Substantivtypen ab (S. 180/ 181): Gegenstand {Konkretum) subklassifiziert in: Artefakt / Natürliche Art, subklassifiziert in: Kontinuativum / Diskontinuativum Hyperonymtyp: etwas, Ding, Gegenstand, Masse, Substanz, Stoff, Vorrichtung etc. Organismus Hyperonymtyp: Tier / Pflanze, Organismus etc. Person / Aktant Hyperonymtyp. Person (jemand = Person), Wesen Ereignis Hyperonymtyp: Vorgang, Ereignis etc. Handlung / Interaktion / Kommunikation Hyperonymtyp: Handlung, Verfahren etc. Institution / soziale Gruppe Hyperonymtyp: Institution, Einrichtung, Organ, Organisation, Verband, Gruppe, Kreis etc. fTeil der) Umvebunz (des Menschen) - Hyperonymtyp: Dauer / Zeitabschnitt / Zeitraum Ort / Platz / Stand / Gebiet / Bereich / Fach / Sektor / Position innerhalb des Raumes, Geländes etc. Teil/ Stück Hyperonymtyp: Teil, Stück etc. Gesamtheit / Bestand/ Menge Hyperonymtyp: Gesamtheit, Menge etc. 20 Zustand / Beschaffenheit / Verhalten Hyperonymtyp: Zustand, Beschaffenheit etc. (Wissen (von)) (zusätzlicher fakultativer Typ) Die ersten sieben Typen werden bei Konerding primär, die folgenden drei sekundär genannt. Sekundäre Typen zeichnen sich gegenüber primären dadurch aus, daß sie über Typen operieren (vgl. S. 182). Diese Substantivtypologie bildet die Grundlage für die Frame-Typen (bei Konerding als Matrixframes ausgewiesen), auf die die Frames für das deutsche Lexikon zurückführbar sind. Die Konstruktion der Matrixffames erfolgt schrittweise, indem zunächst über Entscheidungsfragen für jeden Substantivtyp die Menge der jeweils relevanten Prädikatorenschemata bestimmt wird. Die Prädikatorenschemata werden dann zu Gruppen zusammengefaßt und einer epistemischen Wichtung unterzogen, verglichen und mit Hilfe von Stichproben überprüft. Als Ergebnis dieser Operationen ist festzuhalten, daß die typspezifisch epistemisch wichtigen Prädikatorenschemata die folgenden Verbmodelle des Thesaurus von Ballmer/ Brennenstuhl (1986) betreffen (vgl. KonerdingS. 185/ 186): Gegenstand (für alle Subklassifizierungen): Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell Handlungsmodell (Produktionsmodell) Organismus: Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell (Lebensmodell) Person / Aktant: Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell (Lebensmodell für soziale Gruppen) Institution: Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell (Lebensmodell fur soziale Gruppen) 21 Ereignis: Eigenschaften-und-Relationen-Modell (Vorgangsmodell) Handlung: Eigenschaften-und-Relationen-Modell (Vorgangsmodell) (Handlungsmodell) Zustand: Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell Teil: Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell Ganzes: Individuen-Objekt-Existenz-Modell Eigenschaften-und-Relationen-Modell Zusammenbringen-und-Trennen-Modell Umgebung: Wird über den Typ Ganzes bestimmt Die Matrixframes werden konstruiert, indem die für den betreffenden Substantivtyp relevanten Prädikatorenschemata in Fragen transformiert, thematisch gruppiert und zusammengefaßt werden. Zur Veranschaulichung soll die Liste der Fragen vorgestellt werden, die den Matrixffame für den Substantivtyp Zustand bilden. Den Fragen ist jeweils eine Angabe zur expliziten Spezifizierung der Klasse deijenigen Prädikatoren nachgeordnet, die mit der Antwort gefordert sind (vgl. S. 199-202): Frame für den Substantivtyp Zustand (gekürzt) I. Manifestation, Äußerungsform der Eigenschaft, des Zustandes sowie Konstitutionseigenschaften und -relationen Wo (bei welchen Typen von Entitäten: Gegenständen, Organismen, Personen, Ereignissen, Handlungen, Institutionen / sozialen Gruppen, Umgebungs- 22 bestandteilen, Teilen und Gesamtheiten von den genannten Typen, anderen Zuständen / Eigenschaften) tritt die Eigenschaft, der Zustand typischerweise auf? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase der Entität? Wie lange? Auf welche Art und Weise? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung von Entitäten (Gegenständen, Organismen, Personen, Ereignissen, Handlungen, Institutionen / sozialen Gruppen, Umgebungsbestandteilen, Wissensbereichen, Teilen und Gesamtheiten von diesen und anderen Eigenschaften), bei denen der Zustand / die Eigenschaft auftritt Welche Existenzbzw.Prozeßphase welcher Entität ist betroffen? Auf welche Art und Weise tritt die Eigenschaft, der Zustand dann in Erscheinung? (Handelt es sich um eine permanente oder dispositioneile Eigenschaft? ) Unter welchen Bedingungen? Wie lange? Mit welcher Folge (für die Entität oder andere Mitspieler)? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Existenzphasen der Entität, in denen der Zustand / die Eigenschaft auftritt Wie auf welche Weise tritt die Eigenschaft, der Zustand in Erscheinung, wie ist sie ausgeprägt? (= Wie äußert sich typischerweise die Eigenschaft, der Zustand bei der betreffenden Entität? ) Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase der Entität? Wie lange? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der wahrnehmbaren oder sonstigen besonderen Eigenschaften des Zustands / der Eigenschaft Mit welchen Maßsystemen / Meßgrößen ist die Eigenschaft, der Zustand beschreibbar? Welches sind die typischen Maße? 23 Unter welchen Bedingungen? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Maße / Ausmaße des Zustands / der Eigenschaft In welchen ('funktionalen') Zusammenhängen, natürlichen Vorgängen spielt die Eigenschaft, der Zustand eine wichtige Rolle? Als was fungiert die Eigenschaft, der Zustand (in diesen Zusammenhängen)? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Wie lange? Auf welche Art und Weise? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung von natürlichen Ereignissen. in denen der Zustand / die Eigenschaft eine Rolle spielt Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung von Rollen / Funktionen. die der Zustand / die Eigenschaft in diesen Ereignissen spielt Wie ist das Erscheinungsbild der Eigenschaft, des Zustandes durch ihre Teileigenschaften, Beschaffenheiten bestimmt? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Wie lange? Auf welche Art und Weise? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Rolle der Teileigenschaften / Beschaffenheiten des Zustandes / der Eigenschaft für das Erscheinungsbild des Zustandes / der Eigenschaft In welchen (funktionalen) Zusammenhängen hat die Eigenschaft, der Zustand seinen Ursprung? Unter welchen Bedingungen entsteht, erscheint die Eigenschaft, der Zustand? (Was hat die Eigenschaft, der Zustand zur Voraussetzung? ) Auf welche Art und Weise (wie)? Aus welchem Grund? 24 Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Entstehensumstände des Zustands, der Eigenschaft Was folgt aus der Eigenschaft, dem Zustand der Entität für die funktionalen Zusammenhänge, in denen die betreffende Entität eine Rolle spielt, für diese Entität und die übrigen Mitspieler und das Bestehen und die mögliche weitere Entwicklung der (funktionalen) Zusammenhänge? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Rollen / Funktionen des Zustands / der Eigenschaft und der jeweiligen Folgen für die Ereignisse, in denen er/ sie fungiert Mit welchen anderen Eigenschaften, Zuständen tritt die Eigenschaft, der Zustand gemeinsam auf? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase der Entität? Wie lange? Auf welche Art und Weise? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Zustände / der Eigenschaften. mit denen der Zustand / die Eigenschaft gemeinsam auftritt II. Bedeutung der Eigenschaft, des Zustandes bei den betreffenden Entitäten für den Menschen Unter welchen Namen. Bezeichnungen ist die Eigenschaft, der Zustand bekannt? Welchen Bekanntheitsgrad hat die Eigenschaft, der Zustand? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Angabe von weiteren Namen für den Zustand / die Eigenschaft In welchen menschlichen Handlungen - oder für den Menschen wichtigen funktionalen Zusammenhängen spielt die Eigenschaft, der Zustand eine bestimmte Rolle, hat sie/ er eine wichtige Bedeutung? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Auf welche Art und Weise? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? 25 Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung von Handlungen des Menschen, in denen der Zustand / die Eigenschaft eine Rolle spielt Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Rollen / Funktionen. die der Zustand / die Eigenschaft in Handlungen des Menschen spielt Welche Bedeutung (welchen Stellenwert) hat die Eigenschaft / der Zustand für den Menschen (das menschliche Leben und Handeln)? Welchen spezifischen Nutzen hat die Eigenschaft, der Zustand für den Menschen? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Auf welche Art und Weise? Mit welcher Folge? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedeutung des Zustands / der Eigenschaft für den Menschen Welchen anderen Eigenschaften / Zuständen ist die betreffende Eigenschaft, der betreffende Zustand ähnlich und worin unterscheidet er sich von diesen? Wie ist die Eigenschaft, der Zustand klassifiziert? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Auf welche Art und Weise? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung von ähnlichen Zuständen / Eigenschaften, den Unterschieden zu diesen Zuständen / Eigenschaften und für allgemeine Kategorien, in die der Zustand / die Eigenschaft fällt Existieren zu der Eigenschaft, dem Zustand spezielle Theorien bzw, eingehende Beschreibungen (z.B. enzyklopädischer Art)? In welchen wichtigen Theorien spielt die Eigenschaft / der Zustand eine Rolle? Angaben von Prädikatoren zur Charakterisierung von Theorien, in denen der Zustand / die Eigenschaft eine Rolle spielt 26 Wovon kündet oder zeugt das Auftreten, Erscheinen der Eigenschaft, des Zustandes bei der betreffenden Entität? Unter welchen Bedingungen? In welcher Existenzphase welcher Entität? Auf welche Art und Weise? Aus welchem Grund? Angabe von Prädikatoren zur Charakterisierung von Informationen, die über den Zustand / die Eigenschaft vermittelt sind Eine überschaubare Systematik der Listen von Framefragen ergibt sich daraus, daß die Fragen, wie aus dem Matrixflame ZUSTAND / EIGENSCHAFT deutlich geworden ist, jeweils zu verschiedenen Dimensionen zusammengefaßt werden können. Sie steuern als strategisch sinnvolle Fragen die Aktivierung und Vertextung desjenigen stillschweigenden Wissens, das in den kulturell usualisierten konzeptuellen Einheiten gebunden ist, auf die die entsprechenden Lexeme referieren. In diesem Sinne steuern die Fragen des Matrixframes ZUSTAND / EIGENSCHAFT die Aktivierung und Vertextung des Wissens, das mit Substantiven des Typs Zustand / Eigenschaft verbunden ist. Frames geben auf diese Weise mit ihren verschiedenen Dimensionen ein Raster für die Vertextung von Wissen vor und legen das Kontextualisierungspotential eines Konzeptes fest. Die über Frage-Transformationen ermittelten Typen von Frames werden von Konerding deshalb Matrixffames genannt, weil sie Substantive verwenden, die als sortenstiftende Hyperonyme wie typenspezifische Variable fungieren {Gegenstand, Organismus, Ereignis, Zustand / Eigenschaft usw ). „Die Matrixframes können somit als Funktionen höheren Typs interpretiert werden, die erst durch Substitution von Substantiven des zulässigen Typs in konkrete Frames überfuhrt werden.“ (S. 203) Diese Überführung in konkrete Frames wird dadurch vorgenommen, daß jeweils die zulässigen Substantive anstelle der Hyperonyme eingesetzt werden. So kann z.B. der Frame für das Substantiv Identität aus dem Matrixflame ZU- STAND / EIGENSCHAFT gewonnen werden, indem das Substantiv Zustand bzw. Eigenschaft an allen Stellen seines Vorkommens innerhalb des Matrixframes durch das Substantiv Identität ersetzt wird. So werden die Fragen des Matrixframes, die sich auf Zustand / Eigenschaft beziehen, in Fragen transformiert, die Identität meinen. Inwieweit ein derartiges Framekonzept geeignet ist, Gebrauchswandel und Bedeutungsvariation zentraler lexikalischer Einheiten im Einheits-Diskurs zu beschreiben, soll in den folgenden Kapiteln gezeigt werden. 27 2.3.2 Möglichkeiten und Grenzen des Frame-Konzepts - Eine Erweiterung zur Beschreibung der Vertextung konzeptuellen Wissens Frames werden hier in der Tradition von Minsky (1975) und Winograd (1975) und in Übereinstimmung mit Konerding (1993) als sprachliche Texte verstanden, die konzeptgebundenes Wissen detailliert darstellen können. Diese sprachlichen Texte sind als Listen strategisch entscheidender Fragen konzipiert, die die Aktivierung und Vertextung des an eine lexikalische Einheit gebundenen Wissens steuern. Dabei gibt jede Frage jeweils ein bestimmtes Raster von Prädikationen vor, die als Antworten erwartbar sind. Auf diese Weise legen Frames mit ihren Listen von Fragen das Kontextualisierungspotential von Konzepten fest. Die Analyse basiert auf der Annahme, daß der sprachliche Zugang zu konzeptuellem Wissen durch in einer Sprachgemeinschaft gebräuchliche Prädikationen möglich ist, d.h. Prädikationen, die mit usuellen Benennungskontexten übereinstimmen. Der methodische Zugang ergibt sich daraus, sprachliche Spuren konzeptuellen Wissens ausfindig zu machen, indem die Prädizierungen des jeweiligen Konzeptes in Mengen von Texten erfaßt und systematisiert werden. Sprecher explizieren z.B. einen Ausschnitt ihres Wissens über die Konzepte IDENTITÄT bzw. DEUTSCHE, wenn sie formulieren Identität ist Identität drückt sich aus in Identität ist verflochten mit... bzw. die Deutschen sind ...; die Deutschen gelten als ...; die Deutschen kennzeichnet... etc. Derartige Prädizierungen können entsprechend den Dimensionen des jeweiligen Frames, hier jeweils für den Frame IDENTITÄT bzw. für den Frame DEUTSCHE, systematisch erfaßt und verglichen werden. Auf diese Weise wird es möglich, große Datenmengen mit Hilfe eines systematischen Instrumentariums auszuwerten und auf der Grundlage umfangreicher Korpusanalysen zu beschreiben, wie ein Konzept über größere Zeiträume hinweg in bestimmten Bereichen der Kommunikation von Sprechern in konkreten Texten behandelt wird und ob sich Konzeptverschiebungen andeuten. Als Listen von Fragen interpretierte Frames stellen also, indem sie durch entsprechend erwartbare Prädikationen das Kontextualisierungspotential konzeptuellen Wissens vorgeben, ein Instrumentarium zur Beschreibung sprachlicher Spuren dieses Wissens in Texten bereit. Sie repräsentieren jedoch die konzeptuelle Ebene und bilden lediglich einen Rahmen für das Potential der Vertextung von Wissen. Dementsprechend bieten sie keine methodische Basis für die Beschreibung von Strategien zur Vertextung dieses Wissens oder von Einstellungen des Sprechers zu diesem Wissen. Für die Untersuchungen ist es jedoch 28 wesentlich, diese Vertextungsaspekte einzubeziehen, denn sie verdeutlichen, auf welche Art und Weise das Kontextualisierungspotential eines Konzeptes realisiert wird und wie Sprecher sich hierbei mit bestimmten Intentionen bewußt einbringen. Sprachliche Hinweise auf Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien können Textsequenzen sein, die einen expliziten Bezug auf andere Sprecher oder auf Umfragen und Statistiken enthalten, eine Wertung des Sprechers ausdrücken oder sich auf den Grad der Gültigkeit der Aussage beziehen. Formulierungen wie z.B. es sollte niemand daran zweifeln, daß es ist hier vielfach bekräftigt worden, daß wie häufig behauptet wurde, aber äußerst fraglich erscheint ... oder modale Einfügungen wie vielleicht, tatsächlich, natürlich etc. weisen auf solche Textsequenzen hin. Diese Sequenzen drücken aus, daß Sprecher sich mit Konzepten auseinandersetzen, sich explizit gegen andere Auffassungen abgrenzen oder diese stützen, d.h. daß sie diskursiv zentrale Konzepte in der öffentlichen Kommunikation bewußt aushandeln. Da diese sprachlichen Hinweise auf Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien nicht mit Hilfe des Frame-Instrumentariums beschrieben werden können, für die Untersuchungen jedoch wesentlich sind, wurde für die Analyse neben den Variablen x, y und z, die die Slots der Prädikate vertreten, eine Variable s eingeführt, die für Kontexthinweise auf Sprechereinstellungen im weitesten Sinne steht. Auf diese Weise kann nicht nur erfaßt werden, welche Prädizierungen der entsprechenden Konzepte Sprecher in bestimmten Bereichen der Kommunikation vornehmen, sondern wenn sie es sprachlich explizieren auch wie sie zu diesen Aussagen stehen, d.h. ob und wie sie sich auf einen anderen Sprecher beziehen, ob sie die Gültigkeit der Aussage in Zweifel ziehen, ob sie eine allgemein anerkannte Aussage machen bzw. einen Stereotyp realisieren etc. Kontexthinweise dieser Art können auf der Grundlage der Korpusuntersuchungen folgendermaßen systematisiert werden: I.) Bezug auf Äußerungen anderer Sprecher I.a) Berufüng auf andere, oft prominente Sprecher - Generalsekretär Gorbatschow stellte fest - und der Kanzler stimmte ihm zu -, daß... - Friedrich Schorlemmerplädierte dafür, daß... - Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz vertrat kürzlich in einer Fernsehdiskussion die Meinung... von Brecht stammt die Beobachtung, daß... - ... wie Kohl sagen würde - Kohl betonte: ... 29 I.b) Kommentierung, Unterstützung oder Zurückweisung von Äußerungen anderer Sprecher aus Ihrer Beschreibung gewinnt man den Eindruck... viele derjüngeren Westdeutschen äußern unverhohlen ... - ... das ist hier vielfach bekräftigt worden - ... wie oft behauptet -... erscheint höchstfraglich im Gegenteil: ... nein ich kann dem Diktum (des Münchner Historikers Christian Meier) keineswegs beipflichten... I. c) Berufung auf Statistiken, Umfragen etc. nach Jahren wachsender Distanz zu einer Utopie signalisieren neue Umfragen: ... das statistische Jahrbuch weist aus... - Umfragen belegen... sämtliche Meinungsumfragen ergeben... nach den Ergebnissen dieser Umfrage ... II. ) Formulierung der eigenen Meinung - ... davon bin ich überzeugt ich denke, daß... ich glaube nicht an das Klischee ... - ... das kann ich ohne Angst vor Widerspruch sagen ich glaube zwar..., aber ich glaube nicht... ich sehe... ich meine... - ... dessen bin ich mir absolut sicher III. ) Berufung auf Tatsachen und deren Benutzung als Argument für die eigene Meinung die Öffnung der Mauer zeigte ... - ... das haben sie nicht zuletzt injüngster Zeit bewiesen die Vereinigung bringt es an den Tag... niemand sollte außer acht lassen, daß das demokratische undfreiheitliche Deutschland in über 40 Jahren den Beweis erbracht hat, daß... die Einsicht, daß..., setzt sich nunmehr auch im Osten durch IV. ) Stellungnahme zum Grad der Gültigkeit der Äußerung natürlich bleibt es wahr: ... es ist wahr... natürlich... 30 immer... zu allen Zeiten ... vielleicht... wie man weiß... tatsächlich aber... zweifellos... schon immer... - ... daran ist kein Zweifel möglich es wird nicht bestritten werden können... tatsächlich ... im Gegensatz zur verbreiteten Meinung V.) Bewertung kaum läßt ein Disput, um die deutschen Dinge kreisend, Tagesaktualitäten hinter sich, hat Friedrich Nietzsche Hochkonjunktur... wer glaubt, ..., der irrt sich Diese Kontexthinweise auf Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien werden in die Analyse einbezogen. Dadurch wird erreicht, daß nicht nur die Vertextung konzeptgebundenen Wissens, sondern auch direkte und indirekte Stellungnahmen der jeweiligen Sprecher zu diesem Wissen und intertextuelle Bezüge im Diskurs beschrieben werden können. 3. Fallbeispiel I: IDENTITÄT Im Einheitsdiskurs finden sich viele Hinweise darauf, daß IDENTITÄT ein für die thematische Ausdifferenzierung des globalen Diskursthemas wesentliches Konzept ist, das von den Sprechern problematisiert und ausgehandelt wird. Viele Textsequenzen enthalten Aussagen darüber, was Sprecher unter Identität verstehen bzw. wie Rezipienten Identität interpretieren sollen. Dabei beziehen sich die Sprecher oft, z.T. ganz explizit auf Aussagen anderer Sprecher, die sie unterstützen, anzweifeln oder revidieren. So tragen sie zum Aushandeln des Konzeptes bei und stellen inhaltliche Bezüge zwischen verschiedenen Texten des Diskurses her: Wir suchen die deutsche Identität nicht hinten, im Gegebenen, in der Kontinuität deutscher Geschichte, wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflich falsch sagt, sondern in unserer besonderen Verantwortung. (36. VT 20.9.90, 1745) 31 Weder der „Verfassungspatriotismus“ des Westens noch der „Sozialismus“ im Osten Deutschlands nehmen entgegen dem Votum Christian Meiers eine identitätsstiftende oder Identität absichernde Rolle ein. (FA 12.1.90, 28) Auch der Umgang der Medien oder einzelner anderer Sprecher mit dem Thema IDENTITÄT wird von den Sprechern kommentiert, d.h. sie stellen fest, daß IDENTITÄT ein Thema der öffentlichen Diskussion geworden ist, oder sie polemisieren gegen vermeintliches Wissen über IDENTITÄT: Wir erleben in diesen Wochen und vor allem in den letzten Tagen eine, nie es in einer Zeitung formuliert worden ist, Renaissance der nationalen Identität der Deutschen. (BTP Bd. 150, Sitzung Nr. 158, 14.9.1989, 12039) Hier bezieht sich der Sprecher explizit auf eine Zeitungsformulierung, in der festgestellt wird, daß IDENTITÄT ein Thema geworden ist, und schließt sich dieser Auffassung an. In einem anderen Text mutmaßt der Sprecher über allgemeine Überzeugungen zu IDENTITÄT: Daß in einem Gezeitenwechsel die kollektive Identitätssuche einsetze, scheint allgemeine Überzeugung iu sein. (RM 20.4.1990, 3) Oder, in einem anderen Text, wird gegen vermeintliches Wissen über IDENTITÄT polemisiert: Dabei kam heraus, daß jedermann im Lande, von der Bundestagspräsidentin bis zum Bochumer Oberbürgermeister, zu wissen scheint, was „Identität“ eigentlich ist. (FA 1.10.1990, 37) Bereits dieser erste empirische Zugriff zeigt, daß IDENTITÄT im Einheitsdiskurs auf besondere Weise thematisiert und problematisiert wird. Dies soll im folgenden genauer gezeigt und systematisch beschrieben werden. 3.1 Die Erschließung von Bedeutungswissen über IDENTITÄT In einem ersten Schritt soll das Wissen expliziert werden, das durchschnittliche Sprecher der deutschen Sprachgemeinschaft vor 1989 mit der Wortmarke Identität verbunden haben. Dieser Schritt ist notwendig, um in den nachfolgenden Kapiteln zeigen zu können, wie IDENTITÄT im Einheitsdiskurs kontextuell verarbeitet wird, d.h. welche Elemente konzeptgebundenen Wissens über IDENTITÄT von den Sprechern verbalisiert werden und welche Veränderungen in dieser Hinsicht im Vergleich zur öffentlichen Kommunikation vor der deutschen Vereinigung nachweisbar sind. 32 3.1.1 Wörterbucheintrag und Verwendungsweise Bedeutungen, die in einer Sprachgemeinschaft etabliert sind, können in einem ersten schnellen Zugriff über Wörterbücher erfragt werden. Bedeutungserklärungen in Wörterbüchern stellen jedoch auch eine problematische Quelle dar unter dem Aspekt der diachronischen Betrachtung, weil sie lexikographische Aussagen über lexikalische Einheiten, die an sich dynamische Entitäten sind, konservieren, und unter synchronischen Gesichtspunkten, weil sie nur einen Teil des Wissens angeben können, das in einer Sprachgemeinschaft mit einer lexikalischen Einheit verbunden wird. Dieser Teil des Wissens wird durch Wörterbücher für eine bestimmte Phase der Sprachentwicklung festgeschrieben, neuere Varianten und Tendenzen der Sprachverwendung, die sich allmählich in einer Sprachgemeinschaft etablieren, finden erst relativ spät Berücksichtigung. Um das Wissen über eine lexikalische Einheit umfassender und systematischer erfassen und um die reale Sprachverwendung einbeziehen zu können, werden deshalb darüber hinaus korpusbasierte Untersuchungen zur Verwendungsweise von IDENTITÄT angestellt. Der Wörterbucheintrag soll als ein erster Zugriff am Anfang stehen. Der DU- DEN (Deutsches Universalwörterbuch 1989, S. 751) gibt für Identität drei Bedeutungsvarianten an: l.a) Echtheit einer Person oder Sache; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird: jemandes Identität feststellen-, l .b) (Psych.) als Selbst erlebte innere Einheit der Person: seine Identität finden, suchen; 2) völlige Übereinstimmung mit jemandem, etwas, in bezug auf etwas; Gleichheit: die Identität des Verhafteten mit dem Entführer; die chemische Identität des Theins und des Koffeins. Ein Vergleich mit älteren DUDEN-Ausgaben zeigt, daß sich diese Bedeutungserklärung in den vergangenen Jahrzehnten nicht wesentlich verändert hat. Um die Realität dieser lexikographischen Bedeutungsbeschreibung zu überprüfen, wurden die Verwendungsweisen von Identität in literarischen und Medientexten der fünfziger, sechziger, siebziger und achtziger Jahre verglichen, die in älteren Mannheimer Korpora des IdS erfaßt sind. Dabei fällt auf, daß Identität in den Medientexten der fünfziger bis siebziger Jahre relativ selten 33 verwendet wurde. Mit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nimmt die Frequenz in westdeutschen Zeitungstexten deutlich zu. Die Verwendungsweisen von Identität in den Korpus-Texten der letzten vierzig Jahre lassen sich zu folgenden drei Lesarten zusammenfassen: 1) Identität als ‘juristische Feststellung einer Person’ Diese Lesart tritt häufig in folgenden syntaktischen Verknüpfungen auf: jemandes Identität feststellen, überprüfen, herausfinden, kennen oder nicht kennen. Identität in diesem Sinne meint äußere Identität, d.h., einer Person werden durch eine andere Person oder durch eine Institution persönliche Daten zugeschrieben. 2) Identität als ‘Selbstverständnis’ 2,a) Diese Lesart wird häufig in folgenden syntaktischen Verknüpfungen verwendet: jemand sucht / findet / verliert seine Identität, jemandes Identität als etwas. Identität in diesem Sinne meint innere Identität einer Person, d.h. das Bewußtsein vom eigenen Wesen, vom inneren Ich. In der Variante jemandes Identität als etwas wird ein Teil dieses inneren Selbst hervorgehoben (z.B. jemandes Identität als Deutscher / als Jude/ als Sohn von x / als Mitglied einer Gemeinschaft) 2.b) Mit den achtziger Jahren wird Identität in der alten Bundesrepublik verstärkt nicht mehr nur auf Individuen, sondern auch auf Gruppen von Individuen bezogen. Dadurch verändert sich die Betrachtungsperspektive, so daß nicht mehr die Befindlichkeit eines Individuums in Bezug auf eine Gruppe, auf eine Gemeinschaft oder auf in bestimmter Weise gleichartige Individuen fokussiert wird (im Sinne von die Identität von x alsy. z.B, jemandes Identität als Mann, als Deutscher), sondern die Befindlichkeit der Gruppe oder Gemeinschaft selbst (im Sinne von die Identität der y. z.B. die Identität der Männer, der Deutschen). 3) Identität als ‘Übereinstimmung zweier Objekte’ Diese Lesart wird meist in der syntaktischen Form Identität von x undy verwendet Identität in diesem Sinne meint das Ergebnis einer Vergleichshandlung, die Merkmale von Objekten auf Übereinstimmung überprüft. 34 Diese drei Lesarten von Identität bestätigen zum Teil den Wörterbucheintrag, fuhren jedoch auch dessen Problematik vor Augen. Ein wesentliches Defizit des Wörterbuchs ist es, daß die in den Texten der 80er Jahre festgestellte Verschiebung der Betrachtungsperspektive, die zu einer weiteren Gebrauchsvariante fuhrt (vgl. 2.b), nicht berücksichtigt wird. Es ist naheliegend anzunehmen, daß das Bedeutungswissen zu IDENTITÄT in einer Konzeptfamilie organisiert ist, die die oben genannten drei Lesarten umfaßt. Alle drei Lesarten werden im Einheitsdiskurs aktualisiert. Im direkten Zusammenhang mit dem globalen Diskursthema DEUTSCHE EINHEIT spielt jedoch IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS eine besondere Rolle, die sich nicht nur aus der häufigen Verwendung dieser Lesart ergibt, sondern vor allem aus der Art und Weise der Verwendung. Wie bereits an anderer Stelle festgestellt wurde, deutet die Verwendungsweise dieser Lesart auf eine Problematisierung des rDENTITÄTs-Konzepts hin. Dabei wird gerade die Variante 2.b, die sich erst mit dem Ende der 80er Jahre in der öffentlichen Kommunikation der Bundesrepublik allmählich etabliert hat, oft verwendet und kommunikativ ausgebaut. Häufige Kontextualisierungen beziehen sich z.B. auf: die Identität von Mann und Frau im geschlechterspezifischen Rollenverhalten {die Identität der Männer, die Identität der Frauen) die Identität nationaler Gruppen in einer multikulturellen Gesellschaft {die Identität der Deutschen, die Identität der Türken, die Identität der Juden) die Identität eines Volkes vor dem Hintergrund seiner Geschichte {die nationale Identität der Deutschen). Weil wie eben gezeigt wurde die Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄND- NIS im Einheitsdiskurs eine besondere Rolle spielt, soll sie für die weiteren Untersuchungen im Mittelpunkt stehen. 3.2 IDENTITÄT in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 In den bisherigen Ausführungen wurden der Wörterbucheintrag und ein grober Überblick über die Verwendungsweisen von Identität in Texten der 80er Jahre als ein erster Zugang zu Wissen über IDENTITÄT angesetzt, das bei durchschnittlichen Sprechern vor 1989 vorausgesetzt werden kann. Im weiteren werden sehr viel umfassendere und detailliertere Informationen hergeleitet, indem aus der Menge der Kontextualisierungen diejenigen genauer betrachtet werden, die IDENTITÄT an der syntaktischen Oberfläche prädizieren oder deren 35 Prädizierung aus der syntaktischen Oberfläche hergeleitet werden kann. D.h., es werden die Kontexte betrachtet, die Formen enthalten wie Identität ist Identität meintIdentität entsteht durch .... jemand bezieht Identität aus..., jemand findet Identität in ... Solche Kontexte enthalten Aussagen darüber, welche Elemente semantischen Wissens Sprecher mit IDENTITÄT verbinden. Sie enthalten Aussagen darüber, was Sprecher unter IDENTITÄT verstehen, welche Voraussetzungen und Bedingungen sie für IDENTITÄT sehen, welche Eigenschaften sie mit IDENTITÄT verbinden etc. In den untersuchten Medientexten der Jahre 1985-1988 wird IDENTITÄT in folgender Weise mit Prädikaten verknüpft: Identität ist das entscheidende Problem für die Deutschen von heute, von morgen und von übermorgen (Identität ist das entscheidende Problem für die Deutschen von heute, von morgen und von übermorgen) (stem 27,8.87,21) heißt wissen, was man mit sich selbst vorhat, woher man kommt, welches die eigene Vergangenheit ist und was diese Vergangenheit einem zu sagen hat (Identität, so sagt der Psychologe Erik H. Erikson, heißt wissen, was man mit sich selbst vorhat, woher man kommt, welches die eigene Vergangenheit ist und was diese Vergangenheit einem zu sagen hat) (Zt 26.4.85,3) daß die Gegenwart der Bundesrepublik nicht ausreicht, um zu erklären, warum dieser Staat so und nicht anders ist und weshalb die deutsche Frage sich in dieser Form stellt (nationale Identität heißt in diesem Zusammenhang, daß die Gegenwart der Bundesrepublik nicht ausreicht, um zu erklären, warum dieser Staat so und nicht anders ist und weshalb die deutsche Frage sich in dieser Form stellt) (Zt 26.9.86,7) meint deutsche Nation, deutsche Sprache (deutsche Identität gemeint ist damit auch das für Brieger unerledigte Thema der deutschen Nation, der deutschen Sprache) (MM 12.3.88,48) 36 ist zu erklären wird gesehen in wird gesucht in entsteht durch wird erreicht wird aufgebaut/ gefestigt durch wenn man die historischen Entwicklungsbedingungen kennt (die Identität der Deutschen ist nur dann hinreichend zu erklären, wenn man ihre historischen Entwicklungsbedingungen kennt) (Zt 26.9.86,7) der Tradition der demokratischen Linie der deutschen Geschichte (... daß manche Fernsehredakteure deutsche nationale Identität ausschließlich in der Tradition der demokratischen Linie der deutschen Geschichte sehen) (Zt 4.1.85,14) der Familie (ich suche meine Identität auch in der Familie) (Zt 25,1.85,10) innere Verarbeitung frühkindlicher Konflikte (Freud hat eine Entwicklungspsychologie entworfen, die sich auf die innere Verarbeitung frühkindlicher Konflikte beschränkt; so entsteht Identität) (Zt 6,9.85,31) im Kontakt mit anderen, der Berührung und Grenzziehung zu gleich ist (Im Kontakt mit anderen, der Berührung und Grenzziehung zu gleich ist, entsteht Identität) (Zt 17.487,70) wenn der eigene Platz im Kontext des sozialen Gefüges und im historischen Kontinuum gefunden ist (Wird Identität schon erreicht, wenn der eigene Platz im Kontext des sozialen Gefüges und im historischen Kontinuum gefunden ist, wie er es in seiner Identitätstheorie formuliert? ) (Zt 17,4.87,70) Spurensuche in ihrer Vorgeschichte (seine Figuren sehnen sich nach Identität, einer Identität, die sie durch Spurensuche in ihrer Vorgeschichte aufzubauen und zufestigen versuchen) (Zt 8,11.85,1) 37 wird gestiftet durch wird gesichert wird bezogen aus die Bindungen der Bundesrepublik an den Westen und die Wertegemeinschaft des Westens; die Absage an jeden deutschen Sonderweg (Die Bindungen der Bundesrepublik an den Westen und die Wertegemeinschafi des Westens seien irreversibel und „ Teil unserer Staatsräson ", hat Kohl in „ Time “ erläutert. So entspricht es auch seiner Überzeugung. Dies und die Absage an jeden deutschen Sonderweg stiftet in seinen Augen geradezu unsere Identität) (Zt 3.5.85,4) nationale Geschichte (entweder hat man eine nationale Geschichte, die die Gemeinsamkeit und Identität stiftet, oder man hat keine) (stem 5,11.87,321) Technik und Fortschrittsbewußtsein (einerseits stifteten Technik und Fortschrittsbewußtsein in besonderem Maße Identität, als Mechanismus der Vergangenheitsabwehr) (Zt 2.1.87,4) für die einen durch das Vergessen, für die anderen durch das Erinnern (für die einen stiftet das Vergessen Identität, für die anderen das Erinnern) (Zt 2,1,87,4) durch Rückbindung an die Ahnen (im selben Sinn, wie diese Rückbindung an die Ahnen die eigene Existenz und Identität dauerhaft sichert) (MM 2.4.87,52) ihrer Tätigkeit oder einem Beruf (niemals werden geistig Behinderte Selbstwertgeftihl und Identität aus ihrer Tätigkeit oder einem Beruf beziehen können wie Normale) (Zt 25,10.85,94) dem Versuch, die Nazijahre nicht zu verdrängen (früher bezog die Linke solche Identität aus dem Versuch, die Nazijahre nicht zu verdrängen) (Zt 28,2.86,48) Gefahr (die Gefahr werde sich als eine Kraft erweisen, die unsere kulturelle Identität prägt) (Zt 26,9.86,92) wird geprägt durch 38 ist verflochten mit wird gefunden ist verwoben mit wird gefährdet durch Tradition und Geschichte (wie sich verhalten zu der Tradition und zu der Geschichte, mit der die eigene Identität und die der Kinder und Kindeskinder unauflöslich verflochten bleibt? ) (Zt 17.5.85,57) in einem angenehmen, sicheren und einvemehmlichen Leben (ihre Bürger finden ihre Identität in einem angenehmen, sicheren und einvernehmlichen Leben) (Zt 6.12.85,54) in einer staatlichen Ordnung wo ein Volk seine nationale Identität in einer staatlichen Ordnung gefunden hat) (Zt 6,12.85,54) in dem Befragen der Landschaft und der Tiere (das lyrische Ich findet seine Identität im Befragen der Landschaft und der Tiere) (MM 2,2.85,72) wenn sie sich in bewußter Erinnerung von der verdrängten und damit fortdauernden Kontinuität der Hitlerschen Barbarei nach innen und nach außen freimacht (die Bundesrepublik wird zu einer solchen Identität nur finden können, wenn sie sich in bewußter Erinnerung von der verdrängten und damit fortdauernden Kontinuität der Hitlerschen Barbarei nach innen und nach außen freimacht) (Zt 3.5.85,6) einem geschichtlichen Milieu, das uns erst zu dem macht hat, was und wer wir heute sind (unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein geschichtliches Milieu, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität sowohl als Individuen wie als Deutsche unauflöslich verwoben ist) (Zt 7,11.86,12) Verpflanzung in ein anderes Land (er mag geglaubt haben, daß die Verpflanzung in ein anderes Land seine Identität gefährden würde) (MM 12.9.85,40) 39 zu Identität gehört Nationalität (Nationalität gehört zu Identität) (Zt 30.8.85,36) Mangel an Identität ist Ursache für Aggressivität (Mangel an Identität war oft Ursachefür Aggressivität) (Zt 17.5.85,58) Frage nach Identität hängt zusammen mit der Frage nach dem Ich (faszinieren ihn Fragen nach der sogenannten deutschen Identität. Die hängen für ihn offenbar zusammen mit der Frage nach dem Ich) (MM 12.3.88,48) Frage nach Identität ist ein wichtiges Problem (die Frage nach der Identität der Deutschen, die Spannung zwischen Verfassungs- und Nationalpatriotismus das sind Probleme, die zu wichtig sind, als daß sie es verdient hätten, auf Stichworte für ideologische Kampfzwecke verkürzt zu werden) (Zt 26.9.86,7) indirekte Verknüpfung mit Prädikaten: Identität ist die Möglichkeit, zu sich selbst zu stehen (Im Hintergrund der Störungen der Identität (die Möglichkeit, zu sich selbst zu stehen) steht die Scham der Opfer, überlebt zu haben) (MM 9.3.85,17) das So-und-nicht-anders-Sein (das So-und-nicht-anders-Sein, oder einfacher: die Identität der Deutschen ist nur dann hinreichend zu erklären, ...) (Zt 26,9.86,7) Nicht-Identität ist Selbstverleugnung (... machte sich auf die Suche nach Nicht-Identität und beschrieb eine in Italien herrschende Selbstverleugnung) (Zt 17,5.85,58) seine Identität behalten heißt sich wehren können (nur jemand, der sich wehren kann, ist in der Lage, seine Identität zu behalten) (Zt 26,9.86,43) 40 Die hier zusammengestellten Kontextualisierungen von IDENTITÄT verbalisieren Ausschnitte des Wissens, das Sprecher in den 80er Jahren mit der Wortmarke Identität verbinden. Somit explizieren diese Prädizierungen von IDENTITÄT einen Teil des semantischen Wissens, das für durchschnittliche Sprecher über IDENTITÄT vorausgesetzt werden kann. Der Teil des stillschweigenden Wissens über IDENTITÄT, der nicht kontextualisiert wird, kann z.T. durch Abstraktionsoperationen erschlossen werden. Eine Systematisierung und Operationalisierung dieser Daten wird erreicht, wenn die aus den Kontexten erschlossenen Aussagen der Sprecher über IDENTITÄT auf den IDENTITÄTS-Frame abgebildet werden. Diese Vorgehensweise ist methodisch schlüssig, weil der Frame als Raster für das Kontextualisierungspotential des iDENTlTÄTs-Konzepts interpretiert werden kann (vgl. Kapitel 2.3). Die Fragen des Frames fungieren als Leitfragen für die Kontextualisierung des Konzeptes. Die in den Texten Vorgefundenen Prädizierungen von IDENTITÄT werden als Antworten auf die Frame-Fragen behandelt und den verschiedenen Frame-Dimensionen zugeordnet. So kann festgestellt werden, wie das Kontextualisierungspotential von IDENTITÄT, das der Frame mit seinen Fragen vorgibt, in den Texten ausgeschöpft wurde, d.h. welche Frame-Dimensionen durch die Kontextualisierung von IDENTITÄT aktualisiert und mit Inhalt gefüllt worden sind. Die Ergebnisse dieses Untersuchungsschrittes bilden die Grundlage für den Vergleich mit der Vertextung des IDENTlTÄTs-Konzepts im Einheitsdiskurs (vgl. Kapitel 3.3). 3.2.1 Der Frame für IDENTITÄT und die kontextuelle Verarbeitung von IDENTITÄT in Medientexten der 80er Jahre Der Matrixffame für den Substantivtyp Zustand kann für Identität konkretisiert werden, indem Zustand jeweils durch Identität substituiert wird. Gleichzeitig werden Teile des Matrixframes eliminiert, die für die Anwendung auf Identität nicht relevant sind. Die verbleibenden Fragen des Frames beziehen sich nunmehr auf Identität. Im Ergebnis dieser Operationen wird für den iDENTITÄTs-Frame ein Gerüst von Fragen gewonnen, das das Potential für die Kontextualisierung umreißt. Die in den Texten Vorgefundenen Kontextualisierungen können den Frame-Fragen als Antworten zugeordnet werden. So wird darstellbar, welche Potentiale des Frames in den Kontexten auf welche Weise aktualisiert werden und welche frei bleiben. Folgende Variablen und Zeichen werden verwendet: — y und z sind jeweils die Variablen für Aussagen über IDENTITÄT; 41 x ist jeweils die Variable für Individuen bzw. Individuengemeinschaften oder Institutionen, denen IDENTITÄT zugeschrieben wird; s ist die Variable für sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne; durch Anstrich wird jeweils eine neue Füllung der Slots eines Prädikates eingeleitet. Abbildung der Kontextualisierungen von IDENTITÄT in den Texten der 80er Jahre auf den Frame von IDENTITÄT (in der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS): I. Äußerungsform von Identität sowie Konstitutionseigenschaften und -relationen La) Wo (bei welchen Gegenständen, Organismen, Personen, Ereignissen, Handlungen, Institutionen / sozialen Gruppen, anderen Zuständen / Eigenschaften) tritt Identität typischerweise auf? Der Zustand der Identität wird menschlichen Individuen {meine Identität), Gruppen, z.B. politischen Gruppierungen {die Identität der Linken) oder nationalen Gemeinschaften {die Identität der Deutschen, nationale Identität) und Institutionen, z.B. der Institution Staat {Bundesrepublik) zugeschrieben. I.b) Welche Existenzphase der Individuen oder Individuengemeinschaften ist betroffen? Auf welche Art und Weise tritt Identität dann in Erscheinung? Handelt es sich um einen permanenten oder dispositionellen Zustand? Identität ist kein permanenter Zustand, sondern an bestimmte Bedingungen gebunden: IDENT wird erreicht, wenn y y: wenn der eigene Platz im Kontext des sozialen Gefüges und im historischen Kontinuum gefunden ist (Zt 17.4.87,70) x findet zu IDENT, wenn y x: die Bundesrepublik y: wenn sie sich in bewußter Erinnerung von der verdrängten und damit fortdauernden Kontinuität der Hitlerschen Barbarei freimacht (Zt 3.5.85,6) 42 nur x ist in der Lage, IDENT(xi) zu behalten x: jemand, der sich wehren kann Xi: seine Identität (Zt 26.9.86,43) durch bestimmte Umstände gefährdet: y gefährdet EDENT(x) s: Furtwängler fühlte sich tief in seiner Vergangenheit verwurzelt, und er mag geglaubt haben, daß x: seine Identität y: die Verpflanzung in ein anderes Land (MM 12.9.85,40) I.c) Wie auf welche Weise tritt Identität in Erscheinung, wie ist sie ausgeprägt? Wie äußert sich Identität typischerweise bei den betreffenden Individuen oder Individuengemeinschaften? IDENT(x) ist y y: die Möglichkeit, zu sich selbst zu stehen (MM 9.3.85,17) x: die Identität der Deutschen y: das So-und-nicht-anders-Sein (Zt 26.9.86,7) IDENT(x) heißt y s: so sagt der Psychologe Erik H. Erikson y: wissen, was man mit sich selbst vorhat, woher man kommt, welches die eigene Vergangenheit ist und was diese Vergangenheit einem zu sagen hat (Zt 26.4.85,3) x: nationale Identität y: daß die Gegenwart der Bundesrepublik nicht reicht, um zu erklären, warum dieser Staat so und nicht anders ist und weshalb die deutsche Frage sich in dieser Form stellt (Zt 26.9.86,7) IDENT manifestiert sich in y y: im Design (Zt 9.8.85,38) 43 NICHT-IDENT ist y y: Selbstverleugnung (Zt 17.5.85,58) I.d) Mit welchen Maßsystemen / Meßgrößen ist Identität beschreibbar? Welches sind die typischen Maße bzw. Ausmaße? kein Eintrag I.e) In welchen (funktionalen) Zusammenhängen, natürlichen Vorgängen spielt Identität eine wichtige Rolle? Welche Rollen / Funktionen hat Identität in diesen Zusammenhängen? IDENT(x) ist verflochten mit y x: die eigene Identität und die der Kinder und Kindeskinder y: Tradition und Geschichte (Zt 17.5.85,57) IDENT(x) ist verwoben mit y x: unsere Identität sowohl als Individuen wie als Deutsche y: geschichtlichem Milieu, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind (Zt 7.11.86,12) zu IDENT gehört y y: Nationalität (Zt 30.8.85,36) y prägt IDENT(x) s: der Bamberger Soziologe Ulrich Beck argumentiert x: unsere kulturelle Identität y: Gefahr (Zt 26.9.86,92) mit IDENT(x) ist gemeint y x: deutsche Identität y: deutsche Nation, deutsche Sprache (MM 12.3.88,48) IDENT(x) ist nur dann zu erklären, wenn y x: die Identität der Deutschen y: wenn man die historischen Entwicklungsbedingungen kennt (Zt 26.9.86,7) 44 y sieht IDENT(x) in z x: deutsche nationale Identität y: manche Femsehredakteure z: in der Tradition der demokratischen Linie der deutschen Geschichte (Zt 4.1.85,14) Frage nach IDENT(x) hängt zusammen mit y s: ihn fasziniert x: sogenannte deutsche Identität y: Frage nach dem Ich (MM 12.3.88,48) I.f) Wie ist das Erscheinungsbild von Identität durch Teileigenschaften, Beschaffenheiten bestimmt? kein Eintrag I.g) In welchen (funktionalen) Zusammenhängen hat Identität ihren Ursprung? Unter welchen Bedingungen entsteht Identität? IDENT entsteht durch/ in y s: Freud hat eine Entwicklungspsychologie entworfen, die sagt, y: durch innere Verarbeitung frühkindlicher Konflikte (Zt 6.9.85,31) y . im Kontakt mit anderen, der Berührung und Grenzziehung zugleich ist (Zt 17.4.87,70) x bezieht IDENT aus y x: normale Menschen y: aus ihrer Tätigkeit oder ihrem Beruf (Zt 25.10.85,94) x: die Linke y: aus dem Versuch, die Nazijahre nicht zu verdrängen (Zt 28.2.86,48) y stiftet IDENT(x) s: so entspricht es der Überzeugung des Kanzlers (Kohl) x: unsere Identität y: die Bindung der Bundesrepublik an den Westen, die Wertegemeinschaft des Westens und die Absage an jeden deutschen Sonderweg (Zt 3.5.85,4) 45 y: nationale Geschichte (stem 5.11.87,321) y: Technik und Fortschrittsbewußtsein (Zt 2.1.87,4) y: für die einen das Vergessen, für die anderen das Erinnern (Zt 2.1.87,4) x sucht IDENT(xi) in y x: ich Xi: meine Identität y: in der Familie (Zt 25.1.85,10) x findet IDENT(xi) in y x: die Bürger xi: ihre Identität y: in einem angenehmen, sicheren und einvemehmlichen Leben (Zt 6.12.85,54) x: ein Volk xi: seine nationale Identität y: in einer staatlichen Ordnung (Zt 6.12.85,54) y sichert IDENT y: Rückbindung an die Ahnen (MM 2.4.87,52) x festigt und baut IDENT durch y auf x: seine Figuren y: Spurensuche in ihrer Vorgeschichte (Zt 8.11.85,1) I.h) Was folgt aus Identität der Individuen oder Individuengemeinschaften für die funktionalen Zusammenhänge, in denen die betreffenden Individuen oder Individuengemeinschaften eine Rolle spielen? Mangel an IDENT ist Ursache für y y: Aggressivität (Zt 17.5.85,58) 46 I. i) Mit welchen anderen Eigenschaften, Zuständen tritt Identität gemeinsam auf? kein Eintrag II. Relevanz des Auftretens von Identität für den Menschen Il.a) Unter welchen Namen, Bezeichnungen ist Identität bekannt? Identität wird in den untersuchten Texten oft in Zusammenhang gebracht mit Selbstwertgefühl, Selbstgefühl, Selbstbewußtsein, Selbstwahmehmung, Selbstverständnis und Selbstachtung. Il.b) In welchen menschlichen Handlungen - oder für den Menschen wichtigen fünktionalen Zusammenhängen spielt Identität eine bestimmte Rolle, hat sie eine wichtige Bedeutung? Identität spielt eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Tradition, Geschichte, Vergangenheit, Sprache, Nation und Nationalität der Bindung an eine Wertegemeinschaft der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ich, mit frühkindlichen Konflikten, mit der Familie, mit Tätigkeit und Beruf der Suche nach dem eigenen Platz im Kontext des sozialen Gefüges und im historischen Kontinuum - Erinnern und Vergessen II.c) Welche Bedeutung (welchen Stellenwert) hat Identität für den Menschen (das menschliche Leben und Handeln)? IDENT ist y y: das entscheidende Problem für die Deutschen von heute, von morgen und von übermorgen (stem 27.8.87,21) Frage nach EDENT(x) ist y x: die Identität der Deutschen y: Problem, das zu wichtig ist, als daß es auf Stichworte für ideologische Kampfzwecke verkürzt werden darf (Zt 26.9.86,7) II. d) Welchen anderen Eigenschaften / Zuständen ist Identität ähnlich und worin unterscheidet sie sich von diesen? kein Eintrag 47 II. e) Existieren zu Identität spezielle Theorien bzw. eingehende Beschreibungen (z.B. enzyklopädischer Art)? In welchen wichtigen Theorien spielt Identität eine Rolle? In den Kontexten wird z.T. explizit auf psychologische Theorien und deren Vertreter verwiesen: so sagt der Psychologe Erik H. Erikson; Freud; Entwicklungspsychologie; Identitätstheorie. Il.f) Wovon kündet oder zeugt das Auftreten, Erscheinen von Identität bei Individuen oder Individuengemeinschaften? kein Eintrag Die Kontextualisierungen, in denen IDENTITÄT prädiziert wird, realisieren die Frame-Dimensionen, die sich auf Bedingungen, Ursachen, Erscheinungsformen und funktionale Zusammenhänge beziehen. Nicht alle Frame-Dimensionen werden in den untersuchten Kontexten explizit durch entsprechende Prädikate besetzt. Vor allem zu den Fragen des Teils II, der sich auf die Relevanz von IDENTITÄT für den Menschen bezieht, können die Antworten nicht in jedem Falle unmittelbar aus den Prädizierungen, jedoch oft aus den weiteren Kontexten gewonnen werden. IDENTITÄT ist ein außerordentlich vielschichtiges und komplexes Phänomen, das sicherlich nicht von allen Sprechern in gleicher Tiefe erfaßt wird. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß IDENTITÄT in verschiedenen Fachgebieten als theoretische Kategorie existiert, z.B. in der Mathematik, in der Logik, in der Soziologie, in der Psychologie und in der Geschichte. Die hier behandelte Lesart setzt auf der psychologischen Kategorie auf, die ihrerseits aus dem Identitäts-Begriff der traditionellen Mathematik und Logik (Identität als völlige Gleichheit / Übereinstimmung zweier Objekte) entwickelt wurde. Die psychologische Kategorie der Identität benennt zum einen das Bewußtsein von der Kontinuität des Ich und dessen Übereinstimmung mit sich selbst, zum anderen das unbewußte Gleichsetzen der eigenen Person mit einer anderen, die als Vorbild dient und deren Verhaltensweisen zum Teil übernommen werden. Die zweite Lesart wurzelt in der Freud'schen Psychoanalyse, die Identifikation / Identifizierung als Primärvorgang beschreibt, durch den die Subjekt- Objekt-UnterScheidung aufgehoben und somit eine Gleichsetzung bewirkt wird durch Aufnahme (Introjektion) des Objekts (des anderen Menschen) ins Subjekt (ins eigene Ich) oder durch Verlegung (Projektion) des Subjekts ins Objekt. Die Texte nehmen z.T. explizit auf psychologische Theorien und deren Vertreter Bezug. Man kann jedoch sicherlich nicht davon ausgehen, daß 48 die Rezipienten alle über umfangreiches psychologisches Wissen und über die gleiche Tiefe dieses Wissens verfugen, das angeregt durch den Textverweis bei allen in gleicher Weise aktualisiert würde. Die Annahme von Bedeutungswissen eines durchschnittlichen Sprechers über IDENTITÄT ist auch deshalb problematisch, weil die LESART IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS im öffentlichen Bewußtsein der DDR nicht in gleicher Weise präsent war wie in der Bundesrepublik. Der Vergleich von ost- und westdeutschen Texten zeigt, daß diese Lesart im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik in den achtziger Jahren häufig thematisiert und problematisiert wurde, im öffentlichen Diskurs der DDR hingegen kaum. Zwar können alle drei Lesarten von Identität (‘juristische Feststellung einer Person’, ’Selbstverständnis’ und ‘Übereinstimmung zweier Objekte’) sowohl für ostdeutsche als auch für westdeutsche Sprecher als bekannt vorausgesetzt werden. Die zweite Lesart (IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS) wurde jedoch in der öffentlichen Kommuniaktion der DDR kaum verwendet, und die Verschiebung der Zuschreibungsperspektive (von jemandes Identität als Mitglied einer Gruppe/ Gemeinschaft zu Identität der Gruppe/ Gemeinschaft selbst) wurde in westdeutschen, und nicht in ostdeutschen Texten der achtziger Jahre etabliert. Dieser Befünd scheint im Widerspruch dazu zu stehen, daß Gruppenbewußtsein oder das ‘sich über eine Gruppe bzw. soziale Klasse Definieren’ im gesellschaftlichen Leben der DDR viel stärker ausgeprägt und ideologisch angestrebt war als in der Bundesrepublik. Klassen- und Gruppenzugehörigkeit wurde in der öffentlichen Kommunikation der DDR nicht unter dem Gesichtspunkt des Selbstverständnisses der Individuen der Klasse bzw. Gruppe verstanden und folglich nicht psychologisierend als Identität benannt. Vergleichbare in der DDR gebräuchliche Benennungen wie Gruppen- und Klassenbewußtsein oder Kollektivgeist fokussieren eher die Loyalität des Individuums zur Gruppe, zur sozialen Klasse bzw. zum Arbeitskollektiv und weniger dessen Befindlichkeit und Selbstwahmehmung. Es sind eher Benennungen von Phänomenen, die in ein politisch-ideologisches Begriffssystem eingebunden, und nicht wie Identität aus einer psychologischen Tradition hervorgegangen sind. Eine Übernahme psychologischer Kategorien, wie sie in bundesdeutschen Medientexten häufig zu beobachten ist, war für die öffentliche Kommunikation der DDR nicht üblich. Die Selbstwahmehmung der DDR-Bürger und damit ihre Selbstdarstellung in öffentlichen Äußerungen war nicht in so starkem Maße von psychologischen Fragestellungen geprägt wie bei den Bundesbürgern. 49 Auch in bestimmten Bereichen der öffentlichen Kommunikation der Bundesrepublik ist in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eine „Entpsychologisierung“ des IDENTlTÄTs-Konzeptes zu beobachten. IDENTITÄT wurde im Rahmen des sogenannten Historikerstreites als ‘nationale Identität’ verstanden und benannt (vgl. Türcke 1989; Teubert 1992). Diese Erweiterung und Uminterpretation wurde — wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird im Einheitsdiskurs vertieft und ausgebaut. Ausgelöst wurde die Debatte um nationale Identität im Historikerstreit durch eine erneute Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, insbesondere mit der Hitler-Zeit. In diesem Zusammenhang wurde die Frage diskutiert, woraus Deutsche ihr Nationalbewußtsein beziehen könnten und Wörter wie Nation, Patriotismus und Identität gerieten in die Diskussion. „Die einen sagen: Die Idee der Nation ist durch den Nationalismus derart kompromittiert, daß sie dem Ich einen inneren Halt nicht mehr zu geben vermag. Daher müssen andere Inhalte als Identitätsstifter aufgebaut werden: die demokratische Verfassung oder die Menschenrechte.“ (Türcke 1989, S. 93/ 94) Das eine Lager plädiert für einen Verfassungspatriotismus anstatt eines Nationalpatriotismus. „Die anderen sagen: Wohl ist die Nation kompromittiert, aber es gibt keine Alternative zu ihr. ... Also bleibt nichts als der maßvolle Wiederaufbau der Nation als Identitätsstifter.“ (Türcke 1989, S. 94) Das andere Lager setzt dem als durch die deutsche Geschichte belastet empfundenen Patriotismus die Nationale Identität entgegen. In der DDR galt Patriotismus nicht als belastet. Das Wort hatte im Gegenteil nach dem zweiten Weltkrieg in der Tradition der Arbeiterbewegung eine Aufwertung erfahren und war als Teil des Begriffspaares sozialistischer Patriotismus und proletarischer Internationalismus Ausdruck eines wesentlichen Prinzips der marxistisch-leninistischen Ideologie (vgl. Strauß/ Haß/ Harras 1989, 278). Da es in der DDR im öffentlichen Diskurs keine Unsicherheiten und negativen Auslegungen im Gebrauch von Patriotismus gab, bestand auch kein Anlaß, die Ersetzung des Wortes etwa durch nationale Identität anzustreben. Dies ist sicher neben der oben erwähnten weniger ausgeprägten psychologischen Selbstwahmehmung der DDR-Bürger einer der Gründe für die Abwesenheit von Identität im öffentlichen Diskurs der DDR vor 1989. 50 3.2.2 Zusammenfassung: Wie wurde IDENTITÄT in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens wurden verbalisiert? Aus den Kontextualisierungen der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS ergibt sich ein relativ homogenes Bild davon, was Sprecher vor 1989 unter IDENTITÄT verstehen. Die Spuren konzeptuellen Wissens, die sich mit Hilfe der Prädizierungen von IDENTITÄT in den Texten von 1985-1988 finden lassen, können mosaiksteinartig zu einem Bild zusammengefiigt werden, dessen einzelne Teile sich eher ergänzen als widersprechen. Wenn sich die Sprecher auf andere Sprecher und Äußerungen beziehen, so tun sie das referierend. Die Äußerungen oder Meinungen der anderen, oft prominente Sprecher werden als Autoritätsbeweis für die eigene Äußerung benutzt, z.B.: ... so sagt der Psychologe Erik H. Erikson; der Bamberger Soziologe Ulrich Beck argumentiertso entspricht es der Überzeugung des Kanzlers oder Freud hat eine Entwicklungspsychologie entworfen, die sagt.... Der Kernbereich des Konzeptes IDENTITÄT in der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS umfaßt folgende Aspekte: (A) IDENTITÄT kann erreicht werden durch die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Geschichte und Tradition (B) IDENTITÄT zu erreichen ist ein aktiver Prozeß (Erinnern, Verdrängtes aufarbeiten, Konflikte bewältigen, Tätigkeit, Beruf) (C) IDENTITÄT hat mit sozialen und nationalen Bindungen und mit der Bindung an ein bestimmtes Wertesystem zu tun (D) IDENTITÄT hat zu tun mit der Frage: Wer bin ich (sind wir)? Dieser konzeptuelle Kembereich gilt sowohl für die Gebrauchsvariante individuelle Identität als auch für die Variante gemeinschaftliche Identität (hier vor allem im Sinne von NATIONALE IDENTITÄT). Dies wird überprüfbar, wenn man die in den Textsequenzen vorgefündenen Aussagen über IDENTITÄT vergleicht, die explizit jeweils eine der Gebrauchsvarianten von IDENTITÄT betreffen. Auf diese Weise kann festgestellt werden, daß sich die einzelnen Kontextaussagen auf die oben genannten Kemaspekte des Konzeptes beziehen lassen. INDIVIDUELLE IDENTITÄT: wird gesucht in der Familie (C) 51 entsteht durch Verarbeitung frühkindlicher Konflikte (B) (Verweis auf Freud) entsteht im Kontakt mit anderen (C) wird erreicht, wenn der eigene Platz im Kontext des sozialen Gefüges und im historischen Kontinuum gefunden ist (A)/ (C) (Verweis auf Identitätstheorie) wird bezogen aus Tätigkeit und Beruf (B) ist die Möglichkeit, zu sich selbst zu stehen (D) heißt wissen, was man mit sich selbst vorhat, woher man kommt, welches die eigene Vergangenheit ist und was diese Vergangenheit einem zu sagen hat (A)/ (D) (Verweis auf einen Psychologen) ist verflochten mit Tradition und Geschichte (A) wird aufgebaut und gefestigt durch Spurensuche in der Vorgeschichte (A) wird gefährdet durch Verpflanzung in ein anderes Land (C) behalten heißt, sich wehren können (B) NATIONALE IDENTITÄT: meint deutsche Nation und deutsche Sprache (C) wird gestiftet durch eine nationale Geschichte (A) ist aus den historischen Entwicklungsbedingungen erklärbar (A) wird gesehen in der Tradition der demokratischen Linie der deutschen Geschichte (A) ist das So-und-nicht-anders-Sein (D) heißt, daß die Gegenwart der Bundesrepublik nicht ausreicht, um zu erklären, warum dieser Staat so und nicht anders ist und weshalb die deutsche Frage sich in dieser Form stellt (A) wird gefunden, wenn sich die Bundesrepublik in bewußter Erinnerung von der verdrängten und damit fortdauernden Kontinuität der Flitlerschen Barbarei nach innen und nach außen ffeimacht (A)/ (B) wird gestiftet durch die Bindungen der Bundesrepublik an den Westen und die Wertgemeinschaft des Westens (C) wird gestiftet durch Technik und Fortschrittsbewußtsein (C) wird gefunden in einem angenehmen, sicheren und einvemehmlichen Leben (C) wird gefunden in einer staatlichen Ordnung (C) - Fragen nach der deutschen Identität hängen zusammen mit der Frage nach dem Ich (D) 52 Daß sowohl die Kontextaussagen zu INDIVIDUELLE IDENTITÄT als auch die zu GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT auf einen gemeinsamen konzeptuellen Kembereich der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS beziehbar sind (vgl. (A)-(D) oben), ist ein wesentliches Argument dafür, hier nicht verschiedene Lesarten, sondern verschiedene Gebrauchsvarianten einer Lesart anzusetzen. Unterstützt wird diese Entscheidung dadurch, daß nicht bei allen Textsequenzen entschieden werden kann, ob sie auf INDIVIDUELLE oder auf gemeinschaftliche IDENTITÄT referieren, z.B: IDENTITÄT wird gestiftet für die einen durch das Vergessen, für die anderen durch das Erinnern zu Identität gehört Nationalität - Nicht-Identität ist Selbstverleugnung In einigen Textsequenzen wird der gemeinsame Bezugsbereich von INDIVIDU- ELLER und GEMEINSCHAFTLICHER IDENTITÄT explizit verbalisiert, z.B.: Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein geschichtliches Milieu, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität sowohl als Individuen wie als Deutsche unauflöslich verwoben ist. (Zt 7.11.86,12) Identität ist in der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik der zweiten Hälfte der 80er Jahre sowohl im Sinne von INDIVIDUELLE IDENTITÄT als auch im Sinne von NATIONALE IDENTITÄT gemeint und verwendet worden. Im öffentlichen Diskurs der DDR war IDENTITÄT in keiner der Lesarten ein brisantes Thema. Die Problematik der IN- DIVIDUELLEN IDENTITÄT wurde in der DDR im Bereich der inoffiziellen Kommunikation und etwa seit den siebziger Jahren in der Literatur und im Film verhandelt, nicht aber in politischen Medien wie Zeitungen und Zeitschriften. In der Bundesrepublik wurde die Gebrauchsvariante NATIONALE IDENTITÄT durch den bereits erwähnten sogenannten Historikerstreit in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eingeführt, erreichte jedoch eher Politiker und Historiker und war beim durchschnittlichen Sprecher noch kaum etabliert. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wie Identität im Einheitsdiskurs verwendet wird, welche Aspekte des Bedeutungswissens, das aus den Texten der 80er Jahre hergeleitet wurde, kontextuell aktualisiert, d.h. gestützt und vertieft oder auch modifiziert werden. Dabei wird deutlich werden, daß 53 das iDENTITÄTs-Konzept im Einheitsdiskurs von den Sprechern problematisiert und in Frage gestellt wird. Das Konzept wird von den Sprechern ausgehandelt, indem sie sich aufeinander beziehen und sagen, was sie im Gegensatz zu einem anderen Sprecher oder in Übereinstimmung mit ihm unter Identität verstehen oder wie Identität interpretiert werden soll. 3.3 Die kontextuelle Verarbeitung von IDENTITÄT im Einheitsdiskurs Im folgenden soll beschrieben werden, auf welche Weise das Konzept IDENTITÄT im Einheitsdiskurs kontextuell verarbeitet wird. Hierbei wird nach der gleichen Methode verfahren wie im vorangegangenen Kapitel: Aus der Menge der Kontextualisierungen werden diejenigen ausgewählt und zusammengestellt, die eine Prädizierung von IDENTITÄT enthalten (z.B. Identität ist Identität heißt.... zu Identität gehört..., Identität ist bestimmt durch Identität entsteht durch ..., Identität wird bedroht durch ... etc./ Diese Kontextualisierungen sind Aussagen darüber, was Sprecher unter IDENTITÄT verstehen, welche Teilaspekte sie IDENTITÄT zuschreiben, woraus IDENTITÄT bezogen werden kann, durch welche Umstände IDENTITÄT gefährdet ist etc. Anschließend werden diese Aussagen über IDENTITÄT den verschiedenen Frame- Dimensionen zugeordnet, um anschließend vergleichen zu können, welche Wissenselemente auf welche Weise im öffentlichen Diskurs vor und nach 1989 aktualisiert worden sind. Da Frames hier als Raster für das Kontextualisierungspotential von Konzepten aufgefaßt werden, kann so gezeigt werden, wie sich die Realisierung dieses Potentials im Einheits-Diskurs verschiebt. 3.3.1 Kontextualisierungen von IDENTITÄT in Medientexten der Jahre 1989- 1992 In den untersuchten Medientexten der Jahre 1989-1992 wird IDENTITÄT in folgender Weise mit Prädikaten verknüpft: Identität ist nicht, sondern Loyalität zum SED-Staat; sondern Loyalität zur eigenen Vergangenheit (DDR-Identität ist keine Loyalität zum SED-Staat, sondern die Loyalität zur eigenen Vergangenheit...) (RM 20,4.90,1) etwas Vorgefundenes; sondern auch unser eigenes Projekt (... zitiert Habermas: unsere Identität sei nicht etwas Vorgefundenes, sondern auch unser eigenes Projekt) (Zt 23,6.89,4) 54 ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden (unsere Identität, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden) (VT 19.4.90,44 Antrittsrede de Maiziere) eher regional als national (.. ist die Identität der meisten eher regional als national) (taz Sonderheft 23.1.90,16) ein Produkt der Erwartungen, die die anderen an einen richten (das, was am Ende Identität heißt, ist ein Produkt der Erwartungen, die die anderen an einen richten) (Zt 13.3.92,75) das Selbstbewußtsein dessen, der sich seiner Herkunft und Familie schämt (unsere DDR-Identität, das ist das Selbstbewußtsein dessen, der sich seiner Herkunft und Familie schämt...) (BZ 13./ 14.4.91,21) ist bestimmt fünf Faktoren: ethnische, klassenmäßig-soziale, polijyj.gh tisch-ökonomische, staatlich-territoriale, kulturelle (es sind mindestens ftinf Faktoren, die in Betracht kommen, wenn nationale Identität bestimmt werden soll: ethnische, klassenmäßig-soziale, politisch-ökonomische, staatlichterritoriale, kulturelle) (BZ 22.7.89,10) das Gegenüber (wir, die Oppositionellen, haben durchaus eine Identität, die durch das Gegenüber bestimmt ist) (Sp 19.3.90,48) Demokratie im Inneren und Integration in die westliche Gemeinschaft im Äußeren (wie die Demokratie im Inneren hat die Integration in die westliche Gemeinschaft im Äußeren die Wirklichkeit der Bundesrepublik geprägt und ihre Identität bestimmt) (RM 20.4.90,3) Identitäten sind Bindungen, die stützen, aber auch fesseln, die wohltun und wehtun (Historie ... fiihrt in die Mühseligkeiten individueller Lebensläufe, für die Identitäten Bindungen sind, die stützen, aber auchfesseln, die wohltun und wehtun) (FA 1,10.90,37) 55 ist definierbar definiert sich nicht, sondern bestand in entsteht macht aus ist zu suchen nicht, sondern regionalsozial (es finden auch diejenigen zu sich selbst, zu ihrer engeren, eben regionalsozial definierbaren Identität zurück, ...) (FA 12.1.90, 28) über Flaggen und Rituale, sondern durch den Einklang mit der eigenen Lebensgeschichte (wirkliche Identität definiert sich nicht über Flaggen und Rituale, sondern durch den Einklang mit der eigenen Lebensgeschichte) (Zt 3,10.91,3) der Aufrechterhaltung des Sozialismus (die Identität der DDR bestand in der Aufrechterhaltung des Sozialismus) (RM 28.9,90,26) nur durch Auseinandersetzung mit den neuen Verhältnissen, das heißt, wir müssen zweifeln oder zustimmen oder auf Veränderung drängen (eine Identität entsteht nur durch Auseinandersetzung mit den neuen Verhältnissen, das heißt, wir müssen zweifeln oder zustimmen oder auf Veränderung drängen) (BZ 9./ 10.2,91,9) soziale Sicherheit, Antifaschismus, gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln, niedrige Kriminalität, ein Mindestmaß an Kollektivgeist und Solidarität (zu den Realitäten gehört auch das, was die Identität der Bürger unseres Landes ausmacht, bei manchem mehr, bei manchem weniger bewußt: soziale Sicherheit, Antifaschismus, gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln, niedrige Kriminalität, ein Mindestmaß an Kollektivgeist und Solidarität) (ND 10,2.90,4) hinten, im Gegebenen, in der Kontinuität deutscher Geschichte, sondern in unserer besonderen Verantwortung (wir suchen die deutsche Identität nicht hinten, im Gegebenen, in der Kontinuität deutscher Geschichte (wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflichfalsch sagt), sondern in unserer besonderen Verantwortung) (VT 20.9.90,1745) 56 wird empfunden als wird mitbestimmt durch drückte sich aus in offenbart sich wird bedroht durch wird zerstört und zersetzt durch geht verloren wurde der Boden entzogen menschlicher Wert (die Identität ... wird von vielen Deutschen in der DDR als menschlicher Wert empfunden) (RM 20.4.90,1) ' kulturelle Traditionen (kulturelle Traditionen, die Heimatgeßihl und Identität der in unserem Land lebenden Menschen mitbestimmen) (BSB 24,2.90,10) der Parole „Wir sind ein Volk“ (in der Parole „ Wir sind ein Volk“ drückte sich eine selbstbewußte demokratische Identität aus) (FR 10.4.90,14) zuerst in dem, wofür man sich in der eigenen Geschichte schämt (nationale Identität offenbart sich zuerst in dem, wofür man sich in der eigenen Geschichte schämt) (OppDDR, 11/ 89,128) das, was die ökonomische Theorie als vernünftig empfiehlt (in die Arbeitslosigkeit gestoßen ... wird es Millionen abgebrochener Lebenspläne geben. Was die ökonomische Theorie als vernünftig empfiehlt, bedroht die Identität vieler einzelner) (Zt 21.6.91,1) Situation des Desasters (die Situation des Desasters zerstörte und zersetzt Reste der DDR-Identität) (FA 12.1.90,28) nicht dadurch, daß der Vereinigungsprozeß so rasch voranschreitet durch die dramatische Veränderung der Lage (diese Identität geht aber nicht dadurch verloren, daß der Vereinigungsprozeß so rasch voranschreitet, ihr wurde der Boden durch die dramatische Veränderung der Lage entzogen) (FA 29.5.90,3) 57 hat nicht nur, sondern auch Prinzip der Identifikation, Prinzip der Korrektur (eine Identität hat nicht nur das Prinzip der Identifikation, sondern auch der Korrektur) (OppDDR, 11/ 89,100) verbindet sich mit diesem Staatswappen (für viele dieser Menschen verbindet sich mit diesem Staatswappen ein Stück Identität) (VT 31.5.90,271) hat Teil zu Identität sollte gehören ist begründet nicht nur, sondern auch soziale Grundprinzipien (soziale Grundprinzipien, die im Lebensgefühl der Menschen Teil unserer Identität geworden sind) (ND 10.2.90,12) sich als anerkannte Staatsfeinde fühlen (die Gruppenmitgliederfühlten sich als anerkannte Staatsfeinde, und das war ein Teil ihrer Identität) (BW 4/ 90,9) Verantwortung für Auschwitz (aufewig wird Teil der nationalen Identität die Verantwortung für Auschwitz bleiben) (RM 20,4.90,3) radikale Demokratie, die am Werktor nicht haltmacht, Solidarität, soziale und andere Sicherheit, eine Kultur, die dem ganzen Volk offensteht, die Gleichberechtigung der Geschlechter, aktive Abrüstungspolitik und vieles andere mehr (radikale Demokratie, die am Werktor nicht haltmacht, Solidarität, soziale und andere Sicherheit, eine Kultur, die dem ganzen Volk offensteht, die Gleichberechtigung der Geschlechter, aktive Abrüstungspolitik und vieles andere mehr sollten zu unserer Identität gehören) (ND 22,12.89,6) in der kulturellen Vielfalt Europas; vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung (diese Identität ist nicht nur in der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch und vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung begründet) (Kohl Reden, 10-Punkte-Programm 2/ 90,123) 58 erwuchs aus aktiver Auseinandersetzung oder passivem Hinnehmen der Staatsgewalt (die Identität, die aus aktiver Auseinandersetzung oder passivem Hinnehmen der Staatsgewalt erwuchs) (RM 20.4.90,1) erfordert Aufarbeitung der Geschichte und die Frage: Wofür haben wir uns zu schämen? (die Mindestforderungftir so etwas wie eine Identität der DDR wäre Aufarbeitung der Geschichte und die Frage: Wofür haben wir uns zu schämen? ) (OppDDR, 11/ 89,128) wird bezogen aus der Konfrontation mit dem politischen und sozialen System der Bundesrepublik (... bezieht dieser deutsche Staat seine Identität aus der Konfrontation mit dem politischen und sozialen System der Bundesrepublik) (RM 1.9.89,2) kommt aus ist Ergebnis von Widerstand (für mich kann Identität auch aus der Richtung kommen, daß ich soviel Widerstand in etwas hineingebracht habe, daß im Ergebnis ich eine Identität habe) (FR 12.5,90,25) mußte gestützt werden an irgendeiner Vorstellung von dem, was die DDR leistete oder wenigstens hätte leisten können (DDR-Bürger mußten wer nicht ein hartgesottener Gegner, ein kräftiger Individualist und zu vollendeter Tarnung fähig war die eigene Identität an irgendeiner Vorstellung von dem stützen, was die DDR leistete oder wenigstens hätte leisten können) (FA 13.2.90,35) wird geschaffen (dadurch) wie ich mich einem Gegenstand stelle, ob mit dem Prinzip der Übereinstimmung oder des Korrekturanspruchs (wie ich mich einem Gegenstand stehe, ob mit dem Prinzip der Übereinstimmung oder des Korrekturanspruchs, schafft immer Identität) (OppDDR, 11/ 89,100) 59 wird entwickelt durch wurzelt in indirekte Verknüpfung ist wird bedroht durch hat Teil die Verneinung einer vemeinungswürdigen Gesellschaft (so entwickelten manche ihre Identität durch die Verneinung einer verneinungswürdigen Gesellschaft) (FR 5.1.90,3) im Geschichtlichen (Identität, die im Geschichtlichen wurzelt) (BZ 23.10.89,3-4) mit Prädikaten: Andersartigkeit der Deutschen in der DDR ( ■■■ ttls e >ä Stück eigene Identität, eben als Andersartigkeit der Deutschen in der DDR) (RM 25,5.90,40) Antwort auf die Frage: Wer sind wir? (hätten wir unsere Identität zu klären, eine Antwort zu finden aufdie Frage, wer wir sind...) (FR 17.12,90,17) schlechthin Ostler zu sein (lassen sich Tag fiir Tag anderthalb Millionen Menschen in einer Identität bestärken, die sie doch überwinden sollten: schlechthin Ostler zu sein) (Zt 1.11,91,15) Erschütterung alter Gewißheiten und Gewohnheiten (Auch die Westdeutschen fiihlen sich in ihrer Identität bedroht. ... In den Gewißheiten des Provisoriums Bundesrepublik hatten sie sich bequem eingerichtet. ... Nun, da es unerwartet im einig Vaterland aufgegangen ist, werden die alten Gewißheiten und Gewohnheiten erschüttert.) (Zt 21.6,91,1) „Es muß auch so gehen“ „Wir sind schließlich auch etwas“ „Wir können uns mit Kunst, Kultur und Sport sehen lassen“ Wehmut, Trauer, stiller Neid, Wut (die Grundstimmung, die sich im Laufe der Jahre in die Identität einlagerte, war die des „Es muß auch so gehen“, "Wir sind schließlich auch etwas“, “Wir können uns mit Kunst, Kultur und Sport sehen lassen“. ... Wehmut, Trauer, stiller Neid, Wut) (FA 12,1.90,28) 60 deutsch-deutsche Doppelidentität ist der laute, erfahrene, direkte Westler; der Ostler, der im leisen Schriftdeutsch der letzten Jahre „diesbezüglich“ seinen „Beitrag andenkt“ (Schon hat die deutsch-deutsche Doppelidentität starre Konturen angenommen: Da trijjt der laute, erfahrene, direkte Westler auf den Ostler, der im leisen Schriftdeutsch der letzten Jahre „diesbezüglich “ seinen „Beitrag andenkt") (Zt 26.4.91,4) identitätsstiftend ist Kampf für Freiheit (die demokratische Bewegung in der DDR ist auch ein Beispiel dafür, daß der Kampffür Freiheit Gemeinsamkeit und Identität stiftet) (BTP 16.11.89,13355) berufliche Tätigkeit oder kulturelle Existenz (viele, die durch ihre berufliche Tätigkeit oder kulturelle Existenz identitätsstiftend wirken konnten, ...) (FA 12,1.90,28) identitätsstiftend ist nicht Erfolg im Sport (den aberwitzigen Glauben derer da oben, unsere prächtigen Jungen und Mädel mit ihren unvermeidlichen Medaillen stifteten DDR-Identität) (Zt 3.10.91,3) ist weder noch der Verfassungspatriotismus (im Westen) der Sozialismus (im Osten) (weder der Verfassungspatriotismus (im Westen) noch der Sozialismus (im Osten) nehmen entgegen dem Votum Christian Meiers eine identitätsstiftende oder Identität absichernde Rolle ein) (FA 12.1.90,28) Diese Kontextualisierungen enthalten Aussagen darüber, was Sprecher unter Identität verstehen, welche Ursachen und Voraussetzungen sie für das Entstehen von IDENTITÄT ansetzen und wodurch sie IDENTITÄT gefährdet sehen. Die Materialfülle kann systematisiert und für weitere Analysen aufbereitet werden, wenn man die Prädizierungen von IDENTITÄT auf die verschiedenen Dimensionen des Frames bezieht. Dies wird möglich, weil die Frame- Dimensionen auf Kategorien wie Bedingungen, Ursachen, Erscheinungsbild, fünktionale Zusammenhänge usw. aufbauen. Die Frame-Fragen beziehen sich dementsprechend auf diese Kategorien, und so können die Prädizierungen von 61 IDENTITÄT in den Diskurstexten als Antworten auf die Fragen des Frames für IDENTITÄT aufgefaßt werden. Im folgenden werden die Kontextualisierungen von IDENTITÄT den einzelnen Frame-Dimensionen zugeordnet: Folgende Variablen und Zeichen werden verwendet: y und z sind jeweils die Variablen für Aussagen über IDENTITÄT; x ist jeweils die Variable für Individuen bzw. Individuengemeinschaften oder Institutionen, denen IDENTITÄT zugeschrieben wird; s ist die Variable für sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne; durch Anstrich wird jeweils eine neue Füllung der Slots eines Prädikates eingeleitet. Abbildung der Kontextualisierungen auf den Frame von IDENTITÄT (in der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS): I. Äußerungsform von Identität sowie Konstitutionseigenschaften und -relationen I.a) Wo (bei welchen Gegenständen, Organismen, Personen, Ereignissen, Handlungen, Institutionen / sozialen Gruppen, anderen Zuständen / Eigenschaften) tritt Identität typischerweise auf? Der Zustand der Identität wird menschlichen Individuen {ich habe eine Identität) und Gruppen {unsere Identität), z.B. politischen Gruppierungen {die Identität der DDR-Oppositionellen) oder nationalen Gemeinschaften {deutsche Identität, nationale Identität, die Identität der Bürger unseres Landes, die Identität der Westdeutschen, die Identität der Ostdeutschen, DDR-Identität) und Institutionen, z.B. der Institution Staat {die Identität der Bundesrepublik, die Identität der DDR) zugeschrieben. I.b) Welche Existenzphase der Individuen oder Individuengemeinschaften ist betroffen? Auf welche Art und Weise tritt Identität dann in Erscheinung? Handelt es sich um einen permanenten oder dispositioneilen Zustand? Identität ist kein permanenter Zustand, sondern an bestimmte Bedingungen gebunden und durch bestimmte Umstände gefährdet: 62 y bedroht IDENT(x) x: die Identität vieler einzelner y. was die ökonomische Theorie als vernünftig empfiehlt (Arbeitslosigkeit; abgebrochene Lebenspläne) (Zt 21.6.91,1) y: Erschütterung alter Gewißheiten und Gewohnheiten (Zt 21.6.91,1) y zerstört IDENT(x) s: es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte x: DDR-Identität y: die Situation des Desasters (FA 12.1.90,28) IDENT geht nicht verloren durch y, ihr wird der Boden entzogen durch z y: dadurch, daß der Vereinigungsprozeß so rasch voranschreitet z: durch die dramatische Veränderung der Lage (FA 29.5.90,3) I.c) Wie auf welche Weise tritt Identität in Erscheinung, wie ist sie ausgeprägt? Wie äußert sich Identität typischerweise bei den betreffenden Individuen oder Individuengemeinschaften? IDENT(x) ist y x: unsere Identität y: unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden (VT 19.4.90,44 Antrittsrede de Maiziere) s: bei meinen Erfahrungen in diesem Land y: eher regional als national (taz 23.1.90,16) y: Andersartigkeit der Deutschen in der DDR (RM 25.5.90,40) x: unsere Identität y: Antwort auf die Frage: Wer sind wir? (FR 17.12.90,17) s: nicht nur, aber immer auch y: ein Produkt der Erwartungen, die die anderen an einen richten s: denn der Mensch ist im Grunde ein aufKonsonanz bedachtes Wesen (Zt 13.3.92,75) 63 x: unsere DDR-Identität y: das Selbstbewußtsein dessen, der sich seiner Herkunft und Familie schämt (BZ 13./ 14.4.91,21) s: eine Identität, die sie doch überwinden sollten y: schlechthin Ostler zu sein (Zt 1.11.91,15) IDENT(x) ist nicht y, sondern z x: DDR-Identität y: Loyalität zum SED-Staat z: die Loyalität zur eigenen Vergangenheit (RM 20.4.90,1) s: befand Jürgen Habermas kürzlich y: etwas Vorgefundenes z: auch unser eigenes Projekt (Zt 23.6.89,4) IDENT(piun,! ) sind y y: Bindungen, die stützen, aber auch fesseln, die wohltun und wehtun (FA 1.10.90,37) IDENT(x) bestand in y x: die Identität der DDR y: der Aufrechterhaltung des Sozialismus (RM 28.9.90,26) y macht IDENT(x) aus x: die Identität der Bürger unseres Landes y: soziale Sicherheit, Antifaschismus, gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln, niedrige Kriminalität, ein Mindestmaß an Kollektivgeist und Solidarität (ND 10.2.90,4) IDENT(x) offenbart sich in y s: ein nachdenklicher Pole hat gesagt x: nationale Identität y: in dem, wofür man sich in der eigenen Geschichte schämt (OppDDR 11/ 89,128) 64 in y drückt sich IDENT aus y: in der Parole „Wir sind ein Volk“ (FR 10.4.90,14) IDENT(x) hat Konturen von y angenommen x: die deutsch-deutsche Doppel-Identität y: der laute, erfahrene, direkte Westler und der Ostler, der im leisen Schriftdeutsch der letzten Jahre „diesbezüglich“ seinen „Beitrag andenkt“ (Zt 26.4.91,4) I.d) Mit welchen Maßsystemen / Meßgrößen ist Identität beschreibbar? Welches sind die typischen Maße bzw. Ausmaße? kein Eintrag I.e) In welchen (funktionalen) Zusammenhängen, natürlichen Vorgängen spielt Identität eine wichtige Rolle? Welche Rollen / Funktionen hat Identität in diesen Zusammenhängen? für x verbindet sich IDENT mit y x: viele dieser Menschen und nicht nur PDS-Wähler, ich betone das y: mit diesem Staatswappen (VT 31.5.90,271) IDENT hat nicht nur y, sondern auch z y: das Prinzip der Identifikation z: das Prinzip der Korrektur (OppDDR 11/ 89,100) y ist Teil von IDENT(x) y: sich als anerkannte Staatsfeinde fühlen (BW 4/ 90,9) y: soziale Grundprinzipien (ND 10.2.90,12) x: nationale Identität y: die Verantwortung für Auschwitz (RM 20.4.90,3) in IDENT lagerte sich y ein y: die Grundstimmung von Wehmut, Trauer, stillem Neid, Wut (FA 12.1.90,28) 65 y sollte zu IDENT(x) gehören x. unsere Identität y: radikale Demokratie, die am Werktor nicht halt macht, Solidarität, soziale und andere Sicherheit, eine Kultur, die dem ganzen Volk offensteht, die Gleichberechtigung der Geschlechter, aktive Abrüstungspolitik und vieles andere mehr (ND 22.12.89,6) x mußte IDENT an y stützen x: DDR-Bürger wer nicht ein hartgesottener Gegner, ein kräftiger Individualist und zu vollendeter Tarnung fähig war y: an irgendeiner Vorstellung von dem, was die DDR leistete oder wenigstens hätte leisten können (FA 13.2.90,35) Mindestforderung für IDENT(x) wäre y x: so etwas wie eine Identität der DDR y: die Aufarbeitung der Geschichte und die Frage: Wofür haben wir uns zu schämen? (OppDDR 11/ 89,128) I.f) Wie ist das Erscheinungsbild von Identität durch Teileigenschaften, Beschaffenheiten bestimmt? IDENT(x) ist bestimmt durch y x: nationale Identität y: fünf Faktoren: ethnische, klassenmäßig-soziale, politisch-ökonomische, staatlich-territoriale, kulturelle (BZ 22.7.89,10) s: im übrigen denke ich y: das Gegenüber (Sp 19.3.90,48) x: Identität der in unserem Land lebenden Menschen y: kulturelle Traditionen (BSB 24.2.90,10) y hat IDENT(x) bestimmt x: die Identität der Bundesrepublik y: die Demokratie im Inneren und die Integration in die westliche Gemeinschaft im Äußeren (RM 20.4.90,3) 66 IDENT definiert sich nicht über y, sondern durch z y: über Flaggen und Rituale z: durch den Einklang mit der eigenen Lebensgeschichte (Zt 3.10.91,3) IDENT ist definierbar als y y: regionalsozial (FA 12.1.90,28) l g) In welchen (funktionalen) Zusammenhängen hat Identität ihren Ursprung? Unter welchen Bedingungen entsteht Identität? IDENT entsteht durch y s: Wie kann das kleingemachte Volk denn jetzt wieder groß werden? Bestimmt nicht, indem größere Autos gekauft werden y: nur durch Auseinandersetzung mit den neuen Verhältnissen, das heißt, wir müssen zweifeln oder zustimmen oder auf Veränderung drängen (BZ 9710.2.91,9) IDENT erwuchs aus y y: aus aktiver Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt oder aus deren passivem Hinnehmen (RM 20.4.90,1) IDENT ist begründet in y y: nicht nur in der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch und vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung) (Kohl Reden 2/ 90,123; 10-Punkte-Programm) x bezieht IDENT aus y x: dieser deutsche Staat y: aus der Konfrontation mit dem politischen und sozialen System der Bundesrepublik (RM 1.9.89,2) x sucht IDENT(xi) nicht y, sondern x: wir Xi: die deutsche Identität y: hinten, im Gegebenen, in der Kontinuität deutscher Geschichte s: wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflich falsch sagt yi: in unserer besonderen Verantwortung (VT 20.9.90,1745) 67 IDENT wurzelt in y y: im Geschichtlichen (BZ 23.10.89,3-4) x entwickelt IDENT durch y x: manche y: durch die Verneinung einer vemeinungswürdigen Gesellschaft (FR 5.1.90,3) IDENT ist Ergebnis von y s: für mich y; Widerstand (FR 12.5.90,25) y schafft IDENT s: immer y: wie ich mich einem Gegenstand stelle, ob mit dem Prinzip der Übereinstimmung oder des Korrekturanspruchs (OppDDR 11/ 89,100) y stiftet IDENT s: die demokratische Bewegung in der DDR ist auch ein Beispiel dafür, daß y: der Kampf für Freiheit (BTP 16.11.89,13355) s: der aberwitzige Glauben derer da oben y: unsere prächtigen Jungen und Mädel mit ihren unvermeidlichen Medaillen (Zt 3.10.91,3) x wirkt durch y IDENT-stiftend x: viele y: durch ihre berufliche Tätigkeit oder kulturelle Existenz (FA 12.1.90,28) weder y noch z nehmen IDENT-stiftende Rolle ein s: entgegen dem Votum Christian Meiers y: der Verfassungspatriotismus im Westen z: der Sozialismus im Osten (FA 12.1.90,28) 68 I. h) Was folgt aus Identität der Individuen oder Individuengemeinschaften für die funktionalen Zusammenhänge, in denen sie eine Rolle spielen? kein Eintrag I 0 Mit welchen anderen Eigenschaften, Zuständen tritt Identität gemeinsam auf? kein Eintrag II Relevanz des Auftretens von Identität für den Menschen II. a) Unter welchen Namen, Bezeichnungen ist Identität bekannt? Welchen Bekanntheitsgrad hat Identität? Identität wird in den untersuchten Texten oft in Zusammenhang gebracht mit Selbstwertgefühl, Selbstgefühl, Selbstbewußtsein, Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis und Selbstachtung. Il.b) In welchen menschlichen Handlungen - oder für den Menschen wichtigen fünktionalen Zusammenhängen spielt Identität eine bestimmte Rolle, hat sie eine wichtige Bedeutung? Identität spielt eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Tradition, Geschichte, Vergangenheit, Kultur der Verantwortung für die Geschichte (Auschwitz) menschlichen Werten der Auseinandersetzung mit der Frage: Wer sind wir? der Scham über die Geschichte, die Vergangenheit und die eigene Herkunft dem Prinzip der Identifikation, der Übereinstimmung und dem Prinzip der Korrektur der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt oder deren passivem Hinnehmen der Auseinandersetzung mit den Verhältnissen den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung - Verantwortung - Widerstand dem Kampf für Freiheit der beruflichen Tätigkeit und der kulturellen Existenz 69 II.c) Welche Bedeutung (welchen Stellenwert) hat Identität für den Menschen (das menschliche Leben und Handeln)? IDENT wird von x als y empfunden x: viele Deutsche in der DDR y: als menschlicher Wert (RM 20.4.90,1) Il.d) Welchen anderen Eigenschaften / Zuständen ist Identität ähnlich und worin unterscheidet sie / er sich von diesen? kein Eintrag Il e) Existieren zu Identität spezielle Theorien bzw. eingehende Beschreibungen (z.B. enzyklopädischer Art)? In welchen wichtigen Theorien spielt Identität eine Rolle? kein Eintrag Il.f) Wovon kündet oder zeugt das Auftreten, Erscheinen von Identität bei Individuen oder Individuengemeinschaften? kein Eintrag Es ist gut erkennbar, daß in den Texten des Einheits-Diskurses ebenso wie in den Texten von vor 1989 nicht alle Frame-Dimensionen aktualisiert werden. Die Kontextualisierungen von IDENTITÄT beziehen sich vor allem auf Bedingungen, Erscheinungsformen, den Ursprung, funktionale Zusammenhänge und die Rolle von IDENTITÄT (vgl. I.b, I.c, I.e, Lg und Il.b im Frame). Neu sind Aussagen zu Teileigenschaften von IDENTITÄT (vgl. I.f im Frame: IDENT ist bestimmt durch y; y bestimmt IDENT etc.). Auffällig ist, daß nach 1989 keine expliziten Kontextverweise auf psychologische Theorien zu finden sind (vgl. II.e im Frame). Damit bestätigt sich eine Tendenz, die bereits für die öffentliche Kommunikation der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre festgestellt werden kann (vgl. Kapitel 3.1.1): mit den achtziger Jahren wird Identität in der alten Bundesrepublik verstärkt nicht mehr nur auf Individuen, sondern auch auf Gruppen von Individuen bezogen. Dadurch verändert sich die Betrachtungsperspektive, so daß nicht mehr die Befindlichkeit eines Individuums in Bezug auf eine Gruppe, auf eine Gemeinschaft oder auf in bestimmter Weise gleichartige Individuen fokussiert wird (im Sinne von die Identität von x als y. z.B. jemandes Identität als Mann, als Deutscher), sondern die Befindlichkeit der Gruppe oder Gemein- 70 Schaft selbst (im Sinne von die Identität der y. z.B. die Identität der Männer, der Deutschen). Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, daß sich mit der zweiten Hälfte der 80er Jahre allmählich eine neue Gebrauchsvariante etabliert, die IDENTITÄT mehr und mehr aus dem individuellen Kontext herauslöst und sich in Richtung GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT entwickelt. Im Einheits-Diskurs wird diese Gebrauchsvariante intensiv ausgebaut, wohingegen die Gebrauchsvariante INDIVIDUELLE IDENTITÄT, die in der öffentlichen Kommunikation der alten Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre häufig verwendet wurde, im Einheits-Diskurs nur eine untergeordnete Rolle spielt. Im Mittelpunkt des Interesses steht in den Texten von nach 1989 vor allem die IDENTI- TÄT DER DEUTSCHEN, also die Identität einer nationalen Gemeinschaft, oder die IDENTITÄT DER OSTDEUTSCHEN bzw. der WESTDEUTSCHEN, also die Identität einer Erfahrungsbzw. Interessengemeinschaft. Dies ist ein wesentliches Argument dafür, daß IDENTITÄT in der öffentlichen Kommunikation nach 1989 zunehmend in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge projeziert und somit die Gebrauchsvariante INDIVIDUELLE IDENTITÄT zugunsten der Gebrauchsvariante GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT zurückgedrängt wird. 3.3.2 Zusammenfassung: Wie wird IDENTITÄT im Diskurs zur deutschen Einheit verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens werden verbalisiert? Wenn man die Kontextualisierungen von IDENTITÄT in der öffentlichen Kommunikation der 80er Jahre (vgl. Kapitel 3.2) mit den Kontextualisierungen des Einheits-Diskurses vergleicht, fällt auf, daß sich die Sprecher vor 1989 relativ einig gewesen sind, was unter IDENTITÄT zu verstehen ist. Im Einheitsdiskurs weisen die Prädizierungen von IDENTITÄT, die ja als Spuren konzeptuellen Wissens aufgefaßt werden können, viel eher darauf hin, daß es z.T. massive Meinungsverschiedenheiten darüber gibt. Neben Aussagen von Sprechern über IDENTITÄT, die sich gegenseitig bestätigen und ergänzen, gibt es im Einheitsdiskurs eine Vielzahl von Äußerungen, die widersprüchliche und konträre Auffassungen ausdrücken. Diese Meinungsverschiedenheiten werden häufig durch metasprachliche Äußerungen unterstützt, z.B. wenn explizit auf andere Äußerungen und Textsegmente des Diskurses oder auch auf andere Sprecher Bezug genommen wird. So wird der zustimmende Bezug zu anderen Äußerungen und Sprechern häufig mit Hilfe des Syntagmas Identität ist nicht (nur) y, sondern (auch) z ausgedrückt. Widerspruch wird z.B. folgendermaßen explizit formuliert: 71 es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte ... wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflichfalsch sagt; der aberwitzige Glaube derer da oben, ...; entgegen dem Votum Christian Meiers.... Die im Kapitel 3.2.2 zusammengefaßten Aspekte für den Kembereich des Konzeptes IDENTITÄT in der Lesart IDENTITÄT ALS SELBSTVERSTÄNDNIS werden zu wesentlichen Teilen durch die Kontextualisierungen im Einheitsdiskurs bestätigt: (A) IDENTITÄT kann erreicht werden durch die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Geschichte und Tradition (B) IDENTITÄT zu erreichen ist ein aktiver Prozeß (C) IDENTITÄT hat mit sozialen und nationalen Bindungen und mit der Bindung an ein bestimmtes Wertesystem zu tun (D) IDENTITÄT hat zu tun mit der Frage: Wer sind wir? Der Vergleich der in den Texten nach 1989 realisierten Fillers für die Slots der Prädizierungen von IDENTITÄT macht jedoch auch deutlich, daß sich Verschiebungen ergeben haben. Dies kann gut an den Aspekten (B) und (D) gezeigt werden. Während in den Texten vor 1989 der aktive Prozeß der Identitätsfindung (vgl. Aspekt (B)) von den Sprechern im Zusammenhang mit Erinnern, Verdrängtes aufarbeiten, Konflikte bewältigen, Tätigkeit und Beruf gesehen wird, beziehen die Sprecher des Einheitsdiskurses IDENTITÄT nicht so stark auf Belange einzelner Individuen, sondern eher auf Beziehungsgefüge, in denen soziale bzw. nationale Gemeinschaften von Individuen stehen. So werden in diesem Zusammenhang weniger die individuelle Konfliktbewältigung oder die Rolle von Tätigkeit und Beruf thematisiert. Vielmehr wird EDENTTTÄT aus der Perspektive der nationalen Gemeinschaft oder auch eines Wir-Gefühls heraus behandelt. Der Bezug zum nationalen Aspekt ist durch den Flistoriker-Streit in der Bundesrepublik in den 80er Jahren vorbereitet worden (vgl. Kapitel 3.2.2), während sich das Wir-Gefühl vor allem bei ostdeutschen Sprechern manifestiert, wenn sie über ihre Identität als ehemalige DDR-Bürger, als „Deutsche zweiter Klasse“ oder auch als DDR-Oppositionelle sprechen und z.B. äußern, daß Identität sich aus der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt oder aus der Auseinandersetzung mit den neuen Verhältnissen ergibt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß es in der DDR-Kommunikation Benennungen für Phänomene von GEMEINSCHAFTLICHER IDENTITÄT gab, z.B. Kollektivgeist oder Klassenbewußtsein. Diese Benennungen beziehen sich jedoch eher 72 auf die Loyalität zum Arbeitskollektiv bzw. zur sozialen Klasse als auf Befindlichkeiten und sind eher in politisch-ideologischen Begriffssystemen verwurzelt als wie Identität in psychologischen. Das Wir-Gefiihl der Ostdeutschen, das sich in ihrem Sprachgebrauch nach der Wende und vor allem nach der Vereinigung äußert, hat seine Wurzeln jedoch weniger im von der offiziellen Argumentation geforderten Bekenntnis zur DDR, sondern im gemeinsamen Erleben von deren Untergang und der folgenden Ereignisse. Die Etablierung der Gebrauchsvariante GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT im Einheitsdiskurs ist also sowohl im westdeutschen als auch im ostdeutschen öffentlichen Bewußtsein vorbereitet worden. Eine der zentralen Fragen im Zusammenhang mit IDENTITÄT (vgl. Aspekt (D)) wird demzufolge in den Texten nach 1989 nicht mehr als Wer bin ich? , sondern eher als Wer sind wir? gesehen. 3.4 Vergleich der Kontextualisierungen von IDENTITÄT vor und nach 1989 In den Kapiteln 3.2 und 3.3 wurde systematisch und detailliert beschrieben, auf welche Art und Weise Aspekte von Wissen über IDENTITÄT in die Texte der 80er Jahre und in die Texten des Einheitsdiskurses eingebracht werden. Die Prädizierungen von IDENTITÄT geben Aufschluß darüber, welche Aussagen verschiedene Sprecher vor 1989 und im Einheitsdiskurs über IDENTITÄT machen und wie sie das Konzept in ihre Text- und Argumentationsstrategien einbinden. Im folgenden sollen die Kontextualisierungen von IDENTITÄT vor und nach 1989 in einer zusammenfassenden Gesamtschau verglichen werden, um Veränderungstendenzen und evtl. Bedeutungsverschiebungen ausmachen zu können. Um systematisch vergehen zu können, werden folgende Fragen zugrunde gelegt: - Welche Frame-Dimensionen werden durch die Kontextualisierungen ausgefiillt, welche nicht, d.h. zu welchen Aspekten von IDENTITÄT werden Aussagen gemacht? - Auf welche Weise werden diese Aussagen gemacht, d.h. mit Hilfe welcher Prädikate? - Wie werden die Slots der entsprechenden Prädikate ausgefullt, d.h. welche Aussagen über IDENTITÄT werden gemacht? 73 - Welche sprachlichen Hinweise auf Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien zu den entsprechenden Aussagen sind in den Textsequenzen auffindbar, d.h. gibt es Hinweise auf Bewertungen, Bezüge auf andere Sprecher etc.? Sowohl vor als auch nach 1989 werden in den Textsequenzen, die IDENTITÄT prädizieren, vor allem Aussagen gemacht über Bedingungen für IDENTITÄT (I.b im Frame), über Erscheinungsformen von IDENTITÄT (I.c im Frame), über funktionale Zusammenhänge von IDENTITÄT (I.e im Frame) und über den Ursprung von IDENTITÄT (Lg im Frame). Jedoch fällt auf, daß im Einheitsdiskurs tendenziell mehr verschiedene Prädikate mit mehr verschiedenen Fillers verwendet werden. Die folgende Zusammenstellung verdeutlicht dies, indem die Verteilung der Prädikate mit den jeweiligen Fillers auf die Frame-Dimensionen dargestellt wird: Quantitative Zuordnung der Prädikate und Fillers zu den einzelnen Frame- Dimensionen: vor 1989 | nach 1989 Bedingungen für IDENT (I.b im Frame) 4 Prädikate mit 4 Fillers | 4 Prädikate mit 7 Fillers Erscheinung von IDENT (I.c im Frame) 4 Prädikate mit 6 Fillers | 8 Prädikate mit 15 Fillers IDENT in funktionalen Zusammenhängen (I.e im Frame) 8 Prädikate mit 8 Fillers | 7 Prädikate mit 11 Fillers Teileigenschaften von IDENT (I.f im Frame) % | 5 Prädikate mit 7 Fillers Ursprung von IDENT (I.g im Frame) 7 Prädikate mit 13 Fillers | 11 Prädikate mit 17 Fillers aus IDENT folgt (I.h im Frame) 1 Prädikat mit 1 Filler | % Bedeutung von IDENT für den Menschen (II.c im Frame) 1 Prädikat mit 2 Fillers | 1 Prädikat mit 1 Filler 3.4.1 Allgemeine Einschätzung Beim Vergleich der Kontextualisierungen vor und nach 1989 (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3) fallt auf, daß IDENTITÄT im Einheits-Diskurs häufiger, variantenreicher und direkter thematisiert wird. Das heißt: 74 I. Nach 1989 werden mehr verschiedene Prädikate auf IDENTITÄT bezogen Dies ist deutlich verifizierbar, wenn verglichen wird, auf welche Weise Sprecher jeweils vor und nach 1989 formulieren, was IDENTITÄT ist, durch welche Eigenschaften IDENTITÄT gekennzeichnet ist, wie sich IDENTITÄT manifestiert usw. Das heißt, es werden die Prädizierungen betrachtet und verglichen, die sich auf Wesen und Erscheinungsformen von Identität beziehen, also auf die Frame-Dimension I.c. Dabei wird verglichen, wie oft und auf welche Weise Sprecher jeweils vor und nach 1989 Aussagen über Wesen und Erscheinung von IDENTITÄT gemacht haben. In den Texten vor 1989 verwenden die Sprecher 4 verschiedene Prädizierungen mit 6 Fillers, um auszudrücken, was sie unter IDENTITÄT verstehen, während in den Texten nach 1989 die doppelte Anzahl, nämlich 8 verschiedene Prädizierungen Vorkommen, die mit 15 Fillers besetzt werden: vor 1989 nach 1989 IDENT(x) ist y (mit 2 Fillers) IDENT(x) heißt y (mit 2 Fillers) IDENT manifestiert sich in y NICHT-IDENT isty IDENT(x) ist y (mit 7 Fillers) IDENT(x) ist nicht y, sondern z (mit 2 Fillers) IDENT(x) sind y IDENT(x) bestand in y y macht IDENT(x) aus IDENT offenbart sich in y in y drückt sich IDENT aus IDENT(x) hat Konturen von y angenommen Es ist leicht erkennbar, daß in den Texten des Einheitsdiskurses deutlich mehr verschiedene Prädikate auf IDENTITÄT bezogen werden als in den Texten vor 1989. II. Die Slots der gleichen Prädikate werden nach 1989 häufiger mit verschiedenen Fillers ergänzt Besonders augenfällig ist die variantenreichere Verwendung der Prädizierung ‘IDENTITÄT ist y’. In den Kontextualisierungen vor 1989 wird die Leerstelle ‘y’ mit zwei Fillers, nach 1989 mit sieben Fillers besetzt: vor 1989: IDENT(x) ist y 1.) y: die Möglichkeit, zu sich selbst zu stehen (MM 9.3.85,17) 75 2.) x: die Identität der Deutschen y: das So-und-nicht-anders-Sein (Zt 26.9.86,7) nach 1989: IDENT(x) ist y 1. )x: unsere Identität y: unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden (VT 19.4.90,44 Antrittsrede de Maiziere) 2. )s: bei meinen Erfahrungen in diesem Land y: eher regional als national (taz 23.1.90,16) 3. )y: Andersartigkeit der Deutschen in der DDR (RM 25.5.90,40) 4. )x: unsere Identität y: Antwort auf die Frage: Wer sind wir? (FR 17.12.90,17) 5. )s: nicht nur, aber immer auch y: ein Produkt der Erwartungen, die die anderen an einen richten s: denn der Mensch ist im Grunde ein auf Konsonanz bedachtes Wesen (Zt 13.3.92,75) 6. )x: unsere DDR-Identität y: das Selbstbewußtsein dessen, der sich seiner Herkunft und Familie schämt (BZ 13./ 14.4.91,21) 7. )s: eine Identität, die sie doch überwinden sollten y: schlechthin Ostler zu sein (Zt 1.11.91,15) 3.4.2 Problematisierung des Konzeptes Im Gegensatz zu den Textsequenzen vor 1989 deutet die Art und Weise der Prädizierung aus den Texten des Einheits-Diskurses auf die Problematisierung des Konzeptes hin. Dies läßt sich an folgenden Befunden belegen. I. Bezüge auf andere Äußerungen und Sprecher In den Texten vor 1989 wird wenn überhaupt referierend Bezug auf andere Sprecher genommen. Andere Äußerungen oder andere, oft prominente Sprecher werden als Autoritätsbeweis für die eigene Äußerung benutzt: z.B.: ... 50 sagte der Psychologe Erik H. Erikson; der Bamberger Soziologe Ulrich Beck argumentiert Freud hat eine Entwicklungspsychologie entworfen, die sagt, ...so entspricht es der Überzeugung des Kanzlers 76 In den Texten des Einheits-Diskurses beziehen sich die Sprecher häufig argumentierend auf Äußerungen anderer Sprecher zu IDENTITÄT. Der zustimmende oder widersprechende Bezug zu anderen Äußerungen und Sprechern wird häufig mit Hilfe des Syntagmas Identität ist nicht (nur) y, sondern (auch) z ausgedrückt, zum Teil aber auch explizit formuliert: z.B.: es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte, wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflichfalsch sagt, der aberwitzige Glaube derer da oben, ... entgegen dem Votum Christian Meiers... II. Thematisierung der Gefährdung von Identität In den Texten des Einheits-Diskurses wird vor allem die Gefährdung von Identität thematisiert. Dies kann an den Kontextualisierungen abgelesen werden, die der Frame-Dimension I.b (Bedingungen für IDENT) zuzuordnen sind (vgl. Kapitel 3.3) und die Prädikate enthalten wie ‘y bedroht IDENT’, ‘y zerstört IDENT’ oder ‘IDENT wird der Boden entzogen durch y’: y bedroht IDENT(x) x: die Identität vieler einzelner y: was die ökonomische Theorie als vernünftig empfiehlt (Arbeitslosigkeit; abgebrochene Lebenspläne) (Zt 21.6.91,1) y: Erschütterung alter Gewißheiten und Gewohnheiten (Zt 21.6.91,1) y zerstört IDENT(x) s: es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte x: DDR-Identität y: die Situation des Desasters (FA 12.1.90,28) IDENT geht nicht verloren durch y, ihr wird der Boden entzogen durch z y: dadurch, daß der Vereinigungsprozeß so rasch voranschreitet z: durch die dramatische Veränderung der Lage (FA 29.5.90,3) In den Texten vor 1989 wird nur einmal eine Bedrohung von Identität thematisiert. Die meisten Sprecher machen eher positive Aussagen zu Bedingungen für Identität: IDENT wird erreicht, wenn y y: wenn der eigene Platz im Kontext des sozialen Gefüges und im historischen Kontinuum gefunden ist (Zt 17.4.87,70) 77 x findet zu IDENT, wenn y x: die Bundesrepublik y: wenn sie sich in bewußter Erinnerung von der verdrängten und damit fortdauernden Kontinuität der Hitlerschen Barbarei freimacht (Zt 3.5.85,6) nur x ist in der Lage, IDENT(xi) zu behalten x: jemand, der sich wehren kann Xi: seine Identität (Zt 26.9.86,43) Gefährdung von IDENTITÄT wird in den Texten vor 1989 nur einmal thematisiert: y gefährdet IDENT(x) s: Furtwängler fühlte sich tief in seiner Vergangenheit verwurzelt, und er mag geglaubt haben, daß x: seine Identität y: die Verpflanzung in ein anderes Land (MM 12.9.85,40) Aus den angeführten Beispielen ist erkennbar, daß die massive öffentliche Auseinandersetzung über den Inhalt von IDENTITÄT und eine Sensibilisierung für Gefährdungen von IDENTITÄT erst mit dem Einheits-Diskurs einsetzen. 3.4.3 Verschiebung des Konzeptes In der zweiten Hälfte der 80er Jahre war IDENTITÄT im Sinne von individuelle IDENTITÄT in der öffentlichen Kommunikation der Bundesrepublik ein häufig thematisiertes Phänomen. Im Einheitsdiskurs spielt INDIVIDUELLE IDENTI- TÄT nur eine untergeordnete Rolle. In den Texten nach 1989 steht vor allem die IDENTITÄT DER DEUTSCHEN im Mittelpunkt des Interesses, also die Identität einer nationalen Gemeinschaft, oder die IDENTITÄT DER OSTDEUTSCHEN bzw. der WESTDEUTSCHEN, also die Identität einer Erfahrungs- und Interessengemeinschaft. Dies kann z.B. an der Ausfüllung der Prädikate der Frame- Dimensionen (b) und (c) gezeigt werden (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3): Betrachtet man die Ausfüllung der Frame-Dimension I.b mit den Kontextualisierungen aus den Texten vor 1989, stellt man fest, daß sich von 4 Prädizierungen 3 auf ein Individuum beziehen, nur eine Prädizierung bezieht sich auf eine Institution (hier die Bundesrepublik). Bei den Ausfüllungen der Frame- Dimension I.c mit den Kontextualisierungen aus den Texten vor 1989 beziehen sich 4 von 6 Prädizierungen auf ein Individuum, nur 2 Prädizierungen be- 78 ziehen sich auf die Institution BRD bzw. auf die nationale Gemeinschaft der Deutschen. Die Betrachtung der Ausfüllung der Frame-Dimension I.b mit den Kontextualisierungen aus den Texten nach 1989 zeigt, daß sich alle Prädizierungen auf die Individuengemeinschaft der Ostdeutschen beziehen. Auch bei den Ausfüllungen der Frame-Dimension I.c mit den Kontextualisierungen nach 1989 beziehen sich fast alle Prädizierungen auf die Individuengemeinschaft der Deutschen oder der Ostbzw. Westdeutschen. Dies belegt eine Verdrängung der Gebrauchsvariante individuelle IDENTITÄT in den Texten nach 1989 zugunsten einer Variante, die als GEMEINSCHAFTLI- CHE IDENTITÄT bezeichnet werden kann. Ein weiterer Hinweis auf diese Tendenz besteht darin, daß im Gegensatz zu den Texten vor 1989 im Einheitsdiskurs nicht explizit Bezug auf psychologische Theorien genommen wird (vgl. vor 1989: Identität, so sagt der Psychologe Erik H. Erikson, heißt wissen, was man mit sich selber vorhat oder in einem anderen Text: Freud hat eine Entwicklungspsychologie entworfen, die sagt, Identität entsteht durch innere Verarbeitungfrühkindlicher Konflikte). 3.4.4 Zusammenfassung Die Auffassung von Frames als Listen strategisch wichtiger Fragen bietet die Möglichkeit, die Vertextung von Konzepten in großen Textmengen systematisch zu erfassen und mit einem gut handhabbaren Instrumentarium zu beschreiben. Prädizierungen der zu beschreibenden Konzepte in den Korpustexten werden als Antworten auf Frame-Fragen interpretiert, in denen die Slots der Prädikate mit konkreten Textsegmenten ausgefüllt sind. Indem die Prädizierungen des jeweiligen Konzeptes, die aus den Korpustexten gewonnen wurden, den verschiedenen Frame-Dimensionen zugeordnet werden, kann eine systematisch aufbereitete Grundlage für weitere Analysen erarbeitet werden. Auf dieser Basis wird der systematische Vergleich von Realisierungsweisen bestimmter Konzepte in bestimmten Zeiträumen oder Kommunikationsbereichen möglich. In der vorliegenden Analyse wurde dies zunächst an der Vertextung des iDENTITÄTs-Konzepts demonstriert. Der Vergleich der realisierten Prädizierungen von IDENTITÄT und die Einbeziehung der sprachlichen Hinweise auf Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien erlaubt es, das „Brisant- Werden“ des Konzeptes im Diskurs zur deutschen Einheit nachzuweisen. So läßt sich vorführen, daß das IDENTITÄTs-Konzept im Einheitsdiskurs in Frage 79 gestellt wird und durch die öffentliche Debatte eine Erweiterung in Richtung GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT erhält. Der Beginn dieses Erweiterungsprozesses läßt sich bis in die öffentliche Kommunikation der alten Bundesrepublik Ende der 80er Jahre zurückverfolgen. Durch den Einheitsdiskurs wird diese Tendenz massiv ausgebaut und gefestigt. 4. Fallbeispiel Bf: DEUTSCHE Im Fallbeispiel II soll die Vertextung des Konzeptes DEUTSCHE in der Lesart DIE DEUTSCHEN analysiert werden. Nach den gleichen Prinzipien und Methoden, die im vorherigen Kapitel die Grundlage für die Beschreibung von IDENTITÄT bildeten, wird gezeigt, wie das Konzept DEUTSCHE im Einheits- Diskurs verarbeitet wird und auf welchen Voraussetzungen diese Verarbeitung aufbaut. In einem ersten Schritt wird zunächst beschrieben, welches Wissen über DEUTSCHE in der Sprachgemeinschaft vor 1989 vorausgesetzt werden kann. Anschließend wird gezeigt, auf welche Art und Weise das Konzept DEUTSCHE von den Sprechern im Einheits-Diskurs verwendet wird, welche Elemente konzeptgebundenen Wissens über DEUTSCHE sie thematisieren, ob im Vergleich zur Vertextung des Konzeptes vor 1989 Unterschiede festzustellen sind und ob Konzeptverschiebungen erkennbar werden. 4.1 Die Erschließung von Bedeutungswissen über DEUTSCHE 4.1.1 Wörterbucheinträge, Stereotype und Verwendungsweise Wie beim Fallbeispiel I (IDENTITÄT) soll auch beim Fallbeispiel II (DEUTSCHE) der Wörterbucheintrag einen ersten Zugriff darauf ermöglichen, welche Bedeutung der Wortmarke Deutsche / die Deutschen in der Sprachgemeinschaft üblicherweise zugeschrieben wird. Wenn wie in der vorliegenden Untersuchung ein dynamisches Bedeutungskonzept favorisiert wird, können Wörterbucheinträge nur ein erster Zugriff sein, denn Bedeutungserklärungen in Wörterbüchern konservieren sprachliches Wissen über eine lexikalische Einheit und auch nur einen geringen Teil dieses Wissens. Sie müssen aus methodischen Gründen Wortbedeutungen als etwas Statisches behandeln. Neuere Varianten und Tendenzen der Sprachverwendung, die sich allmählich in einer Sprachgemeinschaft etablieren, können erst relativ spät berücksichtigt werden. Der DUDEN (Deutsches Universalwörterbuch 1989, S. 337) gibt folgenden Eintrag an: 80 Deutsche, der u. die: Angehörige(r) des deutschen Volkes, aus Deutschland stammende Person: ein typischer Deutscher; sie ist Deutsche; die Deutschen (die deutsche Mannschaft, die deutschen Sportler) haben die Fußballweltmeisterschaft gewonnen. Das DEUTSCHE WÖRTERBUCH von G.Wahrig (München 1989, S. 341) setzt den Akzent etwas anders: Deutsche(r) jmd., der nach Abstammung, Muttersprache zum Deutschtum gehört; alle Deutschen; sie ist Deutsche; sie hat einen Deutschen geheiratet; ihr Mann ist Deutscher. Die Wörterbücher nehmen offensichtlich Merkmale wie Abstammung, Muttersprache und Zugehörigkeit zum deutschen Volk als grundlegend für die Charakterisierung von DEUTSCHE an und geben somit Antwort auf die Frage WER IST EIN DEUTSCHER? Andere Fragen, die in der öffentlichen Kommunikation im Zusammenhang mit DEUTSCHE eine Rolle spielen, werden damit nicht beantwortet. Etwa die Fragen WIE IST EIN DEUTSCHER / SIND DEUTSCHE? oder WELCHES SELBSTVERSTÄNDNIS HAT EIN DEUTSCHER / HABEN DEUTSCHE? Es wird nichts darüber ausgesagt, welche Ansichten über typische Deutsche vorherrschen und wie Deutsche sich selbst begreifen oder mit anderen Worten welche Stereotype die Deutschen selbst oder auch Nicht-Deutsche über DEUTSCHE haben. Stereotype in diesem und also im Putnam'schen Sinne sind in einer Sprachgemeinschaft über einen Gegenstand oder Sachverhalt vorherrschende Meinungen und Ansichten, die nicht unbedingt eine realistische Grundlage haben. Sie resultieren oft weniger aus Fakten als vielmehr aus mehrheitlichen Stimmungen, Bewertungen, Emotionen oder aus Scheinrealitäten, wie sie durch Medien konstruiert werden können. Sie sind somit oft weniger wahre Urteile als vielmehr Vorurteile über die Welt. Über DEUTSCHE gibt es eine jahrhundertalte Tradition von Stereotypen, die zum Teil immer wieder reproduziert und als mehrheitliches Wissen vorausgesetzt werden, obwohl sie mit der Realität nur noch wenig zu tun haben. Sie sind jedoch offensichtlich im „öffentlichen Unterbewußtsein“ (Trautmann 1991, S. 13) präsent und durch äußere Situationen jederzeit abrufbar. Die „ewigen Deutschen“ (Trautmann 1991, S. 26) sind fleißig, ordentlich, angepaßt, autoritär, effizient, aber auch verunsichert, obrigkeitshörig, aggressiv, verführbar durch irrationale Ideologien und immer auf der Suche nach irgendeinem Sonderweg. Diese Charakterisierung läßt sich laut Trautmann kontinuierlich über die Jahrhunderte hinweg von der Luther- Zeit über die Ära Friedrichs des Großen bis zu Bismarck und schließlich Hitler verfolgen. Das nazistische Deutschland betonierte für das Ausland das Bild vom „häßlichen Deutschen“ (Trautmann 1991), das bis heute im öffentlichen Bewußtsein sowohl in Deutschland selbst als auch im Ausland fortlebt und - 81 obwohl bereits überlagert durch die Erfahrungen jahrzehntelanger Nachkriegsgeschichte in der DDR und der Bundesrepublik aktualisierbar bleibt. Eine heftige Renaissance erlebte das Bild vom häßlichen Deutschen in den Jahren 1989 und 1990 im Zusammenhang mit der Wende in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung. Besonders in Israel und den Nachbarländern Deutschlands, aber auch bei vielen Deutschen, war die Erfahrung des zweiten Weltkrieges und der Massenvemichtungslager präsent, und die Gefahren eines erneut Vormacht anstrebenden Großdeutschland rückten ins Bewußtsein. In den Medien konnte dies Ende 1989/ Anfang 1990 auch an der häufigen Verwendung von großdeutsch in Kollokationen wie großdeutsche Gefahr, großdeutsche Bestrebungen usw. beobachtet werden. Mit dem Frühjahr 1990 läßt der Gebrauch von großdeutsch in den Medien wieder merklich nach, und mit Bezug auf ein wiedervereinigtes Deutschland wird fast nur noch gesamtdeutsch verwendet. Die Befürchtungen wegen eines wieder Vormacht anstrebenden vereinigten Deutschland verblaßten in der Weltöffentlichkeit spätestens mit dem Golfkrieg: Aus den „aggressiven Deutschen“ wurden 1991 nach einer überraschenden Kehrtwende der Weltöffentlichkeit die „feigen Deutschen“, angebliche „Drückeberger“ in der Anti-Saddam-Front zur Befreiung Kuwaits. Die auflagenstärkste Zeitung Großbritanniens, „Sun“, fragte den deutschen Botschafter im Februar 1991: „Warum benehmen sich die Deutschen während des Golfkrieges so feige? “ Der Botschafter ... stellte fest: „Es müßte doch eigentlich Lob auslösen, daß wir Deutschen uns geändert haben, nachdem uns immer vorgeworfen wurde, wir seien nationalistisch und militaristisch.“ (Trautmann 1991, S. 4) Stereotype können also, gesteuert durch äußere Situationen und Bedingungen oder auch durch Textstrategien der Sprecher, aktiviert oder revidiert werden.Trautmann (1991) stellt bei umfassender Auswertung von internationalen Umfragen fest, daß sich Stereotype über DEUTSCHE gegenseitig überlagern, alte Feindbilder bereits von neuen, positiven Erfahrungen überdeckt werden, jederzeit jedoch bei extrem als negativ erlebtem Verhalten von Deutschen (wie z.B. bei rechtsradikalen Ausschreitungen gegen Ausländer zu Beginn der 90er Jahre) wieder aufbrechen können. Seit den siebziger Jahren zeigen Umfragen, daß ältere Feindbilder und Stereotype im Ausland längst nicht mehr so tief verankert sind wie in den fünfziger Jahren. Das DEUTSCHEN-Bild der Nachbarn hat sich im Laufe der Nachkriegsgeschichte normalisiert. Die Nichteinmischung in außerdeutsche Konflikte wurde bis zum Golfkneg von der Weltöffentlichkeit als etwas Positives wahrgenommen, das das Bild von den militaristischen und nationalistischen Deutschen verblassen ließ. Die Sympathiewerte der Deutschen im Ausland haben, nicht nur wegen der Hochachtung vor der 82 wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik, sondern auch wegen der Integration der Deutschen in die europäische Gemeinschaft bzw. in die Gemeinschaft der Ostblockländer, zugenommen. Jedoch wurde der Einstellungswandel bei den Nachbarstaaten, wie Trautmann (1991) feststellt, von der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig zur Kenntnis genommen. Für viele Deutsche selbst ist die traumatische Nazi-Vergangenheit eine prägende Erfahrung und mit so vielen Schuldgefühlen gegenüber anderen Völkern belastet, daß sie davon ausgehen, daß auch ihre Nachbarn in West und Ost sich in ihren Urteilen von der Nazi-Zeit leiten ließen. Umfragen ergeben jedoch, daß Ende der siebziger Jahre ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung in den Nachbarstaaten angibt, seine Meinung über die Deutschen gebessert zu haben. Die Nazi-Vergangenheit war ... keineswegs vergessen, sie prägte aber nur noch die Einstellung einer Minderheit. Das Ausland zeigte sich Ende der siebziger Jahre mehr daran interessiert, wie die Deutschen denken und leben und welche Beziehungen die Bundesrepublik und die DDR hatten. (Trautmann 1991, S. 11) Soweit zum Fremdbild. Das Selbstbild der Deutschen ist ambivalent und inhomogen. Seit Generationen schwankt es zwischen Selbsterniedrigung und Hochmut und spiegelt das zwiespältige Image in der Welt, in dem sich neidvolle Bewunderung, Angst und Verachtung mischen (vgl. Reichel 1991, S. 316). Außerdem muß in der Nachkriegsgeschichte zwischen Ost- und Westdeutschen und deren Benennungsgepflogenheiten unterschieden werden, denn die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden deutschen Staaten brachten unterschiedliche Selbst- und Fremdbilder hervor, die wohl nur einen gemeinsamen Nenner haben den fehlenden Nationalstolz, der durch die Erfahrungen der Nazi-Zeit stark belastet war. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß die Deutschen ob in Ost oder West in den Jahrzehnten nach dem Krieg ihre Identität nicht ungebrochen aus ihrer Nationalität beziehen konnten. Die nazistische Vergangenheit Deutschlands führte zur „Entlegitimierung des deutschen Nationalismus“ (Habermas 1990, S. 209) und erinnert „die Deutschen, auf welchen Territorien sie sich auch immer einrichten mögen ... (daran), daß sie sich auf Kontinuitäten ihrer Geschichte nicht verlassen können. Mit jenem ungeheuerlichen Kontinuitätsbruch haben die Deutschen die Möglichkeit eingebüßt, ihre politische Identität auf etwas anderes zu gründen als auf die universalistischen staatsbürgerlichen Prinzipien, in deren Licht die nationalen Traditionen nicht mehr unbesehen, sondern nur noch kritisch und selbstkritisch angeeignet werden können.“ (S. 219 f.) Während in den ersten Nachkriegsjahren sowohl in Ostals auch in Westdeutschland noch Hoffnungen auf eine Weiterführung der nationalstaatlichen Tradition bestanden, führte die politische Entwicklung doch in den 50er und 60er Jahren dazu, daß die deutsche Teilung sich unumstößlich manifestierte, 83 was nicht ohne tiefgreifende Auswirkungen auf die Deutschen und deren Selbstverständnis blieb. Bei den Deutschen in der Bundesrepublik hatte sich in der breiten Bevölkerung ein eher pragmatisches Selbstverständnis herausgebildet, das die Frage der nationalen Identität zurücktreten ließ (vgl. Mommsen 1990, S. 69). Nach Mommsen war dieses Selbstbild in den 50er und 60er Jahren durch vier Aspekte geprägt (vgl. auch Habermas 1990, S. 206): durch ein Ausblenden der Nazi-Vergangenheit und eine eher ungeschichtliche Definition des eigenen Standortes; durch die aggressive Abgrenzung gegenüber den Systemen Osteuropas, insbesondere gegenüber der DDR; durch die Orientierung an den Werten und Verkehrsformen der westlichen Zivilisation, vor allem eine Orientierung an den USA; durch den Stolz auf die eigene wirtschaftliche Leistung. Für die Ostdeutschen treffen die meisten dieser Eigenschaften nicht zu, manche jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Behauptung einer Abwesenheit von Geschichtsbewußtsein wird den Ostdeutschen nicht gerecht. In der DDR waren die Nazi-Vergangenheit und eine Hochachtung vor Menschen, die Widerstand geleistet hatten, immer gegenwärtig. Die vierte Eigenschaft, ein Stolz auf die eigene wirtschaftliche Leistung, gilt bis zum Beginn der 70er Jahre auch für die Ostdeutschen. Die Gewißheit, trotz hoher Reparationsleistungen an die Sowjetunion und ohne amerikanische Hilfe die Kriegszerstörungen beseitigt und eine neue Industrie aufgebaut zu haben, erfüllte die Ostdeutschen mit Stolz. Von massiven Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der eigenen Wirtschaft wurden breite Kreise der Bevölkerung erst mit den 70er Jahren ergriffen. Die genannten vier Aspekte, die das Selbstverständnis der Westdeutschen in den 50er und 60er Jahren prägten, wurden seit dem Ende der 60er Jahre bis auf einen, das Selbstverständnis als Wirtschaftsnation, in Frage gestellt (vgl. Habermas 1990, S. 207fF). Die Protestbewegung der Studenten klagte eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit ein. Die Ostverträge mit der Anerkennung der DDR und die Entspannungspolitik entschärften die aggressive Haltung gegenüber Osteuropa. Der Vietnamkneg, das Erstarken der EG und die Wahrnehmung von Interessenkonflikten zwischen Europa und den USA vergrößerten die Distanz zu den Vereinigten Staaten. Mit den 70er Jahren bezogen die Westdeutschen ihr Selbstverständnis aus der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und zunehmend aus 84 dem Stolz auf eine rechtsstaatliche Demokratie. Dies mag als Indiz dafür gelten, daß die Bundesbürger sich Ende der 70er Jahre eher einem Verfassungspatriotismus verpflichtet fühlten als einer nationalen Identität, wie sie in den 80er Jahren mit dem sogenannten Historikerstreit zumindest unter Intellektuellen diskutiert wurde (vgl. Kapitel 3.1). Neben der historischen Dimension des DEUTSCHEN-Bildes, die vor allem die Frage wie sind die DEUTSCHEN? betrifft, gewann in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit den Einwanderungswellen die Frage WER IST DEUTSCHER? in der öffentlichen Kommunikation an Bedeutung. Aus dem öffentlichen Diskurs zu dieser Frage leitet Teubert (1992, S. 233ff.) folgende Charakterisierung für DEUTSCHE her: „Die Frage, wer Deutscher ist, läßt sich aufgrund äußerer und innerer Merkmale beantworten. Aus deutscher Binnensicht ... (ist) ein typischer Deutscher ... (traditionell) vorzugsweise blond, großgewachsen, tapfer, treu, fleißig, zuverlässig, pflichterfullt und Ausschweifungen abgeneigt. Nach modernen Kategorien sollte er beruflich erfolgreich, leistungsorientiert, solidarisch, familienbewußt, vorsorgend sein und von seiner Freizeit einen sinnvollen Gebrauch machen. Aus der Außensicht überwiegt heute wohl das Bild vom „häßlichen Deutschen“.“ Teubert räumt ein, daß sich in den Merkmalen der Binnensicht auf den typischen Deutschen eine ethnizistische Betrachtungsweise spiegelt, die Bezüge zur nationalsozialistischen Rassenideologie aufweist. Dennoch habe eine solche Sicht nach dem Zweiten Weltkrieg nur bedingt an Attraktivität verloren und gewinne gerade gegenwärtig im Zusammenhang mit der Ausgrenzung der Ausländer als Verkörperung des Fremden zunehmend an Akzeptanz. Dennoch würden, wenn es darum gehe, festzustellen, ob jemand Deutscher sei, solche Merkmale nur selten herangezogen. Nach gängiger Auffassung müsse ein Deutscher vor allem bestimmte äußere Bedingungen erfüllen, z.B. einen deutschen Paß, einen ständigen Wohnsitz in Deutschland, deutsche Großeltern und Eltern haben und dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugehören. Ein prototypischer Deutscher erfülle alle diese Bedingungen. Offensichtlich wird eine Charakterisierung von DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation jeweils mit unterschiedlichen Intentionen vorgenommen, wodurch jeweils unterschiedliche Eigenschaften und Merkmale hervorgehoben werden, die DEUTSCHE auszeichnen. Wenn es um die Frage geht, wer vor den Behörden als Deutscher gilt, werden Eigenschaften wie <hat einen DEUTSCHEN PASS> , <HAT DEUTSCHE ELTERN> oder <HAT DEUTSCH ALS MUTTERSPRACHE> als wesentlich angesehen. Wenn es darum geht, typische Deutsche zu charakterisieren, werden Stereotype wie <DEUTSCHE SIND FLEISSIG>, <DEUTSCHE SIND GEWISSENHAFT>, <DEUTSCHE SIND ERNSTHAFT>, 85 <DEUTSCHE SIND ZUVERLÄSSIG> oder <DEUTSCHE SIND HUMORLOS> aktualisiert. Dabei ist die Menge der gängigen Stereotype offen, was auch daran erkannt werden kann, daß die hier zitierten Autoren der Kategorie DEUTSCHE jeweils z.T. unterschiedliche Eigenschaften zuschreiben. In der öffentlichen Kommunikation der DDR vor 1989 wurde Deutsche nur mit historischem Bezug verwendet. Da sich in den 50er Jahren abzeichnete, daß es bis auf weiteres keinen deutschen Nationalstaat und kein einheitliches deutsches Volk mehr geben würde, erübrigte sich in der Argumentation der DDR eine Bezeichnungsnotwendigkeit für DEUTSCHE. Die Ostdeutschen wurden in der öffentlichen Kommunikation DDR-Bürger genannt, um einen expliziten Bezug zum Staat DDR herzustellen und auch auf diese Weise den politischen Bruch mit dem Deutschland vor 1945 zu unterstreichen. Auch von den Westdeutschen wurden die Ostdeutschen in erster Linie nicht als Deutsche, sondern eher als Verkörperung des Fremden gesehen. Deutschland und Deutsche waren seit den 60er Jahren sowohl im Verständnis der Westaber auch der Ostdeutschen Bezeichnungen, die nicht auf die DDR und deren Einwohner zutrafen. Vielmehr wurden sie von den Westdeutschen ausschließlich für sich selbst und ihr Land Bundesrepublik beansprucht, was in bundesdeutschen Medientexten der 70er und 80er Jahre massenhaft nachgelesen werden kann. Als besonders anschauliches Beispiel soll hier eine Textsequenz aus der 5/ W-Zeitung stehen: ln der „DDR “ wurden seit Kriegsende 14 Wölfe erlegt. In Deutschland sind sie seit Ende des vergangenen Jahrhunderts ausgerottet, (zitiert nach Teubert 1992, S. 236) Hermanns (1992, S. 256) versucht dies mit dem Vokabular der Prototypentheorie auszudrücken: „Prototypisch formuliert, waren diese armen Deutschen aus der DDR nur periphere Exemplare der Kategorie deutsch, oder, wie man es ... gleichfalls nennen kann, sie waren schlechte Beispiele für das, was deutsch ist. ... Gerade deshalb, weil sie keine reichen Deutschen waren, waren sie prototypisch keine guten Deutschen. Denn ein guter Deutscher ist ein reicher Deutscher ... Und ein guter Deutscher ist prototypsemantisch außerdem ein freier Deutscher, wobei frei zu definieren wäre als gerade das, was Bundesdeutsche sind und waren.“ Hermanns schreibt diese Sicht auf die Charakterisierung dessen, was ein typischer Deutscher sei, sowohl den Ostdeutschen als auch den Westdeutschen zu, mit der Begründung, daß sich die Ostdeutschen schon immer als Deutsche zweiter Klasse und die Westdeutschen als die wahren Deutschen empfünden hätten (1992, S. 255). 86 In der öffentlichen Kommunikation der DDR wurden deutsch, Deutschland und Deutsche als Bezeichnungen für Einrichtungen der DDR, deren Einwohner und das Land selbst immer mehr zurückgedrängt. Dies resultiert in starkem Maße aus der Veränderung des Selbstbildes, das die DDR im Laufe der Nachkriegsgeschichte entwickelt und in ihren verschiedenen Verfassungen festschreibt (vgl. Schlosser 1990, S. 51): Der Artikel 1, Satz 1 lautet jeweils: 1949: Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik. 1968: Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. 1974: Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Die Verfassung von 1949 strebt noch ein ungeteiltes Deutschland an, wie es auch in der Textzeile der Nationalhymne der DDR: laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland zum Ausdruck kommt, die später zu öffentlichen Anlässen nicht mehr gesungen, sondern nur noch instrumental aufgeführt wurde. In der Verfassung von 1968 sieht sich die DDR noch als Teil der deutschen Nation, in den 70er Jahren wird deutsch sofern nicht sprachliche, historische oder kulturelle Aspekte gemeint sind fast nur noch in Bezeichnungen für gesellschaftliche Organisationen, Verbände oder staatliche Einrichtungen verwendet (z.B. FDJ — Freie Deutsche Jugend, DSF - Deutsch-Sowjetische Freundschaft; Deutsch-Arabische Gesellschaft). Allerdings wird auch hier das Bestreben deutlich, die Bezeichnung deutsch zu vermeiden. Neu gegründete Organisationen wurden möglichst ohne die Markierung deutsch benannt, aus älteren Bennungen wurde deutsch durch Umbenennung getilgt (z.B. Deutscher Kulturbund in Kulturbund der DDR; Deutsche Akademie der Wissenschaften in Akademie der Wissenschaften der DDR). Die Sprachregelungsbemühungen fanden einen offiziellen Höhepunkt darin, daß Erich Honecker auf der 13. Tagung des ZK der SED im Dezember 1974 erklärte: Unser sozialistischer Staat heißt Deutsche Demokratische Republik, weil ihre Bürger der Nationalität nach Deutsche sind... Staatsbürgerschaft - DDR, Nationalität deutsch. So liegen die Dinge. (ND 13.12.74) Für Fragebögen wurde diese Regelung beibehalten bis zum Ende der DDR. Neben einem Feld Staatsbürgerschaft, das mit DDR auszufüllen war, gab es ein Feld Nationalität, in das deutsch eingetragen wurde. 87 In den Wörterbüchern der DDR kam Deutsche nicht, Deutschland nur als Bezeichnung für etwas Historisches und nicht als eigenes Stichwort vor. Im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (1980, S. 800) wird als erste Bedeutungserklärung für das Adjektiv deutsch angegeben: „bezeichnet die Staatlichkeit, die territoriale, ethnische Zugehörigkeit / das ehemalige Deutschland und seine Bevölkerung betreffend ... / ist auf Grund der Entwicklung zweier Staaten mit gegensätzlichem Klassencharakter auf dem Territorium des ehemaligen Deutschland nicht mehr undifferenziert verwendbar / die DDR oder die BRD betreffend ... / wird häufig in der BRD unberechtigt unter Außerachtlassung der Existenz der DDR ausschließlich für das Gebiet der BRD verwendet.“ Erst mit der Wende und Vereinigung werden in ostdeutschen Texten der öffentlichen Kommunikation Deutsche und Deutschland wieder mit aktuellem Bezug zum eigenen Volk und zum eigenen Land gebraucht: „Daß die beiden Wörter auf dem Gebiet der Ex-DDR jetzt wieder offiziell und öffentlich verwendet wurden, das ... war ... das Neue, das sich aber noch zu Lebzeiten der DDR angebahnt und durchgesetzt hat. Ein Vorbote davon war der ... Wechsel von W i r sind das Volk zu Wir sind e i n Volk, wo im Cluster der Bedeutungskomponenten des Wortes Volk auf einmal etwas anderes hervorgekehrt war. Aus Volk als Staatsvolk wurde unversehens Volk im Sinne der Nation. E i n Volk, das hieß: das deutsche Volk.“ (Hermanns 1992, S. 254) Diese Verwendungsweise war vor 1989 in der öffentlichen Kommunikation der DDR nicht üblich, denn Hoffnungen auf ein einheitliches Deutschland, die noch in der Verfassung von 1949 verankert waren, hatten sich über die lahrzehnte hinweg zerschlagen. Die Deutschen in der DDR waren spätestens mit der Auslegung der Verfassung von 1968 als das Staatsvolk der DDR festgelegt und mit der Benennung DDR-Bürger versehen. Das Lexem Deutsche war in der öffentlichen Kommunikation der DDR vor 1989 abwesend und wurde in der Bundesrepublik nicht als „brisantes Wort“ angesehen jedenfalls wurde es nicht als Stichwort ins Wörterbuch der Brisanten Wörter (Strauß/ Haß/ Harras 1989) aufgenommen. Die Verwendungsweise von Deutsche hatte sich im Nachkriegsdeutschland über die Jahrzehnte hinweg in der Weise gefestigt, daß in der Bundesrepublik Deutsche für die Bundesbürger verwendet, in der öffentlichen Kommunikation der DDR mit historischem Bezug gebraucht und als Bezeichnung für die DDR-Bürger vermieden wurde. Im Diskurs zur deutschen Einheit wurde das Konzept DEUTSCHE zum Thema erhoben, problematisiert und in neue Kontexte gerückt. Dies soll in den folgenden Kapiteln mit Hilfe systematischer Analysen gezeigt werden. 88 4.1.2 Der Frame für DEUTSCHE In den folgenden Kapiteln wird überprüft und systematisch beschrieben, welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens über DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 und im Einheitsdiskurs nach 1989 aktualisiert werden, welche Stereotype über DEUTSCHE von den Sprechern gestützt oder auch revidiert oder modifiziert werden und ob sich gegebenenfalls eine Konzeptverschiebung nachweisen läßt. Dabei wird nach der gleichen Methode verfahren wie in Kapitel 3, das sich auf die Beschreibung der Vertextung von IDENTITÄT bezieht. Um ein operationalisierbares Instrumentarium zur Beschreibung semantischen Wissens zu gewinnen, wird zunächst — wie in Kapitel 3 — der entsprechende- Frame hergeleitet, hier der Frame für DEUTSCHE. Dies geschieht wie in Kapitel 3 auf der Grundlage der Methode von Konerding (1993), der über verschiedene Zwischenschritte Matrixframes für die deutschen Substantivklassen aufgestellt hat und auf diese Weise ein systematisches Methodenarsenal zur Darstellung konzeptgebundenen Wissens erhält (vgl. Kapitel 2.3). Auf der Grundlage der Matrixframes lassen sich durch Substitutionsoperationen die Frames für konkrete Substantive konstruieren, die mit ihren auf das entsprechende Substantiv bezogenen Fragen einen Rahmen für die Herleitung des semantischen Wissens vorgeben, das an die entsprechende Wortmarke gebunden ist. Wie in Kapitel 3 wird auch für die Beschreibung von DEUTSCHE die Methode von Konerding ergänzt, indem ein Rahmen für die Aufnahme sprachlicher Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne geschaffen wird. Auf diese Weise kann der Aspekt der Vertextung konzeptgebundenen Wissens adäquat einbezogen werden. Für die Erstellung des Frames für DEUTSCHE sind als Ausgangsbasis sowohl der Matrixframe für PERSON/ AKTANT als auch der Matrixframe für INSTI- TUTION/ SOZIALE GRUPPE vorstellbar. Eine genauere Prüfung der in Frage kommenden Matrixframes ergibt, daß sich der Matrixframe person/ aktant auf Personen mit temporärer oder dauerhafter Eigenschaft bzw. auf Personen in einem besonderen Zustand bezieht (vgl. Konerding, S. 276ff). Als ein Lexem, das zum Beispiel über den Matrixframe für PERSON/ AKTANT zu beschreiben wäre, wird Drückeberger angegeben. Fragen, die den Rahmen des Matrixframes für person/ aktant bilden, sind z.B. : - Auf welche Art und Weise wird der Zustand / die Eigenschaft erkennbar? 89 - Wie kann das subjektive Befinden der Person aufgrund des Zustandes / der Eigenschaft charakterisiert werden? - Welche Gewohnheiten der Person ergeben sich aus diesem Zustand / dieser Eigenschaft? - Welche Fähigkeiten der Person ergeben sich aus diesem Zustand / dieser Eigenschaft? - Welche weiteren besonderen Eigenschaften ergeben sich aus diesem Zustand / dieser Eigenschaft? - In welchen Ereignissen oder Handlungen spielt der Zustand / die Eigenschaft eine Rolle? - Welche Rollen bzw. Funktionen hat der Zustand / die Eigenschaft in diesen Ereignissen oder Handlungen? - Unter welchen Umständen entsteht der Zustand / die Eigenschaft bei einer Person? - Welche Bedeutung hat das Erscheinen des Zustandes / der Eigenschaft für die Person und ihre Mitmenschen? - Welche ähnlichen Zustände / Eigenschaften gibt es? Bereits die Durchsicht dieser Auswahl an Fragen des Matrixframes für PERSON/ AKTANT läßt deutlich werden, daß dieser Matrixframe nicht die geeignete Basis für die Aufstellung des Frames für DEUTSCHE bildet. Der Hauptgrund hierfür ist der Bezug des Matrixffames PERSON/ AKTANT auf eine einzelne Person. Da die vorliegende Untersuchung die Vertextung von DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation fokussiert, steht weniger die Person eines einzelnen Deutschen als Individuum im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Gemeinschaft aller Deutschen, also die Deutschen als politische und soziale Großgruppe (vgl. Mommsen 1990, S.72). Deshalb stützt sich der im folgenden zu konstruierende Frame für DEUTSCHE auf den Matrixframe INSTITU- TION/ SOZIALE GRUPPE (vgl. Konerding 1993, S. 425ff.). Dieser Matrixframe ist in seiner Abstraktheit, die einen möglichst umfassenden Geltungsbereich abzudecken hat, sehr umfangreich und enthält Aspekte, die für DEUTSCHE irrelevant sind. Deshalb wurde er nach den konkreten Anforderungen für die Beschreibung von DEUTSCHE gekürzt. Wie in Kapitel 3 wird der Frame für deutsche auf der Grundlage des Matrixframe für institution/ soziale GRUPPE dadurch gewonnen, daß in den Framefragen jeweils INSTITUTION/ 90 SOZIALE GRUPPE durch DEUTSCHE substituiert wird. Im Ergebnis dieser Substitution beziehen sich die entsprechenden Framefragen dann nicht mehr allgemein auf INSTITUTION/ SOZIALE GRUPPE, sondern auf DEUTSCHE im Sinne von GRUPPE DER DEUTSCHEN: Der Frame für DEUTSCHE I. Konstitutionsrelationen und Eigenschaften La) In welchen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen spielt die Gruppe der Deutschen eine wichtige Rolle? I.b) Welche Rolle spielen bzw. welche Funktion haben die Deutschen in diesen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen? I.c) Woraus konstituiert sich die Gruppe der Deutschen? I.d) Wozu befähigt die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Vorteile bringt es mit sich, Deutscher zu sein? Le) Was verbietet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Verbote bringt es mit sich, Deutscher zu sein? I. f) Wozu verpflichtet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Lg) Durch welche sonstigen Eigenschaften wird die Gruppe der Deutschen charakterisiert? II. Existenzphasen und Verbreitung II. a) In welchen funktionalen Zusammenhängen hat die Gruppe der Deutschen ihren Ursprung? Il.b) Unter welchen besonderen Bedingungen existiert die Gruppe der Deutschen nicht mehr? II. c) Auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen kann die Gruppe der Deutschen zerstört werden? II.d) Welche typischen Existenzphasen durchläuft die Gruppe der Deutschen? II.e) Unter welchen Bedingungen verbreitet sich die Gruppe der Deutschen? Auf welche Art und Weise, aus welchem Grund und mit welcher Folge verbreitet sie sich? 91 III. Bedeutung der Deutschen lil a) Unter welchen Bezeichnungen ist die Gruppe der Deutschen bekannt? Ill.b) Welche Rollen und Funktionen nimmt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen des Menschen ein? III. c) Welche Ziele verfolgt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen des Menschen? Ill.d) Unter welchen Bedingungen werden Aktivitäten der Gruppe der Deutschen gut geheißen? HI e) Auf welche Art und Weise wird die Gruppe der Deutschen wirksam? Ill.f) Unter welchen Bedingungen und aus welchen Gründen sanktioniert die Gruppe der Deutschen jemandes Verhalten oder stößt jemanden aus? Ill.g) Welche besonderen Aufgaben und Pflichten nimmt die Gruppe der Deutschen wahr? III.h) Welche Rechte besitzt die Gruppe der Deutschen ? HI 0 Welche Mittel benutzt die Gruppe der Deutschen bei der Ausführung ihrer Handlungen? HI j) Welche Bedeutung (welchen Stellenwert) hat die Gruppe der Deutschen für das menschliche Leben und Handeln insgesamt? HI k) Welchen Gruppen anderer Art ist die Gruppe der Deutschen ähnlich oder worin unterscheidet sie sich von diesen? Wie bei der Beschreibung von IDENTITÄT werden in den folgenden Kapiteln die Kontextualisierungen von DEUTSCHE, die eine Prädizierung von DEUTSCHE enthalten, jeweils den einzelnen Framedimensionen zugeordnet und anschließend verglichen. Auf diese Weise wird gezeigt werden, welche Aspekte des Wissens über DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation von den Sprechern vor 1989 und im Einheitsdiskurs nach 1989 verbalisiert werden, auf welche bei durchschnittlichen Sprechern voraussetzbare Elemente dieses Wissens im Einheitsdiskurs aufgebaut wird oder welche modifiziert bzw. revidiert werden. 92 4.2 Die kontextuelle Verarbeitung von DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden die Prädizierungen bestimmter Konzepte in konkreten Texten der öffentlichen Kommunikation als Hinweise auf sprachlich aktualisiertes Wissen über diese Konzepte aufgefaßt. Demzufolge können die Textsequenzen, die DEUTSCHE prädizieren, als verbalisiertes Wissen über DEUTSCHE interpretiert werden. Über die verschiedenen Dimensionen des Frames für DEUTSCHE wird es möglich, dieses Wissen systematisch zu erfassen und zu gliedern. So werden im folgenden die Prädizierungen von DEUTSCHE aus den Korpustexten von 1985-1988 entsprechend den einzelnen Frame-Dimensionen zugeordnet. Auf diese Weise wird eine operationalisierbare Grundlage geschaffen, um die Vertextung konzeptgebundenen Wissens über DEUTSCHE zu analysieren. Darüber hinaus wurde ein Modus gefunden, um neben den Elementen konzeptgebundenen Wissens auch sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne zu erfassen. Zu diesem Zweck wurden die Variablen x, y und z, die die Slots der Prädikate vertreten, durch eine Variable s ergänzt, die für diese Art Sprechereinstellungen stehen soll. Solche in diesem Sinne als s zu charakterisierende Textteile drücken aus, welche Einstellung der Sprecher zu seiner Aussage über DEUTSCHE hat oder auf welche Weise er diese Äußerung in seinen Text und in den Diskurs einbringt. Zum Beispiel kann der explizite Bezug auf einen anderen Sprecher oder auf eine Umfrage oder Statistik ausgedrückt werden. So wird deutlich, ob in der betreffenden Äußerung eine individuelle Meinung formuliert wird, die evtl, die Meinung eines anderen Sprechers unterstützt oder ihr widerspricht, ob der Sprecher allgemein anerkanntes Wissen (einen Stereotyp) wiedergibt, oder ob er eine von einem Stereotyp abweichende Meinung thematisiert. In s können auch Textsequenzen erfaßt werden, die eine Wertung ausdrücken, oder es können modale Elemente aufgenommen werden, die sich auf den Grad der Gültigkeit einer Aussage beziehen. 4.2.1 Kontextualisierungen von DEUTSCHE in Medientexten der 80er Jahre Die Kontextualisierungen von DEUTSCHE in den Korpustexten der öffentlichen Kommunikation der 80er Jahren werden nunmehr den Frame-Dimensionen zugeordnet. Dabei werden folgende Symbole verwendet: x, y und z als Variablen für Slots der entsprechenden Prädikationen zu DEUTSCHE 93 s als Variable für sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne - DEUT = die Deutschen; ITAL = die Italiener; BRIT = die Briten; ENGL = die Engländer; FRANZ = die Franzosen Kontextualisierungen von DEUTSCHE in den Texten 1985-1988: I. Konstitutionsrelationen und Eigenschaften La) In welchen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen spielt die Gruppe der Deutschen eine wichtige Rolle? DEUT haben bei y keine schlechte Rolle gespielt y: bei dem vierzigjährigen Frieden in Europa (Zt 1.2.85,67) DEUT(x) wurden y x: die Deutschen in Ost und West y: ideologisch, ökonomisch und militärisch in gegnerische Fronten eingereiht (Zt 19.4.85,5) DEUT(x) sind y s: nur die Deutschen waren sich dessen nicht immer bewußt x: ein so großes Volk im Herzen Europas y: in die europäische Politik viel stärker verflochten als andere Völker (Zt 27.9.85,3) I.b) Welche Rolle spielen bzw. welche Funktion haben die Deutschen in diesen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen? DEUT(x) haben y getan y: heute existierende Grenzen selbst gezogen (Zt 22.2.85,46) s: ich habe das Gefühl y: provisorisch eine neue Staatsform erfunden die Zwei-Parteien- Diktatur (Zt 27.9.85,41) y: als Musterschüler der liberalen Wirtschaftslehre gelernt, in weltweiten Zusammenhängen zu denken (MM 4.5.85,2) 94 x: die Deutschen aus West und Ost y: gingen in Helsinki recht friedlich miteinander um (MM 2.8.85,2) s: das selbstzufriedene, ewig wiederkehrende Leitmotiv, das eine seltsame Unbefangenheit, auch Unschuld zum Ausdruck bringt: y: aus unserer Geschichte gelernt und sind deshalb dafür nicht mehr haftbar (Zt 18.1.85,3) s: wir Alten wissen nur zu gut: y: die Welt nicht von Hitler befreit (Zt 18.1.85,3) s: Hupka konstatierte genußvoll y: nicht auf Ostdeutschland verzichtet (Zt 21.6.85,4) solange DEUT y tun, tun sie z y: sich streiten z: denken sie wenigstens nicht daran, mit ihrem Nachbarn im Westen Streit vom Zaun zu brechen (stem 10.9.87,26) DEUT fühlen y y: sich immer häufiger als Geldsack der Gemeinschaft mißbraucht (Zt 12.4.85,12) DEUT tun y s: man vergesse eines nicht: y: leben nicht nur in zwei verfeindeten Staaten, sondern auch auf einem Schlachtfeld (Zt 3.5.85,6) y: versuchen seit vierzig Jahren, der schlimmsten Epoche ihrer Geschichte zu entfliehen (21.11.86,1) y: lassen sich abermals von ihren Politikern in eine Stimmung steuern, von der nicht abzusehen ist, wo sie enden wird (MM 17.12.87,2) DEUT waren y s: Karl Marx spottete y: stets beteiligt an den Restaurationen der anderen Völker, doch niemals an deren Revolten (Zt 20.3.87.67) 95 DEUT bleiben für FRANZ y y: ein fremder Nachbar (Zt 17.5.85,56) I.c) Woraus konstituiert sich die Gruppe der Deutschen? die Deutschen in Ost und West; die Bundesbürger; die Westdeutschen; die Deutschen in der DDR I.d) Wozu befähigt die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Vorteile bringt es mit sich, Deutscher zu sein? kein Eintrag Le) Was verbietet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Verbote bringt es mit sich, Deutscher zu sein? kein Eintrag I.f) Wozu verpflichtet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? DEUT sind zu y verpflichtet y: zur Koexistenz der Systeme (Zt 3.5.85,6) Lg) Durch welche sonstigen Eigenschaften wird die Gruppe der Deutschen charakterisiert? DEUT(x) sind y s: das statistische Jahrbuch weist aus y: älter, weniger und zugleich wohlhabender und ärmer geworden (MM 21.8.85,12) y: relativ gesund (MM 21.8.85,12) y: dem Fernsehen und dem amerikanischen Film verfallen (Zt 5.4.85,57) s: Walter Mehring sagte y: für Sarkasmus zu dumm (Zt 10.5.85,45) s: es gibt manche, die den gescheiterten Versuch einer Neuordnung darauf zurückführen, daß y: von einer Art Veränderungsfürcht geplagt und akzeptieren alles, was man ihnen vorsetzt, solange es ihnen gut geht (Zt 26.7.85,9) 96 s: ich trete mit allem Nachdruck und mit aller Deutlichkeit dafür ein, daß x: wir, die Deutschen y: zuverlässige Vertragspartner (Kohl 11/ 82) y: das große Vorbild, dem die anderen nacheifem (Zt 29.3.85,2) s: in der Tat y: anders geworden (Zt 10.5.85,1) y: heute nüchtern, säkularisiert, skeptisch und in einem Maße kritisch, daß es den Autoritäten schwerfällt, sich glaubhaft darzustellen und die „Untertanen“ zu überzeugen (Zt 10.5.85,1) y: zu überzeugten Demokraten geworden und haben eine vorzügliche demokratische Verfassung (Zt 10.5.85,1) s: als ich 1960 zum ersten Mal nach Deutschland reiste, da erkannte ich, was auch meine späteren Besuche bestätigten y: ein normales Volk, kein schreiendes „Herrenvolk“, unter ihnen gibt es viele freundliche Menschen, mit denen man Freundschaft schließen kann (Zt 14.6.85,3) s: uns (Polen) wird versichert y: Demokraten (Zt 21.6.85,4) y: eben keine Gourmets weder für Geschichte noch für Wein. Ihnen wird von gar nichts schlecht (Zt 19.7.85,6) s: dann kommt der entscheidende Satz y: auf Generationen hinaus erpreßbar (Zt 6.9.85,3) y: prozeßsüchtig (MM 26.5.86,3) y: gefährlich immer dann, wenn sie unglücklich sind. Davon kann derzeit keine Rede sein. (Zt 3.1.86,2) 97 s: Elisabeth Noelle-Neumann fand heraus, als sie das Lebensgefuhl der sechziger mit dem heutigen verglich y: merkwürdig kraftlos (Zt 3.1.86,2) DEUT werden y y: immer weniger (Zt 29.5.87,3) y: immer älter (MM 19.8.87,14) y kennzeichnet DEUT s: Nietzsche schreibt y: daß bei ihnen die Frage „was ist deutsch“ niemals ausstirbt (Zt 10.1.86,1) DEUT gelten als y y: als Putzteufel allenfalls im eigenen Wohnzimmer (MM 3.9.87,2) DEUT neigen zu y s: so scheint mir y: sehr zum Politisieren (Zt 16.8.85,3) für DEUT(x) ist y x: die Deutschen von heute, von morgen und ich furchte auch noch von übermorgen y: Identität das entscheidende Problem (stem 27.8.87,21) DEUT(x) sind sich bei y einig s: sämtliche Meinungsumfragen ergeben x: Bundesbürger y: bei keinem anderen Thema so einig: 80 Prozent der Bundesbürger finden, daß wir zu viele Ausländer im Lande haben (Zt 19.7.85,1) DEUT haben y s: Ausländer sagen ganz ungeniert y: eine Macke (MM 26.5.86,3) 98 s: Goethe sagte y: keinen Charakter, und er meinte damit nicht, wir seien charakterlos im Sinne von unanständig, sondern: wir hätten kein einheitliches Wesensmerkmal (Zt 17.5.85,58) s: manchmal drängt sich der Eindruck auf y: entweder das Maul oder die Hosen zu voll oder beides zugleich, wenn es um das Verhältnis zu ihrem Staat geht (Zt 1.5.87,1) s: Alexander von Branca, Architekturprofessor aus München, konstatierte y: eine historisch bedingte Angst vor Monumentalität (MM 14.11.87,44) DEUT(x) haben y und tun z x: die Deutschen in der DDR y: sich inzwischen verändert z: denken anders als noch vor zwanzig, dreißig Jahren: Auch die, die in den fünfziger und sechziger Jahren gern an die Versprechungen westdeutscher Politiker glaubten, daß sie ihnen die Einheit in Freiheit bescheren würden, haben inzwischen eingesehen, daß es vernünftiger ist, sich in der Realität einzurichten (Zt 1.11.85,2) DEUT(x) tun y y: bringen ihren ausländischen Mitbürgern nicht nur Vorurteile und Ressentiments entgegen (MM 21.8.85,12) y: heiraten später, seltener und bekommen immer weniger Kinder (Zt 22.2.85,33) s: nach den Ergebnissen dieser Umfrage x: die Deutschen in ihrer Mehrheit y: trauen dem Computer einfach zu wenig zu (Zt 31.5.85,27) s: so lehrt die Erfahrung der Verlage und Sortimenter y: haben wenig Neigung, Geschichte zu lesen: das schlechte Gewissen, muß man vermuten, hindert uns daran (Zt 25.1.85,45) y: lieben Quiz (Zt 28.6.85,55) 99 s: Andre Heller auf einer Pressekonferenz y: leiden an Humorlosigkeit und Unsinnlichkeit (Zt 20.3.87,64) y: lachen gerne über andere, über Türken etwa; aber über sich selbst? (Zt 17.4.87,52) s: die Debatte enthüllt y: tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit (Zt 18.1.85,3) x: die Deutschen: Millionen westdeutscher Bürger y: konzentrieren sich auf die Gefahr eines Atomkrieges, auf die gefährliche Entwicklung von Atomarsenalen (Zt 29.3.85,12) y: sagen, sie hätten sich geändert (Zt 29.3.85,5) s: man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: y: haben die größte Mühe, ohne Ideologie zu leben, daher sind sie so große Denker (Zt 17.5.85,56) s: es nimmt nicht wunder, daß y: von der Tatsache, daß sie Deutsche sind, im allgemeinen nicht viel Aufhebens machen, denn zu bekennen, daß man ein Deutscher sei, ist nicht sonderlich attraktiv (Zt 17.5.85,58) s: Brandt trat immer wieder aufkeimendem Argwohn der Polen entgegen und versicherte ihnen y: wollen von einem Drang nach Osten nichts mehr wissen (Zt 13.12.85,2) y: reisen mehr als wir: die fahren im Winter und im Sommer (Zt 26.9.86,43) y: geben Organe nicht gerne her auch wenn sie schon tot sind (MM 18.6.86,28) s: Daniel Cohn-Bendit sagte unlängst y: geraten sechs Millionen toter Bäume, nicht aber sechs Millionen toter Juden wegen außer Fassung (Zt 26.9.86,57) y: furchten Aids inzwischen mehr als einen Herzinfarkt (MM 21.3.87,1) 100 y: geben für Alters- und Hinterbliebenenversorgung unheimlich viel Geld aus und sind dennoch unzureichend versichert (stem 17.9.87,158) y: geben, gemessen am Volkseinkommen, mehr als alle anderen Industrienationen für ihre Gesundheit aus, doch gesünder sind sie nicht geworden (stem 2.7.87,134) s: Umfragen belegen y: laufen keineswegs, wie oft unterstellt wird, für jede Kleinigkeit zum Arzt (Zt 22 5.87,39) DEUT haben y getan s: Kohl beteuert in Feiertagsreden y: ihre Lektion aus der Geschichte gelernt (Zt 3.5.85,4) s: aus der von der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren veröffentlichten „Genußmittelstatistik 1986“ geht hervor y: im vergangenen Jahr deutlich weniger Alkohol und Zigaretten konsumiert als 1985 (MM 20.10.87,7) DEUT gehören zu y y: den besten Sparern (stern 5.11.87,26) II. Existenzphasen und Verbreitung II. a) In welchen fünktionalen Zusammenhängen hat die Gruppe der Deutschen ihren Ursprung? kein Eintrag II.b) Unter welchen besonderen Bedingungen existiert die Gruppe der Deutschen nicht mehr? DEUT sind bei Strafe ihres Untergangs zu y verpflichtet y: zur Koexistenz der Systeme (Zt 3.5.85,6) für DEUT ist y die Bedingung ihrer Existenz y: daß die Auseinandersetzung politisch bleibt (Zt 2.5.86) 101 II. c) Auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen kann die Gruppe der Deutschen zerstört werden? kein Eintrag Il.d) Welche typischen Existenzphasen durchläuft die Gruppe der Deutschen? kein Eintrag II. e) Unter welchen Bedingungen verbreitet sich die Gruppe der Deutschen? Auf welche Art und Weise, aus welchem Grund und mit welcher Folge verbreitet sich sich? kein Eintrag III. Bedeutung der Deutschen III. a) Unter welchen Bezeichnungen ist die Gruppe der Deutschen bekannt? die Deutschen (als Bezeichnung für die Bundesbürger); Bundesbürger; Westdeutsche; die westdeutschen Bürger; die Deutschen in der DDR; DDR- Bürger (offizielle Bezeichnung in den DDR-Medien); die Deutschen in Ost und West; Ill.b) Welche Rollen und Funktionen nimmt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen des Menschen ein? DEUT haben y getan s: einige werden vielleicht einwenden y: ihr Lehrgeld gezahlt (Zt 16.8.85,27) DEUT hätten y wissen können s: besonders wichtig war den Israelis und den Niederländern aus der Rede des Bundespräsidenten der Satz y: daß die Deutschen von den Nazi-Greueln hätten wissen können: „Wer seine Ohren und Augen auftnachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten.“ (Zt 7.6.85,2) in.c) Welche Ziele verfolgt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen der Menschen? DEUT wollen y y: im Kreis der EG bleiben (Zt 31.5.85,7) 102 s: Franz Josef Strauß schleudert uns im Interesse ausgerechnet der vermehrten Waffenexporte zornig entgegen y: wollen nicht auf Dauer im Schatten der Vergangenheit leben (Zt 26.12.86,1) y von DEUT(x) besteht in z x: die Deutschen in der DDR y: die ganze Hoffnung z: freiheitliche Verhältnisse durch die Wiedervereinigung zu gewinnen (stem 27.8.87,21) Hi d) Unter welchen Bedingungen werden Aktivitäten der Gruppe der Deutschen gutgeheißen? DEUT sollten y tun s: die Nachbarn im Ausland zeigten sich indigniert: y: doch erst einmal Schluß machen mit der Raserei auf ihren Autobahnen (Zt 28.12.84,7) s: wichtiger scheint mir, daß y: den 8. Mai nicht mißbrauchen, um die Welt wieder auseinanderzudividieren, indem jeder der beiden Teile selbstherrlich seine Nachkriegserrungenschaften als die besseren preist (Zt 25.1.85,4) III. e) Auf welche Art und Weise wird die Gruppe der Deutschen wirksam? DEUT haben y getan y: 124 Millionen Mark für die hungernden Afrikaner gespendet (Zt 12.4.85,7) DEUT tun y y: basteln an der Legende, ihre Vergangenheit sei vorwiegend die Schuld anderer (stem 5.11.87,321) Ill.f) Unter welchen Bedingungen oder aus welchen Gründen sanktioniert die Gruppe der Deutschen jemandes Verhalten oder stößt jemanden aus? kein Eintrag Ill.g) Welche besonderen Aufgaben und Pflichten nimmt die Gmppe der Deutschen wahr? kein Eintrag 103 Ill.h) Welche Rechte besitzt die Gruppe der Deutschen? kein Eintrag m.i) Welche Mittel benutzt die Gruppe der Deutschen bei der Ausführung ihrer Handlungen? DEUT suchen y auf Kosten von z s: die Italiener scheinen den Verdacht zu hegen y: die Einheit z: ihrer Nachbarn (Zt 17.5.85,58) y, weil DEUT tun z y: die Franzosen werden von einer Art Resignation erfaßt z: mitunter auf dem hohen Roß sitzen (Zt 24.10.86,4) Ill.j) Welche Bedeutung (welchen Stellenwert) hat die Gruppe der Deutschen für das menschliche Leben und Handeln insgesamt? DEUT geben anderen Nationen Rätsel auf mit y y: mit ihrer gemütvollen Zuwendung zum Naturhaffen, das sie ganz zwanglos vom leidenden, vom sterbenden Wald künden läßt: als handle es sich um Menschliches, das von Rohlingen gemeuchelt würde (Zt 4.1.85,5) DEUT(x) tun y y: ziehen wieder die Grenzen ihres Landes in Zweifel und sorgen sich um die Wiedervereinigung (Zt 22.2.85,1) x: die Westdeutschen y: weigern sich, die heutigen moralischen und politischen Realitäten anzuerkennen (Zt 22.2.85,1) Ill.k) Welchen Gruppen anderer Art ist die Gruppe der Deutschen ähnlich und worin unterscheidet sie sich von diesen? y haben mehr z als DEUT y: die Menschen in den anderen großen Industriestaaten z: Sorgen (Zt 31.5.85,27) 104 nicht nur DEUT haben y s: ich bin in der Tat der Meinung y: eine „schwierige Vergangenheit“ (Zt 31.10.86,9) DEUT und ENGL sind z y: viel pessimistischer als Japaner und Franzosen (Zt 31.5.85,27) DEUT sind y y: nach den Franzosen die eifrigsten Pillenschlucker Europas (Zt 19.7.85,9) y: nicht die a priori besseren, sondern die routinierteren Umweltschützer gegenüber den Italienern (Zt 5.7.85,52) s: es wird aber doch auch wohl niemand behaupten y: besser, klüger und toleranter als die Amerikaner (Zt 31.10.86,76) y: darin tüchtiger und dem Neandertaler ein bißchen näher als andere Völker: sich mit Sandburgen abzugrenzen, ist ihre vielbelachte Spezialität (stem 22.12.87,36) s: der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern sagt y: das einzige Volk in Europa, das einen so ungeheuren Grund zur Klage hat, die nationale Teilung (stem 5.11.87,321) DEUT sind y, BRIT tun z s: Rosenthal sinniert gequält y: vielleicht ein bißchen laut z: lauschen eher in sich hinein (MM 2.7.87,44) DEUT tun y y: trinken immer noch siebenmal so viel Bier wie die Italiener und die zwölfmal mehr Wein als die Briten (Zt 4.1.85,2) DEUT und BRIT tun z y: beleben ihre Wirtschaft durch Steuersenkungen (Zt 27.9.85,1) 105 ITAL haben nicht wie DEUT y getan y: die Schulddebatte so gründlich geführt (Zt 6.12.85,54) DEUT konnten nicht y tun s: er beklagte, daß y: nicht wie die Engländer, Franzosen und Amerikaner auf „goldene Zeitalter“ zurückblicken, in denen jene sich durch mehr oder weniger blutige Revolutionen und Bürgerkriege die bürgerliche Freiheit erkämpft hatten (Zt 5.4.85,49) 4.2.2 Zusammenfassung: Wie wurde DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens wurden verbalisiert? In Kapitel 4.1.1 wurde festgestellt, daß in den 80er Jahren die Lexeme Deutsche, Deutschland und deutsch in der DDR vor allem mit historischem Bezug verwendet wurden. Nach den Konventionen des öffentlichen Sprachgebrauchs der DDR waren diese Benennungen mit der Nichtexistenz eines einheitlichen deutschen Nationalstaates für die Gegenwart hinfällig. Dementsprechend wurden zur Benennung der Deutschen in Ost und West die Lexeme DDR-Bürger und Bundesbürger oder auch BRD-Bürger benutzt. Die vorliegende Untersuchung für die Auswertung der Kontextualisierungen von DEUTSCHE vor 1989 stützt sich deshalb auf die öffentliche Kommunikation der Bundesrepublik (vgl. Kapitel 4.2.1). In den untersuchten westdeutschen Medientexten der 80er Jahre wird Deutsche in erster Linie und ganz selbstverständlich als Benennung für die Bundesbürger verwendet. Beispiele wie das folgende Kohl-Zitat, in dem dieses Selbstverständnis explizit ausgedrückt wird (wir, die Deutschen) sind typisch für den öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik vor der Vereinigung: Ich trete mit allem Nachdruck und mit aller Deutlichkeit daßir ein, daß wir, die Deutschen, zuverlässige Vertragspartner sind. (Kohl 11/ 82) Hin und wieder finden sich auch Benennungen wie Bundesbürger; die Westdeutschen; die Deutschen in der DDR oder die Deutschen in Ost und West. Deutsche als Einzellexem aktualisiert in der westdeutschen Sprachgemeinschaft jedoch in der Regel die als Normalfall usualisierte Lesart BUNDES- BÜRGER. 106 Die Kontextualisierungen von DEUTSCHE zeigen, daß in den Medientexten von 1985-1988 vor allem Aussagen zu folgenden Frame-Dimensionen gemacht werden: - Rolle und Funktion der Deutschen in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen (vgl. Frame-Dimension I.b mit 6 Prädizierungen in 14 verschiedenen Verwendungen) - Eigenschaften der Gruppe der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Lg mit 12 Prädizierungen in 51 verschiedenen Verwendungen) - Vergleich der Deutschen mit anderen Völkern (vgl. Frame-Dimension Ul k mit 9 Prädizierungen in 13 verschiedenen Verwendungen) Die übrigen Frame-Dimensionen werden von den Sprechern in den untersuchten Texten der 80er Jahre mit 1-2, einmal mit 3 Prädizierungen, also nur vereinzelt oder auch gar nicht aktualisiert. D.h. es werden vor 1989 kaum Aussagen zu Rechten und Pflichten, zu Zielen und zur Wirksamkeit oder auch zu den besonderen Verpflichtungen der Deutschen im internationalen Rahmen gemacht. In den Texten vor 1989 werden den Deutschen im wesentlichen folgende Eigenschaften zugeschrieben (vgl. Frame-Dimension Lg in Kapitel 4.2.1), die zum einen ihre Rolle in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen betreffen, zum anderen ihr Verhalten im alltäglichen Leben und Aspekte ihrer Mentalität: Eigenschaften der Deutschen Eigenschaften, die die Mentalität betreffen die Deutschen sind für Sarkasmus zu dumm leiden an Humorlosigkeit und Unsinnlichkeit lachen gern über andere haben keinen Charakter sind nüchtern, säkularisiert, skeptisch und kritisch lieben Quiz reisen viel sind prozeßsüchtig heiraten spät, selten und bekommen wenig Kinder Eigenschaften, die gesellschaftliche Zusammenhänge betreffen die Deutschen machen von der Tatsache, daß sie Deutsche sind, im allgemeinen nicht viel Aufhebens sind zuverlässige Vertragspartner sind das große Vorbild, dem die anderen nacheifem sagen, sie hätten sich geändert sind anders geworden sind ein normales Volk, kein schreiendes „Herrenvolk“ wollen von einem Drang nach Osten nichts mehr wissen 107 geben Organe nicht gern her - auch wenn sie schon tot sind gelten als Putzteufel - sind relativ gesund furchten Aids inzwischen mehr als einen Herzinfarkt geben viel Geld für ihre Gesund- heit aus laufen nicht wegen jeder Kleinig- keit zum Arzt geben viel Geld für Versicherun- gen aus sind dem Fernsehen und dem amerikanischen Film verfallen bringen ihren ausländischen Mit- bürgern Vorurteile und Ressentiments entgegen sind gefährlich immer dann, wenn sie unglücklich sind - sind merkwürdig kraftlos sind zu überzeugten Demokraten geworden haben wenig Neigung, Geschichte zu lesen sind keine Gourmets weder für Geschichte noch für Wein sind auf Generationen hinaus erpreßbar tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit konzentrieren sich auf die Gefahr eines Atomkrieges haben die größte Mühe, ohne Ideologie zu leben geraten sechs Millionen toter Bäume wegen, nicht aber sechs Millionen toter Juden wegen außer Fassung für die Deutschen ist Identität das entscheidende Problem Auch die Kontextualisierungen, die einen Vergleich der Deutschen mit anderen Völkern thematisieren, beziehen sich häufig auf eher alltägliche Eigenschaften und die Mentalität. Bezüge auf gesellschaftliche Zusammenhänge sind hier relativ selten (vgl. Frame-Dimension Ill.k in Kapitel 4.2.1): Vergleich der Eigenschaften der Deutschen mit denen anderer Völker die Mentalität betreffend gesellschaftliche Zusammenhänge betreffend die Deutschen sind pessimistischer als Japaner und Franzosen sind nach den Franzosen die eifrigsten Pillenschlucker Europas sind die routinierteren Umweltschützer gegenüber den Italienern sind nicht besser, klüger und toleranter als die Amerikaner sind vielleicht ein bißchen laut, die Briten lauschen eher in sich hinein die Deutschen sind das einzige Volk, das einen so ungeheuren Grund zur Klage hat, die nationale Teilung können nicht wie die Engländer, Franzosen und Amerikaner auf „goldene Zeitalter“ zurückblicken, in denen jene sich durch mehr oder weniger blutige Revolutionen und Bürgerkriege die bürgerliche Freiheit erkämpft hatten 108 In den Kontextualisierungen, die die Rolle der Deutschen in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen thematisieren, werden folgende Aspekte aktualisiert (vgl. Frame-Dimension I.b in Kapitel 4.2.1): Die Deutschen haben die heute existierenden Grenzen selbst gezogen haben als Musterschüler der liberalen Wirtschaftslehre gelernt, in weltweiten Zusammenhängen zu denken fühlen sich immer häufiger als Geldsack der Gemeinschaft mißbraucht haben aus der Geschichte gelernt und sind deshalb dafür nicht mehr haftbar haben die Welt nicht von Hitler befreit leben nicht nur in zwei verfeindeten Staaten, sondern auch auf einem Schlachtfeld versuchen seit vierzig Jahren, der schlimmsten Epoche ihrer Geschichte zu entfliehen lassen sich abermals von ihren Politikern in eine Stimmung steuern, von der nicht abzusehen ist, wo sie enden wird waren stets beteiligt an den Restaurationen der anderen Völker, doch niemals an deren Revolten Aus dem Vergleich der Ausfüllungen für die Variable s wird deutlich, daß in den Texten vor 1989 relativ selten Stereotype explizit aktualisiert werden. Solche explizite sprachliche Hinweise auf Stereotype können z.B. Bezüge auf Umfragen sein, die mehrheitliche Meinungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft zusammenfassen: Sämtliche Meinungsumfragen ergeben: 80 Prozent der Bundesbürgerfinden, daß wir zu viele Ausländer im Lande haben, 85 Prozent wollen den weiteren Zuzug begrenzen. Bei keinem anderen Thema sind sich die Deutschen so einig. (Zt 19.7.85,1) Die Umfragen belegen auch, daß die Deutschen keineswegs, wie oft unterstellt wird, fürjede Kleinigkeit zum Arzt laufen. (Zt 22.5.87,39) Mitunter beziehen sich die Sprecher auch auf statistische Fakten: Das statistische Jahrbuch ... weist nicht nur aus, daß die Deutschen immer älter und weniger werden, sondern daß sie in den letzten zehn Jahren zugleich wohlhabender und ärmer geworden sind. (MM 21.8.85,12) Häufig nehmen Sprecher Äußerungen anderer, oft prominenter Sprecher, über die Deutschen auf. Sie beziehen sich entweder wertfrei auf diese Äußerungen, um sich in der eigenen Argumentation darauf stützen zu können {Daniel 109 Cohn-Bendit sagte unlängst; Walter Mehring sagte; Nietzsche schreibt; Elisabeth Noelle-Neumann fand heraus). Oder aber sie kommentieren bzw. bewerten diese Äußerungen, und können auf diese Weise eine Distanzierung vom Inhalt der Äußerung zum Ausdruck bringen {Kohl beteuert in Festtagsreden; Rosenthal sinniert gequält). Insgesamt läßt sich einschätzen, daß DEUTSCHE schon im öffentlichen Diskurs der 80er Jahre in der Bundesrepublik oft und auch kontrovers thematisiert wurde. In den folgenden Kapiteln soll untersucht werden, auf welche Weise DEUTSCHE im Vereinigungs-Diskurs kontextualisiert wurde und welche Veränderungen sich im Vergleich zum Diskurs der 80er Jahre ergeben haben. 4.3 Die kontextuelle Verarbeitung von DEUTSCHE im Einheitsdiskurs 4.3.1 Kontextualisierungen von DEUTSCHE in den Texten des Einheitsdiskurses Wie im vorangegangenen Kapitel werden im folgenden die Prädizierungen von DEUTSCHE aus den Texten des Einheitsdiskurses den einzelnen Dimensionen des Frames für DEUTSCHE zugeordnet. Auf diese Weise kann die Vertextung konzeptgebundenen Wissens über DEUTSCHE systematisch erfaßt und analysiert werden. Die Variablen x, y und z, die die Slots der Prädikate vertreten, werden wiederum durch eine Variable s ergänzt, die für sprachliche Hinweise auf Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien stehen soll. In s können Textsequenzen erfaßt werden, die einen expliziten Bezug auf einen anderen Sprecher oder auf eine Umfrage oder Statistik enthalten, die eine Wertung ausdrücken oder die sich auf den Grad der Gültigkeit der Aussage beziehen. Neben relativ klar systematisierbaren sprachlichen Mitteln für den Ausdruck von Sprechereinstellungen bzw. für die Herstellung von intertextuellen Bezügen weist der Einheitsdiskurs eine Fülle von ganzen Textsequenzen auf, die sehr komplexe und vielschichtige Hinweise auf Bewertungen bzw. Sprechereinstellungen enthalten oder auch insgesamt als solche interpretierbar sind. Diese Textsequenzen werden nach dem gleichen Prinzip wie alle anderen, jedoch nicht in einer der Frame-Dimensionen, sondern in einer eigens hierfür eingerichteten Kategorie (IV) am Ende erfaßt. Die Kontextualisierungen von deutsche in den Korpustexten des Einheitsdiskurses werden nunmehr den Frame-Dimensionen zugeordnet. Dabei werden folgende Symbole verwendet: 110 x, y und z als Variablen für Slots der entsprechenden Prädikationen zu DEUTSCHE s als Variable für sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne - DEUT = die Deutschen; ITAL = die Italiener; BRIT = die Briten; ENGL = die Engländer; FRANZ = die Franzosen Kontextualisierungen von DEUTSCHE in den Texten des Einheitsdiskurses I. Konstitutionsrelationen und Eigenschaften La) In welchen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen spielt die Gruppe der Deutschen eine wichtige Rolle? kein Eintrag I.b) Welche Rolle spielen bzw. welche Funktion haben die Deutschen in diesen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen? DEUT(x) nehmen bei y eine entscheidende Rolle ein x: die Deutschen in der DDR y: bei der Gestaltung europäischer Freiheitsgeschichte (BTP 8.11.89,13048) DEUT(x) tun y x: die Deutschen in der DDR y: schreiben ein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte (BTP 8.11.89,13048) x: die Deutschen in der DDR y: schreiben ein neues, ein friedliches Kapitel in der Geschichte des Kampfes der Bürger für ihre demokratischen Rechte und für ihre Freiheit (BTP 28.11.89,13544) s: nach Auffassung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker y: bilden zum ersten Mal keinen Streitpunkt mehr auf der europäischen Tagesordnung (BZ 4.10.90,3) s: Kohl betonte: y: stehen vor Herausforderungen, die keinen Aufschub dulden (MM 31.12.90,1) Ill DEUT(x) tun y und deshalb z x: die Deutschen in der DDR y: stellen sich in ihrer großen Mehrheit ihrer Verantwortung für Europa z: treten für eine eigenständige DDR ein (ND 20.12.89,1) DEUT haben y getan y: den Krieg gemeinsam verschuldet und gemeinsam verloren (VT 13.9.90,1647) y: unterschiedlich hart und unterschiedlich lange an den Kriegsfolgen zu tragen gehabt (VT 13.9.90,1647) y: sich von der nationalsozialistischen Zeit viel weniger radikal abgesetzt, als man es sich gewünscht hätte (Zt 19.10.90,11) y: sind beim Nationalen schon des öfteren übers Ziel hinausgeschossen (Wopo 3.10.90,25) DEUT(x) werden niemals y sein, sondern vielmehr z s: davon bin ich überzeugt x: die Deutschen, die jetzt im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden y: eine Bedrohung z: ein Gewinn für das immer mehr zusammenwachsende Europa (Kohl Reden 2/ 90,113) DEUT(x) haben erkannt, daß y x: die Deutschen Ost und die Deutschen West y: sie gemeinsam sehr wohl den Anspruch auf die Beletage im famosen europäischen Haus beanspruchen könnten (taz 2.9.90,100) DEUT(x) können y finden, erst wenn z s: so der Publizist Michael Charlier x: die Deutschen als Volk y: ihren Platz zwischen anderen Völkern z: erst wenn die Einbildung aufhört, daß sie in der einen oder anderen Richtung etwas ganz Besonderes wären (stem 28.6.90,15) 112 y schloß DEUT(x) von z aus x: die Ostdeutschen y: die Nachkriegsentwicklung z: von der wichtigsten kollektiven Idee der Deutschen, der Idee von ihrer Tüchtigkeit. Die Geschichte der Deutschen ist mit großen selbstverschuldeten Demütigungen verbunden, vielleicht hat ihre Tüchtigkeit deshalb etwas Zwanghaftes (BZ 22723.2.91,35) durch y sind z DEUT(x) gewesen y: durch die braune Diktatur und das rote Regime und die Gewohnheit, jede persönliche Schuld zu verdrängen z: wir alle x: die häßlichen Deutschen (Zt 28.2.92,77) I.c) Woraus konstituiert sich die Gruppe der Deutschen? wir, die Deutschen, vor allem die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik (BTP 5.9.89,11749) die Deutschen sei es in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, sei es in anderen Siedlungsgebieten oder in Mitteldeutschland (BTP 14.9.89, 12007) die Ostdeutschen und die Westdeutschen I.d) Wozu befähigt die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Vorteile bringt es mit sich, Deutscher zu sein? kein Eintrag I.e) Was verbietet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Verbote bringt es mit sich, Deutscher zu sein? DEUT dürfen angesichts y nicht z y: der geschichtlichen Erfahrung mit Großdeutschland z: nicht allein über die weitere staatliche Entwicklung befinden (taz 7.2.90,85) I.f) Wozu verpflichtet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? DEUT sollten sich als y empfinden y: als erste Diener des neuen Europa (RM 24.11.89,1) 113 DEUT sollten y sein s: ganz im Sinne des Genscher-Wortes y: der Motor der Entspannung in Europa (BZ 3.2.90,1) DEUT(x) müssen y y: die Geschichte gemeinsam tragen. Aber nicht mit der Selbstgewißheit, das alles hätte dem einen nicht passieren können (BZ 22723.2.91,35) s: Generalsekretär Gorbatschow stellte fest - und der Kanzler stimmte ihm zu -, daß y: die Frage der Einheit der deutschen Nation selbst lösen und selbst wählen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden (BTP 15.2.90,15102) x: die Deutschen in West und Ost y: weit mehr wagen, als ein solcher in der Geschichte bislang nicht erprobter Systemwechsel darstellt: Sie lassen, ohne jede schonende Übergangszeit, die Wirtschaftsgrenzen zwischen zwei Ländern mit völlig unterschiedlicher Leistungskraft fallen - und setzen damit die abgewrackten DDR-Untemehmen einer ungleich stärkeren, kraftstrotzenden West-Industrie aus (Sp 7.5.90,20) x: die Deutschen (Ost) und die Deutschen (West) y: unsere Probleme vereinigen und gemeinsam anpacken (VT 8.8.90,1298) s: Friedrich Schorlemmer plädierte dafür, daß y: die Fixierung auf die nationale Frage verlassen und gemeinsam dafür sorgen, daß der Weg nach Europa gefunden wird (BZ 6.11.90,3) y: noch einmal in einer großen nationalen Anstrengung Zusammenwirken, um die Fehler zu korrigieren (Zt 13.3.92,58) y: unverzüglich einige Lektionen lernen, deren erste und wichtigste lautet: weder die Ostnoch die Westdeutschen können weitermachen wie bisher (Zt 6.11.92) 114 x: auch die Westdeutschen y: sich ändern (Zt 3.10.91,4) s: Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz vertrat kürzlich in einer Femsehdiskussion die Meinung x. die ehemaligen DDR-Bürger y: sich mit den Deutschen der Bundesrepublik identifizieren (BZ 28.8.91,22) DEUT sind verpflichtet zu y s: ich denke, daß y: eine europäische Friedensmacht zu sein (Wopo 1.6.90,14) y: im Falle möglicher Einheit zu einer neuen, demokratisch erarbeiteten Verfassung (Wopo 6.7.90,3) DEUT sind der Welt y schuldig y: nie wieder Faschismus, nie wieder Kommunismus, nie wieder Krieg und Massenvemichtung (VT 20.7.90,1140) DEUT(x) haben y zu tun s: wer glaubt, ... der irrt sich x: nur die Deutschen im Osten y: etwas zu lernen (Zt 3.10.91,4) s: natürlich bleibt es wahr: x: die Ostdeutschen y. sehr vieles zu lernen (Zt 3.10.91,4) aufDEUT(x) kommt y zu s: meine Bitte ist, daß Sie ungeachtet der Probleme, die wir im eigenen Land haben, in diesem geschichtlichen Augenblick nicht vergessen, daß x: wir, die Deutschen, vor allem die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik y: eine historische Verantwortung (BTP 5.9.89,11749) 115 y: mit der Vereinigung ein dichtes Knäuel ungelöster Rechtsfragen (RM 2.3.90,3) Lg) Durch welche sonstigen Eigenschaften wird die Gruppe der Deutschen charakterisiert? DEUT(x) sind y y: eine Nation, die wie andere Nationen in Freiheit leben will (BTP 8.11.89,13040) y: ein Volk (BTP 16.11.89,13356) y: wieder wer (BTP 28.11.89,13543) y: mehr als eine „Bevölkerung“ (Bild 11.11.89,5) s: nein ich kann dem Diktum (des Münchner Historikers Christian Meier) keineswegs beipflichten x: wir Deutschen y: eine „Nation, die dies eigentlich gar nicht mehr sein will“ (Zt 3.10.91,4) s: das haben sie nicht zuletzt in jüngster Zeit bewiesen x: die Deutschen in der DDR y: tüchtig, gut ausgebildet und begierig nach Erfolg (Bild 11.11.89,5) x: die Deutschen in der DDR y: unsere Landsleute, die wir auf gar keinen Fall als Ausländer behandeln wollen und als Ausländer behandeln dürfen (BTP 8.11.89,13012) y: ruhig geworden und friedlich (FA 15.2.90,35) y: sehr gehorsam, das heißt sie können ihre eigenen Gefühle nicht so offen rauslassen, wenn es keine Erlaubnis von oben gibt (taz 23.12.89,12) s: mir fiel soeben ein Zitat von Lenin ein: y: ein legitimitätsbedürftiges Volk, sie würden auch noch eine Fahrkarte für den Bahnsteig lösen, bevor sie ihn stürmen (VT 19.4.90,52) 116 s: ich bin jetzt 82 und nach diesem Wahlergebnis zu alt, zu traurig, zu wütend, um Analysen anzustellen. Ick hab die Schnauze voll y: ein Volk ohne jeden revolutionären Geist (stem 29.3.90,23) y: so sehr mit sich beschäftigt, daß sie es nicht merken (FR 12.5.90,25) y: viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, individuell und als Gemeinschaft (Zt 25.9.92, 59) x: alle Deutschen, und zwar gleichgültig, ob sie nun links oder rechts stehen y: zutiefst konservativ (Zt 19.4.91,1) x: die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR y: jetzt wieder unauflöslich miteinander verbunden (BTP 21.6.90,757) s: die Öffnung der Mauer zeigte x. die Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR y: sich fremd (FR 12.5.90,25) s: natürlich x: die Ostdeutschen y: keine Ausländer (BZ 28.8.91,22) s: wie oft behauptet - ... erscheint höchst fraglich x: die Ostdeutschen y: die „besseren“ Deutschen (Zt 15.2.91,3) s: ich glaube nicht an das Klischee y: besonders steif, diszipliniert oder einfallslos (Zt 26.7.91,5) s: im Gegenteil: y: das beweglichste Volk auf Erden (Zt 26.7.91,5) x: die Ostdeutschen y: nach dem Kraftakt des Umbruchs physisch, psychisch, sozial, geistig überfordert (Zt 5.7.91,60) 117 s: vor wenigen Tagen erst äußerte Günter Grass y: noch nicht reif für die Einigung (BZ 9.3.91,5) y: innerlich unsicher, obwohl sie, zumindest die meisten von ihnen, alle denkbaren Sicherheiten genießen (Zt 25.9.92, 59) y: drei Jahre nach dem Fall der Mauer über ihre Vereinigung besorgt, sind viele enttäuscht und mancher verbittert (Zt 6.11.92) DEUT(x) waren y s: immer x: die Ostdeutschen y: die Deutschen zweiter Klasse (Zt 15.2.91,3) s: vielleicht x: die DDR-Deutschen y: neidisch, daß die Polen jederzeit in den Westen fahren durften, während sie selbst völlig isoliert waren (RM 13.4.90,4) y: fast ein halbes Jahrhundert lang getrennt und haben sich weiter auseinandergelebt, als sie selbst wahmahmen (Zt 15.2.91,3) für DEUT ist es besser, y zu sein als z s: das kann ich ohne Angst vor Widerspruch sagen y: kleinkariert z: großkotzig (Zt 26.7.91,5) z veranlaßt DEUT, y zu sein s: Carlo Schmid hat in seiner letzten großen Rede 1972 zu den Ostverträgen hier gesagt z: der gemeinsame Wille aller, die Freiheit zum Grundgesetz der Existenz des Ganzen und des einzelnen zu machen, die Mitmenschlichkeit, Brüderlichkeit genannt, als die Grundlage der Moral zu betrachten, nach der wir uns in unserem Volke verhalten und anderen gegenüber verhalten wollen y: mehr als eine Bevölkerung, als ein Volk, nämlich Nation (BTP 15.2.90,15147) 118 obwohl y, sind DEUT(x) z x: die jungen Deutschen aus Ost und West y: obwohl sie derzeit beide noch die Unterschiede betonen z: zumindest in einem Punkt ein Volk: Sie drücken sich vor der Verantwortung (BZ 4.5.91,3) DEUT gelten als y y: als das Volk der unvollendeten Revolutionen (Wopo 26.9.90,4) y kennzeichnet DEUT s: kaum läßt ein Disput, um die deutschen Dinge kreisend, Tagesaktualitäten hinter sich, hat Friedrich Nietzsche Hochkonjunktur y: daß die Frage, was eigentlich deutsch sei, nie aussterbe (RM 20.4.90,3) für DEUT(x) gilt y x: die Deutschen in der Bundesrepublik y: keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen (BTP 21.6.90, 758) DEUT(x) werden wegen y z sein x: die Deutschen dort und die Deutschen hier y: vom Wohlstand geködert, durch Arbeitslosigkeit entlohnt z: sich fremder als je zuvor (Zt 11.5.90,71) DEUT werden y s: ich glaube zwar y: nationalistischer (Zt 26.7.91,5) s: aber ich glaube nicht y: großmannssüchtig (Zt 26.7.91,5) y: nicht nur durch eine harte Währung vereint (MM 8.3.90,4) 119 DEUT sind y geworden y: allmählich lässiger, schlitzohriger geworden, sie haben pfuschen und vertuschen gelernt; auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit haben Risse bekommen; selbst die Treue zum Staat, der Respekt vor Autoritäten und Hierarchien haben spürbar nachgelassen (Zt 25.9.92, 59) x: die Deutschen in der Bundesrepublik y: durch ihren Wohlstand nicht herz- und gefühllos für die Nöte anderer (BTP 14.9.89,12043) DEUT(x) haben y s: in einem Prozeß intensiverer europäischer Zusammenarbeit zwischen dem, was heute Ost und West genannt wird, wird nicht bestritten werden können x: die Deutschen in den unterschiedlichen Teilen, in denen sie heute leben y: mehr gemeinsam als andere, nämlich Geschichte, Kultur und Sprache (FA 6.5.89,31) y: allen Grund, froh zu sein, aber sieht man sich um, einen richtig fröhlichen Eindruck machen sie nicht, weder die im Westen noch die im Osten (BZ 22723.2.91,35) s: ich sehe x: viele Ostdeutsche y: große Chancen gegenüber manchem Westdeutschen. Da ist viel Bildung, viel Solidität, auch viel Erfahrung und Kraft, schwere Situationen zu überwinden (BZ 13.8.91,2-3) s: ich meine y: immer nur mißglückte Revolutionen gehabt (FR 12.5.90,25) DEUT(x) tun y s: nach Jahren wachsender Distanz zu einer Utopie signalisieren neue Umfragen: y: glauben wieder an die Wiedervereinigung (RM 27.10.89,2) y: fühlen sich allein, im Stich gelassen von ihren Verbündeten in der Wiedervereinigungsfrage (RM 27.10.89,2) 120 x: die Deutschen in der DDR y: werden nicht als ein Volk von Ungelernten, wie manchmal befurchtet, in die Einheit gehen (VT 6.9.90,1567) s: zu dieser Erkenntnis kam das Institut für Demoskopie Allensbach am Bodensee nach seiner traditionellen Neujahrsffage: „Sehen Sie dem Jahr 1991 mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen? “ x: die Deutschen in Ost und West y: gehen mit Optimismus in das Jahr 1991 (BZ 2./ 3.2.91,10) s: die Vereinigung bringt es an den Tag y: möchten nicht mehr „Deutschland“ sagen (FA 4.7.90,27) s: tatsächlich aber x: wir Deutschen sei es in Leipzig oder Weimar, sei es östlich oder westlich des Brandenburger Tores, sei es in Hamburg oder Heidelberg y: hängen an der gemeinsamen Nation (Zt 3.10.91,4) s: von Brecht stammt die Beobachtung, daß y: fühlen mit dem Him z: denken mit dem Herzen (RM 30.3.90,32) s: die Deutschen sind ja bekannt dafür y: alles mit großer Gründlichkeit tun (Zt 11.12.92,87) x: der Deutsche y: haßt nicht die Fremden eher haßt er sich selber (Zt 25.9.92,59) s: tatsächlich ... im Gegensatz zur verbreiteten Meinung y: gehen mit Ausländem im allgemeinen zuvorkommend und einfühlsam um, jedoch immer vermischt mit einer offenen oder versteckten Arroganz (Zt 25.9.92,59) x: die Deutschen als Nation y: kommen selten ohne Feindbilder aus; mal sind es die Franzosen, mal die Kommunisten, mal die Juden und heute die Ausländer, die Flüchtlinge oder, wie man sie abschätzig nennt, „Scheinasylanten“ (Zt 25.9.92, 59) 121 y: klammem sich an Autoritäten, an den Staat, an Verordnungen und Gesetze, bauen Hierarchien auf, in deren Schlupflöchern sich jeder eine Geborgenheit sucht, sie zahlen Unsummen für Krankenversicherung, Lebensversicherung, Diebstahlversicherung, Hausratsversicherung, Unfallversicherung und dergleichen mehr, sie gründen Verbände, Vereine, Organisationen, Initiativgruppen (Zt 25.9.92, 59) aufgrund von y tun DEUT z y: aufgrund ihrer Geschichte und ihrer geographischen Lage z: beherrschen besser als alle anderen die Kunst, zwei Richtungen gleichzeitig zu folgen (Zt 26.7.91,5) y fuhrt dazu, daß DEUT z tun y: die permanente Identitätskrise, die die Deutschen im Verlauf ihrer Geschichte erleben mußten, und die daraus resultierende Angst und Unsicherheit z: sich zu wichtig nehmen, und sie tun dies mit einer Ernsthaftigkeit, die manchmal absurd anmutet (Zt 25.9.92, 59) DEUT geschah y, aber sie tun z y: das Größte, was ihnen als Nation geschehen konnte z: sprechen vorwiegend vom Geld (Zt 15.2.91,3) DEUT(x) haben y getan x: die Deutschen aus dem Osten und Westen unseres Vaterlandes y: deutlich gemacht: Wir sind ein Volk (BTP 16.11.89,13356) s: niemand sollte zugleich außer acht lassen, daß das demokratische und freiheitliche Deutschland in über 40 Jahren den Beweis erbracht hat, daß y: aus der Vergangenheit gelernt (Kohl Reden 2/ 90, 168) s: wir empfinden auch Stolz darüber, daß x: die Deutschen in der DDR y: mit ihrem friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben (Kohl Reden 2/ 90,112) 122 x: der größte Teil der Deutschen y: war gelandet auf der geschichtlich gesehen siegreichen Seite des Ost- West-Konflikts (BZ 13.8.91,2-3) y: ihre Identität in der Kultur gefunden (ZzW 3/ 90,16) x: die gleichen Deutschen y: nach dem Krieg in Ost und West gelebt, genauso gebrochen, mit der gleichen deutschen Mentalität, mit guter Berufsausbildung und den sprichwörtlichen, sekundären Tugenden von Ordnung, Fleiß und Pflichterfüllung (BZ 21722.9.91,21) x: die Deutschen in der DDR y: sich am 4. November 1989 gefreut, als eine verhaßte Diktatur der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, gefreut haben sie sich mit den Westdeutschen wie nie, als am 9. November des gleichen Jahres die Mauer fiel (BZ 2.10.91,6) x: die Ostdeutschen y: dachten auch zuerst an sich; auch bei ihnen ließe sich aufzählen, was sie schon immer vergaßen, verdrängten oder nach ihren Bedürfnissen zurechtrückten (Zt 15.2.91,3) s: zweifellos y: aus der Vergangenheit gelernt (Zt 26.7.91,5) s: wie Kohl sagen würde y: die existentielle Notwendigkeit begriffen, mit ihren Nachbarn gut auszukommen (Zt 26.7.91,5) y: sich auseinandergelebt (FA 15.5.90,7) y: auch im Schatten Hitlers weitergelebt zum größeren Teil in Freiheit und Wohlstand (RM 20.4.90,4) x: die Ostdeutschen y: fühlten sich als Deutsche zweiter Klasse und wurden von ihren Vettern westlich der Elbe auch so behandelt, unbabsichtlich meist, aber spürbar (Zt 15.2.91,3) 123 y: ertrugen ihr Nachkriegsschicksal mit erstaunlicher Passivität (Zt 15.2.91,3) DEUT(x) können y tun x: die Deutschen in der DDR y: nachholen, was man ihnen vierzig Jahre lang verweigert hat (Bild 11.11.89,5) y: im Kino keine Witze über sich selbst machen (Zt 17.4.92,67) DEUT(x) brauchen y s: mein Kollege Norbert Gansei hat vor wenigen Tagen formuliert x: die Deutschen in der DDR y: mehr Freiheit (BTP 14.9.89,12045) das Verhältnis zwischen DEUT(OST) und DEUT(WEST) war y, denn z s: schon immer y: ein Mißverständnis z: auf der einen Seite die Freien und Reichen, auf der anderen die Gebundenen und Armen; hier Weitläufigkeit und Selbstbewußtsein, dort provinzielle Enge und Unsicherheit (Zt 15.2.91,3) DEUT stehen sich y gegenüber y: kaum wieder vereint, kühl und fern (Zt 21.6.91,1) DEUT(WEST) können y, aber DEUT(OST) können z y: ohne die Ostdeutschen leben z: nur schwer ohne die Westdeutschen leben (Zt 15.2.91,3) erst DEUT(x) werden y sein s: Lepenies: x: jene Deutschen, die nach dem 3. Oktober 1990 geboren wurden y: vereint im Sinne nicht nur der Angleichung der Lebenschancen, sondern einer zunehmenden Übereinstimmung der Lebenslagen, zu der eine gemeinsame Zukunftsperspektive ebenso gehört wie eine miteinander geteilte historische Identität (Zt 3.4.92,82) 124 zwischen DEUT(xi) und DEUT(x2) besteht y - Xi: die Ostdeutschen x 2 : die Westdeutschen y: Asymmetrien des Wohlstands, der sozialen Sicherheit und des historischen Erfahrungszusammenhangs (Zt 3.4.92,82) das Nationalgefuhl von DEUT war y s: schon immer y: schwach entwickelt (Zt 15.2.91,3) die Utopie von DEUT(x) war längst nicht mehr y x: die Ostdeutschen y: die Utopie vom Kommunismus, sondern die Utopie vom Westen (BZ 22723.2.91,35) die Fremdenfeindlichkeit von DEUT ist nicht y, sondern z y: nicht das Resultat eines Nationalstolzes oder einer übersteigerten Liebe zum eigenen Volk, wie etwa bei den Engländern oder Franzosen, sie ist nicht Ausdruck einer nationalen Identität z: sondern genau das Gegenteil; sie ist die Widerspiegelung einer seit Jahrhunderten fortdauernden Identitätskrise und daher aggressiver und gefährlicher (Zt 25.9.92,59) II. Existenzphasen und Verbreitung Il.a) In welchen funktionalen Zusammenhängen hat die Gruppe der Deutschen ihren Ursprung? nur wenn DEUT y, dann z y: von beiden Seiten aufeinander zugehen z: werden wir seelisch „ein Volk“ sein (Zt 3.10.91,4) Il.b) Unter welchen besonderen Bedingungen existiert die Gruppe der Deutschen nicht mehr? DEUT(x) existieren in y nicht mehr s: ich entgegnete dem Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz, der kürzlich in einer Femsehdiskussion die Meinung vertrat... x: die Deutschen, die er meint y: in den fünf neuen Bundesländern (BZ 28.8.91,22) 125 II.c) Auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen kann die Gruppe der Deutschen zerstört werden? kein Eintrag II. d) Welche typischen Existenzphasen durchläuft die Gruppe der Deutschen? kein Eintrag n.e) Unter welchen Bedingungen verbreitet sich die Gruppe der Deutschen? Auf welche Art und Weise, aus welchem Grund und mit welcher Folge verbreitet sich sich? kein Eintrag III. Bedeutung der Deutschen III. a) Unter welchen Bezeichnungen ist die Gruppe der Deutschen bekannt? die Deutschen in der DDR; die DDR-Deutschen; die Ostdeutschen; die Deutschen im Osten; die ehemaligen DDR-Bürger; die Deutschen in der Bundesrepublik; die Westdeutschen; die Deutschen in Ost und West; die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR; die Deutschen (Ost) und die Deutschen (West) ein ostdeutscher Sprecher: Wir Deutschen in Ost und West haben lange danach gesucht, wie wir uns denn anreden sollten. Früher sagten wir "Bundis", während uns für die Ostdeutschen kein rechter Name einfallen wollte. Der Name, der uns aufgedrückt wurde, war das Wortmonstrum "DDR-Bürger". Dann kam einer aufdie Idee, uns einfach "Ossis" zu nennen, und in der Parallelität sagten wir dann "Wessis". Dies aber sind unter dem Strich gefälschte Kosenamen, die wir mit gefletschten Lächelzähnen aussprechen. Bei vielen schwingt bei diesen gegenseitigen Bezeichnungen "Jammerossis" und "Besserwessis" mit. (Zt 5.7.91,60) Ill.b) Welche Rollen und Funktionen nimmt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen des Menschen ein? DEUT(x) können y tun x: die Deutschen aller Staaten y: ohne Behinderung jederzeit zueinander kommen, um sich kennenzulernen und miteinander ihre Errungenschaften in der demokratischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung auszutauschen (stem 1.2.90,29) 126 DEUT(x) haben y getan s: es war für mich das größte menschliche Erlebnis und eine große Ermutigung, daß x: die Deutschen dort drüben in ihrer Not und gelegentlichen Hoffnungslosigkeit y: so zusammengehalten und ihre Identität bewahrt (BIP 15.2.90,15148) DEUT sind y geworden s: die alliierten Siegermächte und alle anderen Nachbarn der Bundesrepublik haben inzwischen die Erfahrung gemacht, daß y: unter der Herrschaft des Grundgesetzes nützliche Mitglieder der Menschheitsfamilie geworden, zwar so leistungsbewußt und tüchtig, daß sie manchmal lästig werden, aber auch sehr brauchbar als Verbündete, Partner, Helfer und Vorreiter in manchen heiklen Unternehmungen (RM 9.3.90,3) DEUT(xi) sind DEUT(x2) herzlich willkommen s: es ist wahr Xi: uns x 2 : die Deutschen, die aus der DDR zu uns kommen, um ihren ganz persönlichen Traum von Freiheit zu verwirklichen (BTP 14.9.89, 12040) man kann sich auf DEUT verlassen (RM 9.3.90,3) während y, sah man von DEUT(x) nur z x: die anderen Deutschen y: während im Osten alle Probleme beklagt wurden, Meckerei war oft die einzige Möglichkeit politischer Meinungsäußerung z: die Schokoladenseite. Die Westdeutschen mußten kreditwürdig bleiben. Ihre Mitteilungen ließen nichts von Sorgen erkennen. Sie führen in großen Autos vor und erzählten von ihren Reisen (BZ 22723.2.91,35) wenn y, würden sich DEUT wenig um z scheren y: wenn sie wirklich frei entscheiden könnten z: was Geopolitiker, Völkerrechtler und Erbsenzähler von ihrem Wunsch halten, in einem Staat zu leben (Zt 1.9.89,4) 127 DEUT werden y nicht brauchen, wenn z y: Sündenböcke z: wenn alles gut läuft (Zt 7.9.90,12) III.c) Welche Ziele verfolgt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen der Menschen? DEUT(x) wollen y s: daran ist kein Zweifel möglich x: die Deutschen in der DDR y: selbstverantwortetes freies Leben (FA 7.9.89,4) x: die Deutschen in der DDR y: frei leben, frei arbeiten und frei verdienen (Bild 11.11.89,5) x: die Deutschen in der DDR y: dauerhafte Aussöhnung mit ihren polnischen Nachbarn (Kohl Reden 2/ 90,1819) x: die Deutschen in der DDR y: eine konkrete Perspektive für die Einheit in Freiheit jetzt, schnell und zügig (BIP 26.4.90,16328) x: die Deutschen in der DDR y: nicht länger zwei Vaterländer haben, sondern eines, nicht länger drüben, sondern drinnen leben, nicht länger Deutsche zweiten Grades, sondern Freie mit Freien sein (VT 12.4.90,25) DEUT wollen y, weil z y: den Staatsvertrag z: weil sie die Einheit wollen (BTP 21.6.90,758) DEUT streben y an s: Hans-Dietrich Genscher mag wie jetzt bei der EG Außenministerkonferenz in Dublin das Wort Thomas Manns noch so oft wiederholen ... Die Zweifel bei den Nachbarn werden dennoch bleiben und die Angst vor einer neuen ungewissen Größe y: ein europäisches Deutschland und nicht ein deutsches Europa (RM 23.2.90,1) 128 y ist für DEUT von größter Bedeutung y: die Verankerung eines allgemein anerkannten Volksgruppenrechts im Völkerrecht (BTP 22.6.89, 11423) DEUT(x) sind für y s: zugleich setzt sich im Osten die Einsicht durch, daß x: die Mehrheit der Deutschen in der DDR y: Wiedervereinigung (FA 23.6.89,5) DEUT(x) waren für y, weil z s: zu allen Zeiten x: die Ostdeutschen y: mehr für die Einheit z: weil die Einheit mehr für sie bedeutete; nicht nur ein nationales Ereignis, sondern die Erlösung von allen Übeln des Kommunismus (Zt 15.2.91,3) DEUT(x) brauchen y s: das ist hier vielfach bekräftigt worden x: die Deutschen in der DDR y: eine verläßliche und akzeptable wirtschaftliche und soziale Perspektive (BTP 7.2.90,14864) DEUT haben nicht die Absicht (y) s: und hieran sollte niemand zweifeln y: im Europa von morgen eine Grenzdiskussion vom Zaun zu brechen, die die europäische Friedensordnung, die wir gemeinsam anstreben, gefährden müßte (Kohl Reden 2/ 90, 181) DEUT(x) sollten y erhalten s: Kohl betonte: x: alle Deutschen y: die gleiche Chance, die Früchte unserer gemeinsamen Freiheit zu genießen - Frieden im Innern und nach außen, Wohlstand, soziale Sicherheit und eine gesunde Umwelt (MM 31.12.90,1) 129 DEUT haben großes Interesse daran, daß y, und wollen z s: so Kohl y: daß die Einheit Deutschlands in die gesamteuropäische Architektur und in den Gesamtprozeß der West-Ost-Beziehungen eingebettet ist z: die berechtigten Interessen der Nachbarn und Freunde in Europa und in der Welt berücksichtigen (ND 14.2.90,1) DEUT können nicht auf Dauer y bleiben y: ein Volk unter nachkriegsbedingten Begrenzungen (RM 6.10.89,3) Ill.d) Unter welchen Bedingungen werden Aktivitäten der Gruppe der Deutschen gutgeheißen? y wird gutheißen, was DEUT beschließen s: es gilt zumindest in Bonn als eine fast schon ausgemachte Sache y: die Siegermächte und die übrigen Europäer (Zt 2.3.90,1) DEUT(x) sollten y tun y: ihre Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht zugunsten eines konföderierten Europas erklären (BTP 15.2.90,15120) x: die jubelbereiten Deutschen y: ihre weltweit bewunderte oder auch gefürchtete Energie in ein sozialpsychologisches Gemeinschaftswerk umsetzen, das hartnäckige Mauererbauer und allzu leichtfertige Mauerschleifer bloßstellt (BZ 10./ 11.8.91,3) III. e) Auf welche Art und Weise wird die Gruppe der Deutschen wirksam? DEUT(x) tun y x: die Deutschen in der Bundesrepublik y: werden den Deutschen in der DDR helfen, frei zu leben, frei zu arbeiten, frei zu verdienen (Bild 11.11.89,5) x: die Westdeutschen y: erinnern sich der eigenen ökonomischen Wiederauferstehung nach dem zweiten Weltkrieg und empfehlen den Ostdeutschen, sich das Beispiel von damals zu Herzen zu nehmen (Zt 22.12.89,23) 130 s: die Menschen aus der DDR werden darauf verweisen können x: die Deutschen in der DDR y: gehen mit selbst und friedlich erkämpfter Freiheit in die Verhandlungen (BIP 15.2.90,15122) y: verkünden dem Rest der Welt ihren Sieg über die eigene Geschichte und fugen dem Bild vom verkrachten deutschen Revolutionär das vom siegreichen hinzu (taz 6.2.90,96) y: feiern ein Fest des Wiedersehens (Kohl Reden 2/ 90,169) DEUT(x) haben y getan x: die Deutschen in der Bundesrepublik y: die Deutschen aus der DDR mit offenen, hilfsbereiten Armen empfangen (BIP 8.11.89,13040) x: die Deutschen in der Bundesrepublik y: ihren Freiheitswillen und ihre Demokratiefahigkeit bei der Gestaltung der freiheitlichen Demokratie unter Beweis gestellt (BTP 8.11.89,13048) y: gegen hohes Lehrgeld aus ihrer Geschichte gelernt und eines der freiheitlichsten und demokratischsten Gemeinwesen geschaffen (FA 15.2.90,35) x: die Deutschen in der DDR y: durch ihr Abstimmungsverhalten bei der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 für eine schnelle Lösung gemäß Artikel 23 GG plädiert (BTP 26.4.90,16328) s: so der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger y: den Einigungsprozeß ohne nationale Aufwallung und eher geschäftsmäßig abgewickelt (stern 28.6.90,15) s: Kohl betonte: x: wir Deutschen y: die staatliche Einheit unseres Vaterlandes in freier Selbstbestimmung, ohne Gewalt und Blutvergießen und in vollem Einvernehmen mit unseren Nachbarn vollenden können (MM 31.12.90,1) x: wir Deutschen in Ost und West y: lange danach gesucht, wie wir uns denn anreden sollten (Zt 5.7.91,60) 131 DEUT(x) hätten y s: viele der jüngeren Westdeutschen äußern unverhohlen x: die jüngeren Westdeutschen y: ebensogut ohne die Deutschen jenseits des „Eisernen Vorhangs“ weiterleben können (BZ 21722.9.91,21) y von DEUT(x) tut z x: Besserwessis y: das Überlegenheitsgetue z: verletzt das Selbstwertgefuhl der Deutschen im Osten grob (Zt 12.9.91,103) Ill.f) Unter welchen Bedingungen oder aus welchen Gründen sanktioniert die Gruppe der Deutschen jemandes Verhalten oder stößt jemanden aus? DEUT(x) werden wie y als z verspottet x: die Deutschen in der DDR y: wie einst die Ostfriesen z: als Deppen der Nation (Sp 15.10.90,146) Ill.g) Welche besonderen Aufgaben und Pflichten nimmt die Gruppe der Deutschen wahr? DEUT(xi) müssen alles dafür tun, daß DEUT(x 2 ) y -xi: wir x 2 : die Deutschen sei es in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, sei es in anderen Siedlungsgebieten oder in Mitteldeutschland y: in ihren angestammten Regionen, in ihrer angestammten Heimat verbleiben, einen menschenwürdigen Alltag haben und sich dort frei in ihrer Eigenart entfalten können (BTP 14.9.89,12007) DEUT(x) mußten y tun s: die Menschen aus der DDR werden darauf verweisen können x: die Deutschen in der DDR y: den schwereren Teil unserer Geschichte tragen (BTP 15.2.90,15122) x: die Deutschen in der DDR y: die schwersten Lasten tragen (RM 9.3.90,3) 132 DEUT dürfen y nicht s: diesbezüglich beschleicht mich ein wenig Angst y: jetzt nicht so tun, als hätten sie nachträglich den Krieg gewonnen (stem 29.3.90,23) Ill.h) Welche Rechte besitzt die Gruppe der Deutschen? kein Eintrag Ul i) Welche Mittel benutzt die Gruppe der Deutschen bei der Ausführung ihrer Handlungen? wenn DEUT y, wird z getan s: ich dachte, es ist egal, worüber sich die Deutschen jetzt aufregen y: Platzangst kriegen z: uns Ausländern mit schwarzen Haaren und dunkler Haut die Schuld gegeben (taz 23.12.89,12) DEUT(x) wollen y tun s: aus Ihrer Beschreibung gewinnt man den Eindruck x: die West-Deutschen y: aufKosten der Ost-Deutschen ihr Selbstwertgefuhl aufpolieren (BZ 15./ 16.6.91,21) Ill.j) Welche Bedeutung (welchen Stellenwert) hat die Gruppe der Deutschen für das menschliche Leben und Handeln insgesamt? DEUT(x) setzen Maßstäbe x: die Deutschen in der DDR (BTP 16.11.89,13364) DEUT(x) dürfen stolz sein x. die Deutschen in der DDR (BTP 16.11.89,13364) DEUT(x) werden sich messen lassen müssen an y x: die Deutschen in der Bundesrepublik y: an der Verantwortung, an der demokratischen Reife, an der Besonnenheit, mit der die Deutschen in der DDR ihre Freiheitsrechte einfordem (BTP 16.11.89,13364) 133 DEUT(xi) bewundern DEUT(x 2 ) s: bei dem letzten Treffen der EG-Außenminister haben meine Kollegen gesagt: Xi: wir x 2 : die Deutschen in der DDR (BTP 16.11.89,13366) wenn DEUT y, dann z y: zu sehr nur über sich nachdenken z: wird Europa überhaupt nicht Zusammenkommen (Opp 11/ 89,129) y: ihre Einstaatlichkeit nur sentimental ausleben wollen, ohne solidarisch zu sein mit- und füreinander, ohne zu teilen z: wird dieses Land binnen kurzem in eine krasse Zweiklassengesellschaft zerfallen (BZ 1.12.90,3) alles wird davon abhängen, wie weit DEUT bereit sind, y y: sich dem Osten zu nähern und dabei von den Erfahrungen Gebrauch zu machen, die einzelne auf privater Ebene, auf der Ebene persönlicher Freundschaften über die Jahre hin sammeln konnten (Zt 7.12.90,60) DEUT wird y vorgeworfen s: wie man weiß y: ein starker Hang zum Rassismus (Zt 25.9.92,59) III. k) Welchen Gruppen anderer Art ist die Gruppe der Deutschen ähnlich und worin unterscheidet sie sich von diesen? DEUT(x) sind in einer anderen Lage als z x: die Bevölkerung der DDR z: Ungarn, Tschechen, Slowaken und Polen (Zt 3.4.92,82) die Fremdenfeindlichkeit von DEUT ist nicht y, wie bei z y: nicht das Resultat eines Nationalstolzes oder einer übersteigerten Liebe zum eigenen Volk, sie ist nicht Ausdruck einer nationalen Identität z: wie etwa bei den Engländern oder Franzosen (Zt 25.9.92,59) 134 DEUT(x) tun y aus gleichen Gründen wie z s: tatsächlich aber x: wir Deutschen sei es in Leipzig oder Weimar, sei es östlich oder westlich des Brandenburger Tores, sei es in Hamburg oder Heidelberg y: hängen an der gemeinsamen Nation z: wie die Polen oder die Ungarn, die Esten, Letten oder Litauer, oder wie die Franzosen, die Holländer oder die Engländer (Zt 3.10.91,4) anders als y mögen DEUT z y: anders als die Franzosen mit ihrer Trikolore, die Briten mit dem Union Jack, anders als Schweizer, Belgier und vor allem die Stars-and-Stripesverrückten Amerikaner z: in der Öffentlichkeit keine Freude darüber zeigen, daß sie Deutsche sind (RM 19.10.90,36) IV. Bewertungen / Sprechereinstellungen DEUT sind y y: wieder wer. Souverän tönen sie zum drittenmal in der Geschichte spontan „Einigkeit und Recht und Freiheit“ im Parlament, und das am Jahrestag der Reichskristallnacht (BTP 28.11.89,13543) DEUT(xi) tun sich keinen Gefallen, wenn sie denken, DEUT(x 2 ) müßten y tun, und DEUT(xi) tun nicht gut, z zu tun xi: wir im Osten x 2 : die Deutschen der alten Bundesländer y: sich um der Zusammengehörigkeit willen verpflichtet fühlen, ihr Erworbenes mit uns zu teilen z: es ihnen vorzuwerfen, wenn sie das nicht fühlen (BZ 15./ 16.6.91,3) DEUTCxj) haben y, daß DEUT(x 2 ) z xi: die Menschen im Westen x 2 : die Deutschen aus der DDR y: nun eben einmal keinerlei Verständnis mehr dafür, daß z: noch immer wie Flüchtlinge behandelt würden, obwohl doch in der DDR nach der erfolgreichen Revolution und nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze Fluchtgründe wirklich nicht mehr gegeben sind (BZ 12.6.91,8) 135 4.3.2 Zusammenfassung: Wie wird DEUTSCHE im Einheitsdiskurs verwendet und welche Aspekte konzeptgebundenen Wissens werden verbalisiert? In den Texten des Einheitsdiskures wird DEUTSCHE nicht mehr in erster Linie in der Lesart BUNDESBÜRGER verwendet, sondern vor allem auch auf die Ostdeutschen bezogen. Dabei gibt es in der Vorphase des deutschen Vereinigungsprozesses im Herbst 1989 noch Benennungsunsicherheiten. Neben der bis dahin üblichen Sprachregelung in der westdeutschen Sprachgemeinschaft (deutsche in der Interpretation als BUNDESDEUTSCHE): ... wir, die Deutschen, vor allem die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik... (BTP 5.9.89,11749) entsteht allmählich ein Bewußtsein für einen ausgeweiteten Geltungsbereich von DEUTSCHE: ... die Deutschen, sei es in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, sei es in anderen Siedlungsgebieten oder in Mitteldeutschland... (BTP 14.9.89, 12007). Typisch für diese Übergangszeit ist auch, daß für die Deutschen in Ostdeutschland markierte Benennungen gesucht werden. Die Lesart DEUTSCHE im Sinne von BUNDESBÜRGER ist noch gegenwärtig, die Ostdeutschen einfach auch Deutsche zu nennen, noch ungewohnt. So finden sich Benennungen wie die DDR-Deutschen; die ehemaligen DDR-Bürger; die Deutschen in der DDR und in Abgrenzung dazu entsprechend die Bundesbürger; die Deutschen in der Bundesrepublik.. Im Einheitsdiskurs etablieren sich dann als Benennungen für DEUTSCHE Bundesbürger; die Ostdeutschen; die Deutschen im Osten; die Westdeutschen; die Deutschen in der DDR; die Deutschen in Ost und West; die Deutschen (Ost) und die Deutschen (West). Es fällt auf, daß eine differenzierende Benennung für deutsche in Ost bzw. West in den meisten Fällen beibehalten wird. Auf eine übergreifende Lesart von DEUTSCHE im Sinne von DEUTSCHES VOLK (im Text die Deutschen als Volk oder die Deutschen als Nation) wird verhältnismäßig selten referiert. Deutsche als Einzellexem aktualisiert nicht mehr wie in den westdeutschen Medientexten vor 1989 die in der westdeutschen Sprachgemeinschaft als Normalfall usualisierte Lesart BUNDESBÜRGER, sondern kann sowohl auf die Deutschen in Ost als auch in West oder auch auf alle Deutschen bezogen werden. 136 Die Benennungsunsicherheiten werden z.T. von den Sprechern aufgegrifFen und explizit behandelt, wie z.B. hier von einem ostdeutschen Sprecher, der die saloppen Varianten der Bezeichnungen für DEUTSCHE beschreibt: IVir Deutschen in Ost und West haben lange danach gesucht, wie wir uns denn anreden sollten. Früher sagten wir „Bundis“, während uns für die Ostdeutschen kein rechter Name einfallen wollte. Der Name, der uns aufgedrückt wurde, war das Wortmonstrum „DDR-Bürger“. Dann kam einer auf die Idee, uns einfach „Ossis“ zu nennen, und in der Parallelität sagten wir dann „ Wessis“. Dies aber sind unter dem Strich gefälschte Kosenamen, die wir mit gefletschten Lächelzähnen aussprechen. Bei vielen schwingt bei diesen gegenseitigen Bezeichnungen „Jammerossis“ und „Besserwessis“ mit. (Zt 5.7.91,60) 4.3.2.1 Welche wesentlichen Aussagen über DEUTSCHE werden im Einheitsdiskurs getroffen? Die Kontextualisierungen von DEUTSCHE zeigen, daß im Einheitsdiskurs vor allem Aussagen zu folgenden Frame-Dimensionen gemacht werden: - Rolle und Funktion der Deutschen in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen (vgl. Frame-Dimension I.b mit 9 Prädizierungen in 15 verschiedenen Verwendungen) - Pflichten der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I.f mit 7 Prädizierungen in 17 verschiedenen Verwendungen) - Eigenschaften der Gruppe der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Lg mit 27 Prädizierungen in 83 verschiedenen Verwendungen) - Rollen und Funktionen der Deutschen in übergreifenden Handlungszusammenhängen (vgl. Frame-Dimension IH.b mit 8 Prädizierungen in 8 verschiedenen Verwendungen) - Ziele und Bestrebungen der Deutschen in übergreifenden Handlungszusammenhängen (vgl. Frame-Dimension III.c mit 11 Prädizierungen in 15 verschiedenen Verwendungen) - Art und Weise der Wirksamkeit der Deutschen (vgl. Frame-Dimension life mit 4 Prädikationen in 14 verschiedenen Verwendungen) - Rechte der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Ill.h mit 6 Prädikationen in 6 verschiedenen Verwendungen) 137 - Bedeutung der Deutschen für das menschliche Leben und Handeln insgesamt (vgl. Frame-Dimension Ill.j mit 7 Prädikationen in 8 verschiedenen Verwendungen) - Vergleich der Deutschen mit anderen Völkern (vgl. Frame-Dimension IILk mit 5 Prädizierungen in 5 verschiedenen Verwendungen) Die übrigen Frame-Dimensionen werden von den Sprechern in den untersuchten Texten des Einheitsdiskurses mit 1, 2, oder 3 Prädizierungen, also nur vereinzelt oder auch gar nicht aktualisiert. Im Vergleich zu den Texten vor 1989 fällt auf, daß DEUTSCHE im Einheitsdiskurs sehr viel häufiger und variantenreicher kontextualisiert wird. Sehr viel mehr Frame-Dimensionen, die ja als Raster für konzeptuelles Wissen aufgefaßt werden können, werden in den Texten mit konkreten Prädizierungen ausgefüllt. D.h., im Einheitsdiskurs werden sehr viele verschiedene Aspekte konzeptuellen Wissens über DEUTSCHE aktualisiert, die sich in vielen Fällen von den Kontextualisierungen vor 1989 unterscheiden. Z.B. werden im Gegensatz zu den Kontextualisierungen vor 1989 auch Aussagen zu Rechten und Pflichten, zu Zielen und zur Wirksamkeit oder auch zu den besonderen Verpflichtungen der Deutschen im internationalen Rahmen gemacht (ausführlicher zum Vergleich der Kontextualisierungen vor und nach 1989 im folgenden Kapitel). Im Kapitel 4.3.1 wurden die Aussagen der Sprecher des Einheitsdiskurses über DEUTSCHE systematisch erfaßt, indem sie den einzelnen Frame- Dimensionen zugeordnet wurden. Auf diese Weise wurde es möglich, die Aussagen nach dem Inhaltsprinzip, also z.B. nach den Kriterien EIGEN- SCHAFTEN, ROLLEN und FUNKTIONEN oder RECHTE UND PFLICHTEN DER DEUTSCHEN zu systematisieren. Für die Aussagen, die Sprecher im Einheitsdiskurs über DEUTSCHE machen, muß darüber hinaus unterschieden werden, ob der Sprecher seine Aussage über die Ostdeutschen oder über die Westdeutschen macht oder ob er hier nicht differenziert und alle Deutschen meint. Diese Zuschreibung ist aus den Kontexten deutlich erschließbar, oft wird die Spezifikation von DEUTSCHE verbal expliziert (z.B. die Deutschen in der DDR; die DDR-Deutschen; die Ostdeutschen; die Deutschen im Osten; die ehemaligen DDR-Bürger; die Deutschen in der Bundesrepublik; die Westdeutschen; die Deutschen in Ost und West; die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR; die Deutschen (Ost) und die Deutschen (West)). 138 Eine weitere Unterscheidung, die allerdings nur bei Aussagen über Eigenschaften von DEUTSCHE gemacht werden kann (vgl. Frame-Dimension Lg in Kapitel 4.3.1), ist die, daß sich die Aussagen 2x1m einen auf die Rolle der Deutschen in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen, zum anderen auf ihr Verhalten im alltäglichen Leben bzw. auf allgemeinmenschliche Eigenschaften und ihre Mentalität beziehen. Für alle Aussagen, die nicht Eigenschaften, sondern etwa die Rolle der Deutschen, deren Wirksamkeit oder Rechte und Pflichten betreffen, ist immer der Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Ebene gegeben. Im folgenden sollen die wichtigsten Aussagen über DEUTSCHE im Einheitsdiskurs zusammengefaßt und kurz kommentiert werden. Bei den Aussagen über Eigenschaften der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I.g in Kapitel 4.3.1) wird zunächst nach der Art der Eigenschaften systematisiert. Die Aussagen beziehen sich jeweils auf alle Deutschen. In der zweiten Tabelle ist der Bezug auf die Ostbzw. Westdeutschen das Systematisierungskriterium. Eigenschaften, die gesellschaftliche Zusammenhänge betreffen: die Deutschen sind eine Nation, die wie andere Nationen in Freiheit leben will hängen an der gemeinsamen Nation sind eine „Nation, die dies eigentlich gar nicht mehr sein will“ hatten schon immer ein schwach entwickeltes Nationalgefuhl möchten nicht mehr „Deutschland“ sagen sind ein Volk haben deutlich gemacht: Wir sind ein Volk sind mehr als eine „Bevölkerung“ sind veranlaßt, mehr als eine Bevölkerung, als ein Volk, nämlich Nation zu sein sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, individuell und als Gemeinschaft sind so sehr mit sich beschäftigt, daß sie es nicht merken nehmen sich zu wichtig, und sie tun dies mit einer Ernsthaftigkeit, die manchmal absurd anmutet kennzeichnet, daß die Frage, was eigentlich deutsch sei, nie ausstirbt haben mehr gemeinsam als andere, nämlich Geschichte, Kultur und Sprache werden nicht nur durch eine harte Währung vereint glauben wieder an die Wiedervereinigung sind drei Jahre nach dem Fall der Mauer über ihre Vereinigung besorgt, viele enttäuscht und mancher verbittert 139 waren fast ein halbes Jahrhundert lang getrennt und haben sich weiter auseinandergelebt, als sie selbst wahrnahmen sind jetzt wieder unauflöslich miteinander verbunden werden vom Wohlstand geködert, durch Arbeitslosigkeit entlohnt, sich fremder als je zuvor sein sind sich fremd haben sich auseinandergelebt stehen sich, kaum wieder vereint, kühl und fern gegenüber sind noch nicht reif für die Einigung haben allen Grund, froh zu sein, aber sieht man sich um, einen richtig fröhlichen Eindruck machen sie nicht, weder die im Westen noch die im Osten gehen mit Optimismus in das Jahr 1991 fühlen sich allein, im Stich gelassen von ihren Verbündeten in der Wiedervereinigungsfrage sind ruhig geworden und friedlich sind wieder wer sind zutiefst konservativ werden nationalistischer, aber nicht großmannssüchtig kommen selten ohne Feindbilder aus; mal sind es die Franzosen, mal die Kommunisten, mal die Juden und heute die Ausländer, die Flüchtlinge oder, wie man sie abschätzig nennt, „Scheinasylanten“ haben die existentielle Notwendigkeit begriffen, mit ihren Nachbarn gut auszukommen sind nicht, wie das Klischee besagt, besonders steif, diszipliniert oder einfallslos, sondern im Gegenteil das beweglichste Volk auf Erden haben immer nur mißglückte Revolutionen gehabt gelten als das Volk der unvollendeten Revolutionen sind ein Volk ohne jeden revolutionären Geist sind ein legitimitätsbedürftiges Volk, sie würden auch noch eine Fahrkarte für den Bahnsteig lösen, bevor sie ihn stürmen beherrschen besser als alle anderen die Kunst, zwei Richtungen gleichzeitig zu folgen haben ihre Identität in der Kultur gefünden haben aus der Vergangenheit gelernt haben auch im Schatten Hitlers weitergelebt zum größeren Teil in Freiheit und Wohlstand ertrugen ihr Nachkriegsschicksal mit erstaunlicher Passivität Eigenschaften, die die Mentalität betreffen: die Deutschen sind sehr gehorsam, das heißt sie können ihre eigenen Gefühle nicht so offen rauslassen, wenn es keine Erlaubnis von oben gibt 140 sind innerlich unsicher, obwohl sie, zumindest die meisten von ihnen, alle denkbaren Sicherheiten genießen sind allmählich lässiger, schlitzohriger geworden, sie haben pfuschen und vertuschen gelernt; auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit haben Risse bekommen; selbst die Treue zum Staat, der Respekt vor Autoritäten und Hierarchien haben spürbar nachgelassen fühlen mit dem Hirn und denken mit dem Herzen tun alles mit großer Gründlichkeit hassen nicht die Fremden eher hassen sie sich selber gehen mit Ausländem im allgemeinen zuvorkommend und einfühlsam um, jedoch immer vermischt mit einer offenen oder versteckten Arroganz klammem sich an Autoritäten, an den Staat, an Verordnungen und Gesetze, bauen Hierarchien auf, in deren Schlupflöchern sich jeder eine Geborgenheit sucht, sie zahlen Unsummen für Krankenversicherung, Lebensversicherung, Diebstahlversicherung, Hausratsversicherung, Unfallversicherung und dergleichen mehr, sie gründen Verbände, Vereine, Organisationen, Initiativgruppen sprechen vorwiegend vom Geld können im Kino keine Witze über sich selbst machen haben nach dem Krieg in Ost und West gelebt, genauso gebrochen, mit der gleichen deutschen Mentalität, mit guter Berufsausbildung und den sprichwörtlichen, sekundären Tugenden von Ordnung, Fleiß und Pflichterfüllung Es wird deutlich, daß die weitaus überwiegenden Aussagen Eigenschaften fokussieren, die gesellschaftliche Zusammenhänge betreffen. Allgemeinmenschliche und eher das Alltagsleben betreffende Eigenschaften sind deutlich unterrepräsentiert. Unangefochten und wiederholt werden den Deutschen im Einheitsdiskurs folgende Eigenschaften zugeschrieben: - Die Deutschen sind zu sehr mit sich beschäftigt und nehmen sich zu ernst. - Die Deutschen haben sich auseinandergelebt und sind sich fremd. - Die Deutschen sind ein Volk ohne revolutionären Geist. - Die Deutschen sind konservativ. - Die Deutschen sind innerlich unsicher. - Die Deutschen sind humorlos. - Die Deutschen sind Ausländem gegenüber nett, aber überheblich. 141 In einigen Punkten werden Stereotype über die Deutschen in Zweifel gezogen: pro contra - Die Deutschen hängen an der gemeinsamen Nation. - Die Deutschen sind lässiger, schlitzohriger geworden, sie haben pfuschen und vertuschen gelernt; auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit haben Risse bekommen; selbst die Treue zum Staat, der Respekt vor Autoritäten und Hierarchien haben spürbar nachgelassen. - Die Deutschen sind nicht, wie das Klischee besagt, besonders steif, diszipliniert und einfallslos, sondern im Gegenteil das beweglichste Volk auf Erden. Besonders häufig wird das Problem des Nationalgefuhls der Deutschen kontrovers behandelt. Zum einen wird den Deutschen bescheinigt, schon immer ein unterentwickeltes Nationalgefuhl gehabt zu haben und nicht zu ihrem Deutsch-Sein zu stehen. Zum anderen wird die Ansicht formuliert, die Deutschen hingen an der gemeinsamen Nation. Die folgende Zusammenstellung zeigt Eigenschaftszuschreibungen, die nicht für alle Deutschen gelten sollen. Die Sprecher differenzieren hier ausdrücklich zwischen Ost- und Westdeutschen: die Westdeutschen sind durch ihren Wohlstand nicht herz- und gefühllos für die Nöte anderer geworden waren gelandet auf der geschichtlich gesehen siegreichen Seite des Ost- West-Konflikts die Ostdeutschen sind unsere Landsleute, die wir auf gar keinen Fall als Ausländer behandeln wollen und als Ausländer behandeln dürfen sind keine Ausländer waren immer die Deutschen zweiter Klasse fühlten sich als Deutsche zweiter Klasse und wurden von ihren Vettern westlich der Elbe auch so behandelt, unabsichtlich meist, aber spürbar sind die „besseren“ Deutschen - Die Deutschen hatten schon immer ein unterentwickeltes Nationalbewußtsein. - Die Deutschen sind gründlich. - Die Deutschen sind gehorsam. - Die Deutschen sind autoritätshörig. - Die Deutschen sind steif, diszipliniert und einfallslos. 142 dachten auch zuerst an sich; auch bei ihnen ließe sich aufzählen, was sie schon immer vergaßen, verdrängten oder nach ihren Bedürfnissen zurechtrückten waren vielleicht neidisch, daß die Polen jederzeit in den Westen fahren durften, während sie selbst völlig isoliert waren hatten schon lange nicht mehr die Utopie vom Kommunismus, sondern die Utopie vom Westen können nachholen, was man ihnen vierzig Jahre lang verweigert hat sind tüchtig, gut ausgebildet und begierig nach Erfolg werden nicht als ein Volk von Ungelernten, wie manchmal befurchtet, in die Einheit gehen sind nach dem Kraftakt des Umbruchs physisch, psychisch, sozial, geistig überfordert brauchen mehr Freiheit haben mit ihrem friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben Offensichtlich ist im Einheitsdiskurs bei Aussagen über Eigenschaften der Deutschen die markierte Benennung für die Ostdeutschen wichtiger als die markierte Benennung der Westdeutschen. Auffällig sind die kontroversen Klassifizierungen der Ostdeutschen als Deutsche zweiter Klasse auf der einen und als die besseren Deutschen auf der anderen Seite und in diesem Zusammenhang die häufige Betonung, daß die Ostdeutschen keine Ausländer seien. Ausführlich äußern sich die Sprecher des Einheitsdiskurses über die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Während in der Anfangsphase des Einigungsprozesses die Zusammengehörigkeit aller Deutschen betont wird, rückt später die Ungleichheit der Deutschen in Ost und West mehr und mehr in den Mittelpunkt: Schon immer war das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen ein Mißverständnis: auf der einen Seite die Freien und Reichen, auf der anderen die Gebundenen undArmen; hier Weitläufigkeit und Selbstbewußtsein, dort provinzielle Enge und Unsicherheit. Die Ostdeutschen waren immer die Deutschen zweiter Klasse, sie ßihlten sich so und wurden von ihren Vettern westlich der Elbe auch so behandelt, unabsichtlich meist, aber spürbar. Der tiefste Grund deutscher Zwietrachtfrüher und heute liegt in der Ungleichheit. Die Westdeutschen können ohne die Ostdeutschen leben, aber die Ostdeutschen nur schwer ohne die Westdeutschen. (Zt 15.2.91,3) (Die DDR) hat... ihre eigene staatliche Existenz aufgegeben und muß nun bis aufweiteres mit den zwischen Ost- und Westdeutschen bestehenden Asymmetrien 143 des Wohlstands, der sozialen Sicherheit und des historischen Erfahrungszusammenhangs leben. (Zt 3.4.92,82) Die Ungleichheit der Ost- und Westdeutschen etabliert sich im Einheitsdiskurs als mehrheitlich akzeptiertes Wissen über DEUTSCHE, das häufig thematisiert und selten relativiert wird, wie z.B. in: Obwohl sie derzeit beide noch die Unterschiede betonen, sind zumindest in einem Punkt die jungen Deutschen aus Ost und West ein Volk: Sie drücken sich vor der Verantwortung. (BZ 4.5.91,3) Wenn im Einheitsdiskurs die Rolle der Deutschen in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen thematisiert wird (vgl. Frame-Dimension I.b in Kapitel 4.3.1), beziehen sich die Aussagen entweder auf die Deutschen insgesamt oder auf die Ostdeutschen. Die wesentlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen die Rolle der Deutschen gesehen wird, sind zum einen der Bezug zur deutschen Nazivergangenheit und Nachkriegsgeschichte, zum anderen der Platz der Deutschen in Europa: die Deutschen stehen vor Herausforderungen, die keinen Aufschub dulden haben den Krieg gemeinsam verschuldet und gemeinsam verloren haben unterschiedlich hart und unterschiedlich lange an den Kriegsfolgen zu tragen gehabt haben sich von der nationalsozialistischen Zeit viel weniger radikal abgesetzt, als man es sich gewünscht hätte sind beim Nationalen schon des öfteren übers Ziel hinausgeschossen bilden zum erstenmal keinen Streitpunkt mehr auf der europäischen Tagesordnung werden niemals eine Bedrohung, sondern ein Gewinn für das immer mehr zusammenwachsende Europa haben erkannt, daß sie gemeinsam sehr wohl den Anspruch auf die Beletage im famosen europäischen Haus beanspruchen könnten können ihren Platz zwischen anderen Völkern erst finden, wenn die Einbildung aufhört, daß sie in der einen oder anderen Richtung etwas ganz Besonderes wären die Ostdeutschen stellen sich in ihrer großen Mehrheit ihrer Verantwortung für Europa und treten für eine eigenständige DDR ein nehmen bei der Gestaltung europäischer Freiheitsgeschichte eine entscheidende Rolle ein schreiben ein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte 144 schreiben ein neues, ein friedliches Kapitel in der Geschichte des Kampfes der Bürger für ihre demokratischen Rechte und für ihre Freiheit wurden durch die Nachkriegsentwicklung von der wichtigsten kollektiven Idee der Deutschen, der Idee von ihrer Tüchtigkeit, ausgeschlossen Aussagen zu Rechten der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Ill.h in Kapitel 4.3.1) betreffen vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, das durch die Kriegsschuld und Nachkriegsgeschichte teilweise in Frage gestellt war. Im Einheitsdiskurs wird dieses Recht für die Deutschen massiv eingefordert: die Deutschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung haben das Recht auf Selbstbestimmung nicht verloren haben die Rechte als Volk durch den Krieg Hitlers nicht verloren haben sich das Recht, nicht mehr als Objekt der Begierde anderer zu dienen, erworben, denn sie sind längst zu selbständig handelnden Subjekten der Weltpolitik geworden Die Textsegmente, die Verpflichtungen und Aufgaben der Deutschen thematisieren (vgl. Frame-Dimension I.f in Kapitel 4.3.1) - und hier sind immer Verpflichtungen im gesamtgesellschaftlichen Rahmen gemeint beziehen sich in den meisten Fällen auf alle Deutschen. Nur selten wird zwischen Ost- und Westdeutschen differenziert: die Deutschen müssen die Frage der Einheit der deutschen Nation selbst lösen und selbst wählen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden müssen weit mehr wagen, als ein solcher in der Geschichte bislang nicht erprobter Systemwechsel darstellt: Sie lassen, ohne jede schonende Übergangszeit, die Wirtschaftsgrenzen zwischen zwei Ländern mit völlig unterschiedlicher Leistungskraft fallen - und setzen damit die abgewrackten DDR-Untemehmen einer ungleich stärkeren, kraftstrotzenden West- Industrie aus müssen ihre Probleme vereinigen und gemeinsam anpacken müssen die Fixierung auf die nationale Frage verlassen und gemeinsam dafür sorgen, daß der Weg nach Europa gefunden wird sollten der Motor der Entspannung in Europa sein sollten sich als erste Diener des neuen Europa empfinden sind verpflichtet, eine europäische Friedensmacht zu sein müssen die Geschichte gemeinsam tragen. Aber nicht mit der Selbstgewißheit, das alles hätte dem einen nicht passieren können 145 müssen noch einmal in einer großen nationalen Anstrengung Zusammenwirken, um die Fehler zu korrigieren müssen unverzüglich einige Lektionen lernen, deren erste und wichtigste lautet: weder die Ostnoch die Westdeutschen können weitermachen wie bisher sind im Falle möglicher Einheit zu einer neuen, demokratisch erarbeiteten Verfassung verpflichtet sind der Welt schuldig: nie wieder Faschismus, nie wieder Kommunimus, nie wieder Krieg und Massenvemichtung Die vordringlichen Pflichten und Aufgaben der Deutschen werden im Einheitsdiskurs darin gesehen - und darin sind sich die Sprecher weitgehend einig -, daß die Deutschen ihre Vergangenheit gemeinsam tragen und ihre Wiedervereinigung gemeinsam meistern, sich gleichzeitig jedoch auch konstruktiv in den europäischen Einigungsprozeß einbringen müssen. Kontroverse Auffassungen werden vor allem dann formuliert, wenn zwischen Ostbzw. Westdeutschen differenziert und entsprechend deren erforderliches Verhalten thematisiert wird. Im folgenden Beispiel etwa nimmt ein Sprecher die Kontroversen des Diskurses auf und entkräftet sie in seiner Argumentation: Wer glaubt, nur die Deutschen im Osten hätten etwas zu lernen, der irrt sich. Auch die Westdeutschen müssen sich ändern! Nur wenn wir von beiden Seiten aufeinander zugehen, werden wir seelisch „ein Volk“ sein, wie das 1989 die Demonstranten in Leipzig gehofft und gerufen haben. Natürlich bleibt es wahr: Die Ostdeutschen haben sehr vieles zu lernen. Ihnen stehen noch viele schwierige Jahre bevor. Aber gerade deshalb darf niemand ihre Selbstachtung und ihren Stolz verletzen. (Zt 3.10.91,4) In Aussagen des Einheitsdiskurses zur Wirksamkeit der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Ill e in Kapitel 4.3.1) wird wieder nach Fokussierung aller Deutschen, der Ost- oder der Westdeutschen unterschieden, wobei Aussagen über die Westdeutschen besonders häufig sind: die Deutschen verkünden dem Rest der Welt ihren Sieg über die eigene Geschichte und fugen dem Bild vom verkrachten deutschen Revolutionär das vom siegreichen hinzu feiern ein Fest des Wiedersehens haben den Einigungsprozeß ohne nationale Aufwallung und eher geschäftsmäßig abgewickelt haben die staatliche Einheit ihres Vaterlandes in freier Selbstbestimmung, ohne Gewalt und Blutvergießen und in vollem Einvernehmen mit ihren Nachbarn vollenden können 146 die Ostdeutschen gehen mit selbst und friedlich erkämpfter Freiheit in die Verhandlungen haben durch ihr Abstimmungsverhalten bei der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 für eine schnelle Lösung gemäß Artikel 23 GG plädiert die Westdeutschen werden den Deutschen in der DDR helfen, frei zu leben, frei zu arbeiten, frei zu verdienen erinnern sich der eigenen ökonomischen Wiederauferstehung nach dem zweiten Weltkrieg und empfehlen den Ostdeutschen, sich das Beispiel von damals zu Herzen zu nehmen haben die Deutschen aus der DDR mit offenen, hilfsbereiten Armen empfangen haben ihren Freiheitswillen und ihre Demokratiefähigkeit bei der Gestaltung der freiheitlichen Demokratie unter Beweis gestellt haben gegen hohes Lehrgeld aus ihrer Geschichte gelernt und eines der freiheitlichsten und demokratischsten Gemeinwesen geschaffen hätten ebensogut ohne die Deutschen jenseits des „Eisernen Vorhangs“ weiterleben können 4.3.2 2 Auf welche Weise werden die Aussagen über DEUTSCHE im Einheitsdiskurs getroffen? Nicht nur die Häufigkeit und Varianz der Thematisierung von DEUTSCHE, sondern in ganz besonderem Maße auch die Art und Weise, wie Sprecher DEUTSCHE kontextualisieren und sich selbst dabei einbringen, zeigt deutlich, daß das Konzept im Einheitsdiskurs eine zentrale Rolle spielt und außerordentlich kontrovers behandelt wird. Dies wird daran erkennbar, daß die Sprecher zu ihren Aussagen über DEUTSCHE häufig explizit Stellung nehmen und ihre Aussagen auf eine Weise vertexten, die einen intertextuellen Bezug zu Äußerungen anderer Sprecher herstellen. Im Kapitel 4.3.1 sind sprachliche Hinweise auf solche Sprechereinstellungen und Vertextungsstrategien in den Texten des Einheitsdiskurses durch die Variable s systematisch erfaßt worden. Hier sollen die wichtigsten dieser Fälle mit einigen Beispielen zusammengefaßt werden: (a) Bezug auf Äußerungen anderer Sprecher als ein Berufen auf andere, oft prominente Sprecher ganz im Sinne des Genscher-Wortes... Carlo Schmidt hat in seiner letzten großen Rede 1972 zu den Ostverträgen hier gesagt... 147 mein Kollege Norbert Gansei hat vor wenigen Tagenformuliert... von Brecht stammt die Beobachtung, daß... als Kommentierung der Äußerungen anderer Sprecher (Ausdruck der Zustimmung bzw. Ablehnung) ... wie oft behauptet - ... erscheint höchstfraglich ... das ist hier vielfach bekräftigt worden wer glaubt, ... der irrt sich nein ich kam dem Diktum (des Münchner Historikers Christian Meier) keineswegs beipflichten... als Berufung auf Statistiken, Umfragen etc. neue Umfragen signalisieren... ...zu dieser Erkenntnis kam das Institutfür Demoskopie Allensbach am Bodensee nach seiner traditionellen Neujahrsfrage (b) Formulierung der eigenen Meinung ich denke, daß... ich glaube nicht an das Klischee ... ich meine, daß... ... das kann ich ohne Angst vor Widerspruch sagen (c) Berufung auf Tatsachen die Öffnung der Mauer zeigte,... die Vereinigung bringt es an den Tag... ... das haben sie nicht zuletzt injüngster Zeit bewiesen (d) Stellungnahme zum Grad der Gültigkeit der Äußerung es ist wahr... natürlich bleibt es wahr... wie man weiß vielleich daran ist kein Zweifel möglich es wird nicht bestritten werden können Neben diesen relativ klar systematisierbaren sprachlichen Mitteln für den Ausdruck von Sprechereinstellungen bzw. für die Herstellung von intertextuellen Bezügen weist der Einheitsdiskurs eine Fülle von ganzen Textsequenzen auf, die sehr komplexe und vielschichtige Hinweise auf Bewertungen bzw. Sprechereinstellungen enthalten oder auch insgesamt als solche interpretierbar sind. 148 So demonstrieren Sprecher ihre Haltung zu Vorgängen und Begleiterscheinungen des Vereinigungsprozesses mit Ironie: Kaum läßt ein Disput, um deutsche Dinge kreisend, Tagesaktualitäten hinter sich, hat Friedrich Nietzsche Hochkonjunktur. Die Deutschen kennzeichne es, so hatte er befunden, daß die Frage, was eigentlich deutsch sei, nie aussterbe. Nein, ausgestorben ist sie bis heute nicht. (RM 20.4.90,3) Die Deutschen sind also wieder wer. Souverän tönen sie zum drittenmal in der Geschichte spontan „Einigkeit und Recht und Freiheit“ im Parlament, und das am Jahrestag der Reichskristallnacht. (BTP 28.11.89,13543) In anderen Textzsequenzen des Einheitsdiskurses werden Prozesse der deutschen Vereinigung von den Sprechern explizit bewertet: Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir denken, die Deutschen der alten Bundesländer müßten sich um der Zusammengehörigkeit willen verpflichtet fühlen, ihr Erworbenes mit uns zu teilen, und wir im Osten tun nicht gut, es ihnen vorzuwerfen, wenn sie das nichtfilhlen. (BZ 15./ 16.6.91,3) Man könne bei einem solchen Problemdruck nicht gegen die übergroße Mehrheit der Bevölkerung Politik machen, und die Menschen im Westen hätten nun eben einmal keinerlei Verständnis mehr dafür, daß die Deutschen aus der DDR noch immer wie Flüchtlinge behandelt würden, obwohl doch in der DDR nach der erfolgreichen Revolution und nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze Fluchtgründe wirklich nicht mehr gegeben seien. (BZ 12.6.91,8) Es dürfte deutlich geworden sein, daß DEUTSCHE im Einheitsdiskurs auf vielfältige Weise thematisiert, problematisiert und kontrovers diskutiert wurde. Im folgenden Kapitel wird durch den Vergleich mit den Kontextualisierungen im öffentlichen Diskurs vor 1989 herausgearbeitet, welche Veränderungen im Umgang mit dem Konzept deutsche im Einheitsdiskurs nachweisbar sind und ob sich Verschiebungen des Konzeptes nachweisen lassen. 4.4 Die Kontextualisierungen von DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 und im Einheitsdiskurs - Gebrauchswandel und Konzeptverschiebung In den vorangegangenen Kapiteln sind die Voraussetzungen dafür erarbeitet worden, nunmehr Aussagen darüber treffen zu können, wie das Konzept DEUTSCHE von den Sprechern in den Einheitsdiskurs eingebracht wird und 149 inwieweit sich im Vergleich zur öffentlichen Kommunikation vor 1989 Veränderungen feststellen lassen. 4.4.1 Allgemeine Einschätzung Anders als IDENTITÄT (vgl. Kapitel 3) wurde DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation auch vor der deutschen Vereinigung häufig, zum Teil kontrovers thematisiert. Die Problematik des Deutsch-Seins hat in der deutschen Geistesgeschichte eine lange Tradition und rückt je nach Zeitgeist und politischer Situation in regelmäßigen Abständen immer wieder ins öffentliche Bewußtsein. Auslösende Momente für eine Belebung der Auseinandersetzung mit dem Konzept DEUTSCHE Ende der 80er Jahre waren zum einen der Historikerstreit und die damit provozierte erneute Debatte um die deutsche Vergangenheitsbewältigung und zum anderen die zunehmende Zahl der in die Bundesrepublik strebenden Flüchtlinge und Aussiedler. Im Einheitsdiskurs erfahrt diese öffentliche Auseinandersetzung eine starke Ausweitung und Brisanz. Hinweise hierfür sind sowohl die starke Häufigkeit als auch die Varianzbreite und Art und Weise der Thematisierung des Konzeptes. Darüber hinaus wird im Vergleich zur Verwendungsweise in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 eine Verschiebung der Sprechersicht auf das Phänomen DEUTSCHE erkennbar. Während sich die Äußerungen vor 1989 noch häufig auf die Mentalität und eher allgemeinmenschliche Eigenschaften der Deutschen beziehen, wird im Einheitsdiskurs vor allem die historische, gesamtgesellschaftliche und zwischenstaatliche Einbindung der Deutschen fokussiert. Dies ist sowohl an den Aussagen der Sprecher zu Eigenschaften der Deutschen erkennbar (vgl. Lg im Frame) als auch daran, daß im Einheitsdiskurs im Gegensatz zu den Verwendungen vor 1989 - Aussagen zu Rollen, Funktionen, Zielen und Bestrebungen der Deutschen in übergreifenden Handlungszusammenhängen und zu ihren Rechten und Pflichten gemacht werden. Eine tabellarische Zusammenstellung der Prädizierungen von DEUTSCHE vor und nach 1989 (vgl. Kapitel 4.2 und 4.3) macht dies auf einen Blick deutlich: 150 vor 1989 nach 1989 Rolle und Funktion der Deutschen in gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen (vgl. Frame-Dimension I.b) 6 Prädizierungen Verwendungen in 14 verschiedenen 9 Prädizierungen in 15 verschiedenen Verwendungen Eigenschaften der Gruppe der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I.g) 12 Prädizierungen Verwendungen in 51 verschiedenen 27 Prädizierungen in 83 verschiedenen Verwendungen Vergleich der Deutschen mit anderen Völkern (vgl. Frame-Dimension Ill.k) 9 Prädizierungen Verwendungen in 13 verschiedenen 5 Prädizierungen in 5 verschiedenen Verwendungen Pflichten der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I.f) % 7 Prädizierungen in 17 verschiedenen Verwendungen Rollen und Funktionen der Deutschen in übergreifenden Handlungszusammenhängen (vgl. Frame-Dimension Ill.b) % 8 Prädizierungen in 8 verschiedenen Verwendungen Ziele und Bestrebungen der Deutschen in übergreifenden Handlungszusammenhängen (vgl. Frame-Dimension III.c) % 11 Prädizierungen in 15 verschiedenen Verwendungen Art und Weise der Wirksamkeit der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Ill.e) % 4 Prädikationen in 14 verschiedenen Verwendungen Rechte der Deutschen (vgl. Frame-Dimension ffl.h) % 6 Prädikationen in 6 verschiedenen Verwendungen Bedeutung der Deutschen für das menschliche Leben und Handeln insgesamt (vgl. Frame-Dimension Ill.j) % 7 Prädikationen in 8 verschiedenen Verwendungen 151 Aus dieser Tabelle wird erkennbar, daß DEUTSCHE im Einheitsdiskurs sehr viel häufiger und variantenreicher kontextualisiert wird als im öffentlichen Diskurs vor 1989. In den Texten nach 1989 werden sehr viel mehr Frame- Dimensionen aktualisiert als in den Texten vor 1989. Lediglich der Aspekt des Vergleichs der Deutschen mit anderen Völkern wird vor 1989 ausführlicher behandelt, jedoch in den meisten Fällen mit Bezug auf die Mentalität oder auf alltägliche Eigenschaften: Die Deutschen sind nach den Franzosen die eifrigsten Pillenschlucker Europas. (Zt 19.7.85,9) Es wird doch auch wohl niemand behaupten, daß die Deutschen besser, klüger und toleranter seien als die Amerikaner. (Zt 31.10.86,76) Bei den Trinkgewohnheiten, hat die Londoner Financial Times festgestellt, verlieren sich die nationalen Besonderheiten, auch wenn die Deutschen immer noch siebenmal so viel Bier trinken wie die Italiener und die zwölfmal mehr Wein als die Briten. (Zt 4.1.85,2) In den Texten des Einheitsdiskurses beziehen sich die Kontextualisierungen, die den Vergleich mit anderen Völkern thematisieren, ausnahmslos auf gesamtgesellschaftliche Dimensionen: Noch immer tut es (das deutsche Volk) sich schwer, sich zu seiner Nation zu bekennen. Anders als die Franzosen mit ihrer Trikolore, die Briten mit dem Union Jack, anders als Schweizer, Belgier und vor allem die Stars-and-Stripesverrückten Amerikaner mögen die Deutschen in der Öffentlichkeit keine Freude darüber zeigen, daß sie Deutsche sind. (RM 19.10.90,36) Während man sich in anderen betroffenen Ländern auf traditionelle Rückständigkeit herausreden konnte, war das bei den Ostdeutschen nicht möglich. Und sie hatten den Vergleich der Systeme per Fernsehen frei Haus. (BZ 22723.2.91,35) 4.4.2 Kontinuität und neue Tendenzen Ein Vergleich der Fillers der einzelnen Prädizierungen von DEUTSCHE in den Texten vor 1989 und im Einheitsdiskurs zeigt, daß neben tradierten Eigenschaftszuschreibungen, die bereits in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 üblich waren oder im Bewußtsein der Sprecher als Stereotype existieren, sich im Einheitsdiskurs neue Gebrauchstendenzen und bisher ungewohnte Eigenschaftszuschreibungen durchsetzen. Zuschreibungen, die bereits vor 1989 152 in der Sprachgemeinschaft als Stereotypen über DEUTSCHE existierten und im Einheitsdiskurs wieder aufgenommen und gestützt werden, sind z.B. (vgl. Kap. 4.2 und 4.3): - Die Deutschen sind humorlos. - Die Deutschen sind nüchtern und unsinnlich. - Die Deutschen geben viel Geld für Versicherungen aus. - Die Deutschen pochen auf Gesetze. - Die Deutschen sind Ausländem gegenüber voller Arroganz und Vorurteile. - Die Deutschen haben ein unterentwickeltes Nationalbewußtsein. - Die Deutschen wollen mit ihren Nachbarn gut auskommen. - Die Deutschen suchen immer nach ihrer Identität. - Die Deutschen haben Probleme mit Revolutionen. Die Aktualisierung eines solchen Stereotyps wird von den Sprechern des Einheitsdiskurses oft verbal unterstützt, indem auf geltende mehrheitliche Meinungen oder Umfragen Bezug genommen wird, z.B.: die Deutschen sindja bekannt dafür, daß... neue Umfragen signalisieren... das Institutfür Demoskopie kam zu der Erkenntnis... - ... daran ist kein Zweifel möglich - ..., das kann ich ohne Angst vor Widerspruch sagen Darüber hinaus gibt es im Einheitsdiskurs eine Vielzahl von Aussagen über DEUTSCHE, die so in der Sprachgemeinschaft noch nicht usualisiert sind. Damit einher geht eine Verschiebung der Sicht der Sprecher auf die kommunikative Relevanz von Charakterisierungen. Aussagen aus Texten des öffentlichen Diskurses vor 1989, die z.B. das Freizeitverhalten der Deutschen, ihre Furcht vor Krankheiten oder ihre Angst vor einem Atomkrieg thematisieren, werden im Einheitsdiskurs nicht aufgegriffen und ausgebaut. Hier werden vielmehr Themen wie das Verhältnis der Ost- und Westdeutschen, die gemeinsame Verantwortung für die deutsche Vergangenheit und den Vereinigungsprozeß, der Platz der Deutschen in Europa oder das Verhalten der Deutschen im internationalen Kontext behandelt. Zum Teil werden Aussagen der öffentlichen Kommunikation vor 1989 relativiert oder sogar revidiert, z.B. . 153 vor 1989 - Die Deutschen tun sich schwer mit der Vergangenheit. - Die Deutschen machen aus ihrem Deutsch-Sein wenig Aufhebens. nach 1989 - Die Deutschen haben aus der Vergangenheit gelernt. - Die Deutschen sind wieder wer. - Die Deutschen werden nationalistischer. 4.4.2.1 Problematisierung des Konzeptes Es ist bereits festgestellt worden, daß DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation auch schon vor 1989 ein häufig und zum Teil kontrovers thematisiertes Konzept war. Mit dem Einheitsdiskurs jedoch erreicht die Thematisierung dieses Konzeptes eine neue Qualität, denn hier setzen sich Sprecher massiv und ganz explizit mit dem Konzept auseinander, handeln es quasi aus. Dies geschieht zum einen, indem im Rahmen des Diskurses gegensätzliche Aussagen über deutsche nebeneinandergestellt werden, z.B.: - Die Deutschen haben aus der Vergangenheit gelernt. - Die Deutschen hatten schon immer ein schwach entwickeltes Nationalgefuhl. - Die Deutschen sind ruhig und friedlich geworden. - Die Deutschen sind ein legitimitätsbedürftiges Volk. Sie würden noch eine Fahrkarte für den Bahnsteig lösen, bevor sie ihn stürmen. - Die Deutschen sind sehr gehorsam, das heißt, sie können ihre Gefühle nicht so offen rauslassen, wenn es keine Erlaubnis von oben gibt. - Die Deutschen kommen selten ohne Feindbilder aus. - Die Deutschen hängen an der gemeinsamen Nation. - Die Deutschen sind wieder wer. - Die Deutschen sind nicht, wie das Klischee besagt, besonders steif, diszipliniert oder einfallslos, sondern im Gegenteil das beweglichste Volk auf Erden. - Die Deutschen sind allmählich lässiger, schlitzohriger geworden, sie haben pfuschen und vertuschen gelernt; auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit haben Risse bekommen; selbst die Treue zum Staat, der Respekt vor Autoritäten und Hierarchien haben spürbar nachgelassen. Zum anderen werden solche sich inhaltlich widersprechenden Aussagen offen kontrovers verhandelt. Dabei beziehen sich die Sprecher zustimmend oder ablehnend auf andere Sprecher und Äußerungen des Diskurses, um für die eigene Auffassung bzw. die Auffassung des eigenen Lagers zu argumentieren 154 und gegensätzliche Auffassungen zu entkräften. Diese Kontroversen lassen sich sprachlich an Formulierungen festmachen, die in Kapitel 4.3 mit Hilfe der Variable s und der Kategorie IV erfaßt und ausgewertet worden sind. So werden innerhalb des Einheitsdiskurses häufig Stereotype über DEUTSCHE in Zweifel gezogen, indem die Sprecher Formulierungen gebrauchen wie: ich glaube nicht an das Klischee ... im Gegensatz zur verbreiteten Meinung... - ... wie oft behauptet -, erscheint höchstfraglich Auch werden Äußerungen anderer Sprecher explizit gestützt oder abgelehnt: - ... das ist hier vielfach bekräftigt worden ganz im Sinne des Genscher-Wortes... mein Kollege Norbert Gansei hat vor wenigen Tagenformuliert... nein, ich kann dem Diktum des Münchener Historikers Christian Meier keineswegs beipflichten... ich entgegnete dem Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz, der kürzlich in einer Fernseh-Diskussion die Meinung vertrat... wer glaubt,... der irrt sich - ...im Gegenteil: ... Oder die Sprecher explizieren, daß sie ihre eigene Meinung formulieren und bringen gegebenenfalls noch eine Wertung ein: - ... davon bin ich überzeugt ich denke, daß... ich glaube zwar... aber ich glaube nicht... - ... dessen bin ich mir absolut sicher - ... diesbezüglich beschleicht mich ein wenig Angst In diesem Sinne kann davon gesprochen werden, daß das Konzept DEUTSCHE im Einheitsdiskurs problematisiert und ausgehandelt wird. 4.4.2.2 Neue Tendenzen des Gebrauchs Wie eingangs festgestellt, werden in den Texten des Einheitsdiskurses zum Teil tradierte Stereotype von deutsche aktualisiert. Darüber hinaus setzen sich mit dem Einheitsdiskurs jedoch neue Tendenzen des Gebrauchs von DEUTSCHE durch, die in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 noch nicht bestimmend waren. Solch eine neue Tendenz ist z.B. die Erweiterung des Konzeptes DEUTSCHE auf alle Deutschen, hier also vor allem auf sowohl die Westals auch auf die Ostdeutschen. Während in der öffentlichen Kommuni- 155 kation der Bundesrepublik vor 1989 DEUTSCHE in der Lesart Bundesbürger usualisiert war, wurde in der öffentlichen Kommunikation der DDR die Thematisierung des Konzeptes in nichthistorischen oder nichtkulturgeschichtlichen Kontexten vermieden. Die Ostdeutschen sollten ihre Identität über die Zugehörigkeit zum Staat DDR definieren und nicht in erster Linie über ihre deutsche Nationalität. Somit war es für die Ostdeutschen eine neue Erfahrung, sich mit der Wende in der DDR in der Öffentlichkeit selbst als Deutsche zu begreifen und zu bekennen. Das heißt nicht, daß sie dies nicht im privaten Kreis auch schon vor der Wende getan hätten. Das Novum der Wende-Zeit besteht darin, daß in die offizielle Kommunikation der Ostdeutschen Themen auffückten, die vorher tabuisiert waren. Ein Ausdruck für diesen Bekenntnisprozeß als Deutsche war der Wandel der Wende-Losung Wir sind das Volk zu Wir sind ein Volk. Mit der Losung Wir sind das Volk wurde die Phrase der offiziellen DDR-Argumentation, daß das Volk im Mittelpunkt aller staatlichen Maßnahmen stehe, von den Betroffenen aufgegriffen, ernst genommen und so zu einer Forderung nach wirklicher Wahrnehmung des Volkswillens an die Regierenden zurückgegeben. Die Sprecher, die sich hinter diese Losung stellten, befanden sich noch in der Tradition ihrer Identität als Staatsvolk der DDR. Mit der Losung Wir sind ein Volk wird die Aussage erweitert und in dem Sinne uminterpretiert, daß Volk hier nicht mehr in erster Linie Staatsvolk meint, sondern Nation (vgl. Hermanns 1992, S. 254). Hier werden nicht mehr wie in der ersten Losung die Regierenden der DDR angesprochen und zur Anerkennung des Volkswillens aufgefordert, sondern das Deutsch-Sein der Bürger der DDR wird zum zentralen Thema, und die Einheit des deutschen Volkes wird heraufbeschworen, was in der offiziellen Argumentation der Bundesrepublik von vielen Sprechern sofort aufgegriffen und unterstützt wird. So wird die Einheit der Deutschen relativ schnell zum zentralen Thema des öffentlichen Diskurses der Wende-Zeit. Im Rahmen des Einheitsdiskurses wird also das Konzept deutsche auf die Ostdeutschen ausgeweitet, und zwar sowohl aus dem eigenen Selbstverständnis heraus, als auch aus der Sicht der Westdeutschen. In diesem Zusammenhang kann im Verlaufe der Wende und des Vereinigungsprozesses ein Wandel der Sicht auf die Ostdeutschen festgestellt werden, der sich sprachlich in den Texten des Einheitsdiskurses als Bewertungswandel für die Lesart OST- DEUTSCHE nachweisen läßt. Zur Zeit der Wende in der DDR und noch in den ersten Monaten des Jahres der Vereinigung wird die positive Rolle der Deutschen in der DDR hervorgehoben, die eine friedliche Revolution zustande gebracht, den Status der Deutschen zweiter Klasse würdig ertragen haben und 156 in der Nachkriegsgeschichte die Benachteiligten waren. Typische Textsequenzen hierfür, die zum Teil das Pathos der Wende-Euphorie tragen, sind folgende: Jeder einzelne von uns wird daran gemessen werden, ob er dieser Herausforderung gewachsen ist. Die Maßstäbe dafür setzen die Deutschen in der DDR. Wir werden uns messen lassen müssen an der Verantwortung, demokratischen Reife, an der Besonnenheit, mit der sie ihre Freiheitsrechte einfordern. (BTP 16.11.89,13364) Wir bewundern die Deutschen der DDR, wie sie ihre Freiheit verfolgen. (BTP 16.11.89,13366) Die Deutschen in der DDR haben ein neues, ein friedliches Kapitel in der Geschichte des Kampfes der Bürger für ihre demokratischen Rechte und für ihre Freiheit geschrieben. (BTP 28.11.89,13544) Mit unseren Landsleuten in der DDR sind wir glücklich, daß nach Jahrzehnten Mauer und Grenzsperren endlich friedlich überwunden werden konnten. Wir empfinden auch Stolz darüber, daß die Deutschen in der DDR mit ihrem friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung vor aller Welt ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben haben, das übrigens auch überall in der Welt entsprechend gewürdigt wurde. Wir sind beeindruckt vom lebendigen und ungebrochenen Freiheitswillen, der die Menschen in Leipzig und in vielen anderen Städten bewegt. (Kohl Reden 2/ 1990,112) Die Deutschen in der DDR sind tüchtig, gut ausgebildet und begierig nach Erfolg. In wenigen Jahren können sie nachholen, was man ihnen vier Jahrzehnte lang verwehrt hat. (Bild 11.11.89,5) Solche Textsequenzen, die geradezu euphorisch Anerkennung und Bewunderung gegenüber den Ostdeutschen ausdrücken und sie sogar als Beispiel und Maßstab für die Westdeutschen darstellen, stammen alle aus der unmittelbaren Wende-Zeit (Herbst 1989) bis zur Zeit kurz vor der Volkskammerwahl (Anfang März 1990). Bereits kurz nach der Wahl kündigt sich ein Umschwung der positiven Bewertung und ein allmählicher Übergang zur Distanz an. Das Pathos klingt ab und Defizite der Ostdeutschen werden thematisiert, jedoch immer noch mit Sympathie und Verständnis und dem deutlich erkennbaren Willen der Unterstützung einerseits und dem Einbringen ostdeutscher Anstrengungen und Werte andererseits: 157 Die Deutschen in der DDR mußten gewiß die schwersten Lasten tragen, sie hatten geringere Chancen, ihr Nachholebedarf ist groß. Aber es nutzt ihnen nichts, wenn ihnen in schmeichlerischer Absicht oder weshalb immer dies als eigenes Verdienst, alsfrei gewähltes Los suggeriert wird. (RM 9.3.90,3) Niemand wird seine Ausbildung umsonst gemacht haben. Die Deutschen der bisherigen DDR werden nicht als ein Volk von Ungelernten, wie mancher befürchtet, in die Einheit gehen. (VT 6.9.90,1567) Sofort mit der Realität der Vereinigung beider deutscher Staaten (Oktober 1990) setzt ein massives Umschlagen der sprachlichen Signale von positiven auf negative Bewertungen ein: Die Deutschen der Ex-DDR werden einst die Ostfriesen als Deppen der Nation verspottet. (Sp 15.10.90,146) Vielfach wird auch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der deutschen Vereinigung und den Ostdeutschen ausgedrückt: Viele der jüngeren Westdeutschen äußern unverhohlen, sie hätten ebenso gut ohne die Deutschen jenseits des „Eisernen Vorhangs“ weiterleben können. (BZ 21722.9.91,21) In den meisten Texten seit dem Herbst 1990 jedoch werden die Ostdeutschen im Gegensatz zu den Aussagen vom Herbst 1989 mit negativen Werturteilen belegt. Die Ostdeutschen werden nicht mehr als strahlendes Subjekt der Geschichte dargestellt (vgl. oben), sondern als überfordert, unselbständig, unfähig und eigennützig: Die Ostdeutschen sind nach dem Kraftakt des Umbruchs physisch, psychisch, sozial, geistig überfordert Ständig wird ihnen von den Großwessis deutlich gemacht, wie unselbständig sie sind. (Zt 5.7.91,60) Ob die Ostdeutschen wie oft behauptet die „ besseren “ Deutschen sind, erscheint höchst fraglich. ... Auch die Ostdeutschen dachten zuerst an sich; auch bei ihnen ließe sich aufzählen, was sie schon immer vergaßen, verdrängten oder nach ihren Bedürfnissen zurechtrückten. (Zt 15.2.91,3) Das Verhalten der Ostdeutschen gilt nicht mehr als positives Beispiel, das Maßstäbe setzt (vgl. oben), sondern von ihnen wird eine Identifizierung mit den Westdeutschen erwartet: 158 Als Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz kürzlich in einer Femsehdiskussion die Meinung vertrat, daß die ehemaligen DDR-Bürger sich mit den Deutschen der Bundesrepublik identifizieren müßten, ... (BZ 28.8.91,22) Positive Aussagen über die Ostdeutschen werden meist nur noch in ostdeutschen Medien formuliert: Ich sehe, daß viele Ostdeutsche große Chancen gegenüber manchem Westdeutschen haben. Da ist viel Bildung, viel Solidität, auch viel Erfahrung und Kraft, schwere Situationen zu überwinden. (BZ 13.8.91,2-3) Mit diesem Bewertungswandel geht einher, daß das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen ins Zentrum des Interesses rückt und immer häufiger thematisiert wird. Auch dies kann im öffentlichen Diskurs vor 1989 weder in der DDR noch in der Bundesrepublik festgestellt werden und setzt erst mit dem Einheitsdiskurs ein. Die Art und Weise der Thematisierung des Verhältnisses von Ost- und Westdeutschen steht in engem Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Bewertungswandel für OSTDEUTSCHE. Bis zur Volkskammerwahl (März 1990) wird die Zusammengehörigkeit und Einheit der Deutschen betont: Die Deutschen aus dem Osten und Westen unseres Vaterlands haben deutlich gemacht: Wir sind ein Volk. (BTP 16.11.89,13356) Im Frühjahr 1990, als nach der Wahl klar wird, daß es relativ schnell zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen wird, häufen sich Äußerungen, die das mentale und materielle Getrenntsein und die Fremdheit der Deutschen in Ost und West hervorheben: Dem Freudentaumel folgte der Konsumrausch; danach die Ernüchterung. Die Öffnung der Mauer zeigte aber auch, wie fremd sich die Deutschen der DDR und Bundesrepublik sind, trotz gemeinsamer Geschichte und der selben Sprache. (FR 12.5.90,25) Kaum wiedervereint, stehen sich die Deutschen kühl und fern gegenüber. (Zt 21.6.91,1) Die Deutschen leben wieder in einem Staat doch zwischen Ost und West tun sich Abgründe auf. ... Fast ein halbes Jahrhundert lang waren die Deutschen getrennt, sie haben sich weiter auseinandergelebt, als sie selbst wahrnahmen. (Zt 15.2.91,3) 159 Als Begründung für das Sich-fremd-Sein der Ost- und Westdeutschen werden deren unterschiedliche Erfahrungswelten, Ziele und Bedürfnisse angegeben: Die westliche Werbung im Osten Deutschlands wird auch die Sprachkultur berühren. Begriffsbezeichnend haben sich die Deutschen auseinandergelebt. So gibt es bereits ein erstes spezielles „ Übersetzungsbüro “ in der DDR für Werbetexte aus der Bundesrepublik. (FA 15.5.90,7) Die Westdeutschen können ohne die Ostdeutschen leben, aber die Ostdeutschen nur schwer ohne die Westdeutschen. Die Bundesbürger richteten sich zufrieden in ihrer Bundesrepublik ein, ohne die Landsleute drüben zu vermissen; die Sachsen, Thüringer, Brandenburger und Mecklenburger aber waren und blieben auf den glücklichen Teil Deutschlands orientiert, teilweise sogar fixiert. (Zt 15.2.91,3) Während im Osten alle Probleme beklagt wurden, Meckerei war oft die einzige Möglichkeit politischer Meinungsäußerung, sah man von den anderen Deutschen nur die Schokoladenseite. Die Westdeutschen mußten kreditwürdig bleiben. Ihre Mitteilungen ließen nichts von Sorgen erkennen. Sie fuhren in großen Autos vor und erzählten von ihren Reisen. (BZ 22723.2.91,35) Vereint im Sinne nicht nur der Angleichung der Lebenschancen, sondern einer zunehmenden Übereinstimmung der Lebenslagen, zu der eine gemeinsame Zukunftsperspektive ebenso gehört wie eine miteinander geteilte historische Identität, werden erst jene Deutschen sein, die nach dem 3. Oktober 1990 geboren wurden. (Zt 3.4.92,82) 4.4.3 Zusammenfassung Das Konzept deutsche wird von den Sprechern im Rahmen des Einheitsdiskurses im Vergleich zur öffentlichen Kommunikation vor 1989 in vielen Fällen auf neue Weise kontextualisiert. Diese neuartigen Kontextualisierungen lassen sich in vier Typen zusammenfassen: I) Das Konzept DEUTSCHE wird im Einheitsdiskurs von den Sprechern problematisiert und kontrovers diskutiert. Meinungen über das Konzept werden gegenübergestellt und argumentativ verhandelt. II) Das Konzept DEUTSCHE erfährt mit dem Einheitsdiskurs eine Erweiterung insofern, als die Sprecher damit nicht mehr nur wie in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 die Deutschen in der Bundesrepublik fokussieren, sondern auch die Ostdeutschen. 160 III) Das Konzept DEUTSCHE wird im Rahmen des Einheitsdiskurses in neuartigen Kontexten thematisiert. Das Konzept wird erweitert, dem Konzept werden bis dahin untypische Eigenschaften zugeschrieben. Diese Eigenschaftszuschreibungen werden im Diskurs usualisiert. IV) Im Rahmen des Einheitsdiskurses findet ein Bewertungswandel für OSTDEUTSCHE und ein Wandel der Einschätzung des Verhältnisses von Ost- und Westdeutschen statt. Das unter (IV) genannte Phänomen hat eine temporäre Komponente, die in der Chronologie der Texte des Einheitsdiskurses von 1989 bis 1992 zu verfolgen ist. Demgegenüber haben die unter (I) bis (III) genannten Aspekte, die Konzepterweiterung, die Zuschreibung von neuen Eigenschaften und die kontroverse Behandlung des Konzeptes, weniger eine chronologische Qualität. Vielmehr können sie synchron als Knotenbildungen in einem dreidimensional vorstellbaren Netzwerk der Texte des Einheitsdiskurs verstanden werden. Wenn man die Texte des Diskurses als Elemente eines komplexen dreidimensionalen und vielfach vernetzten Gefüges betrachtet und die Aussagen der Sprecher über DEUTSCHE als Fäden in diesem Netzwerk, dann sind in bestimmten Bereichen Verdichtungen der Fäden feststellbar. Diese verdichteten Bereiche enthalten Informationen darüber, wie das Konzept DEUTSCHE im Diskurs kontextualisiert wird. 5. Zusammenfassung und Ausblick Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sollte gezeigt werden, wie mit Hilfe eines operationalisierbaren Instrumentariums große Datenmengen systematisch analysiert und ausgewertet werden können, um Aussagen über die Kontextualisierung von Konzepten in Textmengen zu erhalten und daraus eventuell Gebrauchswandel und Konzeptverschiebungen abzuleiten. Als Analysegrundlage wurde der Textbereich des Einheitsdiskurses gewählt, weil dies ein relativ gut abgrenzbarer Bereich der öffentlichen Kommunikation ist, in dem über einen Zeitraum von wenigen Jahren hinweg eine Fülle von sprachlichen Wandlungsprozessen stattgefünden hat und so die kontextuelle Dynamik von Konzepten besonders gut beschrieben werden kann. Durch die Einbeziehung großer Textmengen der öffentlichen Kommunikation vor der deutschen Vereinigung wurde eine Vergleichsbasis geschaffen, die es ermöglicht, Aussagen darüber zu treffen, wie bestimmte Konzepte im Einheitsdiskurs vertextet wurden und welche Veränderungen sich in der öffentlichen Kommunikation nach 1989 etabliert haben. 161 Die Untersuchungen basieren auf einem dynamischen Bedeutungskonzept, das sowohl kognitive als auch kontextuelle Faktoren als wesentlich für die Bedeutungskonstitution ansieht. Dabei ist die Untersuchungsperspektive weniger auf die kognitiven Aspekte, als vielmehr auf die Vertextung von Konzepten gerichtet. Die Prädizierungen der betreffenden Konzepte in den Diskurstexten werden als Verbalisierung von Elementen konzeptgebundenen Wissens der Sprecher über diese Konzepte interpretiert, systematisch erfaßt und ausgewertet. Auf diese Weise konnten Gebrauchswandel, Bedeutungsvarianz und Konzeptverschiebungen in den Texten des Einheitsdiskurses gut nachgewiesen werden. 5.1 IDENTITÄT und DEUTSCHE im Einheitsdiskurs Der Einheitsdiskurs erweist sich als ein Textbereich, der sehr deutlich zeigt, wie Konzepte in der öffentlichen Kommunikation brisant werden, wie Sprecher Konzepte problematisieren, in Zweifel ziehen und aushandeln. Dies wurde in Kapitel 3 für IDENTITÄT und in Kapitel 4 für DEUTSCHE gezeigt und soll hier noch einmal in einer Gesamtschau auf beide Konzepte zusammengefaßt werden. Die Untersuchung der Vertextung der Konzepte zeigte sowohl bei IDENTITÄT als auch bei DEUTSCHE, daß das Kontextualisierungspotential, das durch die Framefragen vorgegeben ist, im Einheitsdiskurs sehr viel umfassender und variantenreicher aktualisiert wird als in der öffentlichen Kommunikation vor 1989. Das heißt, die Konzepte werden im Einheitsdiskurs mit mehr verschiedenen Prädikaten und die Slots der Prädikate mit mehr verschiedenen Fillers kontextualisiert und bedienen damit sehr viel mehr Frame-Dimensionen als in den Texten vor 1989. Auf diese Weise kommt es im Einheitsdiskurs zu einem Ausbau und einer Erweiterung der Kontextualisierung der Konzepte und z.T. zu einer Verschiebung der Kontextualisierungsaspekte. So machen z.B. im Falle von DEUTSCHE die Sprecher im Einheitsdiskurs anders als vor 1989 auch Aussagen zu Rollen, Funktionen, Zielen und Bestrebungen der Deutschen in übergreifenden Handlungszusammenhängen und zu ihren Rechten und Pflichten (vgl. Frame-Dimensionen I.f, Ill.b, III.c, Ill.e, Ill.h, Ill.j). Auch bei Betrachtung nur einer Frame-Dimension, die allerdings sowohl in den Texten vor 1989 als auch im Einheitsdiskurs aktualisiert wird, kann die Brisanz der Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Einheitsdiskurs nachgewiesen werden. Dies stellt sich für die Aktualisierung der Frame-Dimension Eigenschaften und Erscheinungsbild (I.c im Frame für Identität und I.g im Frame für DEUTSCHE) so dar, daß IDENTITÄT in den untersuchten Texten 162 der öffentlichen Kommunikation vor 1989 mit 4 verschiedenen Prädikaten in 6 verschiedenen Verwendungen, im Einheitsdiskurs mit 8 Prädikaten in 15 verschiedenen Verwendungen kontextualisiert wird und DEUTSCHE vor 1989 mit 12 Prädikaten in 51 Verwendungen und im Einheitsdiskurs mit 27 Prädikaten in 83 Verwendungen. Es ist nicht nur ein deutlicher Anstieg der Frequenz, sondern vor allem eine Ausweitung der Varianz zu erkennen. Die Zunahme der kommunikativen Relevanz der Konzepte im Einheitsdiskurs ist an den eben genannten Indizien deutlich erkennbar. Doch nicht nur die Häufigkeit und die Vielfalt, sondern auch die Art und Weise der Prädizierungen weisen darauf hin, daß die untersuchten Konzepte in der öffentlichen Kommunikation der 90er Jahre brisant werden. Nicht nur die Frage, welche Prädizierungen die Sprecher vornehmen, sondern auch wie sie diese vornehmen, ist in diesem Zusammenhang relevant. Im Einheitsdiskurs nehmen die Sprecher zu ihren Aussagen über IDENTITÄT oder deutsche häufig explizit Stellung, indem sie Bewertungen vornehmen (z.B. es ist wahr... / ... daran ist kein Zweifel möglich / es wird nicht bestritten werden können ... / wie man weiß ...) oder deutlich machen, daß sie eine eigene Meinung ausdrücken (z.B. ich denke, daß ... / ich meine, daß ...). Oder sie stellen intertextuelle Bezüge zu anderen Sprechern und Äußerungen her, die im Einheitsdiskurs häufig auf kontroverse Auseinandersetzungen hinweisen. So läßt sich etwa an der Art und Weise der Vertextung von IDENTITÄT nachweisen, daß die Sprecher in den Texten vor 1989 wenn überhaupt referierend auf andere Sprecher oder Äußerungen Bezug nehmen und so eine vorgegebene Meinung aufgreifen und gegebenenfalls stützen (z.B. ... so sagte der Psychologe ErikH. Erikson / Freud hat eine Entwicklungspsychologie entworfen, die sagt, ... / ... so entspricht es der Überzeugung des Kanzlers). Im Einheitsdiskurs beziehen sich die Sprecher häufig argumentierend aufeinander und versuchen, Äußerungen anderer Sprecher in Zweifel zu ziehen und zu widerlegen (es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte .../ ... wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflich falsch sagt, ... / entgegen dem Votum Christian Meiers ...). Dies ist noch deutlicher weil variantenreicher und häufiger bei der Vertextung von DEUTSCHE zu beobachten. So ziehen Sprecher Stereotype über deutsche im Einheitsdiskurs explizit in Zweifel (ich glaube nicht an das Klischee .../ im Gegensatz zur verbreiteten Meinung.../ ...wie oft behauptet - , erscheint höchstfraglich), oder sie formulieren ausdrücklich eigene Ansichten und setzen diese oft deutlich gegen Äußerungen anderer Sprecher (... davon bin ich überzeugt... / ich glaube zwar ... aber ich glaube nicht.../ ... dessen bin ich mir absolut sicher / nein, ich kann dem Diktum des Münchener Historikers 163 Christian Meier keineswegs beipßichten ... / wer glaubt, ... der irrt sich / ich entgegnete dem Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz, der kürzlich in einer Fernseh-Diskussion die Meinung vertrat...). Nicht nur solche Formulierungen weisen darauf hin, daß die Konzepte DEUTSCHE und IDENTITÄT im Einheitsdiskurs von den Sprechern explizit verhandelt werden. Es gibt eine Reihe von Textsequenzen, die insgesamt sehr komplexe und vielschichtige Hinweise auf Sprechereinstellungen bzw. Bewertungen enthalten. In folgenden beiden Fällen z.B. bedienen sich die Sprecher einer ironischen Ausdrucksweise, um ihre distanzierte Haltung zu vermitteln: Kaum läßt ein Disput, um deutsche Dinge kreisend, Tagesaktualitäten hinter sich, hat Friedrich Nietzsche Hochkonjunktur. Die Deutschen kennzeichne es, so hatte er befunden, daß die Frage, was eigentlich deutsch sei, nie aussterbe. Nein, ausgestorben ist sie bis heute nicht. (KM 20.4.90,3) Die Deutschen sind also wieder wer. Souverän tönen sie zum drittenmal in der Geschichte spontan „Einigkeit und Recht und Freiheit“ im Parlament, und das am Jahrestag der Reichskristallnacht. (BTP 28.11.89,13543) Ein weiteres Argument dafür, daß die Konzepte deutsche und IDENTITÄT im Einheitsdiskurs brisant werden, ist die Tatsache, daß gegensätzliche Aussagen über das jeweilige Konzept im Diskurs nebeneinander stehen und so ein Potential für Uminterpretation und Konzeptverschiebung bilden. Für DEUTSCHE z.B. finden sich in den Texten nach 1989 folgende einander widersprechende Aussagen: - Die Deutschen sind ruhig und friedlich geworden. - Die Deutschen haben aus der Vergangenheit gelernt. - Die Deutschen hatten schon immer ein schwach entwickeltes Nationalgefühl. - Die Deutschen sind ein legitimitätsbedürftiges Volk. Sie würden noch eine Fahrkarte für den Bahnsteig lösen, bevor sie ihn stürmen. - Die Deutschen sind sehr gehorsam, das heißt, sie können ihre Gefühle nicht so offen rauslassen, wenn es keine Erlaubnis von oben gibt. - Die Deutschen sind wieder wer. - Die Deutschen kommen selten ohne Feindbilder aus. - Die Deutschen hängen an der gemeinsamen Nation. - Die Deutschen sind nicht, wie das Klischee besagt, besonders steif, diszipliniert oder einfallslos, sondern das beweglichste Volk. - Die Deutschen sind allmählich lässiger geworden; auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit haben Risse bekommen; selbst der Respekt vor Autoritäten und Hierarchien hat spürbar nachgelassen. 164 Solche im Diskurs nebeneinanderstehenden gegensätzlichen Aussagen weisen auf Bereiche des Konzeptes hin, die besonders instabil sind und zu Ausgangspunkten für Konzeptverschiebungen werden können. Verschiebungen dieser Art sind im Einheitsdiskurs gut nachweisbar. Für IDENTITÄT konnte festgestellt werden, daß in den Texten nach 1989 eine Verschiebung von der in den Texten vor 1989 gebräuchlichen Lesart INDIVI- DUELLE IDENTITÄT hin zur Lesart GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT stattgefunden hat. Die Kontextualisierungen von IDENTITÄT im Einheitsdiskurs beziehen sich deutlich häufiger auf die Lesart GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT als auf individuelle IDENTITÄT. Das heißt, daß die Identität eines Individuums, in den Texten vor 1989 ein häufig thematisiertes Phänomen, im Einheitsdiskurs nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hier rückt der Aspekt der Identität einer nationalen Gemeinschaft, also einer Erfahrungs- und Interessengemeinschaft ins Zentrum des Interesses der Sprecher. Auch für DEUTSCHE kann im Einheitsdiskurs ein Gebrauchswandel und somit ein Potential für eine Verschiebung des Konzeptes nachgewiesen werden. Während DEUTSCHE in der öffentlichen Kommunikation der Bundesrepublik vor 1989 in der Lesart BUNDESBÜRGER usualisiert war und in der DDR in nichthistorisehen oder nichtkulturellen Kontexten möglichst vermieden wurde, wurde der Referenzbereich des Konzeptes durch die Art und Weise der Verwendung im Einheitsdiskurs erweitert. DEUTSCHE meint nicht mehr nur BUNDESBÜRGER, sondern ALLE DEUTSCHEN oder je nach Kontext OST- DEUTSCHE bzw. WESTDEUTSCHE. Im Zusammenhang damit ist eine Verschiebung der kontextuellen Eigenschaftszuschreibungen für DEUTSCHE feststellbar, die die Sprecher des Einheitsdiskurses vornehmen. Während sie in den Texten vor 1989 vor allem Aussagen über eher alltägliche, allgemeinmenschliche oder mentalitätsbedingte Eigenschaften der DEUTSCHEN treffen, thematisieren sie im Einheitsdiskurs die Rolle der Deutschen in gesamtgesellschaftlichen und internationalen Handlungszusammenhängen. Dies wird deutlich erkennbar, wenn man etwa die Prädizierungen zu Eigenschaften der Deutschen (vgl. Frame-Dimension Lg) und zum Vergleich der Deutschen mit anderen Völkern (vgl. Frame-Dimension Ul k) in den Texten vor und nach 1989 vergleicht. In der öffentlichen Kommunikation vor 1989 finden sich viel mehr Aussagen derart: - Die Deutschen sind für Sarkasmus zu dumm. - Die Deutschen leiden an Humorlosigkeit und Unsinnlichkeit. - Die Deutschen haben keinen Charakter. - Die Deutschen sind nüchtern, säkularisiert, skeptisch und kritisch. 165 - Die Deutschen lieben Quiz. - Die Deutschen reisen viel. - Die Deutschen gelten als Putzteufel. - Die Deutschen heiraten spät, selten und bekommen wenig Kinder. - Die Deutschen sind pessimistischer als Japaner und Franzosen. - Die Deutschen sind nach den Franzosen die eifrigsten Pillenschlucker Europas. - Die Deutschen sind nicht besser, klüger und toleranter als die Amerikaner. - Die Deutschen sind vielleicht ein bißchen laut, die Briten lauschen eher in sich hinein. - Die Deutschen trinken immer noch siebenmal so viel Bier wie die Italiener und die zwölfmal mehr Wein als die Briten. In den Texten des Einheitsdiskurses werden viel stärker gesellschaftliche Aspekte hervorgehoben: - Die Deutschen sind eine Nation, die wie andere Nationen in Freiheit leben will. - Die Deutschen hatten schon immer ein schwach entwickeltes Nationalgefuhl. - Die Deutschen kennzeichnet, daß die Frage, was eigentlich deutsch sei, nie ausstirbt. - Die Deutschen haben mehr gemeinsam als andere, nämlich Geschichte, Kultur und Sprache. - Die Deutschen glauben wieder an die Wiedervereinigung. - Die Deutschen waren fast ein halbes Jahrhundert lang getrennt und haben sich weiter auseinandergelebt, als sie selbst wahmahmen. - Die Deutschen fühlen sich allein, im Stich gelassen von ihren Verbündeten in der Wiedervereinigungsfrage. - Die Deutschen haben die existentielle Notwendigkeit begriffen, mit ihren Nachbarn gut auszukommen. - Die Deutschen sind ein Volk ohne jeden revolutionären Geist. - Die Deutschen haben aus der Vergangenheit gelernt. - Anders als die Franzosen mit ihrer Trikolore, die Briten mit dem Union Jack, anders als Schweizer, Belgier und vor allem die Stars-and-Stripesverrückten Amerikaner mögen die Deutschen in der Öffentlichkeit keine Freude darüber zeigen, daß sie Deutsche sind. - Die Deutschen hängen wie die Polen oder die Ungarn, die Esten, Letten oder Littauer, oder wie die Franzosen, die Holländer oder die Engländer an der gemeinsamen Nation. - Die Fremdenfeindlichkeit der Deutschen ist nicht das Resultat eines Nationalstolzes oder einer übersteigerten Liebe zum eigenen Volk, sie ist nicht Ausdruck einer nationalen Identität wie etwa bei den Engländern oder Franzosen. 166 Es fällt auf, daß beide Konzepte im Einheitsdiskurs auf eine Weise thematisiert werden, die eine Verschiebung von privaten, allgemeinmenschlichen, die Mentalität betreffenden Aspekten zu einer gesamtgesellschaftlichen Sicht erkennen läßt. Auf dieser Ebene kommt es im Einheitsdiskurs zu einer Verbindung beider Konzepte, die in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 so nicht nachgewiesen werden kann. Die Verschiebung von IDENTITÄT in Richtung GEMEINSCHAFTLICHE IDENTITÄT bedeutet für den Einheitsdiskurs IDENTITÄT DER DEUTSCHEN im Sinne von IDENTITÄT DER OSTDEUTSCHEN bzw. IDENTITÄT DER westdeutschen. So kommt es im Einheitsdiskurs zu Schnittstellen zwischen IDENTITÄT und DEUTSCHE, die in der öffentlichen Kommunikation vor 1989 noch nicht in dem Maße usualisiert waren. In der öffentlichen Kommunikation der DDR waren weder IDENTITÄT noch DEUTSCHE Konzepte, die im Zusammenhang mit gesellschaftlich relevanten Themen aktualisiert wurden. In der Bundesrepublik war eine mentale Verknüpfung von IDENTITÄT und DEUTSCHE im Zusammenhang mit dem Historikerstreit in den 80er Jahren eingeführt worden, ist aber im wesentlichen auf diesen Diskurs begrenzt geblieben. Eine breite Usualisierung der Verknüpfüng von IDENTITÄT und DEUTSCHE ist erst im Rahmen des Einheitsdiskurses nachweisbar. 5.2 Ausblick und weiterführende Forschungen Die vorliegende Untersuchung konnte nur an zwei ausgewählten Konzepten exemplarisch zeigen, wie mit der vorgeschlagenen Methode anhand großer Datenmengen Gebrauchswandel und Konzeptverschiebungen analysiert und nachgewiesen werden können. Das Prinzip, Prädizierungen von Konzepten als verbalisierte Elemente konzeptgebundenen Wissens der Sprecher zu interpretieren und diese Prädizierungen in Textmengen als Analysebasis anzusetzen, orientiert sich eng an der realen Sprachverwendung. Deshalb kann die vorgeschlagene Methode nachprüfbare und durch große Datenmengen gestützte Urteile über den textuellen Umgang der Sprecher mit Konzepten liefern. Auf diese Weise wird es möglich, die vielfach behauptete kontextuelle Varianz von Konzepten, die jedoch bisher nicht in großem Umfang empirisch belegt worden ist, an umfangreichen Datenmengen nachzuweisen. Die Datenmengen bleiben überschaubar und somit einer Analyse zugänglich, weil die kontextuellen Prädizierungen auf der Grundlage eines linguistisch fundierten Frame-Konzeptes mit Hilfe der Framedimensionen systematisch erfaßt und klassifiziert werden können. Das operationalisierbare Instrumentarium der vorliegenden Untersuchung ist eine gute Voraussetzung dafür, um im 167 Rahmen weiterfuhrender Untersuchungen die Auswertungen in einem höheren Maße, als das hier möglich war, rechnergestützt durchzufuhren. 5.2.1 Intertextuelle Aspekte Die vorliegende Untersuchung konzentrierte sich auf die Beschreibung von Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz einzelner lexikalischer Einheiten in Textmengen. Die hierfür vorgenommene systematische Erfassung der Konzept-Kontextualisierungen in den unterschiedlichen Texten kann jedoch darüber hinaus eine gute Analysegrundlage für die Beschreibung intertextueller Phänomene bilden. Ein Aspekt von Intertextualität wird in der referentiellen Vernetzung sprachlicher Einheiten zwischen Texten im Diskurs gesehen. Die Annahme solcher Vernetzungen ist intuitiv plausibel, wurde jedoch bisher kaum befriedigend beschrieben und empirisch hinreichend verifiziert. Sie kann einer nachprüfbaren Analyse und Beschreibung zugänglich gemacht werden, wenn die Prädizierungen von Konzepten in Diskurs-Texten, die eine solche Verflechtung tragen, nach Frame-Dimensionen klassifiziert und systematisch erfaßt werden, wie es in der vorliegenden Untersuchung gezeigt worden ist. Dies kann hier nur noch angedeutet und nicht mehr ausführlich behandelt werden. Die vorliegende Untersuchung kann in zweifacher Hinsicht als Basis für die Beschreibung referentieller intertextueller Beziehungen dienen. Zum einen wurde im Rahmen des Einheitsdiskurses gezeigt, wie unterschiedliche Sprecher in unterschiedlichen Texten ein Konzept variierend wiederaufhehmen, sich auf andere Sprecher oder Äußerungen beziehen und z.T. explizit über Eigenschaften verhandeln, die sie diesem Konzept zuschreiben. Zum anderen kann anhand der systematischen Bezugnahme auf die verschiedenen Frame- Dimensionen gezeigt werden, wie im Diskurs Bezüge zwischen unterschiedlichen Konzepten usualisiert und zu komplexen Konzepten verbunden werden, die zu zentralen Diskursthemen und damit auch zur referentiellen Vernetzung der Diskurs-Texte beitragen. 5.2.1.1 Intertextuelle Vernetzung durch Wiederaufnahme desselben Konzeptes Die Rolle von Konzepten bei der Vernetzung von Diskurs-Texten besteht unter anderem in der variierenden Wiederaufnahme dieser Konzepte in unterschiedlichen Texten. Dies konnte für den Einheitsdiskurs in der vorliegenden Untersuchung gezeigt werden, indem beschrieben wurde, wie diskursiv zentra- 168 le Konzepte von den Sprechern problematisiert und verhandelt werden. Die variierende Wiederaufnahme und Problematisierung der Konzepte wurde von den Sprechern zum Teil durch metasprachliche Äußerungen verbal explizit unterstützt, indem sie sich zustimmend oder ablehnend auf andere Äußerungen zum betreffenden Konzept beziehen. Dieser explizite Bezug wird im Einheitsdiskurs hergestellt durch Formulierungen wie z.B. es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflichfalsch sagt, ... / entgegen dem Votum Christian Meiers ... / ... nein, ich kann dem Diktum des Münchener Historikers Christian Meier keineswegs beipflichten ... / ich entgegnete dem Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz, der kürzlich in einer Fernseh-Diskussion die Meinung vertrat ... Mit Hilfe solcher metasprachlicher Äußerungen sagen Sprecher ganz explizit, was sie von der Äußerung anderer Sprecher halten und wie sich ihre eigene Meinung dazu verhält. Auf diese Weise kommt es zum Aushandeln diskursiv zentraler Konzepte, wie an anderer Stelle ausführlich gezeigt wurde, und die betreffenden Sequenzen verschiedener Diskurs-Texte werden aufeinander bezogen. Ein eher implizites intertextuelles Beziehungsgefuge wird erkennbar, wenn die Mengen der in den Diskurs-Texten verwendeten unterschiedlichen Prädizierungen der diskursiv zentralen Konzepte zusammengestellt und systematisch beschrieben werden. Diese Systematik wurde für IDENTITÄT und deutsche in den Kapiteln 3 und 4 erarbeitet, um Aussagen darüber treffen zu können, welche Elemente des Wissens, das Sprecher über ein bestimmtes Konzept haben oder das sie diesem Konzept zuschreiben, im Diskurs sprachlich aktualisiert werden. Eine Zusammenstellung dieser Elemente konzeptgebundenen Wissens liefert aus einer abstrakten Betrachterperspektive auf den Diskurs Informationen darüber, wie ein Konzept diskursiv verarbeitet wird und ob die diskursive Vertextung eventuell Gebrauchswandel oder Konzeptverschiebungen zur Folge hat, wie das in den Kapiteln 3 und 4 für IDENTITÄT und DEUTSCHE nachgewiesen wurde. So kann auf einer sehr abstrakten Ebene die diskursive Vertextung von Konzepten als komplexes und mehrdimensionales referentielles Netzwerk verstanden werden, das die Texte zueinander in Beziehung setzt, die Prädizierungen der betreffenden Konzepte enthalten und so einen Beitrag zur Aktualisierung bzw. Verschiebung von Wissen über diese Konzepte leisten. In einem sehr vereinfachten Schema könnte die Rolle des Konzeptes DEUTSCHE bei der intertextuellen referentiellen Vernetzung der Texte des Einheitsdiskurses dargestellt werden, wie es die folgende Abbildung zeigt. Dabei 169 soll nur das Prinzip angedeutet werden, eine vollständige Darstellung aller betreffenden Textsequenzen ist nicht beabsichtigt: Die in den verschiedenen Rahmen dargestellten Sequenzen der Texte (die Numerierung soll keine Rangfolge verdeutlichen, sondern lediglich darauf verweisen, daß es sich hier um unterschiedliche konkrete Diskurs-Texte handelt) enthalten Aussagen von Sprechern über das Konzept DEUTSCHE, über Eigenschaften, die sie den Deutschen zuschreiben. Diese Aussagen widersprechen sich zum Teil, was ein Indiz dafür ist, daß das Konzept DEUTSCHE im Einheitsdiskurs wie an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurde problematisiert und ausgehandelt wird. Über die Aussagen zum Konzept DEUTSCHE sind die Texte referentiell miteinander vernetzt, sie leisten alle einen Beitrag zum diskursiven Aushandeln des Konzeptes. 170 5.2.1.2 Intertextuelle Vernetzung durch referentielle Bezüge zwischen unterschiedlichen Konzepten Die Vernetzung von Diskurs-Texten aufgrund von intertextuellen Konzeptbeziehungen, die auf Beziehungen zwischen unterschiedlichen Konzepten beruhen, wird beschreibbar, wenn die Frame-Dimensionen der betreffenden Konzepte aufeinander bezogen werden. Wie Texte in dieser Hinsicht referentiell über den Konzeptkomplex IDENTITÄT DER DEUTSCHEN vernetzt sind, soll die folgende Abbildung andeuten: Im Einheitsdiskurs häuft und verfestigt sich die Kombination der Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE in der Art, daß DEUTSCHE die Frame-Dimension La des iDENTlTÄTs-Frames (Wo/ bei wem tritt Identität typischerweise auf? ) besetzt. Während in der öffentlichen Kommunikation der Bundesrepublik vor 1989 die Frame-Dimension La häufig mit Individuen besetzt ist (z.B. jemandes Identität, meine Identität, seine Identität ...), wird IDENTITÄT im Einheitsdiskurs zunehmend auf DEUTSCHE, also auf eine nationale Erfahrungs- und Interessengemeinschaft bezogen. Mit der Verfestigung der Verknüpfung von IDENTITÄT und DEUTSCHE wird die an anderer Stelle ausführlich beschriebene Verschiebung des Konzeptes IDENTITÄT in Richtung gemeinschaftliche IDENTITÄT unterstützt, wobei im Einheitsdiskurs GEMEIN- SCHAFTLICH vor allem DEUTSCH meint. Dabei wird IDENTITÄT DER DEUTSCHEN 171 in den Diskurstexten jeweils in verschiedenen Lesarten verwendet, etwa als IDENTITÄT DER OSTDEUTSCHEN, als IDENTITÄT DER WESTDEUTSCHEN oder auch als IDENTITÄT ALLER DEUTSCHEN. Die Verknüpfung von IDENTITÄT und DEUTSCHE ist im Einheitsdiskurs derart usualisiert, daß DEUTSCHE häufig nicht verbalisiert, sondern pronominal ausgedrückt wird. Der referentielle Bezug auf OSTDEUTSCHE, WESTDEUTSCHE oder DEUTSCHE insgesamt ist auf der Grundlage des Text- und Diskurswissens klar. Ebenso wie IDENTITÄT oder auch DEUTSCHE im einzelnen wird die Verknüpfung dieser beiden Konzepte im Einheitsdiskurs von den Sprechern häufig thematisiert, problematisiert und verhandelt. Die IDENTITÄT DER DEUTSCHEN wird zu einem der zentralen Diskursthemen. Somit stellen die Sequenzen der Diskurstexte, die Aussagen der Sprecher über IDENTITÄT DER DEUTSCHEN enthalten, auf einer referentiell-abstrakten Ebene Bezüge zwischen den Texten her. 5.3 Schluß Die vorliegende Untersuchung soll einen Beitrag zur empirischen Fundierung dynamischer Bedeutungskonzepte leisten und zeigen, daß mit Hilfe eines operationalisierbaren Methodenarsenals aus großen Datenmengen ein systematisches Material zur Analyse und Beschreibung von Bedeutungsvarianz und Gebrauchswandel gewonnen werden kann. Wie abschließend nur kurz angedeutet werden konnte, ist die gezeigte Herangehensweise auch eine Basis für die Beschreibung intertextueller Bezüge in Diskursen. Aufgrund der Beschreibungsgrundlage einem umfangreichen Textkorpus zum Einheitsdiskurs leistet die Untersuchung auch einen Beitrag zur Beschreibung sprachlicher Veränderungsprozesse, die sich im Zusammenhang mit der Wende in der DDR und der deutschen Vereinigung vollzogen haben. Es wurde gezeigt, auf welche Weise Sprecher im Diskurs zur deutschen Einheit die für den Diskurs zentralen Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE verbalisiert und welche Elemente sprachlichen Wissens über diese Konzepte sie dabei aktualisiert haben. 172 6. Anhang Kürzel der Beleg-Quellen: Bild BSB BTP BW BZ FA FR Kohl Kohl Reden MM ND OppDDR RM Sp stem taz VT Wopo Zt ZzW Bildzeitung (Tageszeitung) Berliner StattBlatt (Sozialdemokratisches Informationsblatt) Bundestagsprotokolle Bürgerbewegungen für Demokratie in den Kommunen. 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Wesentlich ist dabei die situative Mehrsprachigkeit, da Delegierte nach der Amts- und Arbeitssprachenregelung der EU ihre Muttersprache benutzen und sich mit Hilfe von Übersetzern und Dolmetschern verständigen. Zusätzlich von Bedeutung sind Schriftlichkeit/ Mündlichkeit, Intertextualität, institutionelle sowie interkulturelle Kommunikation. Die Studie beschäftigt sich mit der Semantik und Pragmatik von Schlüsselwörtern europäischer Integration und zeigt Perspektiven einer zukünftigen EU-Sprachenpolitik auf. Sie nimmt damit differenziert Stellung zur Rolle des Deutschen als Amts- und Arbeitssprache der Europäischen Union. Band 2 Bernd Ulrich Biere / Rudolf Hoberg (Hrsg.) Bewertungskriterien in der Sprachberatung 1995, VIII, 160 Seiten, DM 58,-/ ÖS 453,-/ SFr 58,- ISBN 3-8233-5132-X Die Frage nach “Bewertungskriterien für die Sprachberatung” gibt zum einen Anlaß zum Nachdenken darüber, was wir tun, wenn wir Ratsuchenden sprachlichen Rat erteilen, und warum wir es in einer bestimmten kommunikativen Form, in einem bestimmten institutioneilen (oder auch kommerziellen) Rahmen tun. Zum anderen gibt die Frage Anlaß, darüber nachzudenken, wie wir den jeweils erteilten Rat (also das, was wir jemandem in einer sprachlichen Frage raten) begründen können, welche Kriterien wir etwa bei der Entscheidung über sogenannte sprachliche Zweifelsfälle zugrunde legen, warum wir bestimmte sprachliche Erscheinungsformen von der Ebene der Orthographie bis zur Frage einer angemessenen Textinterpretation so und nicht anders bewerten und aufdem Hintergrund solcher Bewertungen entsprechende Ratschläge geben oder Empfehlungen aussprechen. Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Die nächsten Bände: Gabriele Hoppe Das Lehnpräfix ex- Mit einer Einleitung zu grundsätzlichen Fragen der Lehnwortbildung. Beiträge zur Lehnwortbildung I Werner Kallmeyer (Hrsg.) Gesprächsrhetorik Isolde Nortmeyer Die Lehnpräfixe inter- und trans- Beiträge zur Lehnwortbildung II Bernd Ulrich Biere / Rudolf Hoberg (Hrsg.) Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen Kathrin Steyer Reformulierungen Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs Michael Kinne Die Lehnpräfixe prä- und post- Beiträge zur Lehnwortbildung III Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina Untersuchungen zu ihrer syntagmatischen Erfassung in Wörterbüchern Der Diskurs zur deutschen Einheit bildet das Szenario für die Beschreibung von Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz von Konzepten, die in der öffentlichen Auseinandersetzung brisant geworden sind. Mit Hilfe eines systematischen Instrumentariums wird gezeigt, wie sich Vorstellungen von Sprechergruppen einer Sprachgemeinschaft über kommunikativ zentrale Konzepte verändern, wie Sprecher Konzepte problematisieren und Bedeutungen aushandeln und wie Gebrauchswandel zu Bedeutungsverschiebungen lexikalischer Einheiten führen kann. ISBN 3-8233-5133-8