Das Werk "Germania" von Tacitus und seine Rezeption durch Enea Silvio Piccolomini. Die Bedeutung für den deutschen Humanismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Publius Cornelius Tacitus und seine Bedeutung für die Humanisten
2.1 Leben und Werke
2.2. De origine et situ Germanorum Liber
2.2.1. Aufbau und Eigenarten
2.2.2. Die Quellen
2.2.3. Glaubwürdigkeit und Aussageabsicht
2.3. Das Germanenbild des Tacitus und seine Bedeutung für die Rezeption
2.3.1. Das Germanenbild im historisches Umfeld
2.3.2. Das Germanenbild in der Germania
2.4. Die Germania und das Germanenbild als Rezeptionsvorlage

3. Enea Silvio Piccolomini und seine Germania Rezeption
3.1. Leben und Werke
3.2. Die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus
3.3. De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae
3.3.1. Aufbau und Eigenarten
3.3.2. Die Quellen
3.3.3. Aussageabsicht im Wandel: Frankfurter Rede und Germania
3.4. Das Germanenbild des Piccolomini und seine Bedeutung für die Rezeption

4. Vergleich der Germania-Schriften
4.1. Die räumliche Ausdehnung Germanien
4.2. Die Germanen als rohe Barbaren?

5. Die Bedeutung Enea Silvio Piccolominis für den deutschen Humanismus
5.1. Die Italiener als Vermittler deutscher Vergangenheit
5.2. Der Einfluss der piccolominischen Germania

6. Resümee

7. Literaturverzeichnis

8. Internetseitenverzeichnis

9. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Die Germanen waren wilde rohe Barbaren, die nichts anderes außer Krieg kannten. So oder so ähnlich sind die Germanen in das Universalgedächtnis der Menschheit eingegangen. Da die Ger­manen aber über keine eigene Schriftlichkeit verfügten, steht nun die Frage im Raum, woher wir dies wissen oder zu wissen glauben. Über die Germanen u.a. schreibt Tacitus. Die taciteische Germania, ein Werk, das wahrscheinlich zumindest jeder Lateinschüler bereits einmal im Original gelesen hat bzw. lesen musste. Doch was machte dieses Werk für die Humanisten des Mittelalters so interessant, dass es zu einem der meist rezipierten Werke der Antike wurde? Auch bis in die heutige Zeit wirken Beschreibungen des Tacitus über die Germanen nach. Immer wieder wurde in der Zeit des Humanismus die Gleichung germanisch = deutsch aufgestellt. Vor allem nach dem Verlust des 1. Weltkrieges wurde die Germania von nationalistisch gesonnenen deutschen Fanatikern missbraucht, um die angebliche Überlegenheit der Germanen (=Deutsche) zu beweisen. Tacitus beschreibt in seinem Werk neben anderem z.B. die Grenzen Germaniens, welche auch Hitler in seinem Dritten Reich erstrebte. Auch heute noch sehen Nationalsozialisten Teile Polens als deutsch an. Es zeigt sich also, dass Tacitus Schrift und seine Rezeption durch italienische und deutsche Humanisten weit reichende Folgen hatte. Allerdings führte sie zudem zu einem Natio­nalbewusstsein der Deutschen sowie der Italiener in gleicher Weise, die sich schließlich durch die Beschreibung einer anderen „Nation“ von dieser abgrenzten und aufzeigten was demgegenüber Italien ausmachte. Doch zunächst stellt sich die Frage, was genau Tacitus dargestellt hat und vor allem: Warum? War Tacitus jemals persönlich in Germanien gewesen? Was machte die Germania für die italienischen und auch deutschen Humanisten so bedeutend, dass nahezu jeder Humanist sich in seinen Werken auf diese Quelle bezog. Warum war ausgerechnet der Italiener Enea Silvio Piccolomini der Erste, der diesen Text rezipierte und eine eigene Germania schrieb?

Diesen Fragen soll im Laufe dieser Arbeit mit Hilfe eines Vergleiches der beiden Werke über die Germanen und mit einer kritischen Bearbeitung der Literatur nachgegangen werden. Als Quellen werden für diese Arbeit die Werke Tacitus und Piccolominis Verwendung finden. Hierbei soll es zunächst um den Autor des ersten Textes gehen. Es soll versucht werden die Intention des Tacitus herauszuarbeiten. Weiter werden die Quellen des Tacitus näher betrachtet. Sind seine Beschrei­bungen glaubhaft? Daraufhin soll ein Blick auf das Germanenbild, das Tacitus erschaffen wollte, gelegt werden, um dieses in einem vierten Teil dieser Arbeit mit dem des Piccolominis vergleichen zu können. Im zweiten Teil wird allerdings zunächst Piccolomini und sein Werk in den Fokus ge­rückt. Hier soll anfangs bearbeitet werden, wie die Germania des Tacitus nach Italien und schließ­lich in die Hände Piccolominis geraten ist. Im weiteren Verlauf sollen auch hier die Quellen eine Betrachtung finden, die Piccolomini verwendet hat. Hat er nur oder überhaupt Tacitus benutzt? Warum war die Germania für Piccolomini von Bedeutung? Daraufhin wird untersucht, inwieweit sich Piccolominis Ansichten über die Germanen gewandelt haben. Schließlich wird versucht das Germanenbild des Piccolominis nachzuzeichnen, um es mit dem des Tacitus zu vergleichen. Daraufhin sollen verschiedene Aspekte, die beide Autoren beschrieben haben, miteinander verglichen werden; so wird u.a. die räumliche Ausdehnung Germaniens behandelt. Zuletzt wird ein Blick auf die Bedeutung und Rezeption der Germania Piccolominis für den deutschen Humanismus folgen.

Bei dieser Arbeit soll auch Literatur zur Verwendung kommen, um z.B. einen Überblick über das Leben und die Werke Tacitus und Piccolominis zu erhalten. Im Zusammenhang dieser Arbeit sind die Werke von Krapf und Krebs hervorzuheben, da in diesen dem italienischen Humanismus ein relativ großer Platz zugesprochen wurde. Auf der anderen Seite beschreibt ein Werk Tiedemanns sehr gut die Wirkung der piccolominischen Germania auf die deutschen Humanisten. Über den Humanismus und das Entstehen eines Nationalbewusstseins insgesamt empfiehlt sich das Werk „Die Entstehung der Nationen in Europa der Frühen Neuzeit“ von Helmchen, in dem vor allem Italien, Deutschland und Spanien betrachtet werden.

2. Publius Cornelius Tacitus und seine Bedeutung für die Humanisten

Dieses Kapitel wird sich nun zunächst mit dem antiken Autor der Germania befassen. Hierbei wird zu allererst das Leben und der Korpus seiner Schriften skizziert, um im weiteren Verlauf auf das für diese Arbeit wichtigste Werk des Tacitus zu kommen: „De origine et situ Germanorum liber.“

2.1. Leben und Werke

Um es direkt klar zu stellen: Das Leben des Publius Cornelius Tacitus ist im Großen und Ganzen nicht sicher bezeugt. Bereits sein voller Name ist nicht sicher. Sicher ist nur, dass er mit seinen Schriften einer der größten römischen Historiker war.1 Seine Lebenszeit erstreckte sich von ca. 55 - 120 n. Chr. Nur durch das übliche Mindestalter für verschiedene politische Ämter lässt sich seine Geburt erahnen. Seine Familie entstammt möglicherweise aus Gallia Narbonensis und war höchstwahrscheinlich eine neu aufstrebende Ritterfamilie.2 Tacitus genoss die übliche Erziehung in Philosophie, Jura und Rhetorik. Um das Jahr 77 heiratete er die Tochter des Cn. Iulius Agricola, der nach großen militärischen Erfolgen Statthalter in Britannien war. Im weiteren Verlauf durchlief Tacitus als homo novus die herkömmliche Ämterlaufbahn nach der Reihe (Quästor, Ädil, Prätor). Nach seiner Prätur (unter Kaiser Domitian) war er vermutlich vier Jahre als Proprätor in einer Provinz tätig.3 Die Regierungszeit des Domitians galt in Rom als eine Schreckensherrschaft, zumindest aus Sicht des Senates, sodass sich Tacitus in diesen Jahren eher bedeckt hielt. Allerdings ist diese Zeit für seine Werke von einer entscheidenden Bedeutung, worauf ich gleich weiter eingehen werde.4 Unter Kaiser Nerva (96-98) wurde er nach dem Tod eines der regulären Konsuln zum consul suffectus (Ersatzkonsul) berufen. Erst nach diesem Konsulat (bis 98) wurden die ersten Werke des Tacitus veröffentlicht.5 Die bereits beschriebene Regierungszeit des Domiti­an prägte Tacitus literarisches Schaffen nachhaltig; so wurde sein erstes Werk „De vita et moribus Iulii Agricolae“6, in dem er den Schwiegervater verherrlichte, gleichzeitig zu einer Art Anklageschrift über die Schreckensherrschaft des Domitian.7 „Was ist das für eine Art von Staat, der solches mit und aus den Menschen macht?“8 Dies könnte eine seiner Intentionen für seine Werke gewesen sein, in denen er immer wieder das Verhältnis des Prinzipats anspricht und es mit anderen Regierungsformen vergleicht. Tacitus war ein Anhänger der res publica. Sein Ideal war es, in Anlehnung an die „Libertas“ der Germanen (s. weiter unten), eine libera res publica. Trotz dem vertrat Tacitus die Ansicht, dass ein so großes Gebilde, wie das Römische Reich nicht nach alten Verhältnissen regiert werden konnte, denn er hatte gesehen, dass der Senat unfähig war, seine Interessen durchzusetzen. Er hatte außerdem erlebt, dass ein „guter“ Princeps (Nerva) die aus seiner Sicht gegensätzlichen Formen Prinzipat und Libertas miteinander verbinden konnte.9 Doch nun kommen wir zu den Werken des Tacitus. Sein erstes Werk, jenes über den Schwieger­vater Agricola, wurde bereits angeführt. Dieses bildet für uns gleichzeitig, ähnlich wie es bei der Germania für Deutschland zutrifft, die wichtigste Quelle für die frühe Geschichte Britanniens. Wahrscheinlich im selben Jahr erschien das Werk „de origine et situ Germanorum liber.“10 Im Folgenden verfasste Tacitus eine Werk, in dem er über den Verfall der Beredsamkeit seit der Kaiserzeit schrieb (Dialogus de oratoribus11 ). Wahrscheinlich in den Jahren 104 - 109 schrieb Tacitus seine Historien (Historiae), welche in 14 Büchern die Geschichte vom Jahre 69 bis zum Tod des Domitians behandelt; also eine Zeitspanne, die Tacitus selber erlebt hat. Leider sind von diesem Werk nur die Bücher I-IV zu uns gelangt. Zuletzt ist noch das Werk „Ab excessu divi Augusti libri“12 zu nennen, welches Tacitus um das Jahr 120 veröffentlich haben muss. Diese Bücher, von denen leider auch große Partien fehlen, enthalten die Zeit vom Tod des Augustus bis zum Tod Neros (14-68) und werden gemeinhin als Annalen bezeichnet.13

2.2. De origine et situ Germanorum Liber

Hier soll nun ein genauerer Blick auf die Germania folgen. Zunächst sollen in diesem Teil der Aufbau und der Inhalt der Germania in den Fokus gerückt werden. Zum Ende des Abschnittes soll das Germanenbild des Tacitus nachgebildet, sowie seine möglichen Intentionen für sein Werk beh­andelt werden. Abschließend wird das Augenmerk auf die Germania als Rezeptionsvorlage für den Humanismus sowie auf ihre Nachwirkung gelegt.

2.2.1. Aufbau und Eigenarten

Die Germania hat insgesamt 46 Kapitel und wird von Tacitus selbst in zwei Teile geteilt. Zum einen haben wir hier die Kapitel 1-27, die, um mit Tacitus Worten zu sprechen, de omnium Ger- manorum origine ac moribus14 sprechen. Auch das Thema der nun folgenden zweiten Hälfte des Werkes beschreibt Tacitus im 27. Kapitel. Hier steht geschrieben: Nunc singularum gentium insti- tuta ritusque, quatens differant, [...] expediam.15 Der erste Teil der Germania behandelt also die Germanen im Allgemeinen, wohingegen der zweite Teil die Eigenarten und Sitten der einzelnen Völker und deren Unterschiede beschreibt.16

Soweit also zur übergeordneten Einteilung. Doch auch in diesen zwei Hälften lassen sich noch Untergliederungen vornehmen. Diese verlaufen nach den formalen Traditionen einer Ethno­graphie, also einer Volksbeschreibung (gr.: sGvoa = Volk + ypa^siv = schreiben), zu denen die taciteische Germania gehört.17 Zu diesen Formalien einer ethnographischen Monographie gehört z.B., dass im ersten allgemeinen Teil (1-27) die Beschreibung des Landes und die Herkunft des Volkes behandelt wird (1-5). Außerdem wird hier zudem meist das öffentliche Leben (vita pu­blica) und das private Leben (vita privata) dargestellt (6-15 bzw. 16-27). Auch die zweite Hälfte der Germania (28-46) kann weiter untergliedert werden. Hier wäre z.B. die Beschreibung der Stämme im Westen und Süden (28-29) oder die Beschreibung der Suebischen Stämme (38-45).18 Doch entgegen der literarischen Tradition einer Ethnographie weist die Germania des Tacitus kein Proömium auf. Aufgrund dieser Tatsache wurde die Germania in der Vergangenheit oft als Exkurs der Historien angesehen. Ähnlich dem Germanenexkurs in Caesars Bellum Gallicum.19 Hierfür allerdings wäre die taciteische Germania schlicht zu lang (Caesars Germanenexkurs umfasst die Kapitel 21-28 in bel. gal. VI). Kretschmer geht in seiner Meinung sogar so weit, die oben be­schriebene Eingliederung der Germania in eine ethnographische Tradition zu verneinen und ihr et­was Einzigartiges zu geben. 20 Auf der anderen Seite betont Perl in seinem Werk mehrfach, dass Tacitus nach einer Tradition handelt.21 Sicher ist allerdings, dass neben Tacitus kein antiker Schriftsteller eine so umfangreiche Beschreibung von Lage und Lebensweise eines ihm fremden Volkes verfasst bzw. solch ein Werk die Zeit bis zu uns überdauert hat.

2.2.2. Die Quellen

Als nahezu sicher gilt in der Forschung, dass Tacitus nie persönlich im Germanien der damaligen Zeit war. Er selbst beschreibt an keiner Stelle, dass er das eine oder andere mit eigenen Augen gesehen hätte. Tacitus nennt im 28. Kapitel seines Werkes nur einen seiner Gewährmänner beim Namen.14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Hier heißt es: [...] summus auctorum Divus Iulius tradit.23 Tacitus führt Caesar sicherlich an (was in späterer Zeit auch verschiedene Humanisten machen werden), um seinen Ausführungen eine Legitimation und ein Gewicht zu geben, schließlich war Caesar in Germanien gewesen und hatte die Gallier, eine den Germanen verwandte Völkerschaft, bezwungen. Neben dieser offensichtlichen Quelle hat Tacitus mit Sicherheit verschiedene Beamte, Kaufleute oder Soldaten befragt, die in Germanien gewesen waren. Außerdem benutzte Tacitus mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch andere Schriftsteller, von denen uns leider die meisten nicht erhalten geblieben sind. Insgesamt begann die Erkundung des europäischen Nordens, soweit zumindest fassbar, mit dem Kaufmann Pytheas um das Jahr 325 v. Chr., welcher neben Britannien auch die Küsten der Nordsee bereiste. Im weitren Verlauf ist auch ein griechischer Geschichtsschreiber namens Poseidonios zu nennen, welcher den Westen Europas bereiste. Mit ihm taucht auch der Begriff Germanen erstmals auf,24 der allerdings bis heute sprachwissenschaftlich nicht geklärt ist.25 Auch Strabo, welcher die Germanenfeldzüge unter Augustus und Tiberius beschrieb, könnte Tacitus als Quelle gedient haben. Zudem ist in diesem Zusammenhang Titus Livius zu nennen, der in einem verlorenen Buch Germanien und seine Bewohner behandelt. „In der Inhaltsübersicht dazu heißt es: prima pars libri situm Germaniae moresque continet.“26 Nicht zuletzt wird Tacitus auch Plinius den Älteren, welcher im Jahre 47 n. Chr. Reiteroffizier im Chaukenfeldzug (über diesen Stamm handelt Tac. Germ. 35, 1) war, benutz haben. Außerdem hatte Plinius ein Werk mit dem Titel „Bella Germaniae“ verfasst, welches aber leider im Laufe der Zeit verschwand.27 Wahrscheinlich hatte Tacitus auch ein weiteres Werk des Plinius, die „Naturalis Historia“, verwendet, da in diesem Werk eine Beschreibung des Bernsteins zu finden ist, die mit der in der Germania zu vergleichen ist (Tac. Germ. 45, 4-5). Weitere Quelle des Tacitus sind nach Meinung der Wissenschaft auch die Historien des Sallust, den er so sehr schätzte, dass er in seinen Annalen schreibt: „Sallustius rerum Romanorum florentissimus auctor.“28 Neben diesen relativ sicheren Quellen könnte Tacitus zudem Werke Senecas oder sogar der Dichter Vergil, Horaz und Lucan benutzt haben.29

Neben diesen Autoren war für Tacitus sicherlich auch eine Weltkarte des Agrippa von entschei­dender Bedeutung. Dass er diese oder eine ähnliche Karte verwendet haben muss, gilt als nahezu sicher, da er immer wieder Formulierungen wie dextro litore (Tacitus Germ. 45,2) oder a tergo (Tacitus Germ. 34,1) bei der Lokalisierung der einzelnen Stämme benutzte.30 Im Großen und Ganzen scheint es aber wichtig noch einmal zu betonen, dass mit Ausnahme Caesars die Verwendung all dieser Autoren nur Vermutungen sind, wenn auch gut und logisch begründete.

2.2.3. Glaubwürdigkeit und Aussageabsicht

In diesem Abschnitt stellt sich zunächst die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Germania Textes, schließlich war Tacitus nie persönlich in Germania gewesen, geschweige denn hat er Studien zu den unterschiedlichen Lebensweisen der verschiedenen Germanenstämme vorgenommen. Natür­lich gibt es bei solch einem Sachverhalt immer gewisse Extreme in den Auffassungen. Auf der einen Seite sehen manche Forscher alles an den Beschreibungen des Tacitus als wahr an, bis Funde literarischer oder archäologischer Art diese Behauptung widerlegen. Auf der anderen Seite stehen Forscher, die nur das als gesichert und glaubwürdig ansehen, was ohne Zweifel durch Funde bestätigt werden kann.31 Doch trotz dieser zwei konträren Ansichten scheinen die Ausführungen des Tacitus objektiv gesehen relativ nahe an der Realität der damaligen Germanen herangekommen zu sein. Diesen Schluss lassen archäologische Funde zu, trotz dem die Schrift in anderen Bereichen (Kultur, Klima, Pflanzen- und Tierwelt) sehr mager in ihrem Inhalt ausfällt. Allerdings finden sich auch die einen oder anderen Falschaussagen im Text; dies behauptet zumindest Kretschmer.32 33 Im Fünften Kapitel des Werkes heißt es z.B. an einer Stelle: Argentum et aurum propitiine an irati dii negaverint dubito.33 Dies sieht Kretschmer insofern als Falsch­aussage, da sich in Germania sehr wohl Edelmetalle finden lassen. Doch scheint es, dass Kretschmer hier einfach nicht weiter gelesen hat. Denn Tacitus relativiert seine Aussage bereits im nächsten Satz indem er schreibt, dass er nicht sagen wollte, dass in Germanien allgemein kein Gold oder Silber zu finden ist, aber es schlicht keiner untersucht hätte (Quis enim scrutatus est). Hier hat Kretschmer also nicht sehr sorgfältig gelesen, oder der zweite Satz hätte seine Ar­gumentation schlicht hinfällig werden lassen, denn Tacitus beschreibt nur das Faktum, dass keiner sicher wisse, wo und wie viel Edelmetall in Germanien vorhanden ist. Auf der anderen Seite beschreiben die Forscher, dass Tacitus solche bestimmten Angaben nur mache, um sein eigenes Bild von den Germanen zu zeichnen (siehe auch weiter unten). Insgesamt muss die Germania als Quelle über die Lebensweise der germanischen Völkerschaften in der Zeit des Tacitus mit Vorsicht genossen werden. Schließlich haben wir hier einen römischen Schriftsteller, der für ein römisches Publikum, über ein für ihn sehr fremdes Volk, das in einem Land lebt, welches Tacitus niemals gesehen hat, schreibt. In diesem Zusammenhang stellt sich nun also die Frage, welche Absicht verfolgte Tacitus mit seinem Werk?

Die wohl populärste Theorie zur Beantwortung dieser Frage (was man auch schon vom Germanenexkurs bei Caesar sagte) ist, dass Tacitus durch die Beschreibung der Einfachheit der Germanen eine Kritik an der aus seiner Sicht immer weiter ausschweifenden Lebensweise der Römer zu üben suchte (Sittenspiegel-Theorie). Eine andere Meinung ist, dass Tacitus (siehe auch Enea Silvio Piccolomini über die Türken in der Frankfurter Rede) sein Werk mit einem aktuellen Bezug schrieb, um auf die Gefahr hinzuweisen, die aus den germanischen Stämme für das Reich entstehen könnte. Diese Begründung findet sich z.B. bei Krebs.34 Eine weitere Auffassung, die in der Forschung vertreten wird, ist, dass Tacitus sein Werk verfasste, um von einem Feldzug gegen die Germanen abzuraten.35 Im 14. Kapitel beschreibt er z.B. dass der Krieg einen sehr wichtigen Aspekt im Leben der Germanen darstellt. Es stehe bei den Germanen in geringem Ansehen Landwirtschaft zu betreiben und mit Schweiß und Arbeit zu erreichen, was man auch mit Blut erreichen könne.36 Eine neuere Sichtweise geht davon aus, dass Tacitus Sympathie für die simplicitas, virtus und dignitas der Germanen hegt. Doch um nun einen abschließenden Versuch zu tätigen, die Aussageabsicht des Tacitus herauszuarbeiten muss zunächst ein Blick zurück zum Leben des Tacitus geworfen werden.

Wie bereits beschreiben, bewirkte das so genannte Domitian-Erlebnis im Leben des Tacitus einen gewissen Einschnitt. „Nach der Ermordung des Diktators kann er endlich die Frage stellen, warum es zu dieser Entwicklung und Entartung des Prinzipats kam.“37 In Tacitus Verständnis war die vir­tus, also die Tapferkeit und das Handeln für die res publica, von entscheidender Bedeutung. Nur sie hätte das römische Reich groß gemacht. Die Pflicht eines römischen Historikers sei es nun, das Andenken als exempla virtutis wach zu halten sowie es für die Nachwelt zu verewigen. Nun aber, unter der Herrschaft des Domitian, könne sich diese virtus nicht mehr entfalten; Tacitus sah sie also nicht mehr in Rom, da die libertas abwesend sei. Ein Bürger könne nur in einer freien Lebensform die Entscheidung treffen, das Leben in den Dienst des Staates zu stellen. Tacitus sucht diese alten Werte, die einstmals Rom auszeichneten nun, da er sie im Reich nicht mehr findet, bei einer anderen Völkerschaft.38 Tacitus beschreibt in mehreren Kapiteln sehr sorgfältig die Einfachheit und Sittenstrenge der Germanen. Dies findet sich z.B. auch im 19. Kapitel, indem er beschreibt, dass die Keuschheit durch keine Schauspiele, oder Gelage verführt wird (Ergo saepta pudicitia agunt, [,..]. 39 ). Für Tacitus war das Volk der Germanen ohne Falschheit, es war ein gesundes Volk. Es hob sich durch seine Freiheit von anderen Völkerschaften ab.40 Doch ein weiterer Aspekt ist wichtig, um die Aussageabsicht des Tacitus zu verstehen. Tacitus schreibt seine Werke auch aus der Philosophie der Stoa heraus. Für ihn besteht der größte Wert im Handeln für die res publica.41

2.3. Das Germanenbild des Tacitus und seine Bedeutung für die Rezeption

Nun bleibt also die Frage offen, wie genau Tacitus die Germanen in seinem Werk beschrieben hat und mit welchen Attributen er diese belegt. Dazu wird nun ein tieferer Einblick in den Text des Tacitus folgen, um letztlich zu zeigen, welche Bedeutung dieses von Tacitus konstruierte Bild der Germanen für die Rezeptionsgeschichte im italienischen und deutschen Humanismus hatte.

2.3.1. Das Germanenbild im historisches Umfeld

Simplicitas, virtus, und libertas: Dies alles sind Begriffe, mit denen die Germanen in der Germania betitelt werden.42 Doch zunächst einmal müssen wir, bevor wir genauer in den Text einsteigen, noch ein paar geschichtliche Dinge klären.

Das taciteische Bild von den Germanen wurde in seiner Zeit von drei Faktoren beeinflusst: Zum einen von der Niederlage in der Varusschlacht beim Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr., die noch nicht gerächt worden ist, dann vom Bataveraufstand im den Jahren 69/70 und schließlich vom Chattenkrieg des Domitians in den Jahren 83-85.43 Doch obwohl der Verräter in der Varus­schlacht Arminius ein Cherusker war, beschreibt Tacitus in Kap. 36, welches über diesen Stamm handelt, Arminius mit keinem Wort. Allerdings findet sich zwischen den Zeilen doch Kritik an diesem Stamm. Denn er schreibt hier im 36. Kapitel: ita, qui olim boni aequique Cherusci, nunc intertes ac stulti vocantus. 44 Zwar bezieht er diese Aussage im Textzusammenhang darauf, dass die Cherusker, welche einer der mächtigsten Stämme der Germanen waren, sich zu lange auf diesen Ruf verlassen haben, dadurch weniger kriegerisch wurden und so zu einem schwächeren Stamm wurden. Doch man könnte dies, wie gesagt, auch als Kritik an den Cheruskern und ihrem feigen Verrat an den Römern deuten. Zur Zeit der Abfassung der Germania stand Trajan mit seinen Le­gionen am Rhein. Hier sollte sich nun entscheiden, ob der Sieg des Arminius über die Römer nur eine Niederlage in einer Schlacht um den Kampf in Germania war, oder ob das römische Reich seine Eroberungsbestrebungen in Germanien niederlegen musste. Erst nachdem Trajan seine offensive Kriegsführung in Germania zu Gunsten einer Eroberung des Partherlandes, die zur größ­ten Ausdehnung des römischen Reiches führte, aufgab, konnte Tacitus in seinen Annalen den Cherusker Arminius als Befreier Germaniens bezeichnen (librator [...] Germaniae). Ein weiterer geschichtlicher Aspekt, welchen Tacitus vertrat, war die Gefahr, die dem römischen Reich durch die Germanen drohen würde. Über den Bataveraufstand sprach Tacitus als Ereignis, das der res publica fast den Untergang bereitet hätte. Er vertrat in seinen Historien die Auffassung, (Tac. Hist. 4, 59, 2) dass ein Druidenspruch den Übergang der Weltherrschaft auf die transalpinen Völker verkünde. Schließlich sah Tacitus auch die Einrichtung der Provinzen Germania superior und inferior, welche Kaiser Domitian nach seinem Sieg über die Chatten gründete, als Betrugsmanö­ver, da aus seiner sicht eine Provinz mit dem Namen Germania bis zur Elbe hätte reichen müs­sen.45 Aus seiner Sicht sei Germania also keineswegs erobert worden, sondern der Kaiser hätte diese Provinzen lediglich geschaffen um vorzugeben, die Gefahr durch die Germanen sei gebannt. Soweit also zu den Bedingungen aus Tacitus Umfeld und Zeit, welche wichtig sind, um die Germania besser verstehen zu können.

2.3.2. Das Germanenbild in der Germania

Wie bereits oben angeführt, ist einer der immer wieder auftretenden Begriffe die Einfachheit der Germanen. Er findet sich in vielen verschiedenen Kapiteln und wird von Tacitus oft auch in unter­schiedlicher Bedeutung verwendet.46 Vor allem in den ersten 27 Kapiteln, dem Teil über die Ger­manen im Allgemeinen, beschreibt Tacitus immer wieder was die Germanen alles nicht haben.

[...]


1 Vgl.: Kretschmer, M.: Tacitus Germania, neubear. Aufl., Münster 1986. Seite 1.

2 Vgl.: Perl, G.: Griechische und Lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas II. Tacitus Germania Bd. 37,2 der Reihe: Schriften und Quellen der alten Welt, Berlin 1990. Seite 11.

3 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 1.

4 Vgl.: Perl 1990 Seite 11

5 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 1.

6 „Über das Leben und den Tod des Iulius Agricolas“ -Übersetzungen in den Fußnoten stammen von mir.

7 Vgl.: Perl 1990 Seite 12

8 Perl 1990 Seite 12

9 Vgl.: Perl 1990 Seite 13

10 „Das Buch über den Ursprung und die Lage der Germanen“

11 „Der Dialog über die Redner“

12 „Bücher vom Weggang des göttlichen Augustus“

13 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 2

14 Vgl.: Perl 1990 Seite 104; „über den Ursprung und die Sitten aller Germanen“

15 Vgl.: Perl 1990 Seite 104; „Ich werde nun die Einrichtungen und Sitten/Bräuche der einzelnen Stämme darlegen.“

16 Vgl.: Helmchen A.: Die Entstehung der Nationen im Europa der Frühen Neuzeit. Ein integraler Ansatz us human­istischer Sicht, Bern 2005. Seite 176

17 Vgl.: Perl 1990 Seite 19

18 Vgl.: Perl 1990 Seite 28

19 Vgl.: Perl 1990 Seite 19f

20 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 9

21 Vgl.: Perl 1990 Seite 29ff

22 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 19

23 Perl 1990 Seite 106; „Der oberste der Gewährsmänner, der göttliche Iulius [Caesar] berichtete.“

24 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 7

25 Vgl.: Zimmer, S.: Germani und die Benennungsmotive für Völkernamen in der Antike, in: Beck, H. (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“, Berlin 2004, Seite 1-24.

26 Kretschmer 1986 Seite 8, „Der erste Teil des Bucher enthält die Lage und die Sitten Germaniens.“

27 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 8

28 Perl 1990 Seite 40; „Sallust ist der blühendste Urheber der römischen Dinge [Geschichte]“

29 Vgl.: Perl 1990 Seite 42

30 Vgl.: Perl 1990 Seite 41

31 Vgl.: Perl 1990 Seite 43

32 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 19f

33 Perln 1990 Seite 84, „Ich bezweifle, ob die zürnenden Götter [den Germanen] aus Gnade Silber und Gold verweigert haben.“

34 Vgl.: Krebs, Chr.-B.: Negotiatio Germaniae. Tacitus' Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel, Göttingen 2005, Seite 85

35 Vgl.: Perl 1990 Seite 20

36 Vgl.: Perl 1990 Seite 94

37 Kretschmer 1986 Seite 20

38 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 20f

39 Vgl.: Perl 1990 Seit 98; „Sie leben also in eingezäunter Keuschheit, [...].“

40 Vgl.: Helmchen 2005 Seite 177

41 Vgl.: Kretschmer 1986 Seite 22

42 Vgl.: Krebst 2005 Seite 7

43 Vgl.: Perl 1990 Seite 15

44 Perl 1990 Seite 112; „So werden die Cherusker, welche eins gut und gerecht waren, nun feige und dumm gerufen“

45 Vgl.: Perl 1990 Seite 16f

46 Helmchen 2005 Seite 176

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Details

Titel
Das Werk "Germania" von Tacitus und seine Rezeption durch Enea Silvio Piccolomini. Die Bedeutung für den deutschen Humanismus
Hochschule
Universität Osnabrück  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
Geschichtsschreibung und Deutschlandkonzept im Humanismus
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
29
Katalognummer
V1014485
ISBN (eBook)
9783346417206
ISBN (Buch)
9783346417213
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschichte, Antike, Mittelalter, Latein, Humanismus, Deutschland, Germania, Piccolomini, Tacitus, Caesar, Cäsar
Arbeit zitieren
Jamal Hasan (Autor:in), 2018, Das Werk "Germania" von Tacitus und seine Rezeption durch Enea Silvio Piccolomini. Die Bedeutung für den deutschen Humanismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1014485

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