Über die faktualen Ansprüche in "Zahra`s Paradise"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

31 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Fiktional vs. Faktual

3. Historische Leerstellen

4. Der Comic Zahra ’ s Paradise und seine Rezeption
4.1 Graphic Novel
4.2 Geschichtscomic
4.3 Bild-Text-Relation
4.4 Besondere Darstellungen
4.5 Glossar und Anhang als Rahmen

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Comics nehmen seit Jahren einen immer größeren Stellenwert ein. Nach trostlosen Tagen im hintersten Zeitschriftenregal nahmen sie ihren Weg über Buchgeschäfte und Kinosäle in den Blickwinkel der Literaturwissenschaft. Sogenannte eingefleischte Fans mag dies weniger verwundern als den Typus Leser, welcher seine Aufmerksamkeit noch ausschließlich einer traditionellen Lektüre widmet. Heute bietet sich uns aber bereits eine breite Masse an neuer Qualität. So darf die große mediale Betrachtung von Amirs und Khalils Comic Zahra ’ s Paradise also keine Verwunderung auslösen. Fast dreieinhalb Millionen Interneteinträge kennt die Suchmaschine Google zu diesem Werk. Darunter befinden sich zahlreiche Rezensionen, Berichte zur Entstehung und Filmbeiträge aus unterschiedlichen Fernsehsendungen, meistens wichtige Nachrichtenformate. Die Journale sehen darin ein Abbild des Arabischen Frühlings und eine Dokumentation der Grünen Revolution im Iran. Der Hauptaspekt des Interesses liegt oftmals weniger in der fiktiven Suche einer Familie nach ihrem verschwundenen Sohn und Bruder als in der Entblößung eines Regimes durch die Bilder der Erzählung. Spiegel Online spricht von der Popkultur, die Geschichte macht oder dem tödlichen Zeitbezug, den diese offenbart.1

Wie und woraus entstehen die zahlreichen faktualen Ansprüche, welche dem vorliegenden Comic zugeordnet werden? Was bedeutet das? Da jene aus einer fiktiven Geschichte gezogen werden, muss es eine besondere Wechselbeziehung zwischen Leser und Text geben. Mit der Arbeit soll herausgestellt werden, worin und bei wem diese Ansprüche zu verorten sind. Hierzu müssen zunächst zwei Begriffe geklärt werden. Die Gegenüberstellung fiktional und faktual soll das hiesige Verständnis von zweitem klar herausfiltern. Danach wird die hier verwendete, historische Leerstelle erläutert, um sie als wichtiges Erkennungsmerkmal faktualer Ansprüche einzuführen. Im Hauptteil der Untersuchung stellen sich fünf Fragen, die der Beantwortung der Leitfrage dienlich sein können: Liegt bereits in der Bezeichnung Graphic Novel ein selbsternannter Anspruch auf Realitätsbezug? Was macht einen Geschichtscomic aus und entspricht Zahra ’ s Paradise einer solchen

Definition? Was fällt diesbezüglich in der Bild-Text-Relation auf und welche besonderen Darstellungen ergeben sich hierbei? Zuletzt soll noch ein kurzer Blick auf das Glossar und den Anhang geworfen werden, die möglicherweise einen speziellen Rahmen der Information schaffen.

Im letzten Kapitel sollen die Ergebnisse schließlich zusammengefasst und ein erster Versuch unternommen werden, die Leitfrage anhand dieser zu beantworten. Dabei stellt dies nur ein Angebot dar, welches auf einige ausgesuchte Stellen des Werks Bezug nehmen kann. Zitiert wird im laufenden Text, die Bildnummern beziehen sich auf die Reihenfolge der im Anhang zu findenden Abbildungen und die Seitenzahlen auf den Comic.

2. Fiktional vs. Faktual

Die Unterscheidung zwischen fiktional und faktual stellt oftmals eine vorerst nicht erahnte Schwierigkeit dar. Sprechen wir von Erzählungen, sind diese Begriffe unabkömmlich. Ein Roman bietet uns in seiner fiktionalen Darstellung fiktive Charaktere und ihre Geschichten. Ein faktualer Bericht hingegen vermittelt uns wirkliche Vorgänge, historische Ereignisse. In Überlegungen zu dieser Thematik scheinen die Grenzen immer wieder zu verschwimmen. Martinez und Scheffel sprechen bezüglich der Erzählung von „Realitätscharakter“ und „Redesituation“ sowie den Merkmalspaaren „real vs. fiktiv“ und „dichterisch vs. nichtdichterisch“.2 Die sich daraus ergebenden Kombinationsmöglichkeiten erlauben z.B. hinsichtlich des faktualen Erzählens einen authentischen Bericht, welcher der Wahrheit entspricht oder dem Leser eine Lüge auftischt. Der Verfasser richtet sich über seinen Text direkt an sein Publikum.

Fiktionale Texte hingegen weisen noch eine „zweite, imaginäre Kommunikationssituation“ auf.3 Der hier eingesetzte, fiktive Erzähler wendet sich an den Leser und beansprucht für seine Aussagen einen Wahrheitsgehalt. Dabei kann hierfür der reale Autor nicht zur Verantwortung gezogen werden. Somit stehen real- inauthentische Aussagen imaginär-authentischen gegenüber. Trotz zahlreicher Überlegungen zur Thematik der Erzählung, ließe sich Zahra ’ s Paradise eindeutig in die fiktionale Literatur einordnen. Die bereits zitierte Berichterstattung der Medien spricht vom Comic-Roman und so von einem wichtigen Signal des Textes, welches uns die Rezeption des Werks als Fiktion vorgibt. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine Bildergeschichte handelt, kann uns jedes Kapitel mindestens einmal den Erzähler an seinem Werkzeug, dem Computer, zeigen. Text und Bild referieren so auf die eigene Fiktionalität, gleichzeitig auf die äußere Entstehungsgeschichte des Werks innerhalb eines Internetblogs. Der von Janik bei Martinez und Scheffel zitierte Begriff der „kommunizierten Kommunikation“ wird hiermit sichtbar.4

Die zahlreichen Aspekte, hinsichtlich der Merkmale fiktionaler Erzählungen, lassen bei der hiesigen Überprüfung keine Schwierigkeit entstehen, die Frage, ob Zahra ’ s Paradise fiktional oder nicht-fiktional sei, zu beantworten. Dennoch benötigen wir eine Definition der faktualen Ansprüche, die gerade durch diese Geschichte entstehen. Hierzu sollten wir das Feld der angeführten Begriffe räumen, um möglichen Verwirrungen vorzubeugen und einen neuen einzuführen, der bereits in der Einleitung anklang: Dokumentation.

Dirk Werle stellt die Begriffe Fiktion und Dokument nicht gegenüber, sondern nebeneinander, um „sie unterschiedlichen Ebenen der Textbeschreibung zuzuordnen“.5 Während er erstem charakteristische Eigenschaften zuschreibt, sieht er in zweitem die Erfüllung einer Funktion. „Nicht dass das Dokument auf Faktisches referiert, ist zentral, sondern dass es das zu einem bestimmten Zweck tut […] In erster Linie gilt das Dokument als Instrument der Erkenntnisgewinnung und - vermittlung so wie der logische Schluss oder der Augenzeugenbericht“.6 Mit diesen Überlegungen können wir die faktualen Ansprüche im vorliegenden Werk identifizieren. Setzten wir diese mit Dokumenten in Texten gleich, ist es überflüssig von Fiktionalität oder Nicht-Fiktionalität zu sprechen. Werle zeigt in seinen weiteren Ausführungen, anhand von vier Beispielen, dass Dokumente in beider Arten Text eingesetzt werden können. In fiktionalen würden sie auf verschiedene Weise immer wieder Realität suggerieren.7

Die Funktionen der Dokumente, bzw. der gewollten, faktualen Ansprüche, können wir in einem ethisch-moralischen, didaktischen Sektor ansiedeln. Nach Werle behandelt dieser Fragen „der Schuld“, des „Nicht-zu-Vergessenden“ und der „historischen Verantwortung“ - letztlich das „Erinnern und Präsentmachen von Gewesenem“.8 Bezüglich der medialen Aufarbeitung von Zahra ’ s Paradise sind es diese Aspekte, welche Lesern und Redakteuren gleichermaßen auffallen sollen. Nur durch das eigene Wissen über Konventionen können wir Dokumenten das Nachweisen von Faktizität bescheinigen. Die Identifikation von Dokumenten wiederum läuft nach Werle über ihr Auftreten als Montage ab.9 Für hiesige Überlegungen ist es wichtig, geltende Konventionen zu kennen. Dazu gehören in jedem Falle Kenntnisse über gegenwärtige, historische Ereignisse und Zustände. Hierzu muss sich im nächsten Kapitel noch mit den historischen Leerstellen befasst werden.

Gerade im Kontext eines Comics ist zu klären, wie durch Bilder, ihre Motive und mögliche Verfremdungen sowie zugehörige Texte die Funktionen der hiergenannten, faktualen Ansprüche zu analysieren und zu interpretieren sind. Dabei geht es keineswegs darum, ob diese das Werk in ihrer Außendarstellung realer erscheinen lassen.

3. Historische Leerstellen

Die faktualen Ansprüche in Zahra ’ s Paradise müssen in den ermittelbaren Funktionen liegen, die im vorigen Kapitel beschrieben wurden: Erinnerung und Präsentmachen von Gewesenem. Somit liegen die Ansprüche gleichermaßen bei Text und Rezipient. Erster präsentiert in unterschiedlicher Weise, zweiter wird angehalten zu erinnern und zu behalten. Zur Unterstützung der Funktionen bedarf es der Auffüllung sogenannter historischer Leerstellen durch den Leser. Was macht diesen Begriff aus?

Die aus der Rezeptionsästhetik entlehnte Leerstelle soll hier als Erkennungshilfe faktualer Ansprüche gesehen werden. Mit seinen Ausführungen zur Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft offenbart Stephan Jaeger interessante Überlegungen zu „textuellen Leerstellen und die textuelle Erzeugung historischer Welten“.10 Dabei unterscheidet er anfangs zwischen historischen, fiktionalen und textuellen Leerstellen. Erstere treten seiner Meinung nach in Geschichtstexten unendlich oft auf, da die Historie einer stetigen Wandlung unterliegt. Neue Informationen können immer wieder Sachverhalte ändern und in anderem Licht erscheinen lassen.11 Somit bestünde eine Veränderlichkeit bezüglich der faktualen Umwelt. Dagegen sind fiktionale Leerstellen „ontologisch, weil kein Referent außerhalb der fiktionalen Welt existiert“ und textuelle Leerstellen im Text verankert, wobei sie „aber auf unterschiedliche Weise in der Interaktion mit dem Leser Sinn erzeugen“ können.12 „Der Leser muss Hypothesen über Zusammenhänge erstellen, um den Text verstehen zu können“.13

Jaeger führt hiermit eine Problematik an, die seit Jahrzehnten existiert und sich mit der Frage auseinandersetzt, ob es innerhalb der Geschichtswissenschaft ein historisches Erzählen gibt, welches eine eigene Welt erschafft. Das hiesige Verständnis historischer Leerstellen soll sich dagegen nicht mit dem genannten Spannungsfeld der Fiktion und Geschichte befassen. Verstanden werden sollen sie als Kombination von Jaegers zwei angeführten, historischen und textuellen Leerstellen. Erste bedient uns mit dem Namen und der Tatsache, dass zumindest scheinbar auf außertextuelles referiert wird. Dies gebührt dem Bezug auf Werles Äußerungen, dass das Dokument, hier mit faktischen Ansprüchen gleichgesetzt, Realität suggeriert, um letztlich die Funktionen zu erfüllen. Der Aspekt textueller Leerstellen, Hypothesen über Zusammenhänge zu erstellen, trifft insofern zu, dass der Leser von Zahra ’ s Paradise gefordert ist, Details in Text und Comicbild zu erfassen und sie innerhalb des politischen und historischen Rahmens der werkseigenen Welt zusammenzuführen.

Die historische Leerstelle soll hier als probates Mittel gesehen werden, auf genannte Funktionen hinzusteuern. Dabei kann sie größere und kleinere Zusammenhänge herstellen, wobei mehrere kleine einen großen konstituieren können. So stellen (in diesem Verständnis) mehrere historische Leerstellen in der Suche nach Mehdi, durch seine Mutter und seinen Bruder, exemplarisch die Suche einer ganzen Gesellschaftsschicht nach ihren vermissten Kindern dar. Somit muss der Leser damit vorliebnehmen, dass es Mehdi durchgehend an einem Gesicht fehlt und sein Foto für unzählige, verschollene Studenten steht (Vgl. Abb. 1, S. 38)14.

[...]


1 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,700345,00.html [Stand: 15.04.2012].

2 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München, 8. Aufl. 2009, S. 10.

3 Ebd., S. 17.

4 Vgl. ebd., S. 17.

5 Werle, Dirk: Fiktion und Dokument. Überlegungen zu einer gar nicht so prekären Relation mit vier Beispielen aus der Gegenwartsliteratur. In: Non Fiktion 1 (2006), S. 112.

6 Ebd., S. 113.

7 Vgl. ebd., S. 117.

8 Ebd., S. 118.

9 Vgl. Werle 2006, S. 118.

10 Jaeger, Stephan: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. v. Vera Nünning und Ansgar Nünning. Trier 2002, S. 250.

11 Ebd., S. 250.

12 Ebd., S. 251.

13 Ebd., S. 251.

14 Amir/Khalil: Zahra’s Paradise. Die Grüne Revolution im Iran und die Suche einer Mutter nach ihrem Sohn. München 2011.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Über die faktualen Ansprüche in "Zahra`s Paradise"
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Zeichen-Welten: Comic, Manga, Graphic Novel
Note
2,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
31
Katalognummer
V207437
ISBN (eBook)
9783656348580
ISBN (Buch)
9783656349051
Dateigröße
5181 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
über, ansprüche, zahra`s, paradise
Arbeit zitieren
Matthias Sühl (Autor:in), 2012, Über die faktualen Ansprüche in "Zahra`s Paradise" , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207437

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