Vom germanischen Gott zum Superhelden der Gegenwart

Zur Anthologie "Thor: Geschichten aus Asgard"


Bachelorarbeit, 2021

46 Seiten, Note: 1,0

Malte Steinbrecher (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Die germanische Mythologie
2.1 Die Edda
2.2 Thor

3. Comics und Superhelden
3.1 Die Entstehung der Superhelden
3.2 Die Epochen der Superheldencomics und die Entstehung von Marvel
3.3 Stan Lee und seine Kreation: The Mighty Thor

4. Thor als Prototyp des Superhelden
4.1 Comicanalyse
4.2 Definitionsansätze
4.2.1 Peter Coogan
4.2.2 Änne Söll und Friedrich Weltzein
4.2.3 Felix Giesa und Arno Meteling
4.3 Figurenanalyse
4.3.1 Identität und Herkunft (Origin Story)
4.3.2 Körper und Kraft
4.3.3 Das Verhältnis zu anderen

5. Fazit

Anhang

Kurzfassung:

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der mythologischen Figur Thor und seinem Erfolg als Superheld der Gegenwart. In diesem Zusammenhang geht sie der Frage nach, welche Merkmale Thor aufweist, die dem Prototyp eines Superhelden entsprechen. Nach einer Einführung in die Edda und die Geschichte der Superhelden erfolgt eine Comicanalyse. Besondere Gewichtung liegt auf verschiedenen Definitionsansätzen und der Figurenanalyse, die mit Beispielen aus den Comics der Thor-Anthologie von 1962 bis 1976 belegt werden.

Abstract:

This thesis deals with the mythological character Thor and his success as a superhero of the present. In this context, it explores the question of what characteristics Thor exhibits that correspond to the prototype of a superhero. An introduction to the Edda and the origins of superheroes is followed by a comic analysis. Special emphasis is placed on various definitional approaches and character analysis, which are verified with examples from the comics of the Thor anthology from 1962 to 1976.

Anmerkung

Da dieser Arbeit eine Comic-Anthologie zugrunde liegt, befinden sich im Anhang nummerierte Abbildungen zur Veranschaulichung der Thematik. Diese entstammen allesamt der Primärlektüre, weswegen auf ein Anhangs- beziehungsweise Abbildungsverzeichnis verzichtet wurde. Die Informationen über die Abbildungen sind den Primärquellen im Literaturverzeichnis zu entnehmen.

1. Einleitung

Ob als Gott der Meere und der Winde, Donnergott, Kriegsgott oder Beschützer der Menschen. Thor trägt wohl beinahe so viele Titel, wie er alt ist. Heute ist er vielen Menschen allerdings eher bekannt als The Mighty Thor - Hammer schwingender Superheld aus den Marvel Comics. Die von Stan Lee in den 1960er-Jahren erschaffene Comicfigur erlangte nicht zuletzt mit dem Aufkommen der Kinofilme des MCU (Marvel Cinematic Universe) neue Strahlkraft und beschützt bereits ein halbes Jahrhundert die Menschen in Comic, Film und Fernsehen vor allerlei Bösem. Dass es Unterschiede gibt zwischen dem Sohn Odins, der in den Eddas dafür bekannt war, auf seinem Streitwagen durch Asgard zu reiten und Riesen zu töten und dem blonden Schönling, der an der Seite von Iron Man und Captain America gegen Aliens kämpft, liegt auf der Hand. Dennoch sind viele Parallelen vorhanden. Nicht zuletzt auch dadurch, weil sich Schöpfer und Gründungsvater von Marvel, Stan Lee, beim Entwerfen Thors stark an den germanischen Mythen orientiert hat.1 Thors wichtigster Begleiter ist der Hammer Mjölnir, sein größter Widersacher der Halbriese Loki und seine bekannteste Pflicht ist das Beschützen von Asgard und Midgard.

Wie kam es nun aber dazu, dass eine Jahrhunderte alte, mythische Gottheit zu einem popkulturellen, omnipräsenten Superhelden2 emporstieg? Oder wieso eignet sich gerade Thor aus der germanischen Mythologie so gut als Superheld unserer heutigen Zeit? Die folgende Arbeit befasst sich mit dem Phänomen des Superhelden Thor, der einer Saga entstammt, die Jahrhunderte zurückliegt und dennoch bis heute an Faszination nichts eingebüßt hat. Besonderes Augenmerk liegt auf den ambivalenten Eigenschaften des mächtigen Thor, den Stan Lee 1962 aufleben ließ und der einerseits für seine körperliche Stärke, seine Zuverlässigkeit, Unkompliziertheit und Ehrlichkeit bekannt ist, aber auch zahlreiche Makel und Schwächen zeigt. Die Thor-Anthologie, die für diese Arbeit die Grundlage der Analyse bildet, schildert über sechs Jahrzehnte die Entwicklung und die Abenteuer der Heldenfigur. Die Forschungsfrage lautet daher: Welche Merkmale manifestieren sich in der Figur Thor aus der germanischen Mythologie, die ihn zum Prototypen eines Superhelden machen? Aus dieser Fragestellung soll die folgende Hypothese aufgestellt und theoriegeleitet überprüft werden: In der Figur Thor aus der germanischen Mythologie manifestieren sich wesentliche Merkmale, durch die er zum Prototypen eines Superhelden avanciert.

Im ersten Teil der Arbeit werden die Edda und die klassische Darstellung von Thor in der germanischen Mythologie vorgestellt. Im Anschluss soll die Superheldenthematik aufgegriffen und beschrieben werden, ebenso die multimediale Verbreitung des Heldenepos. Im Hauptteil der Arbeit werden anhand der Comics von Stan Lee aus den Jahren von 1962 bis 1976 figurative und konzeptionelle Paradigmen des Heroismus untersucht, herausgestellt und auf Thor übertragen. In einem abschließenden Fazit soll die der Arbeit zugrunde liegende Hypothese überprüft und eine Antwort auf die Forschungsfrage gefunden werden.

2. Die germanische Mythologie

Die germanische Mythologie beschreibt im Grunde alle Mythologien, die sich auf das Reich Germanien beziehen. Als Germanen werden verschiedene Stämme bezeichnet, die sich nach dem Untergang des römischen Reichs in Europa ansiedelten. Das Gebiet beschränkte sich auf die Umgebung der Flüsse Rhein, Donau und Weichsel, welches wir heute als Mitteleuropa kennen. Die nordische Mythologie ist die Mythologie der Nordgermanen und somit ein Teil der germanischen Mythologie. Sie bezieht sich auf das heutige Skandinavien, allerdings inklusive Island, aber ohne Finnland. Dies erklärt diverse Abweichungen in den Erzählungen und auch bei den Namensgebungen.3

Was im Christentum die Bibel ist, kann wohl im Heidentum mit der Edda verglichen werden, die durch mittelalterliche Dichtkunst überliefert wurde. Für ein grundlegendes Verständnis folgt nun eine Darstellung der Edda, deren Entstehung und Handlung, um anschließend Thor, den Protagonisten dieser Arbeit, vorzustellen.

2.1 Die Edda

Ein genauer Zeitpunkt der Entstehung der ersten Edda Lieder lässt sich nicht eindeutig festlegen. Während manche Wissenschaftler*innen Teile der dänischen Edda zwischen 450 und 700 nach Christus oder gar schon im Eisenzeitalter von 250 bis 450 nach Christus verorten, siedeln andere hingegen den Hauptbestandteil der Edda Lieder zwischen dem 8. und dem 9. Jahrhundert an. Neuere Forschungen legen das Jahr 875 n.C. als älteste Grenze für das erste Edda Lied fest.4 Logisch ist jedoch, dass der nordisch-germanische Glaube sehr viel älter ist als seine Edda Lieder.

Was genau ist nun also die Edda? Die Edda bezeichnet im Grunde zwei literarische Werke, die die nordischen Göttersagen und Mythen zusammenfassen. Neben der Lieder-Edda, die circa 1270 entstand, ist es vor allem die Snorra-Edda, die eine detaillierte Überlieferung der nordisch-germanischen Göttersagen beinhaltet und von Snorri Sturluson verfasst wurde.5 Sturluson lebte von 1179 bis 1241 in Island und war ein einflussreicher Gelehrter und Politiker.6 Er machte es sich zur Aufgabe, fast Vergessenes zu erhalten und zu bündeln, da die Mythen zu seiner Zeit sehr zusammenhanglos und lückenhaft überliefert wurden. Die Snorra-Edda kann als Bindeglied zwischen dem Heidentum und dem Christentum verstanden werden.7 In seinem Werk beschreibt Sturluson beispielsweise die lineare Struktur von der Schöpfung bis hin zur Götterdämmerung, dem sogenannten Ragnarök.8 Er liefert ein detailliertes Bild, der im Weltenbaum Yggdrassil vereinten neun Welten - darunter Midgard (Die Welt der Menschen) und Asgard (Die Welt der Asen).9 Der Begriff „Edda“ lässt sich nach altisländischer Bedeutung mit „Poetik“ übersetzen, da Sturluson sein Werk nach der Kunst der Skaldendichtung aufgebaut hat, die durch besondere metrische Formen und ein eigenes dichterisches Vokabular gekennzeichnet ist.

Die Snorra-Edda oder auch Prosa-Edda entstand um 1220 bis 1225 mit dem Aufkommen der Christianisierung Europas und lässt sich in vier Abschnitte aufteilen.10 Der erste Teil, der Prolog, ist sehr umstritten, da nicht klar ist, ob er wirklich von Sturluson verfasst wurde. Er bindet das gesamte Geschehen in das mittelalterlich-christliche Weltbild ein und kann daher auch von damaligen Anhänger*innen des Christentums nachträglich beigefügt worden sein. Der zweite Teil Gylfaginnig (Gylfis Täuschung) beschreibt einen Dialog, in dem ein Bild heidnischer Götter vermittelt wird, basierend auf einer Reise des skandinavischen Königs Gylfi zu den Göttern. Hieraus entstanden zahlreiche Geschichten mit wichtigen Informationen zu Namen, Verbindungen und relevanten Details.11 Unter anderem befindet sich hier die Völuspä, ein 66 Strophen langes Edda-Lied mit vielen Auskünften über Thor und andere Götter.12 Die Skäldskaparmäl (Sprache der Dichtkunst) ist der dritte Teil seines Werkes. Sie knüpft an den vorangehenden Teil an und kann als eine Art Zitatsammlung skaldischer Zeugnisse des 9. bis 12. Jahrhunderts gesehen werden. Der vierte und letzte Teil ist das Hättatal (Verzeichnis der Versarten). Er gilt als fundamentaler Bestandteil der poetischen Dichtung. Enthalten sind selbst verfasste Gedichte sowie ein kommentierender Prosatext. Den umstrittenen Prolog ausgeklammert, definieren sich die drei anderen Teile seines Werkes also als Mythographie, Stillehre und Verslehre.13

Die Snorra-Edda gilt als bedeutendste schriftliche Quelle der germanischen Religionsgeschichte und ist Zeugnis des Hochheidentums der Wikingerzeit. Snorri Sturluson hat akribisch und detailreich ein Werk für die Nachwelt geschaffen, ohne welches unser Wissen hierzu heute sehr eingeschränkt und lückenhaft wäre.14 Dennoch sollte die Snorra-Edda kritisch betrachtet werden, da sie aus einem christlichen Umfeld stammt und die Quellen zumindest teilweise anzuzweifeln sind. Sie kann demnach auch lediglich eine Mythographie eines privilegierten Christen des Hochmittelalters sein.15 Einer der bekanntesten und beliebtesten Götter ist der Ase und Gott des Donners Thor, der sich in zahlreichen Überlieferungen und in Sagen findet. Thor ist die zentrale Figur dieser Arbeit, daher soll im nächsten Kapitel erläutert werden, wer er war und welche Bedeutung er in der Mythologie hatte.

2.2 Thor

Thor oder auch Wingthor ist der älteste Sohn des Allvaters Odin und neben ihm der Stärkste der Götter. Seine Mutter ist die Riesin Jörd (Erde), seine Gemahlin ist Sif (Gesippin) und seine Kinder sind die Söhne Magni (der Starke) und Modi (der Zornige) sowie die Tochter Thrud (Kraft). Anhand ihrer Namen lässt sich feststellen, sie sind alle Sinnbilder der Stärke.

Thor ist nicht nur der Donnergott, er ist auch der Beschützer von Midgard, weshalb er von den Menschen sehr verehrt wurde. Er hat eine riesenhafte Gestalt und wenn er wütet, schüttelt er seinen feurig roten Bart, woraufhin Blitze und Donner erscheinen. Zumeist bewegt er sich auf einem Streitwagen, der von den beiden Böcken Tanngnjostr (Zähneknirscher) und Tanngrisnir (Zähneblecker) gezogen wird. Während er mit der linken Hand den Wagen lenkt, trägt er in der rechten Hand sein wohl auffälligstes Merkmal, den Hammer Mjölnir, außerdem trägt er noch einen Kraftgürtel und Handschuhe.16 Mit dem Hammer bekämpft er hauptsächlich die Joten, das sind Riesen aus dem Reich Jotenheim und zugleich die größten Feinde Asgards. Dies erscheint zum Teil paradox, da er selbst Halbriese ist und seine beiden Söhne mit der Riesin Jarnsaxa gezeugt hat. Trotzdem pflegt er eine erbitterte Feindschaft mit den Joten.17

In der Snorra-Edda steht Thor unter allen Asen ganz oben, weshalb er auch Asathor genannt wird. Ihm ist nur sein Vater Odin übergeordnet.18 Dennoch gab der Volksglaube vor, dass Thor der Beschützer des sterblichen Volkes war. Er galt im Gegensatz zu Odin nicht als Gott der Elite, sondern als Mann der kleinen Leute oder des Volkes und wurde somit zum sinnbildlichen Schützer der Menschen.19 So heißt es im Härbarösliöö (Harbardslied):

„Das Knechtvolk hat Thor, doch die Könige haben Odin, die da fallen im Feld“.20

Thor galt lange als Hauptgott des norwegischen Volkes und genoss die größte Verehrung in Norwegen, aber auch in Island, Schweden und Dänemark erfreute er sich großer Beliebtheit. Viele Namensgebungen beruhen auf ihm und etliche Tempel wurden für ihn errichtet. Vor wichtigen Schlachten wurde er um Beistand gebeten und die Menschen trugen kleine Hämmer als Ketten und Amulette. Als Herrscher über die Meere und das Wetter wurde ihm mehr Macht zugesprochen als Odin. Odin erlangte seine Bekanntheit ohnehin erst durch die Skaldendichtung, in noch älteren norwegischen Überlieferungen kommt Odin nicht einmal vor, es existieren von den großen Göttern lediglich Freyr und Thor.21

In der deutschen Literatur finden sich einige Unterschiede zur Darstellung des nordischen Gottes Thor. So heißt er hier Donar und seine Waffe ist der Donnerkeil, mit der er Blitzstrahlen wirft. Nicht nachweisbar ist, ob es sich hierbei um einen Hammer oder eine Wurfaxt handelt, es finden sich keine Belege für die Existenz eines Hammers. Donar (Herr des Gewitters) ist eine Hauptgottheit, die die meisten Stämme verehrten. Auch Donar galt als der Tapferste und Stärkste der Götter, der insbesondere bei bevorstehenden Schlachten angerufen und besungen wurde. Der Donarstag, von dem sich der heutige Donnerstag ableiten lässt, erinnert bis heute an die alten Gebräuche.22

Auch im 19. Jahrhundert befassen sich wegweisende deutsche Literat*innen mit dem Thema. Jacob Grimm, Germanist und Volkskundler, verfasste die Mythologie der Germanen und argumentierte für eine Übereinstimmung der nordischen und germanischen Götterlehre. Donar ist hier allerdings ein brachialer und grober Gott. In der Oper Rheingold von Richard Wagner, welche 1869 uraufgeführt wurde und das deutsche Nationalepos Der Ring der Nibelungen zum Inhalt hat, erscheint Thor als strahlender Held nach der Darstellung des Literaturwissenschaftlers Ludwig Uhland.23 Bis heute hat die Thematik des Donnergottes nichts an Faszination verloren, denn die Aufführungen von Wagners Rheingold bei den Bayreuther Festspielen und die jährlich neu inszenierten Nibelungenfestspiele in Worms zählen zu den wichtigsten klassischen Kulturereignissen in Deutschland.

Im nächsten Teil der Arbeit soll die Entstehung der Superhelden und die einzelnen Epochen der Superhelden bis hin zum Erfolg von Marvel vorgestellt werden.

3. Comics und Superhelden

Bevor Thor zur popkulturellen Mainstream-Gestalt wurde, die er heute ist, war es ein weiter Weg. Vor allem der Übergang vom Held zum Superhelden beziehungsweise vom heroischen zum postheroischen Zeitalter spielt hier eine tragende Rolle. Wenn die Rede von Superhelden ist, muss betont werden, dass deren Entstehung und Verbreitung untrennbar mit dem Medium Comicbücher verknüpft sind. Heutzutage haben die Superhelden nahezu jedes Massen- und Unterhaltungsmedium durchflogen, doch die Ursprünge wurzeln in den Comics.

Der Comic ist eine literarisch-künstlerische Erzählform, bei der die Erzählung hauptsächlich über das Bild transportiert wird, der ergänzende Text ist untergeordnet. Ein Comic kann gemalt, gezeichnet, fotografiert oder sogar skulpturiert sein. Der moderne Comic bedient sich aller möglichen Genres und nutzt unterschiedliche Gattungen vom Roman bis zur Endlos-Serie.24

Im Anschluss wird die Entstehung der Superhelden erläutert.

3.1 Die Entstehung der Superhelden

Im Jahr 1930 verbreitete der linke Aktivist Joseph Pirincin die Theorie über den Zusammenhang von sozialistischen Produktionsmethoden und einem gerechten Idealstaat. Die Folgen des Überflusses, den der Kollektivismus mit sich bringt, produzieren einen wahrhaften Super-Mann als Bürger einer sozialistischen Utopie. Zwei jüdische Science­Fiction Fans aus Cleveland, Jerry Siegel und Joe Shuster, hörten einen seiner Vorträge, woraufhin die Idee von Superman entstand. Ursprünglich heißt das Wort übersetzt „Übermensch“ und lässt sich von einer Theorie des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche ableiten. Dieser spricht in seinem bekannten Werk Also sprach Zarathustra vom Übermenschen als das Idealbild eines Menschen im Jahr 1900. Dem gegenüber steht interessanterweise die Idee des Untermenschen als Mensch niedriger Klasse, welche Adolf Hitler zu dieser Zeit propagierte. Es lässt sich hier eine Ironie des rassistischen Nachklangs erkennen, da gerade der Superman von zwei Juden, also laut Hitlers Theorie vermeintlichen Untermenschen, geschaffen wurde.25 Superman ist auch aus dem Grund interessant für diese Arbeit, weil der mächtige Thor, der knapp 30 Jahre später entstand, aufgrund verschiedener Faktoren wie Fähigkeiten, Herkunft und dem Götterstatus als das Marvel-Pendant zu Superman gesehen werden kann. Als es Superman 1939 beim damaligen größten Comic Herausgeber DC ins Regal schaffte, starteten die Millionenverkäufe und der glorreiche Weg für Superhelden war geebnet. In den folgenden Jahren schaffte es mit Captain America auch der erste Marvel Charakter in Regale.26 Superhelden im Allgemeinen würden ohne das Medium Comic heute mutmaßlich nicht existieren. Andersherum hätten Comicbücher nie eine so große Popularität ohne Superhelden erlangt. Die Marke Marvel hat sich mittlerweile als Synonym für Superhelden etabliert. Durch cleveres Einbinden der Fans und intelligente Marketing-Strategien prägte Marvel, allen voran Stan Lee, das zweite große Zeitalter der Comics, das Silver Age. Dies ist auch die Zeit, in der unter anderem Thor und viele weitere der heute bekanntesten Superhelden entstanden. Aufgrund des Erfolgs von Marvel wird das Silver Age auch gerne Marvel Age genannt.27

Aus diesem Grund wird im Folgenden eine kurze Zeitreise durch die einzelnen Epochen der Superheldencomics vorgenommen Der Blick wird hierbei speziell auf die Marvel Comics gerichtet.

3.2 Die Epochen der Superheldencomics und die Entstehung von Marvel

Die Superheldencomics erschienen erstmals in den 1930er-Jahren als sogenannte daily comic strips oder Sonntagsbeilagen.28 Der richtige Startschuss fiel im Jahre 1938 durch Superman. Im darauffolgenden Jahr bildete sich der Verlag Timely Publications, der später zu Timely Comics umbenannt wurde und aus dem Marvel Comics hervorging. Im Golden Age entstanden Helden wie Superman, Batman oder Captain America, diese waren jedoch in der Mitte des 20. Jahrhunderts weitestgehend verschwunden.29 Mit dem Ende des Vietnamkrieges sollte sich das jedoch ändern. Stan Lee und sein Co-Autor Jack Kirby erschufen im Jahr 1961 die Fantastic Four für die Timely Comics.30

Das Silver Age und somit das große Zeitalter von Marvel begann. Es entstanden viele Helden wie The Incredible Hulk, Spider-Man, Iron Man und natürlich The Mighty Thor, was einen regelrechten Superhelden-Boom auslöste.31 Wichtig für diesen Erfolg war die Erfindung von Paralleluniversen innerhalb der Comics. Durch die Idee des DC-Autors Julius Schwartz war das sogenannte Multiversum geboren. Er verschaffte damit den Autor*innen die Möglichkeit, verschiedene Versionen der Helden immer wieder neu zu kreieren und zu reinterpretieren.32 Es entstand ein riesiger, stetig wachsender Makrokosmos für unentdeckte Welten und Fanfiction.

1976 lösten Heroin und progressiver Rock den bunten Zeitgeist von LSD und Flower­Power ab. Dieser Umbruch leitete die zweite Welle ein. Damit begann das Dark Age (Bronze Zeitalter oder Dunkles Zeitalter), welches seinen Namen wegen der düsteren Atmosphäre der Superheldencomics erhielt.33 Die gewaltvollen Noir Comics traten in den Vordergrund, allen voran Batman, The Dark Knight und Watchmen.34 Seit ungefähr 1999 befinden wir uns in der Renaissance. Mittlerweile haben die Superhelden für das Massenpublikum das Medium gewechselt und sind spätestens seit Sam Raimis Spider-Man Trilogie (2002) auf der großen Kinoleinwand eingetroffen.35

Seit also nahezu 80 Jahren gibt es Superhelden, Marvels Thor existiert schon seit 55 Jahren und ein Name ist mit dieser Figur unumgänglich verknüpft - Stan Lee. Der Schöpfer und Autor und seine Kreation The Mighty Thor werden im nächsten Kapitel beleuchtet.

3.3 Stan Lee und seine Kreation: The Mighty Thor

Stan Martin Lieber wurde am 28.12.1922 als Sohn romanischer Juden geboren und verstarb erst kürzlich am 12.11.2018. Er war amerikanischer Comicbuchautor, Editor, Publisher und Producer und schuf gemeinsam mit seinen Co-Writern Jack Kirby und Steve Ditko viele der größten Superhelden unserer Zeit. Er verhalf dadurch Marvel vom kleinen familiären Unternehmen zur Weltmarke.36 Bereits mit 19 Jahren erlangte er über seinen Onkel einen Job als Director-Interims Editor bei der kleinen Firma von John Goodman namens Timely Comics. Sein Debüt gab er 1941 mit Captain America. Er entwickelte sich rasant als sehr vielseitiger und kreativer Künstler und stieg schnell auf. Vor allem sein schier unendliches Kreieren neuer Welten und Helden brachte ihm den Erfolg. Er war allerdings auch verantwortlich für maßgebliche Erfindungen, die die Superheldencomics nachhaltig prägten. Die Idee, dass seit den Fantastic Four die Helden nicht mehr glatt gebügelte, perfekte Supermenschen waren, sondern echte, normal menschliche Probleme und Fehler hatten, war revolutionär. Der Drahtseilakt zwischen Stärken und Schwächen ist ein Faktor, der auch für Thors Popularität maßgeblich war. Ebenso revolutionär war das Erschaffen gemeinsamer Universen und die Verschmelzung der Welten von einzelnen Superhelden. Es entstand ein narrativer Fluss, der der Leserschaft mehr Anreiz gab, dem großen Ganzen zu folgen. Dadurch taten sich neue Wege für Crossovers auf. Außerdem prägte Lee die sogenannte Marvel Methode, bei der erst das Konzept und die Rahmenhandlung von den Autor*innen grob vorgegeben werden, anschließend zeichnen die Artists ihre Vorlagen und danach werden erst die Dialoge eingefügt. Diese Methode erwies sich als sehr erfolgreich.37

Das Erschaffen eines Superhelden beschreibt er wie das Herausschlagen einer Skulptur aus einem Stein. In den Sechzigern schuf er unter anderem die Fantastic Four, die X-Men, Spider-Man, Ant-Man, Iron Man und The Incredible Hulk. Der unglaubliche Hulk war bis dato die physisch stärkste Figur im Marvel-Universum und Stan Lee wollte nun einen Helden publizieren, der mindestens genauso stark ist wie der Hulk. Da Hulk bereits der stärkste Mensch auf Erden war, konnte er demnach nur noch durch einen Gott übertroffen werden. Stan Lee befasste sich mit Mythologien der Römer und der Griechen, entschied sich jedoch letztlich für die nordische Mythologie. Gemeinsam mit seinem Bruder und Jack Kirby schuf er also den Superhelden Thor und rund um ihn herum die Welt von Asgard.38 Durch die Überlieferungen der Edda eröffneten sich fast unbegrenzte Möglichkeiten für Geschichten, die lediglich in das Comic Format umgeändert werden mussten. Eine religiöse Figur zum Superhelden zu machen, war ein Novum.

Vieles bei der Erschaffung von Thor stammt bereits aus den Eddas. Sein Gerechtigkeitssinn, seine Fähigkeiten und das Beschützen der Menschen, aber auch seine Sturheit, sein Stolz und die inneren Konflikte sowie viele Charaktere und Orte wurden von Lee übernommen. Thor kam als fertige Säule mit ambivalentem Innenleben und wurde von Lee zur Statue geschliffen. Er wurde nun blond, der Bart und der Streitwagen verschwanden, dafür erhielt er ein rotes Cape. Eine kritische Leserschaft verlangte eine große Übereinstimmung mit den Eddas. Die Thor Interpretation verkörperte jedoch mehr den amerikanischen Zeitgeist als den der nordischen Völker.39

In der Thor-Anthologie, die 2014 erschien, sammeln sich Comics aus 6 Epochen. Da mit dem ersten Erscheinen Thors auch das Silver Age eingeleitet wurde, befasst sich der Hauptteil dieser Arbeit explizit mit den Comics der zweiten großen Superhelden Epoche von 1962 bis 1976.

Welche prototypischen Merkmale eines Superhelden dabei auf Thor zutreffen, soll im anschließenden Hauptteil erklärt werden.

4. Thor als Prototyp des Superhelden

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Superhelden zeigt in der aktuellen Heldenforschung zwei Aspekte. Einmal das Fehlen von Helden und ihre Verehrung in der realen Welt, andererseits die Verlagerung der Konstruktion von Heldenfiguren in mediale Räume und Formen. Es ist ein Paradoxon, dass im sogenannten postheroischen Zeitalter, in dem wir uns befinden, eine mediale Omnipräsenz von Helden besteht. Bereits 1820 bemerkte Hegel , dass es im modernen Staate keine Helden mehr geben kann, da es diese nur im ungebildeten Zustand gibt.40 Das Ende des 2. Weltkriegs läutete die postheroische Zeit ein und war die Geburtsstunde eines neuen Heldentypus. Die realen Helden von heute haben andere Wertvorstellungen und sind zum Beispiel Klimaaktivist*innen, Bürgerrechtler*innen oder Whistleblower*innen.

In den Medien allerdings nehmen fiktive Gestalten eine Heldenrolle ein, die neuen Helden stammen fortan aus Comics, Filmen und Videospielen. Sie sind weltweit rezipiert, anerkannt und sehr populär. Sie besitzen zudem außergewöhnliche Mittel oder übernatürliche Fähigkeiten oder sind teilweise gar nicht menschlich. Aufgrund dieser Erhöhung lassen sie sich auch als Superhelden bezeichnen. In Betrachtung der Annahme von Hegel macht dies die aktuelle westliche Gesellschaft gleichzeitig postheroisch und superheroisch.41

Inwiefern Thor als Prototyp für diesen Heldentypus fungiert, wird im folgenden Hauptteil dieser Arbeit dargelegt. Da der Ablauf in den der Arbeit zugrunde liegenden Comics als Primärliteratur meist nach dem gleichen Schema erfolgt, soll zunächst eine Graphic Novel Analyse die relevantesten Elemente aufzeigen, um den Protagonisten als Superhelden zu etablieren.

4.1 Comicanalyse

Im Laufe der Jahre erhielt Marvels Thor mehrere Comicreihen und Neuinterpretationen, an denen mehr als zehn Zeichner und Autoren gewirkt haben.42 Um die Comic-Figur Thor in Gänze zu verstehen, ist es daher essentiell, zunächst eine Comic bzw. Graphic Novel Analyse vorzunehmen. Für die Comicanalyse wird explizit die Ausgabe Nr. 126 (II) Der Ruf! betrachtet, da hier die meisten Elemente klassischer Superheldencomics zum Vorschein kommen.43 Der Ablauf in den Comics funktioniert meistens nach dem gleichen Schema. Protagonist und Antagonist stehen im Konflikt zueinander. Der Held ist der Protagonist, der Antagonist ist der Schurke oder Gegenspieler. Die episodische Gliederung begründet sich auf wiederholten Aufgaben, dem Kampf mit dem Erzfeind und dem Untergang des Helden durch Ausnutzung seiner meist geheimen Schwachstelle.44

In Der Ruf! geht es um Ula, die Königin der fliegenden Trolle, die Thors Halbbruder Loki gefangen hält. Sie lässt ihn nur dann frei, wenn Thor im Gegenzug ihr Mann wird und gemeinsam mit ihr herrscht. Die Ausgabe beginnt mit einem großen Panel (Bild einer Seite), das zugleich das Titelbild und die erste Szene darstellt. Thor und Ula stehen sich gegenüber. Ein ominöser Lichtstrahl, hervorgerufen von Odin, erscheint am Himmel. Dieser Anti-Energieausbruch scheucht Ulas Trolle auf, sodass Thor gemeinsam mit Loki die Flucht ergreifen kann. Auf dem rettenden Schiff angekommen, streiten sich die Gefolgsleute Thors kurz über Nichtigkeiten, bis ein Bildnis von Odin erscheint. Der Allvater fordert Thor und seine Mannen auf, sofort nach Asgard zu kommen, da Ragnarök (die Götterdämmerung) bevorsteht. Hier endet die Episode.45

[...]


1 Vgl. Stan Lee/George Mair: Excelsior! The Amazing Life of Stan Lee. New York 2002, S. 157.

2 Da diese Arbeit eine männliche Figur als Untersuchungsgrundlage aufweist, wird bei Formulierungen, die unmittelbar mit der Analysethematik im Zusammenhang stehen, im Falle von Verwendungen eines allgemeinen Typus oder einer männlichen Nennung, die maskuline Form verwendet. Dies dient lediglich der besseren Lesbarkeit und stellt keine Wertung dar. In allen anderen Fällen wird gegendert.

3 Vgl. Klaus Böldl: Götter und Mythen des Nordens: Ein Handbuch. München 2013, S. 11f.

4 Vgl. Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie. Essen 2000, S. 41f.

5 Vgl. Arnulf Krause: Die Edda des Snorri Sturluson. Stuttgart 2008, S. 252f.

6 Vgl. Ebd., S. 255.

7 Vgl. Martin Arnold: Thor. Von der Edda bis Marvel. 1. Auflage. Rudolstadt 2013, S. 4f.

8 Vgl. Ebd., S. 7.

9 Vgl. Neil Gaiman: Norse Mythology. New York 2018, S. 39.

10 Vgl. Krause: Die Edda des Snorri Sturluson, S. 253 -256.

11 Vgl. Ebd., S. 257f.

12 Vgl. Arnold: Thor, S. 7.

13 Vgl. Krause: Die Edda des Snorri Sturluson, S. 258.

14 Vgl. Ebd., S. 265f.

15 Vgl. Ebd., S. 270.

16 Vgl. Eckart Peterich/Pierre Grimal: Götter und Helden. Die Mythologie der Griechen, Römer und Germanen. Mannheim 2011, S. 211f.

17 Vgl. Arnold: Thor, S. 49.

18 Vgl. Golther: Handbuch der germanischen Mythologie, S. 262.

19 Vgl. Arnold: Thor, S. 52.

20 o.A.: Hârbaröslioö. Rudolstadt 2013, S. 52.

21 Vgl. Golther: Handbuch der germanischen Mythologie, S. 247 - 256.

22 Vgl. Ebd., S. 242 -245.

23 Vgl. Arnold: Thor, S. 186.

24 Vgl. Eckart Sackmann: Comic. Kommentierte Definition. Mannheim 2008, S. 6f.

25 Vgl. Arnold: Thor, S. 219f.

26 Vgl. Ebd., S. 224f.

27 Vgl. Dietmar Dath: Superhelden. 100 Seiten. Stuttgart 2016, S. 51.

28 Vgl. Lukas Etter/Thomas Nehrlich/Johanna Nowotny (Hg.): Reader Superhelden. Theorie - Geschichte - Medien. Bielefeld 2018, S. 12.

29 Vgl. Grant Morrison: Superhelden. Was wir Menschen von Superman, Batman, Wonder Woman & Co lernen können. Höfen 2013, S. 80.

30 Vgl. Ebd., S. 111f.

31 Vgl. Ebd., S. 120.

32 Vgl. Ebd., S. 137.

33 Vgl. Ebd., S. 173.

34 Vgl. Ebd., S. 238.

35 Vgl. Ebd., S. 391.

36 Vgl. Frank Wright: 42 Legendary Facts Stan Lee. 2020, S. 2.

37 Vgl. Ebd., 4 -6.

38 Vgl. Lee/Mair: Excelsior!, S. 158f.

39 Vgl. Arnold: Thor, S. 228 - 233.

40 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. 2020, S. 2.

41 Vgl. Ulrich Bröckling: Heroismus und Moderne. 2020, S. 16.

42 Vgl. Thomas Witzler: Die Macher. Stuttgart 2017, S. 319.

43 Vgl. Stan Lee (Hg.): Thor - Geschichten aus Asgard. Die Thor-Anthologie. Stuttgart 2017, S. 36 - 40.

44 Vgl. Etter/Nehrlich/Nowotny (Hg.): Reader Superhelden, S. 80.

45 Vgl. Lee (Hg.): Thor - Geschichten aus Asgard, S. 36 - 40.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Vom germanischen Gott zum Superhelden der Gegenwart
Untertitel
Zur Anthologie "Thor: Geschichten aus Asgard"
Hochschule
Universität Potsdam  (Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
46
Katalognummer
V1067395
ISBN (eBook)
9783346476265
ISBN (Buch)
9783346476272
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Superhelden, Comics, Superheldencomic, Comic, Held, Helden, Heroen, Heroismus, Thor, Germanische Mythologie, Edda, Nordische Mythologie, Superheld, Superheldencomics, Comichefte, Graphic Novel, Heroisierung, Comicbücher, Grafiknovel, Odin, Loki, Germanen, Comicanalyse, Figurenanalyse
Arbeit zitieren
Malte Steinbrecher (Autor:in), 2021, Vom germanischen Gott zum Superhelden der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1067395

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Vom germanischen Gott zum Superhelden der Gegenwart



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden