"Hier bin ich, tot, tot, tot." Von einem herumirrenden Grenzgänger zwischen Leben und Tod

Das Fährmannmotiv in Franz Kafkas Jäger Gracchus-Fragmenten


Hausarbeit, 2021

27 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung (Kafkas Quellen, Forschungsüberblick, Fragestellung)

2. Das Fährmannmotiv
2.1 Tradition des Fährmanns in der Epik
2.2 Charon als Fährmann der antiken Mythologie
2.3 Erläuterung des Fährmannmotivs

3. Das Fährmannmotiv in Kafkas Jäger Gracchus –Fragmenten
3.1 Der Kahn des Fährmanns
3.2 Die Physis des Fährmanns und des Jägers
3.3 Gracchus als Grenzgänger zwischen Leben und Tod
3.4 Die Odyssee des Fährmanns und des Jägers
3.5 Der Fährmann als Jäger
3.6 Der Fährmann als Ehemann und Vater

4. Fazit und Ausblick

5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Forschungsliteratur

6. Anhang
6.1 Übersicht der Gracchus -Fragmente

1. Einleitung (Kafkas Quellen, Forschungsüberblick, Fragestellung)

Franz Kafka (1883‒1924), kanonischer deutschsprachiger Schriftsteller, hat am Jäger-Gracchus -Stoff besonders lange (Dezember 1916‒Mai 1917) und intensiv gearbeitet, wie die acht Fragmente1 bezeugen. Die Fragmente befinden sich im zweiten2 und vierten3 Oktavheft sowie in zwei Tagebüchern.4 Die von Max Brod, Kafkas Freund, betitelte synthetische Fassung Der Jäger Gracchus erschien als Erstveröffentlichung5 in Form einer einheitlich scheinenden Fusion von zwei getrennten Fragmenten erst postum. Als Kafkas Quellen werden die jüdische Sippurim-Erzählung Die goldene Gasse 6 und Shakespeares Hamlet7 angenommen.

In der Forschung wurde den Jäger Gracchus -Fragmenten keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Sie wurden vorwiegend vom biographischen8 und didaktischen9 Ansatz her untersucht, wobei auch Kafka und das Judentum, die Geschlechtlichkeit,10 und die Gattung bzw. das Genre11 der Fragmente problematisiert werden. Die einzelnen Standpunkte zu den Jäger Gracchus -Fragmenten zeichnen sich durch Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit aus, allerdings sind es insbesondere die intertextuellen Verweise auf die „klassische Motivtradition“12, die als Ausgangspunkt für zahlreiche Interpretationen dienten. Alle hätten gemein, dass die klassischen Motive dem ursprünglich mythischen Hintergrund entfremdet seien:

Kafkas Verhältnis zur Tradition war niemals ein kontinuierendes, ein reproduzierendes, sondern eins, das auf Anwendung des Tradierten im unmittelbaren Hier und Jetzt des Autors abzielte, auf unvermittelte Vergegenwärtigung und damit die Aufhebung geschichtlicher Distanz, ja Aufhebung der Dimension von Geschichte überhaupt.13

Vor diesem Hintergrund soll das noch nicht untersuchte Fährmannsmotiv und seine Bedeutung für den Jäger Gracchus -Stoff analysiert werden. Zunächst soll exemplarisch die kulturelle Verarbeitung und Bedeutung des Fährmannsmotives in Narrativen betrachtet werden, wobei ein besonderer Fokus auf dem aus der griechisch-römischen Mythologie stammenden Charon liegt. Mithilfe der Kenntnisse über die literarische Tradition des Motivs sollen die Jäger Gracchus -Fragmente nach der close reading ‒Methode auf unterschiedliche Elemente des Motivs untersucht werden.

Wegen der fragmentarischen Form des Stoffes wird dieser nicht als geschlossene Einheit betrachtet, sondern nur gemeinsam in Bezug auf verschiedene Untersuchungsaspekte ausgewertet. Die Fragmente werden nicht einer einzigen Hypothese unterworfen, sodass die hier vorliegende Arbeit dem offenen Textbefund gerecht wird und eine geschlossene Interpretation von vorn herein vermeidet. Allerdings steht die Arbeit unter der Fragestellung, warum sich das Fährmannmotiv der Fragmente aus seinen mythologisch-klassischen Bezügen herauslöst.

2. Das Fährmannmotiv

Die Fährmann-Figur ist in verschiedenen Mythen, Legenden und Erzählungen verschiedener Kulturen übermittelt. Sie ist häufig mit Übergangsriten vom Leben in den Tod assoziiert, sodass der Fährmann als „Symbol eines rätselhaften und dubiosen Zwischenreiches“14 bekannt ist. Dieses Kapitel soll einen kurzen Überblick über die kulturelle Verbreitung und Bedeutung des Fährmanns anhand ausgewählter Beispiele geben.

2.1 Tradition des Fährmanns in der Epik

Als frühestes literarisches Zeugnis der Fährmann-Figur gilt das Gilgamesch-Epos. Das auf etlichen Keilschrift-Tafeln fragmentarisch erhaltene Epos handelt von den Heldentaten des sumerischen Königs Gilgamesch, welcher im 3. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien herrschte. Auf seiner Suche nach Unsterblichkeit befördert ihn der Fährmann Urschariabi über das Meer des Todes zum Land der Seligen.15

In der ägyptischen Mythologie galt der Himmel als eine von Wasser erfüllte Fläche, die Tote überschreiten. Pyramidentexte belegen, dass nach irdischen Vorstellungen die Überfahrt in das Totenreich Duat mithilfe einer Fähre erfolgte, deren Fährmann als „Hintersichschauer“16 bezeichnet wurde. Dieser prüfte vor der Überfahrt, ob der Tote zur Überfahrt berechtigt ist, bevor er seinen Dienst, zu welchem er oft gezwungen werden musste, ausführte.

In der 25. Aventiure des Nibelungenlieds wird Hagen selbst zum Fährmann, nachdem er diesen erschlägt, um mit dessen Fähre das Burgunderheer über die Donau zu setzen.17

Eine Version der christlichen Christophorus-Legende überliefert das Motiv des Fährdienstes: Christophorus (griech. für ‚Christusträger‘18 ), ein menschlicher Riese, diente Gott und trug Pilger sowie Christus, über einen reißenden Fluss. Christophorus gilt als Patron u.a. für Schiffer und Fuhrleute. Aber auch im Grimm-Märchen Der Teufel mit den drei goldenen Haaren findet sich ein Fährmann auf dem Weg zum Teufel.19

2.2 Charon als Fährmann der antiken Mythologie

Die bekannteste Fährmannsfigur stammt aus der griechisch-römischen Mythologie: Charon, Sohn des Erebos (der Dunkelheit) und der Nyx (der Nacht), bringt die Schatten der Verstorbenen über den Styx/Lethe bzw. Acheron ins Reich des Hades bzw. Pluto. Er wurde als „schmutziger, übelgelaunter, böser alter Mann“20 dargestellt. Für die Überfahrt verlangt Charon einen Fährlohn (einen Obolus), auch Charonsgroschen genannt. Wer ihm diesen nicht aushändigt, da er nicht bestattet wurde, muss 100 Jahre am Flussufer als herumirrende Seele verweilen. Die Griechen begruben deswegen ihre Toten mit dieser Münze im Mund.21 Charons Unmenschlichkeit ergibt sich aus der Unmenschlichkeit seiner Funktion und seiner göttlichen Abstammung. Als Herakles ihn zwang, ihn überzusetzen, bestrafte Hades Charon, indem er ihn ein Jahr in Ketten legte.22

Die früheste Erwähnung des Charon findet sich im Epos Minyas aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., in dem er als lokaler Fährmann des Kopais-Sees auftaucht.23 Vergil beschreibt Charon im sechsten Buch der Aeneis (6,298‒304):

Als Fährmann wacht an diesen Wassern und Flüssen, schauderhaft starrend vor Schmutz, Charon, dessen Kinn ein verwilderter grauer Bart deckt; er stiert aus glühenden Augen,24 und von seinen Schultern fällt verknotet ein garstiger Umhang. Dieser Charon stößt sein Boot mit der Ruderstange ab, setzt die Segel und fährt die Toten im schwärzlichen Nachen hinüber. Uralt schon, ist er als Gott selbst im Alter noch kräftig und rüstig.25

Des Weiteren sei Charon als „Hafenzöllner“ (lat. portitor Aen. 6,298 und 326, lat. navita ‚Seemann‘ Aen. 6,315) mürrisch (lat. tristis ‚finster‘ ebd.). Der alte und löchrige Kahn (cumba [...] rimosa Aen. 6,413f.) wird personifiziert: gemuit sub pondere cumba / sutilis et multam accepit rimosa paludem. (ebd.) Obwohl Charon Parallelen zu Urschanabi oder dem ‚Hinterherschauer‘ aufweist, sind alle drei Figuren unabhängig voneinander entstanden.26 Die literarische Figur wurde in der epischen Dichtung des 6. Jahrhunderts individualisiert,27 allerdings hat sich kein eigenständiger Mythos um Charon gebildet.28

2.3 Erläuterung des Fährmannmotivs

Während ein Stoff „an feststehende Namen und Ereignisse gebunden“29 ist, weist das Motiv weder eine „Handlungskontinuität noch eine Fixierung an bestimmte Personen auf und enthält auch keinen erzählbaren Verlauf.“30 Folglich bezeichnet das Motiv „lediglich einen Handlungsansatz“,31 der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich berge. Lüthi beschreibt ein Motiv als „das kleinste Element einer Erzählung, das die Kraft hat, sich in der Überlieferung zu halten“.32

Aus den ausgewählten Beispielen wird eine über 4000 Jahre alte literarische Tradition der kulturübergreifenden Überlieferung des Fährmannmotivs deutlich. Lediglich einige Attribute sind kulturübergreifend mit dem Motiv verknüpft. Der Fährmann fungiert als Bindeglied zwischen zwei konträren Welten durch die (meist) einseitige Richtung des Transportes. Die Fährfahrt lässt sich als Metapher für einen Übergang erkennen, bei der der Fährmann wie ein Führer agiert. Er sei ein „Prototyp des permanenten Grenzgängers in einem Schwellenzustand“,33 welcher die „Zwischenzone als solche repräsentiert.“34

3. Das Fährmannmotiv in Kafkas Jäger Gracchus –Fragmenten

Die gewonnenen Erkenntnisse werden nun angewandt und verglichen mit Kafkas réécriture des Motivs. Laut Kruschke übernehme das klassische Motiv als kulturgeschichtlicher Informationsträger in der Welt Kafkas die Funktion der Desorientierung. Schon der Name der Hauptfigur wirke desorientierend, da keinerlei Beziehung zu den antiken Trägern dieses Namens, den römischen Sozialreformern Tiberius und Gaius Gracchus bestünde.35 Kafka habe mit Gracchus36 ein weiteres Traduktionym37 für seinen eigenen Namen gefunden: Kavka heißt im Tschechischen ‚Krähe, Dohle‘, gracchio im Italienischen und graculus im Lateinischen.38 Somit sei Gracchus ein Hinweis auf die Individualität des Autors (wie im Prozeß K. und im Urteil Georg Bendemann).39

Der Fährmann hat in allen Fragmenten keine direkte Rede und ist somit eine stumme Figur, die sich im Quaimauer-Fragment nur durch die Erwähnung des sprachlichen Akts („begrüsste den Herrn“ II,19) oder mithilfe von Gesten verständigt: Der Bootsführer „wies auf“ (II,13) das Haus, „winkte“ (II,21) den Gehilfen und wird dann vom Bürgermeister40 aus dem Raum gebeten.41 Im Quaimauer-Fragment hat der Bootsführer zwei Gehilfen („Zwei andere Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen“ II,12). Auch im Wir-Fragment gibt das Ich „[a]lle[n] Leute[n] an Bord“ (T,524) Anweisungen (in Form einer Erwähnung eines sprachlichen Aktes), u.a. sollen diese, abgesehen vom Steuermann, nicht an Land gehen (erzählt als Redebericht). Die interne Fokalisierung des Ichs ermöglicht die Offenbarung seiner „gewisse[n] nicht abzuschüttelde[n] Angst“ (ebd.) aufgrund einer Entfremdung zum irdischen Leben vor dem unregelmäßigen Landgang.

Anders als der griesgrämige Charon, weiß sich der Bootsführer in allen seine Figur erwähnenden Fragmenten42 zu benehmen.

3.1 Der Kahn des Fährmanns

In dem Quaimauer-Fragment wird nach einer realistischen Beschreibung43 der Szenerie für die Ankunft des Bootsführers ein Vergleich gebraucht, der die Außerordentlichkeit44 der Umstände ankündigt und vorweg nimmt: „Eine Barke schwebte leise als werde sie über dem Wasser getragen in den kleinen Hafen.“ (II,11) Der Hafen an sich ist ein Grenzort zwischen Wasser und Land, genauso wie Riva (italienisch für ‚Ufer‘) und die Quaimauer (frz. le quai für ‚Ufer‘). Im Dialog-Fragment fährt der Kahn im Jenseits (nicht wie im Quaimauer-Fragment auf „irdischen Gewässer[n]“ II,28): „Mein Kahn ist ohne Steuer,45 er fährt mit dem Wind der in den untersten Regionen des Todes bläst“ (II,39). Endres sieht dies nicht nur als thematische Variationen an, sondern als Folge einer ersten grundlegenden Metaphorik: die fehlerhafte („Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt“ II,28) Über-Setzung des Jägers ins Jenseits.46

In dem Tagebuch-Fragment spricht der Erzähler von Darstellungen „auf Schiffen“ (II,43), womit impliziert ist, dass dieser sich auf einem Schiff, welches er negativ konnotiert als „mein Holzkäfig“47 (II,44) bezeichnet, befindet. Der Jäger liegt auf einer Holzpritsche, beschreibt von dort die Innengestaltung der Kajüte und hört durch „eine Luke der Seitenwand“ (ebd.) Wasser an die „alte Barke“ (ebd.) schlagen, womit für ein signifié drei verschiedene signifiants verwendet wurden.

Ganz im Gegenteil zu der Leichtigkeit der schwebenden Barke im Quaimauer-Fragment steht das 11.Heft-Fragment, welches eine längere Handlungspause mit der Schiffsbeschreibung enthält: ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebraucht, verunreinigt, wie mit Schmutzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. (XI,810f.)

Im Gast-Fragment wird vom „alten Kahn“ (IV,47), mit „Luke“ (IV,55) und „Schiff“ (ebd.) gesprochen. Der Jäger konkretisiert die Bezeichnung schließlich: „Immer in dieser Barke. Barke ist nämlich die richtige Bezeichnung Du kennst Dich im Schiffswesen nicht aus?“ (ebd.) In der Antwort des Fragenden wird die Bezeichnung48 erneut falsch verwendet: „Nein, erst seit heute kümmere ich mich darum, seit dem ich von Dir weiss, seitdem ich Dein Schiff betreten habe.“ (IV,48) Der Jäger erzählt von dem Besitzer der Barke, dem Patron,49 und führt die Barke als nicht-Irdisches Element ein: „Die Barke hat doch ursprünglich keinem Menschen gehört.“ (IV,59) Im 11.Heft-Fragment wiederum „gehört [das Schiff] dem Jäger Gracchus“(XI,811).

[...]


1 Das „Auf dem Dachboden“-Fragment (vgl. Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Bd.: I. Text. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1993, S. 272‒274.) ist in der Forschung bezüglich seiner Zugehörigkeit umstritten (vgl. Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als »System des Teilbaues«. Freiburg 2002, S. 85.) und aufgrund des Fehlens des Fährmannmotives wird es in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.

2 Im Folgenden werden S. 11‒35 als „Quaimauer-Fragment“, S. 36‒39 als „Dialog-Fragment“, S. 39 als „Ich bin-Fragment“ und S. 39‒47 als „Tagebuch-Fragment“ bezeichnet und mit ‚II,S.‘ zitiert nach Franz Kafka: Oxforder Oktavhefte 1&2. Faksimile Edition. Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Frankfurt a.M./ Basel 2006., H. 2, S. 11–47. Das Gruftwächter-Drama steht dem Quaimauer-Fragment voran und Der Kübelreiter folgt. Endres problematisiert, dass die Fragmente in diesem Heft nicht einer ungebrochenen Identität eines kontinuierlichen Ichs unterstellt werden können, da Gracchus sich bis zum Tagebuch-Fragment nur in Gesprächen geäußert habe. Die Unbestimmtkeit des Tagebuch-Ichs baut sich sukzessiv ab, da nach eineinhalb Seiten klar wird, dass der Jäger sich selbst äußert. Endres lässt aber auch die Möglichkeiten einer diaristischen Notiz oder eines anderen Ichs zu. (Vgl. Martin Endres: Chronographie des Todes. Die utopische Zeitlichkeit der Sprache in Kafkas Jäger Gracchus. In: Schrift und Zeit in Franz Kafkas Oktavheften. Hrsg. v. Caspar Battegay/Felix Christen/Wolfram Groddeck. Göttingen 2010, S. 25–36, hier S. 31.) Die wechselnden Erzählsituationen deutet er als Verbildlichung von Kafkas Verhältnis zur Poetik: die dynamische Bewegung zwischen „Identität und Enteignung“. (ebd., S. 34.)

3 Im Folgenden werden S. 47‒79 als „Gast-Fragment“ bezeichnet und mit ‚IV,S.‘ zitiert nach Franz Kafka: Oxforder Oktavhefte 3&4. Faksimile Edition. Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Frankfurt a.M./ Basel 2007, H. 4, S. 47–79. Die Passagen abtrennenden Querstriche im zweiten und vierten Oktavheft zeigen entweder eine Unterbrechung der Aufzeichnung oder ihr Ende bzw. den Abbruch an. Es ist nicht klar, um welche Art von Grenze es sich handelt, sodass sich mehrere Passagen finden, die nur einen Satz umfassen, und von zwei Querstrichen gerahmt sind. Die Verfasserin behandelt die Seiten 11v bis 19v im vierten Oktavheft als ein Fragment, weil anstelle von Anführungszeichen die Sprecherwechsel mit Querstrichen gekennzeichnet wurden, wobei ihr bewusst ist, dass die einzelnen Sätze zwischen den Querstrichen theoretisch als einzelne Fragmente behandelt werden könnten, was jedoch den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Dem Gast-Fragment steht der Stierkampf-Text voran und auf das Gast-Fragment folgt das Rothpeter-Fragment.

4 Die Vorarbeit, in der der Ich-Erzähler noch keinen Namen hat, findet sich im Tagebucheintrag vom 21.10.1913. Im Folgenden wird dies Fragment als „Wir-Fragment“ bezeichnet und mit ‚T,S.‘ zitiert nach Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Bd.: II. Text. Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1992, S. 524. Der zweite Tagebucheintrag datiert den 6.4.1917 und wird als „11. Heft-Fragment“ bezeichnet und mit ‚IX,S.‘ zitiert nach Franz Kafka: Tagebücher. Textbd. Hrsg. v. Hans Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990, S. 810f.

5 Vgl. Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer. Hrsg. v. Max Brod und Hans-Joachim. Berlin 1931.

6 Vgl. Hartmut Binder: ‚Der Jäger Gracchus‘. Zu Kafkas Schaffensweise und poetischer Topographie. In: JDSG 15 (1971), 375–440, hier S. 393.

7 Vgl. ebd., S. 412.

8 Vgl. Raffaella Bertazzoli: The Journey Without νόστος: Franz Kafka and Gracco. In: Between 7 (2017), H. 14, S. 1‒14. Online: http://dx.doi.org/10.13125/2039-6597/3064 (letzter Aufruf am 10.04.2021, 13 Uhr); Frank Möbus: Theoderich, Julia und die Jakobsleiter. F.K.s Erzählfragmente zum Jäger Gracchus. In: ZfdPh 109 (1990), S. 253–271; Binder: Der Jäger Gracchus. Binder hat verschiedene Reiseerfahrungen Kafkas aufgezeigt, während welcher dieser Motive gewonnen habe. Diese Untersuchung muss mit Vorsicht gelesen werden, da Binder ohne Paralipomena und nach der Brod-Ausgabe gearbeitet hat. Kafka hat sich im September 1909 (mit Max Brod) sowie 1913 während eines Senatoriumaufenthaltes in Riva, einer Stadt am Gardasee, aufgehalten.

9 Vgl. Dietrich Krusche: Die kommunikative Funktion der Deformation klassischer Motive: Der Jäger Gracchus. In: DU 25 (1973), S. 128–140.

10 Vgl. Frank Möbus: Sünden-Fälle. Die Geschlechtlichkeit in Erzählungen Franz Kafkas. Göttingen 1994, S. 10–51.

11 Vgl. Erwin R. Steinberg: The three fragments of Kafka’s ‚The hunter Gracchus‘. In: Studies in Short Fiction 15 (1978), H. 3, S. 307‒317. Diese Untersuchung wurde auf der Grundlage von dreien, nicht acht, Jäger-Fragmenten durchgeführt.

12 Krusche: kommunikative Funktion, S. 130. Klassisch ist im engeren Sinne gemeint, da jüdische und christliche Motive, welche in die europäische Kulturgeschichte eingegangen und in Kontinuität darin tradiert worden sind, enthalten seien. Weitere klassische Motive, die aus der europäischen Antike stammen, finden sich in den Erzählskizzen Prometheus, Poseidon und Das Schweigen der Sirenen.

13 Krusche: kommunikative Funktion, S. 131.

14 Nicole Kuprian: Zum literarischen Motiv des Fährmanns. Ein Symbol der Wandlung? In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege 8 (1997), S. 17‒19, hier S. 17.

15 Vgl. Stephen Maul: Einleitung. In: Der Gilgamesch Epos. Neu übersetzt und kommentiert. Hrsg. v. ders. München 42008, S. 9‒18, hier S. 9‒15.

16 Hans Bonner: „Duat“. In: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Hrsg. v. ders. Berlin/New York 41971, S. 148.

17 Vgl. Das Nibelungenlied. Mhd./Nhd. Nach den Text v. Karl Bartsch und Helmut de Boor. Kommentiert v. Siegfried Grosse. Stuttgart 2003, S. 455‒477. Schule stellt zu Recht fest: „Der Epiker gestaltet hier die Paradoxie, daß der einzige, der den unheilvollen Ausgang der Reise kennt, als Fährmann in den Tod fungiert.“ (Ursula Schulze [Hrsg.]: Anhang-kommentierende Inhaltsübersicht. In: Das Nibelungenlied: nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe: mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch. Düsseldorf/Zürich 2005, S. 818.)

18 Vgl. Christoph Markschies: Christophorus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Hans Dieter Betz mit Don S. Browning, Bernd Janowski, Eberhard Jüngel. Bd. 2: C‒E. Tübingen 41999, S. 323f., hier S. 323. online <http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_SIM_03025>

19 Vgl. Maria-Barbara v. Stritzky: Christophorus. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hrsg. v. Walter Kasper u.a. Bd. 2: Barclay bis Damodos. Freiburg u.a. 31994, S. 1174‒1176, hier S. 1175.

20 Michael Grant/John Hazel: Charon. In: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Hrsg. v. ders. München 81992, S. 99.

21 Vgl. mit den untersuchten Ausgrabungen von Donna C. Kurtz/ John Boardmann: Thanatos, Tod und Jenseits bei den Griechen. Deutsche Ausgabe. Hrsg. v. Hans-Günther Bucholz. Mainz a.R. 1985, S. 248f. Dieses Begräbnisritual geht zurück bis in das hellenistische Athen (323 v. Chr.‒30 v. Chr.). (vgl. ebd., S. 193.) Als Grabbeigabe dienten Gefäße, die oft das Bildmotiv des allegorisch für den Tod stehenden Charon in seiner Fährmannsfunktion zeigen. (vgl. ebd., S. 129.)

22 Vgl. Grant/Hazel: Charon, S. 99.

23 Vgl. A. Hermann: Charon. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Hrsg. v. Theodor Klauser. Bd. 2: Bauer ‒Christus. Stuttgart 1954, S. 1040‒1061, hier S. 1040‒1042, und bei Pausanias X,28,2.

24 Χάρων ist ein poetisches Hypokoristikon zur griechischen Kurzform χαροπός ‚finsterblickend, mit funkelnden Augen‘, was entweder ein Euphemismus für den Tod ist oder Charons typischen Zorn reflektiert. (Vgl. Hans von Geisau: Charon 1. In: Der kleine Pauly. Bd. 1. Stuttgart 1964, Sp. 1138f.)

25 portitor has horrendus aquas et flumina servat terribili squalore Charon, cui plurima mento canities inculta iacet, stant lumina flammā, 300 sordidus ex umeris nodo dependet amictus. ipse ratem conto subigit velisque ministrat et ferrugineā subvectat corpora cumbā, iam senior, sed cruda deo viridisque senectus. 304 Vergil: Aeneis. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt von Gerhard Fink u.a. Berlin 2005, VI, V. 298‒304 (S. 261, 263). (Online: https://doi.org/10.1515/9783050091938.fm, letzter Aufruf am 10.04.2021, 14 Uhr)

26 Vgl. Paul Dräger/Massimo Di Marco/Klaus Meister: Charon. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Bd. 2: Ark‒Ci. Weimar 1979, S. 1107f., hier S. 1108. online: <http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e231980>

27 Vgl. Geisau: Charon, Sp. 1138.

28 Vgl. Hermann: Charon, S. 1040.

29 Elisabeth Frenzel: Vorwort zur ersten Auflage. In: dies.: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Hrsg. von dies. Stuttgart 62008, S. VIII.

30 Heike Gfrereis: Motiv. In: Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. dies. Stuttgart/Weimar 1999, S. 130.

31 Frenzel: Vorwort, S. VIII.

32 Max Lüthi: Märchen. Hrsg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 91996, S. 19.

33 Kuprian: Zum literarischen Motiv, S. 18.

34 Ebd., S. 18f.

35 Vgl. Krusche: kommunikative Funktion, S. 132.

36 Oder steht der Name in Beziehung zu den aufgenommenen Topoi aus der griechischen Antike, sodass es auf lat. graecus ‚griechisch‘ verweist?

37 Endres weist darauf hin, dass die Eigennamen, die von der Bedeutung unabhängig sind, zwei verschiedene Subjekte bezeichnen. (Vgl. Endres: Chronologie, S. 36.)

38 Vgl. Krusche: kommunikative Funktion, S. 133.

39 Vgl. ebd. Kafka bezeichnet sich selbst als Dohle, so gegenüber Janouch: „Ich bin ein ganz unmöglicher Vogel. Ich bin eine Dohle ‒ eine kavka [...] verwirrt hüpfe ich zwischen den Menschen herum. Sie betrachten mich voller Mißtrauen. Ich bin doch ein gefährlicher Vogel, ein Dieb, eine Dohle. Das ist aber nur Schein. In Wirklichkeit fehlt mir der Sinn für die glänzenden Dinge [...] Ich bin grau wie Asche. Eine Dohle, die sich danach sehnt zwischen den Steinen zu verschwinden.“ (Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Frankfurt 1951, S. 18)

40 Ein christliches Erlösermotiv ist um den Bürgermeister zentriert: Als dieser an die Bahre des Jägers tritt, „legte [er, AP] eine Hand dem Daliegenden auf die Stirn, kniete dann nieder und betete“ (Vgl. Apg 9,40: „Da ließ Petrus alle hinausgehen, kniete nieder und betete“ sowie Krankenheilung und Totenerweckung Jesu in Lk 8,54; Mk 8,23; Lk 4,40), wird er als „Der Herr“ (II,23) bezeichnet und heißt „Salvatore“ (II,24) ‚Erlöser‘. Die religiöse Aussage des Motivs findet bei Kafka jedoch keine Spiegelung. Au contraire: beim Wiedererkennen wird deutlich, was dieses Motiv bei Kafka nicht signalisiert. Der Bürgermeister kann dem Jäger „noch nicht“ (II,27) sagen, ob er in Riva bleiben solle. Die zwischenmenschliche Beziehungslosigkeit zwischen dem Bürgermeister und dem Jäger drücke die Unfähigkeit zur Hilfe bzw. Erlösung aus, was auf eine Problematisierung von zwischenmenschlichen Interaktionen hinweise. (Vgl. Krusche: kommunikative Funktion, S. 140.)

41 Vgl. die Todeserweckung in Mt 9,23‒25: „Und als er in das Haus des Vorstehers kam und sah die Flötenspieler und das Getümmel des Volkes, sprach er: Geht hinaus! Denn das Mädchen ist nicht tot, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn. Als aber das Volk hinausgetrieben war, ging er hinein und ergriff sie bei der Hand. Da stand das Mädchen auf.“

42 Siehe die Übersicht der Gracchus -Fragmente im Anhang in der Zeile „Fährmann“, S. 26. Nur in den Fragmenten 1, 5 und 7 wird die Figur erwähnt, wobei sich die Beschreibung und die Handlung der Figur quantitativ und qualitativ in den Fragmenten unterscheiden.

43 Binder erinnert daran, dass die Schiffsmetaphorik in der Romantik ein Ausdruck für Orientierungslosigkeit und Todesverfallenheit war, was als allgemeiner Traditionshintergrund für die kafkaeske Verwendung angesehen werden könne. (Vgl. Binder: Der Jäger, S. 413.)

44 Die gestrichene Äußerung des Bürgermeisters „Ausserordentlich“ (II,36) ist dementsprechend doppeldeutig, da einerseits die Geschichte des Jägers ihm bemerkenswert scheint und andererseits die erzählten Ereignisse außerhalb der Ordnung ablaufen. Seit dem Tod des Jägers ist die bipolare Ordnung von Leben vs. Tod außer Kraft gesetzt für ihn.

45 Vgl. Vergil, Aen. 5,867f., wenn nach dem Tod des Steuermanns Palinurus Aeneas’ Schiff ohne Kurs übers Meer „irrt“: amisso fluitantem errare magistro / sensit […] ratem.

46 Vgl. Endres: Chronologie, S. 34.

47 Vgl. mit dem Affen Rothpeter, der von einem Jäger angeschossen wurde und in eine käfigartige Holzkiste auf einen Schiff verfrachtet wird. Binder nimmt an, dass die Konzeption des Jäger-Stoffes sich auf die spätere Gestaltung des Berichts ausgewirkt habe. (Vgl. Binder: Der Jäger, S. 436.)

48 Laut Duden ist eine Barke ein „kleines Boot ohne Mast“. https://www.duden.de/rechtschreibung/Barke (letzter Aufruf am 07.04.2021, 13 Uhr)

49 Diese Figur wird als neues Element eingeführt in dem Gast-Fragment, um mit der Idee zu spielen, dass Menschen wirklich sterben können, ohne auf dem Todeskahn festzustecken: „Schade, dass er heute gestorben ist. Es war ein guter Mann und er ist friedlich hingegangen.“ (IV,56)

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
"Hier bin ich, tot, tot, tot." Von einem herumirrenden Grenzgänger zwischen Leben und Tod
Untertitel
Das Fährmannmotiv in Franz Kafkas Jäger Gracchus-Fragmenten
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Sprach-und literaturwissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Kafka: Textstruktur und Machtanalyse
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
27
Katalognummer
V1032861
ISBN (eBook)
9783346440594
ISBN (Buch)
9783346440600
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fährmann, Kafka, Gracchus, Jäger, Grenzgänger, fliegender Holländer, Aeneis, Charon
Arbeit zitieren
Alexandra Priesterath (Autor:in), 2021, "Hier bin ich, tot, tot, tot." Von einem herumirrenden Grenzgänger zwischen Leben und Tod, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1032861

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