Ereignisse am Rand. Funktionen und Semantik des peripheren Raums in Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre"


Masterarbeit, 2022

56 Seiten, Note: VG


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ziel der Arbeit und Fragestellungen

3. Methode

4. Zum Stand der Forschung

5. Theoretischer Zugang
5.1 Raum
5.2 Semantisierung des Raumes und Grenzüberschreitungen
5.2.1 Räumliche Oppositionen und Werte
5.2.2 Ereignis, Sujet und Geschichte
5.3 Der erlebte Raum

6. Textanalyse
6.1 Melzer und Bosnien
6.1.1 Am Wiener Bahnhof
6.1.2 Treskavica
6.1.3 Heimkehr nach Wien
6.1.4 Melzer im Krieg
6.2 Grete Siebenschein, Norwegen, das Mittelmeer und die Atlantikküste
6.2.1 Oslo und das Sporthotel
6.2.2 Heimkehr nach Wien
6.2.3 Mittelmeer und Atlantik
6.3 Mimi Scarlez und die Flucht nach Buenos Aires
6.3.1 München – Flucht in die Ferne
6.3.2 Buenos Aires – Leben in der Fremde
6.3.3 Wien – Heimkehr und Bodenlose Heimat
6.4 Etelka Stangeler in Budapest und Konstantinopel
6.4.1 Konstantinopel
6.4.2 Wien
6.4.3 Niederösterreich
6.4.4 Budapest
6.5 René Stangeler im Wald

7. Zusammenführung

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Abstract

The thesis is an analysis of the novel Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre by the Austrian novelist Heimito von Doderer. The analysis focuses on the functions of peripheral spaces and their influence on five different characters and their respective stories. The analysis further shows that peripheral spaces play an important role in the lives and stories of all the analyzed characters.

All the five examined characters share an experience of freedom that that only seems available to them in remote spaces, that can be described as peripheral in a World whose center is the city of Vienna. These characters leave the rut, security or pains of their homes to break out into what Otto Friedrich Bollnow calls die Weite (strangeness) and end up in die Fremde (distance). Although these characters are all influenced by this Fremde, what sets these characters apart, is the way they are affected.

With the help of Jurij Lotmans theory on semantic values and opposition, the thesis shows how peripheral spaces can be semanticized, i.e. be charged with different semantic values, that are diametrically opposed to those of the center that is Vienna. Furthermore, these spaces all share a potentially subversive influence and effect on the current center-periphery -relations. Indeed, the analysis shows that the relationship between center and periphery is not a constant or static one but rather quite dynamic. This relationship can be, although not necessarily, tightly connected to the respective character and his or her fate.

A particular focus of the thesis is the question of the Sujet, another concept defined by Jurij Lotman, that sees the global structure of events as the definition of the main theme of the novel. In this thesis an attempt is made to apply the concept of the Sujet on the stories of the five characters. Although this concept was used by Jurij Lotman as a means of analyzing what he called the global structure of a novel, in this thesis the concept of the Sujet is applied on the five characters and their respective stories separately. Even though this way of analyzing fiction may seem unorthodox, the method does indeed provide an interesting method of highlighting important Ereignisse (events) within the overarching structure of the novel, and of putting these Ereignisse into relation to geographical spaces and semantical values.

Keywords

Peripheral space, semanticized space, events, narratology, von Doderer.

1. Einleitung

1951 erschien der Roman Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre vom österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer. Der Roman wurde schnell ein großer Erfolg für Doderer und zählt heute zu den bedeutendsten österreichischen literarischen Werken des 20. Jahrhundert, obwohl ihm noch kein vergleichbar selbstverständlicher Platz im gesamten deutschsprachigen Literaturkanon zuteil wurde.

Die Strudlhofstiege ist ein Großstadtroman, der das Leben einer Vielzahl von Figuren des Wiener Hochbürgertums und der Offiziersklasse in den Jahren um 1910/11 und 1925 darstellt. Die Struktur des Romans besteht aus einer Menge kleinerer Szenen und parallelen Erzählsträngen, die allmählich über die circa 900 Seiten miteinander sanft verflochten werden. Eine zusammengehaltene, lineare Handlung oder Plot, wie es in Romanen üblich ist, gibt es hier nicht. Daniel Kehlmann fasst in seinem Nachwort zu der 2013 erschienenen Jubiläumsausgabe diese übergreifende Erzählstruktur sehr treffend zusammen: « Menschen treffen einander, gehen auseinander, treffen einander wieder, und stets geht es weniger darum, was bei den Treffen geschieht, als um die Bewegung selbst, den beständigen Reigen. » (Doderer 2013:938f)

In der Tat besteht der Roman vor allem aus Begegnungen und Bewegungen. Gespräche über das Private oder über Philosophie bleiben oft resultatlos, und die beteiligten Figuren gehen einfach weiter, jeder seinen eigenen Weg. Die zentralen Figuren des Romans tauchen immer wieder in verschiedenen Konstellationen auf: jemand verreist und kommt zurück, ein anderer hat einen Plan, der zu Nichts zerfällt, Liebespartner werden untereinander getauscht und eine Figur gibt es scheinbar zweimal (das romantische Doppelgänger-Motiv wird hier in einer episodischen Erzählung von Liebe und Zigarettenschmuggel aufgegriffen).

Es könnte vielleicht behauptet werden, dass es dem Roman, mit seiner fragmentierten Handlung und scheinbaren Erzählung von Nichts, tatsächlich gelungen ist, ein schlüssiges Porträt des menschlichen Lebens zu malen, genau weil es keinen ausgedachten Plot oder roten Faden gibt.

Während die Figuren sich im Wien der Mitte der zwanziger Jahre und (durch Rückblicke) in den Sommern von 1910 und 1911 bewegen, wird die Stadt von ihnen minutiös beobachtet und von einem auktorialen Erzähler beschrieben (d.h. von einem allwissenden Erzähler). Die Großstadt mit ihrer Topographie wird als selbstverständliches Zentrum der erzählten Welt erzeugt und steht im Fokus von vielen literaturwissenschaftlichen Analysen und Untersuchungen zum Roman. Was aber an den geographischen Rändern (der Peripherie ) der erzählten Welt passiert, und die Frage welche Funktionen diese Randorte für die Figuren und deren jeweilige Geschichten haben können, ist meistens übersehen worden.

Dass solche Orte aber eine sehr bedeutende Rolle in den Geschichten und Leben der Figuren haben, wird dem Leser sofort klar. Zum Beispiel wird der hauptsächliche Protagonist, der Leutnant (später auch Major bzw. Amtsrat) Melzer durch die Jahre seines Lebens von Erinnerungen an Bosnien verfolgt, d.h. der Ort, an dem er nicht nur im Krieg stationiert gewesen ist, sondern an dem er auch eine Art Übergangsritus durchgemacht und dabei eine starke, emotionale Beziehung zum später im Krieg gefallenen Major Laska aufgebaut hat. Der periphere Ort der damaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn spielt demnach für Melzer eine große Rolle in seinem Leben in der Großstadt und für die Entscheidungen, die er im Privatleben trifft, auch nachdem die königliche und kaiserliche Monarchie schon lange untergegangen ist.

Solche Orte, deren Wirkungen tief in die Leben der Romanfiguren hineingreifen, gibt es nicht nur für Melzer. Der Roman ist auch für andere Figuren in hohem Maß von solchen räumlichen Gegebenheiten geprägt. Das feine Gewebe von Erzählungen im Roman geht von der Weltstadt Wien aus, knüpft aber immer an anderen, entlegenen Orten in der Doppelmonarchie und der Welt an. Grete Siebenschein fährt als junges Fräulein nach dem ersten Weltkrieg nach Norwegen und durchläuft während des Aufenthalts in einem kleinen, entlegenen Ort eine persönliche Entwicklung, die ihren Charakter im Laufe der Geschichte beeinflusst.

Für die Figur Mimi Scarlez (née Pastré) spielt Buenos Aires, wohin sie als junge Frau von zu Hause weglaufen ist, eine besondere Rolle, auch später in ihrem Leben. Für Etelka Stangeler sind es die Metropolen Konstantinopel und Budapest, die ihr Leben sowohl in Richtung Glück als auch Untergang zu lenken scheinen. Der Raum, der für Etelkas Bruder René diese Rolle einnimmt, ist der Wald in der Nähe von der ländlichen Familienvilla, wo er als Teenager seine langen Spaziergänge gemacht hat. Dort erlebt der junge René einen entscheidenden Moment am Scheideweg zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Von der oben dargestellten Beschreibung des Romans kann man leicht verstehen, dass der Raum, in dem die Figuren leben, eine wichtige Funktion haben kann. Doch die Frage bleibt, wie Raum eigentlich aufgefasst und verstanden werden soll und welche Aspekte und Fragen dabei am wichtigsten sind.

In der vorliegenden Arbeit wird von dem Konzept ausgegangen, dass der Raum in der Literatur mehr als nur ein « Ort der Handlung » oder « […] neutralen Rahmen […] innerhalb dessen sich historische Ereignisse abspielen. » (2009:11, 14) Der literarische Raum soll vielmehr als ein « kultureller Bedeutungsträger » verstanden werden, wie Wolfgang Hallet und Birgit Neumann in ihrem übersichtlichen Werk Raum und Bewegung in der Literatur: Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn konstatieren. Dies bedeutet, dass der Raum im literarischen Werk die Figuren beeinflusst und von ihnen beeinflusst wird. Der Raum ist demnach immer ein menschlich erlebter Raum. (Hallet/Neumann 2009:11)

Um die Interpretationen vom Raum in Die Strudlhofstiege zu erleichtern und die Argumente, die hier verwendet werden sollen, schlüssig und gültig zu machen, müssen wir uns also den menschlichen Erlebnissen von Raum nähern. In diesem Fall heißt das zu untersuchen, wie die Menschen (also die fiktiven Figuren im Roman) diese räumlichen Begebenheiten erleben und bewerten. Erst dann können wir auf einer glaubwürdigen Weise dafür argumentieren, dass ein gewisser Raum das jeweilige Leben und die Geschichte einer fiktiven Figur in eine besondere Richtung beeinflusst.

Die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Raum nahm in den 1980er Jahren stark zu. Diese Wende der Geisteswissenschaften, der sogenannte Spatial Turn, bezeichnet ein sehr buntes, fragmentiertes Konzept vieler Wissenschaftsdisziplinen, wie z.B. der Literaturwissenschaft aber auch der Sozialwissenschaften. Mit dem Spatial Turn wurde der Fokus auf Aspekte gerichtet, die vorher in der Forschung eher vernachlässigt worden waren, z.B. narratologische Strukturen, Zentrum - Peripherie -Verhältnisse und die räumliche Seite der fiktiven Geschichte. (2009:11f)

Analysen zu Raum, Topographie und Bewegung gehören inzwischen zu den Grundpfeilern der Forschung zum Großstadtroman des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl sich die Raumforschung zu Die Strudlhofstiege sehr intensiv mit der Frage der Topographie Wiens beschäftigt hat, mangelt es noch an Forschung zur räumlichen Peripherie der erzählten Welt, d.h. zu den Orten und Räumen im Roman, die sich mehr oder weniger weit entfernt von Wien befinden.

Es gibt im Roman eine Menge Beispiele solcher peripheren räumlichen Gegebenheiten, die nicht nur die Rolle von Schauplätzen einnehmen, sondern vielmehr zentrale Figuren und ihre jeweiligen Handlungsstränge auch beeinflussen. Die vorliegende Arbeit soll einen Versuch darstellen, die Aufmerksamkeit auf diese Räume zu richten und Fragen zu ihrer Funktion und Bedeutung für die Figuren und deren jeweilige Geschichten zu beantworten.

Ein wichtiger Teil dieser Arbeit ist es, wie schon oben erwähnt worden ist, den Fokus auf das menschliche Erlebnis zu richten und zu untersuchen, wie die fiktiven Figuren des Romans besondere Räume erleben. Dabei wird die Theorie zum erlebten Raum des deutschen Philosophen Otto Friedrich Bollnow hilfreich sein. Relevant dabei ist auch wie der erlebte Raum mit besonderen Werten verbunden sein kann und wie besondere Orte semantisch aufgeladen werden können.

Weil die Darstellung von Raum in der Literatur nicht nur mit dem menschlichen Erlebnis davon eng verbunden ist, sondern auch mit dem Bewerten von räumlichen Gegebenheiten und Oppositionen, wie z.B. die Dichotomie Eigen vs. Fremd, sollen hier einige theoretische Beiträge von Jurij Lotman verwendet werden, damit diese Aspekte verstanden und schlüssig interpretiert werden können. Die oben erwähnten Begriffe und Theorien sollen weiterentwickelt und dargelegt werden im Kapitel Theoretischer Zugang.

2. Ziel der Arbeit und Fragestellungen

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, welche Funktionen entlegene Orte für die Figuren haben. Dabei werden verschiedenen Figuren des Romans besondere Orte zugeschrieben, die bei den Figuren und ihrer jeweiligen Geschichte besonders zentral sind. Hier soll der Begriff des Ereignisses verwendet werden, um zu zeigen, wie oder ob das Erlebnis von einem besonderen Raum auch als entscheidendes Ereignis bezeichnet werden kann.

Ausgehend von der Theorie von Jurij Lotman soll in dieser Arbeit auch untersucht werden, ob Lotmans Begriff des Sujets auch in einer solchen Untersuchung etwas Wertvolles bringen könnte, obwohl es keine traditionelle Handlung gibt, sondern eine Vielzahl von Figuren und Geschichten dargestellt werden.

In dieser Arbeit soll auch gezeigt werden, wie diese peripheren Orte semantisch aufgeladen und gewichtet werden können, d.h. zu zeigen, welche Bedeutung der jeweilige Ort hat. Weiter soll die Frage beantwortet werden, ob die Erlebnisse von entlegenen Orten oder räumlichen Gegebenheiten das Verhältnis von Zentrum und Peripherie beeinflussen und beispielsweise verstärken oder aufheben. Die Theorie von Jurij M. Lotman zur Semantisierung des Raumes soll zusammen mit Otto Bollnows Beitrag zum erlebten Raum den theoretischen Zugang bieten.

3. Methode

In der vorliegenden Arbeit sollen die Themen, Funktionen und Werte von peripheren Räumen der fiktiven Welt des Romans Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre fokussiert werden. (Wie solche Räume definiert werden können und was hier mit Begriffen wie Peripherie und Zentrum gemeint ist, soll im Kapitel Theoretischer Zugang weiterentwickelt werden.) Die Arbeitsmethode besteht demnach darin, den Primärtext (den Roman) auf eine Weise zu lesen und studieren, die das sogenannte Close-Reading nahelegt. Das bedeutet laut der Definition des Metzler Lexikon Literatur, dass strukturelle und semantische Elemente in Bezug gezogen werden, die eine subjektive Identifikation und Interpretation einer Bedeutung ermöglichen. (Metzler 2007:126)

Die Antworten auf die Fragen der Arbeit sollen folglich nicht als bewusst eingesetzte Elemente des Autors verstanden werden. Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht darum, die Intention des Autors zu hinterfragen oder zu untersuchen, sondern vielmehr darum, besondere Gegebenheiten des Textes mithilfe von theoretischen Werkzeugen subjektiv zu interpretieren.

Die strukturellen Elemente, die untersucht und interpretiert werden sollen, sind die räumlichen Gegebenheiten (der Begriff Raum wird im Kapitel Theoretischer Zugang weiterentwickelt und erläutert, inkludiert aber z.B. Städte und ländlich gelegene Orte) der Welt, in der die fiktiven Figuren des Romans leben. Das heißt, dass das Untersuchungsobjekt in jeder Hinsicht ein fiktiver Gegenstand ist. Funktionen, die auf einer strukturellen Ebene existieren, werden selten oder niemals explizit im Text erwähnt. Ein wichtiger Teil des Lesens ist deshalb implizite Zusammenhänge aufzudecken und zu interpretieren. Ein Ort, in dem sich eine Figur in jungen Jahren aufhält, kann für die Geschichte und die weitere Entwicklung der Figur sehr entscheidend sein. Doch um diese Zusammenhänge entdecken zu können, muss zunächst ein wenig zwischen den Zeilen gelesen und subjektiv interpretiert werden.

Eine Methode, solche Interpretationen zu erleichtern, ist, sich mit der Gefühlswelt und der Wahrnehmung der Figuren zu beschäftigen. Wie die Figuren diese räumlichen Gegebenheiten konkret erleben, kann ein aufschlussreicher Weg zu einer Interpretation, deren Bedeutung und Funktionen sein. Mithilfe der Theorie zum Erlebten Raum von Otto Friedrich Bollnow soll in dieser Arbeit die Raumwahrnehmung der Figuren und dabei auch die besondere Rolle, die dem Raum zukommt, beschrieben und interpretiert werden. Diese Analyse des erlebten Raumes bedeutet nicht, dass nur die Wahrnehmung, so wie sie von der jeweiligen Figur an die Leser vermittelt wird, untersucht und beschrieben werden soll. Vielmehr sollen hier auch relevante Passagen, die durch andere Figuren oder den fiktiven Erzähler des Romans dargestellt werden, in die Untersuchung miteinbezogen werden. Diese Art Raum zu interpretieren, soll im Kapitel Theoretischer Zugang weiterentwickelt und erläutert werden.

Wie oben erwähnt, sollen in der vorliegenden Arbeit auch semantische Elemente der räumlichen Strukturen des Romans untersucht werden. Das heißt konkret, dass diese räumlichen Gegebenheiten, d.h. Orte, semantisch bewertet werden sollen. Auch hier ist die Interpretation eine sehr subjektive, aber eine, die in der Theorie von Jurij Lotman fest verankert ist. Lotman behauptete, dass nur das, « was eine Antithese hat » relevant und von Bedeutung sein kann (mehr über Lotman im Kapitel Theoretischer Zugang ). (Lotman 2015:395) Etwas, z.B. eine räumliche Gegebenheit (ein Ort), erhielte erst seine Bedeutung durch seinen Gegensatz, d.h. durch das, was er selbst nicht sei. Ein ländlicher Ort z.B., sei keine Großstadt, und die südamerikanische Küste sei nicht das zentraleuropäische Herzland. Besonders relevant scheint diese Behauptung Lotmans, wenn man bedenkt, dass das Untersuchungsobjekt dieser Arbeit nicht nur irgendwelche Orte sein sollen, sondern nur solche, die irgendwo an der Peripherie von einem Zentrum (in dieser Arbeit Wien) gelegen sind. In diesem Zentrum - Peripherie -Verhältnis liegt sozusagen schon von Anfang an eine Opposition, die leicht mit gegenseitigen Werten beladen werden kann.

Ausgehend von Lotmans Behauptung, können Interpretationen gemacht und Diskussionen geführt werden, die konkrete, räumliche Gegensatzpaare auf eine abstrakte, semantische Ebene überführt. Wenn eine fiktive Figur im Roman die Großstadt semantisch mit Werten wie begrenzt oder unfrei auflädt, dann kann deren Gegensatz, z.B. der ländliche Raum, auch mit entgegengesetzten semantischen Werten wie offen oder frei aufgeladen werden.

Auch hier muss also in die Gefühlswelt, in die Wahrnehmung der fiktiven Figuren eingegriffen werden. Die Theorien von Bollnow und Lotman werden es uns ermöglichen, die innere Welt der Figuren schlüssig zu erklären und sie in einen Zusammenhang mit der äußeren (fiktiven) Welt zu bringen, wo sie Begebenheiten und Geschichten erklären können. Erst dann kann argumentiert werden, dass der fiktive Raum eine besondere Funktion für die jeweilige fiktive Figur und deren Geschichte besitzt.

Nicht alle Figuren sollen aber in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, sondern nur eine Auswahl von fünf Figuren. Diese Figuren sind diejenigen, die sich dauerhaft an Orten aufhalten, die nicht in Wien liegen.

4. Zum Stand der Forschung

Mehrere Beiträge zur Doderer- und Strudlhofstiege -Forschung haben sich mit dem Untersuchungsgegenstand von Raum beschäftigt. Die relevantesten sind die Texte von Andrew Boelcskevy, Yvonne Margaret Norris, Friedrich Achleitner, Stefan Winterstein, Roswitha Fischer und Kai Luehrs-Kaiser.

Boelcskevy untersucht in seinem Artikel Spatial Form and Moral Ambiguity: A Note on Heimito von Doderer’s narrative technique die fragmentarische Darstellung des Raumes und deren relativierenden Implikationen auf die menschliche Moral. (Boelcskevy 1974:55-59) Yvonne Margaret Norris hat die Funktionen von Raum bei Doderer in ihrer Dissertation Functions of space in Heimito von Doderer’s Novel Die Dämonen studiert.

Friedrich Achleitner versucht in seinem Text Von der Unmöglichkeit, Orte zu beschreiben. Zu Heimito von Doderers Strudlhofstiege zu zeigen, wie die Strudlhofstiege, d.h. die Treppenanlage in Wien, im gleichnamigen Roman beschrieben oder eigentlich überhaupt nicht beschrieben wird, wie Achleitner meint. Statt die Stiege zu beschreiben, stellt von Doderer sie dadurch dar, dass er ihre Funktionen, z.B. als Theaterbühne, in die Handlung hineinarbeitet und symbolisch auflädt. (Achleitner 1998:126ff)

In Stefan Wintersteins Anthologie Die Strudlhofstiege, Biographie eines Schauplatzes, werden literatur- und kulturhistorische Aspekte der Treppenanlage und des Romans untersucht.

Roswitha Fischer untersucht die Geschichte des Romans in ihrem Text Studien zur Entstehungsgeschichte der « Strudlhofstiege » Heimito von Doderers. (Fischer 1975)

Diese Forscher und Forscherinnen haben zwar wichtige und relevante Beiträge zur Doderer-Forschung geleistet, aber nicht den erlebten Raum der Peripherie und dessen Funktionen für die Figuren und deren Geschichten untersucht oder beschrieben. Auf die oben erwähnten Untersuchungen wird in der vorliegenden Arbeit deshalb nicht weiter referiert.

Ein weiterer Forscher, der sich mit dem Konzept von Raum in der Literatur von Doderers beschäftigt hat, ist Kai Luehrs-Kaiser. Die für die vorliegende Arbeit relevanteste Untersuchung von Luehrs-Kaiser ist seine Dissertation Das Werden der Vergangenheit; Erläuterungen und Interpretationen zur Erinnerung als Erzählproblem bei Robert Musil, Heimito von Doderer und Hans Henny Jahnn, in der Luehrs-Kaiser sich auf die Erinnerungsfunktion von symbolisch beladenen, entlegenen Orten in von Doderers Roman Die Dämonen konzentriert.

Dieser Fokus auf die peripheren Orte oder Räume im Roman und deren Funktionen soll als Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit dienen. Obwohl hier nicht die Erinnerungsfunktionen und Symbole im Zentrum stehen sollen, sondern die Funktionen der Orte für die Geschichten der Figuren, wird die Peripherie im Großstadtroman als Basis des theoretischen Ansatzes von Luehrs-Kaiser übernommen. Denn zur Forschung von Raum und peripheren Orten in Die Strudlhofstiege gibt es bisher keine wirklich anspruchsvollen Beiträge. Der Ansatz dieser Untersuchung scheint also vielversprechend und bedeutet, dass die Arbeit wahrscheinlich neue Perspektiven zur Doderer-Forschung bieten kann.

Relevant für die vorliegende Arbeit ist auch der kurze Text von Daniel Kehlmann, der als Nachwort zur 2013 erschienenen Jubiläumsausgabe der Strudlhofstiege dient. In seinem Text erläutert Kehlmann das symbolische Gewicht der Begegnung von René Stangeler mit einer riesigen Schlange im Wald als eine Art Übergangsritus ins Erwachsensein, eine mit Ekel und Abscheu begleitete Begegnung mit der eigenen Sexualität. (2013:936f) Die Bedeutung und Funktion dieses Waldspaziergangs soll in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen und weiter untersucht werden, obgleich nicht mit der gleichen Betonung auf den Symbolismus wie bei Kehlmann.

5. Theoretischer Zugang

5.1 Raum

Wie schon oben erwähnt, ist der Grundgedanke in dieser Arbeit, dass Raum in der Literatur mehr als nur Hintergrund ist. Ausgehend von den Theorien von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann, wird hier Raum als etwas Aktives gesehen, das sowohl die fiktiven Figuren beeinflusst als auch von ihnen beeinflusst wird. Raum bleibt ein menschliches Erlebnis. (Hallet/Neumann 2009:11) Das bedeutet, dass der Raum immer von Menschen erlebt wird, auch wenn die Menschen, wie in diesem Fall, durchaus fiktiv sind. Diese Erlebnisse können sowohl von diesen fiktiven Figuren an die Leser vermitteln werden als auch durch den allwissenden, namenlosen Erzähler des Romans.

5.2 Semantisierung des Raumes und Grenzüberschreitungen

5.2.1 Räumliche Oppositionen und Werte

Für den Literaturwissenschaftler Jurij Lotman gibt es keine räumlichen Gegebenheiten in der Literatur, die nicht semantisch aufgeladen sind. Wie bereits erwähnt, meint Lotman, dass etwas nur durch dessen Gegensatz eine Bedeutung, und dadurch einen Wert, bekommen könne. Das bedeutet, dass wenn eine räumliche Gegebenheit, z.B. eine Großstadt als unfrei oder hektisch bezeichnet wird, dann ist das nur möglich, weil es schon vorher eine Definition (obwohl nicht notwendigerweise eine ausgesprochene) von dessen Gegensatz gibt, z.B. von der Natur oder dem Land, als frei, bzw. ruhig.

Bedeutung fordert also eine Opposition. Laut Lotman kann nur das, was eine Antithese besitzt relevant und also von Bedeutung sein. (Lotman 2015:395) Anders ausgedrückt: wenn wir auf der Suche nach Bedeutung in literarischen Texten sind, müssen wir zunächst immer die Opposition identifizieren und klassifizieren. Die eine Hälfte eines topographischen Paares kann nicht als besonders gut oder gerecht dargestellt werden, ohne dass die andere Hälfte dabei als böse oder ungerecht interpretiert wird.

In der Literatur ist dieses Verhältnis von besonderem Interesse, weil die Erzählliteratur, z.B. der zu analysierende Roman, oft durch Grenzüberschreitungen zwischen zwei solchen semantisierten, räumlichen Gegebenheiten definiert wird.

Matías Martínez und Michael Scheffel haben in ihrem inzwischen als Standardwerk erkannten Buch Einführung in die Erzähltheorie gezeigt, wie Lotman meinte, dass der Raum der erzählten Welt (die Lotman auch Semiosphäre nennt) sehr eng mit der erzählten Handlung verknüpft sei. (Martinez/Scheffel 2019:160)

Diese Semiosphäre zeichnet sich durch räumliche Gegensätze auf drei verschiedenen Ebenen aus. Topologisch durch Gegensatzpaare wie oben – unten oder innen – außen. Semantisch werden die topologischen Oppositionen mit Gegensatzpaaren wie gut – böse oder eigen – fremd verknüpft. Auf der dritten Ebene werden diese topologisch-semantisch aufgeladenen Oppositionen mit topographischen Gegensatzpaaren der Semiosphäre verbunden. (2015:329, 343ff) Ein Beispiel aus der vorliegenden Arbeit kann dies wie folgt erläutern: auf der topografischen Ebene kann das Gegensatzpaar aus WienBuenos Aires bestehen, auf der topologischen Ebene wird aber von ZentrumPeripherie gesprochen. Schließlich kann diese Ebene mit semantischen Werten wie UnfreiFrei ergänzt werden.

Die oben dargelegte Diskussion bedeutet, dass die zwei ersten Ebenen, die topographische bzw. die topologische, schon von Anfang an klar sind. (Wir gehen immer von Wien als Zentrum aus.) Wir sind in der vorliegenden Arbeit demnach auf der Suche nach solchen Räumen, die sich einander gegenüber als semantische Oppositionen definieren, und besondere Momente in den Geschichten des Romans identifizieren sollen, wo etwas passiert, was eine fiktive Figur aus dem einen Raum in einen anderen führt. Wir reden hier von Räumen, die besondere Ereignisse ermöglichen, die zu Grenzüberschreitungen führen.

5.2.2 Ereignis, Sujet und Geschichte

In ihrem Buch Einführung in die Erzähltheorie definieren Matías Martínez und Michael Scheffel Ereignisse als Behauptungssätze, die von Subjekt und Prädikat zusammengesetzt worden sind. Die Subjekte sind Menschen oder andere anthropomorphe Wesen oder Objekte und die Prädikate sind nicht intendierte Geschehnisse oder intendierte Handlungen der Subjekte. (Martínez/Scheffel 2019:115f)

Ein Ereignis besteht laut Martínez und Scheffel aus einer Zustandsveränderung. Das setzt voraus, dass ein Zustand oder eine Eigenschaft vorliegt, der bzw. die verändert werden kann. Deshalb muss auch dieser statische Zustand beschrieben werden. Ereignisse, die chronologisch aufeinander folgen, ergeben ein Geschehnis, während Ereignisse, die kausal aufeinander folgen, eine Geschichte ergeben. (2019:116) Im Folgenden soll der Begriff Geschichte als Synonym von der erzählten Geschichte der jeweiligen fiktiven Figuren verwendet und verstanden werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 56 Seiten

Details

Titel
Ereignisse am Rand. Funktionen und Semantik des peripheren Raums in Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre"
Hochschule
Uppsala Universitet
Note
VG
Autor
Jahr
2022
Seiten
56
Katalognummer
V1176175
ISBN (eBook)
9783346596932
ISBN (eBook)
9783346596932
ISBN (eBook)
9783346596932
ISBN (Buch)
9783346596949
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Doderer, Narratologie, Raum, Lotman, Bollnow, Strudlhofstiege, Wien
Arbeit zitieren
Johan Gunn (Autor:in), 2022, Ereignisse am Rand. Funktionen und Semantik des peripheren Raums in Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1176175

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