„[…] das Unheil kommt aus der Verflachung – zum Unheil gehört, dass es organisiert und d.h., dass die Vielen involviert sind.“ [2]

In den hoch arbeitsteiligen Krankenhäusern und anderen verwaltungstechnisch komplexen Einrichtungen des Gesundheitswesens entstehen oft hartnäckige Probleme aus Miseren, deren moralische Aspekte die anwendungsorientierte Ethik vor Herausforderungen stellen. Die auf innere Werte der Arzt-Patient-Interaktion fixierte ärztliche Standesethik allein kann diese nicht behandeln [12]. Gerade unter den Krisenbedingungen der letzten Jahre und Jahrzehnte erlangte dahingehend das diagnostische Potenzial der Geisteswissenschaften vermehrtes Interesse [4]. Eine Ikone der Geistesgeschichte, die sich zeitlebens mit dem Übel beschäftigt hat, ist die Philosophin und politische Theoretikerin Hannah Arendt. Die Kraft ihrer Texte liegt darin, dass Arendts Denken an konkrete Geschehnisse gebunden ist wie der Kreis an einen Mittelpunkt [24]. Ihr Ideal bestand im beherzten Denken ohne Geländer und ohne Vorurteile, d. h., uns mit der Welt, in der wir leben, aktiv auseinanderzusetzen [17]. Gerade in Krisenbedingungen kann Arendts politisch phänomenologisches Denken als vorbildhaft gelten, weil es grundlegende Problemkonstellationen der Moderne benennt und anhand aktueller Phänomene diskutiert [4]. Sie inspiriert uns heute noch, da ihre hochintellektuellen Texte radikal Traditionen und Ideologien in Frage stellen [5]. Was haben nun ihre Gedanken mit aktuellen Missständen in Krankenanstalten zu tun? Dies lässt sich durch die Beantwortung folgender Fragen explizieren:

Inwiefern lassen sich die Arendtschen Begriffe auf den Missstand der Verantwortungsdiffusion, für den ein Beispiel geschildert wird, übertragen? Inwieweit lassen sich in weiterer Folge charakteristische Residuen der Banalität des Bösen, respektive Unheils, in institutionellen Missständen gegenwärtiger (Krankenhaus‑)Organisationsstrukturen wiederfinden? Welchen Stellenwert nehmen hierbei die Arendtschen Feststellungen ein?

Ziel dieser Arbeit ist es, eine bis jetzt noch wenig bzw. noch gar nicht beachtete Sichtweise in den medizinethischen Diskurs einzubringen.

Exkurs: Arendts Formulierung der „Banalität des Bösen“, zentrale Begriffe und die Pilzmetapher

Der Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Jerusalem, dem Arendt 1961 beiwohnte, war kausal für ihr Nachdenken über die Natur des Bösen [1].

Ihr Beitrag erschien als Buch mit dem Untertitel Ein Bericht von der Banalität des Bösen [1, 5]. Bezogen auf den Angeklagten überraschte sie dabei, keinem Verbrecher von teuflisch-dämonischer Tiefe zu begegnen, sondern einem überhaupt nicht kriminell erscheinenden NS-Funktionär, gekennzeichnet durch Mittelmäßigkeit, Realitätsferne und Gedankenlosigkeit [1]. Das eigentlich Beunruhigende bestand in der Normalität des Massenmörders und Schreibtischtäters, in der gewissenhaften Gewissenlosigkeit, mit der er unreflektiert, gedankenlos, alltäglich all seine Aufträge ausführte [15]. Vor dem Hintergrund einer riesigen Staatsbürokratie vollzogen sich die Verbrechen des sogenannten Verwaltungsmassenmordes innerhalb einer legalen Ordnung [1]. Damit hatte die Denkerin den Begriff der Banalität des Bösen implementiert: Das Böse ist in seiner Natur nicht teuflisch, sondern sogar komisch banal [1]. Die Brutalität des banal Bösen bestehe in seinen organisierten Gedanken – und Verantwortungslosigkeit und unbedingter Gehorsam sei ein Ausdruck dieser Geisteshaltung [5].

Gemäß Arendt sind wir durch die moderne Psychologie und Soziologie und nicht zuletzt durch die moderne Bürokratie weitgehend daran gewöhnt, die Verantwortung des Täters für seine Tat im Sinne des einen oder anderen Determinismus hinweg zu eskamotieren [1]. Damit wird die Frage der persönlichen Verantwortung auf unpersönliche Instanzen abgeschoben [5]. Gekennzeichnet durch massive Gleichgültigkeit und moralische Unmündigkeit betrieb der Angeklagte ein Outsourcing von Moral und Verantwortung [13]. In einem Interview, durchgeführt von Newmark, erklärt Neimann, dass die radikale Wendung für Arendt darin bestand, das Böse als banal kleinteilig, als Resultat vieler einzelner, nicht einmal boshafter Handlungen zu sehen [18]. Das Böse ist, gemäß einer Arendt-Rezeption Heuers, wenig dämonisch. Es ist alltäglich, Merkmale sind Gedankenlosigkeit und das völlige Versagen des Mitleids [10]. Übel kann von Menschen ohne böse Absichten verbreitet werden, es bedarf lediglich der relativ unreflektierten Mitarbeit von vielen vergleichsweise normalen Menschen, von Mitläufern [19].

Das Böse ist auch nicht tief, wie Arendt mit der Metapher eines Oberflächenpilzes darstellt, sondern ein wucherndes Oberflächenphänomen, banal, hochgradig gefährlich, zählebig und destruktiv [3, 15, 18].

Individuen wie Eichmann agierten auf der Basis des ideologischen Regimes. Ihr Verhalten kann, wie weiter oben beschrieben, mit folgenden Adjektiven zusammenfassend dargestellt werden: Unreflektiert, gedankenlos, rechts- und regelkonform, bürokratisch, normal, kleinteilig-akribisch, mitleidlos, indifferent, gewissenhaft, dienstbeflissen, banal-alltäglich, auslagernd (auf die Verantwortung bezogen). Der Mitläufer ist das kleine Rädchen im Getriebe. Konsequenterweise stellt sich die berechtigte Frage, inwiefern uns die Arendtsche Formel tatsächlich hilft, um das Übel der Gegenwart zu dechiffrieren [15].

Die Formulierungen Arendts transponiert in die Gegenwart

Arendts Erkenntnisse sind deshalb so aktuell, weil es dabei letztlich um gewisse Verhaltensweisen geht, die keineswegs auf NS-Deutschland beschränkt sind [13]. Gemäß einer Interpretation Lieders versteht der Menschenrechtsaktivist Neudeck H. Arendt so: In der Moderne geht das Böse mit Ordnungssinn und technokratischer Besessenheit einher. Der Pilz des Bösen findet unter dem Deckmantel der aufgeklärten Rechtsstaatlichkeit ebenfalls einen geeigneten Nährboden [15]. Im selben Beitrag Lieders interpretiert sie die Aussage des Philosophen Jay R. Bernstein zum psychologisch experimentell bestätigten Problem, dass wir, unsere moralische Widerstandskraft betreffend, viel stärker vom jeweiligen sozialen Kontext beeinflusst sind als von humanistischen Idealen, zu denen wir uns bekennen [15]. Für den Ökonomen Tomáš Sedláček steckt hinter dem Unheil moderner, liberaler Gesellschaften eine Perfektions- und Steigerungslogik, nämlich die Idee von noch besser, was auch auf den Gesundheitssektor zutrifft: In der Verbindung von Institutionalisierung und Optimierung hat sich die moralische Verantwortung vom Individuum in die Institutionen verlagert. In maximal effizienten Institutionen werde es zunehmend unklar, wer für etwaige Missstände verantwortlich ist [15, 21].

Verantwortung wird, im Sinne des Outsourcing, eben ausgelagert und abgeschoben [13]. Eben genauso strebt modernes Krankenhausmanagement im Rahmen des Diktats der Ökonomisierung maximale Effizienz an.

Den Ausführungen Sedláčeks folgend, wird nun ein häufig bestehendes Klinikphänomen thematisiert und argumentativ durch folgenden Modus Ponens, eine Schlussform der formalen Logik, gestützt:

P1: Wenn ein Autor A den in diesem Kapitel getätigten Aussagen zustimmt, dann lassen sie sich von A auf das Krankenhaussystem anwenden.

P2: A stimmt den in diesem Kapitel getätigten Aussagen zu.

K: Sie lassen sich von A auf das Krankenhaussystem anwenden.

Das Krankenhaussystem, institutionelle Missstände und das Phänomen der Verantwortungsdiffusion

Das Krankenhaussystem (KSy): Die Übernahme ökonomischer Leitgedanken führt zunehmend zu einer Versachlichung und Verrechtlichung der Medizin [16]. Maio spricht von einer Degradierung des Ärztlichen: Das Handeln richtet sich nach Vorgaben, fast nach Gebrauchsanweisungen, was eigentlich nichts professionell Ärztliches mehr an sich hat [9, 16].

Ärztinnen und Ärzte sind heute eher Getriebene als selbst Akteure in einem sich durch Überregulierung und Durchnormierung verändernden Gesundheitssystem [8]. Die verpflichtende Dokumentation(-swut) ist allgegenwärtig [16]. Sie ist eine Konsequenz der Verrechtlichung. Bestehende Ressourcenknappheit wird gegenwärtig allgemein medial thematisiert.

Institutionelle Pathologien (Missstände): Kettner folgend, lassen sich einige Krankenhaus-Miseren im Rahmen einer Theorie institutioneller Pathologien als störende Auswirkungen der Aktivitäten und Strukturen von Organisationen des Politiksystems (Gesundheitspolitik) und des Wirtschaftssystems (Gesundheitswirtschaft) erklären [12]. Einige dieser moralisch problembesetzen Miseren sind z. B.: Fehlversorgung, Verdinglichung von Personen, das Verleugnen von Missständen, Überverrechtlichung, Überbürokratisierung u. v. m. [12].

Dem Prinzip Verantwortung als ethische Dimension kommt jedoch in der Patient-Arzt-Beziehung, ebenso wie in den allgemeinen sozialen Bezügen des Arztberufes eine Schlüsselfunktion zu [6, 14]. Diesem fundamentalen Prinzip ist das Phänomen der Verantwortungsdiffusion zuwiderlaufend.

Die Verantwortungsdiffusion (VD): Dieses sozialpsychologische Phänomen ist ebenfalls ein Missstand im Kliniksystem. Teammitglieder sehen eine spezifische Aufgabe und die Notwendigkeit, sie zu erfüllen. Sie selbst fühlen sich aber nicht zuständig. Letztendlich tut niemand etwas [22, 23].

Zur Verdeutlichung ein konstruiertes Beispiel aus der klinischen Routine:

Ein 83-jähriger Patient wird nach einem Sturz mit folgenden Diagnosen auf einer unfallchirurgischen Station aufgenommen: Serienrippenbrüche, koronare Herzkrankheit, Herzschwäche, beginnende Niereninsuffizienz und Demenz. Er ist in reduziertem Allgemeinzustand und kann sich schwer mitteilen. Im Verlauf kommt es zu einer Lungenentzündung. Er wird täglich von einem anderen Arzt oder einer anderen Ärztin visitiert und medikamentös therapiert. Das klinische Zustandsbild, die Sauerstoffsättigung im Blut und die Laborparameter verschlechtern sich. Hinzugezogene Konsiliarfachärztinnen und -ärzte ordnen diverse Untersuchungen an, das medikamentöse Therapieregime wird lege artis optimiert, Sauerstoff verabreicht und es werden täglich Lungenröntgenkontrollen durchgeführt. Alle angeordneten Maßnahmen werden akribisch gemäß der gesetzlichen Dokumentationspflicht in der digitalen Patientenakte vermerkt. Eine visitierende Ärztin entscheidet, dass eventuell eine Übernahme auf eine chirurgisch-traumatologische Intensivstation erforderlich ist. Sie ruft den Fachkollegen an, dieser teilt ihr mit, dass es derzeit keine freien Intensivbetten gibt und der Patient sowieso nicht beatmungspflichtig ist, aber er wird für eines der nächsten freiwerdenden Betten gereiht. Er rät, man solle besser zuständigkeitshalber die Übernahme auf eine internistische Intensivstation erwägen, da eine Lungenentzündung und eine Herzschwäche beschwerdeführend sind. Aus Zuständigkeits- und Kapazitätsgründen wird dort die Übernahme abgelehnt, mit der Begründung, die Lungenentzündung und das Herz könne man auch anderswo gut behandeln. Laut dem Internisten stehen die Rippenbrüche im Vordergrund, der Patient sei auf einer traumatologisch-chirurgischen Überwachungsstation (hier liegen schwerkranke Patientinnen und Patienten, die jedoch nicht beatmungspflichtig sind) besser aufgehoben. Die Ärztin telefoniert und bemüht sich weiter um ein Intensivbett. Danach geht sie außer Dienst und übergibt den Fall dem nachfolgenden Kollegen. In der Nacht laufen viele Operationen, die diensthabende Schwester informiert den Arzt, dass es besagtem Patienten nicht gut geht.

Dieser sagt, dass er es von der Kollegin wisse, die Therapie sei optimiert, alles dokumentiert und man plane sowieso die Übernahme auf eine Intensivstation. In den Morgenstunden verstirbt der Patient.

In diesem Beispiel verhalten sich Akteure „normal“ auf der Basis des Ressourcenproblems vorschrifts- und pflichtgemäß, rechtskonform, gewissenhaft bürokratisch, dokumentierend.

Es wird klar, was Hoffrage in der Veröffentlichung Kerbls expliziert: Für Hoffrage bedeutet VD, dass man sich zurückzieht oder das Patientenkarussell bedient, d. h. man reicht weiter. Man fühlt sich nicht verantwortlich, weil ja der andere verantwortlich sein könnte; das ist ein bekanntes sozialpsychologisches Phänomen [11].

Es liegt zum Teil in der menschlichen Natur zu versuchen, sich in einem komplexen System davonzustehlen [11]. Ein harmloseres Beispiel für VD ist z. B. die Durchführung zahlreicher, wenig aufschlussreicher Untersuchungen zur Diagnoseerstellung, gefordert von der rechtlich-leitlinienkonformen Absicherungsmedizin: Befunder X legt sich nicht fest, dies möge Y tun, Y verweist auf Z, letzterer gibt zu bedenken, dass … usw. Das heißt, man reicht pflichterfüllend weiter. Aus der Notfallmedizin kennt man ebenfalls das Problem unklarer Zuständigkeiten, nicht optimaler Abläufe und nicht krankheitsgerechter Zuordnung [7].

Auf der Basis des Geschilderten wird nun untersucht, ob sich Residuen der Behauptungen Arendts im Phänomen der VD und in Krankenhaus-Organisationsstrukturen wiederfinden lassen.

Das Phänomen der Verantwortungsdiffusion und institutionelle Missstände

Inwiefern lassen sich nun die Arendtschen Begriffe und Feststellungen (ABF) auf den Missstand der VD übertragen? Inwieweit lassen sich charakteristische Residuen der ABF betreffend die Banalität des Bösen, respektive das Unheil in gegenwärtigen Krankenhaus-Organisationsstrukturen, in welchen VD vorliegt, wiederfinden?

Dazu wird sowohl die Ebene der Systeme als auch die handelnden Individuen bezüglich ihrer Verhaltensweisen analysiert.

Der grundlegende Unterschied auf der Ebene der Systeme: Systemisch finden die ABF und die VD inklusive ähnlicher Miseren auf völlig unterschiedlichen moralisch-zeitlichen Ebenen statt. Die ABF entstanden im Rahmen des Eichmann-Prozesses, zugrundeliegend war die NS-Terrordiktatur. Dieser soziale Kontext beeinflusst die Denk- und Handlungsweise des Angeklagten und der Mitläufer. Dementsprechend sind verständlicherweise die ABF hochgradig politisch aufgeladen, was damals auch massive Ablehnung derselben zur Folge hatte (vgl. Newmark 2016, 104). Systemisch völlig unterschiedlich dazu und nicht vergleichbar, existieren die nicht politisch aufgeladene VD und diverse Missstände in Organisationsstrukturen der Krankenhäuser. Letztere bekennen sich zu einer Organisationsethik. Ethikkomitees als Beispiel sind routinemäßig etabliert [12].

Systemisch-konstitutiv für Krankenhäuser ist die industrialisierte Medizin [20]. Patientenflüsse werden normiert, es werden sehr enge Zeittakte für ärztliche Handlungen vorgegeben. Diagnostik und Therapie werden standardisiert, was mit missverstandenen Leitlinien oder „evidence-based medicine“ begründet wird [20]. Dementsprechend finden sich Ökonomisierung, Effizienzdiktat, Verrechtlichung, Versachlichung, Verdinglichung von Personen, Überregulierung, Durchnormierung, Überbürokratisierung u. v. m. [8, 9, 16]. Der geschilderte Überbau, der ein völlig anderer ist als jener, unter welchem Arendt ihre Gedanken kreierte, verbietet aber nicht, Miseren im Krankenhaus als für sich alleinstehende Phänomene betrachten zu können.

Dem folgend, lassen sich – als Antwort auf die Eingangsfrage – einige der oben dargestellten Kriterien und Verhaltensweisen, wie z. B. technokratische Besessenheit, Ordnungssinn, Steigerungslogik, Optimierung, maximale Effizienz und Verantwortungsauslagerung [13, 15, 21] als Residuen der ABF in Krankenhausorganisationsstrukturen wiederfinden. Diese Kriterien bilden den Hintergrund für die Kettnerschen, moralisch problembesetzen Miseren [12].

Die handelnden Individuen innerhalb des Systems: Diese agieren innerhalb eines funktionalen Krankenhaussystems, welches auch die beschriebenen Kettnerschen Miseren beinhaltet [12].

Das Fallbeispiel verdeutlicht die VD, sie ist in unterschiedlichsten Ausprägungen und Abstufungen häufig [11] und findet auf der Basis von Ökonomisierung, Verrechtlichung, Versachlichung etc. statt [8, 9, 16]. Das ärztliche Personal, das sich zum ärztlichen Berufsethos bekennt, verhält sich dabei in der klinischen Routine banal normal, alltäglich, völlig rechtskonform, akribisch dokumentierend, bürokratisch, gewissenhaft und vorschriftsmäßig innerhalb des Korsetts der Ressourcenknappheit (Zeitmangel, Arbeitsverdichtung, reduzierte Bettenkapazität). Genau diese individuellen Verhaltensweisen findet man in den ABF. Dabei erfolgen das Abschieben und Auslagern von Verantwortung (Outsourcing) subtil, häufig unbewusst, ohne jegliche böse Absichten. Es wird vom handelnden Individuum gar nicht wahrgenommen bzw. thematisiert, die Folgen sind jedoch mitunter übel. VD ist ein häufig verbreiteter blinder Fleck in der klinischen Routine. Sedláček beruft sich gemäß der Interpretation Lieders genau auf die Ausführungen Arendts dahingehend, dass eben das Problem entsteht, wenn die Frage nach der moralischen Verantwortung in den Nahtstellen der Institutionen versickert [15]. Qualitätsmanagement auf der Führungsebene steuert dagegen. Bezugnehmend auf die Eingangsfrage erkennen wir somit deutlich, dass sich die ABF inklusive der Pilzmetapher auf dargestellte Gegebenheiten und menschliche Verhaltensweisen übertragen lassen. Daher wird hier, als Modifikation der Arendtschen Banalität des Bösen, der Begriff der Banalität eines Missstandes für die VD und für ähnliche Miseren eingeführt. Böse erscheint hierbei aufgrund der geschilderten Kontextunterschiede als nicht zutreffend. Ein banaler Missstand ist z. B. der Gewöhnungseffekt betreffend Ressourcenknappheit, im Rahmen derer Individuen handeln: Auf die Knappheit wird seit Jahren medial hingewiesen, politisch wird dieses Thema mehr oder weniger erfolgreich immer wieder zum Verschwinden gebracht. Dieses Phänomen ist gemäß der ABF verflachtes Unheil, wie es das einleitende Zitat veranschaulicht.

Die Systeme sind also aufgrund ideologischer Unterschiede unvergleichlich, im KSy gibt es Systemeigenschaften und Missstände. VD und ähnliche kontextnahe Miseren wurden aus der Arendtschen Perspektive beleuchtet. Was sich zusammenfassend an charakteristischen Residuen der ursprünglichen Banalität des Bösen, respektive Unheils im Sinne der ABF deutlich wiederfinden lässt, zeigt sich am Beispiel der VD in den geschilderten individuellen Verhaltensweisen, wie eben z. B. nicht absichtlich böses Handeln, streng rechtskonformes Verhalten, bürokratische Perfektion (banal alltäglich, unreflektiert, indifferent, unempathisch) und Outsourcing von Verantwortung hin zum System oder zu anderen Akteuren.

Generell relevant erscheint die Diskussion bezüglich einer prinzipiellen Übertragbarkeit der ABF. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten:

Erste Möglichkeit: Man betrachtet die ABF als völlig eigenständige Entität, als Konsequenz der Beobachtungen Arendts im Eichmann-Prozess. Dann kann man die Banalität des Bösen nur diesem Ereignis allein zuschreiben und keinen Transfer der ABF vollziehen.

Zweite Möglichkeit: Man vollzieht, wie in dieser Arbeit, einen Transfer der ABF in die Gegenwart und weiter ins KSy, was durch den Modus Ponens begründet wird. In dieser Kontexterweiterung zeigt sich, dass sich systemisch gewisse Residuen der ABF in Organisationsstrukturen und in Form menschlicher Verhaltensweisen wiederfinden lassen. Dadurch ergibt sich jedoch auf die letztere bezogen folgender Einwand: Wenn sich nur Verhaltensweisen transferieren lassen, kann man postulieren, dass es eben nur Verhaltensweisen sind. Sie sind konstitutiv menschlich, d. h. es gab sie wahrscheinlich schon immer. Wenn es sie schon immer gab, dann sind die ABF eine reine Beschreibung dessen, was ohnehin immer schon da war, nur unter einer plakativen Terminologie. Zudem ist es dann naheliegend, die ABF in Anwendung auf Verhaltensweisen inflationär zu verwenden.

Kritisch anzumerken ist, dass die Darstellung keine Lösungsvorschläge beinhaltet. Sich an Vorschriften zu halten und ökonomisch zu handeln, impliziert nicht automatisch unheilvolle Folgen. Dieses zu behaupten, ist irrational. Bezüglich Kausalität wird nicht explizit analysiert, inwieweit das KSy und seine Miseren kausal für individuelle Handlungen ist. Ohne psychologisch ausbuchstabierte Kausalitätsanalysen wird hier beschrieben, dass sich auf der Basis eines partiell problembehafteten Systems unheilvolle Verhaltensweisen finden lassen.

Fazit

Hannah Arendt prägte aufgrund ihrer Beobachtungen im Rahmen des Eichmann-Prozesses die These von der Banalität des Bösen und damit zusammenhängende Begriffe und Feststellungen, die das Übel betreffen [1]. Das Böse ist nicht dämonisch und tief, sondern verflacht, banal normal [1]. Als Oberflächenphänomen ist es wie ein wuchernder Pilz, zählebig, hochgradig gefährlich und kann die ganze Welt verwüsten [3]. Ihre Erkenntnisse sind hochaktuell, weil es dabei um gewisse Verhaltensweisen geht, die nicht auf die NS-Diktatur beschränkt sind, sondern mit welchen sich auch das Übel der Gegenwart entziffern lässt. In dieser Arbeit wurde den Fragen nachgegangen, inwieweit sich die Arendtschen Begriffe und Feststellungen (ABF) residual in Missständen gegenwärtiger Krankenhaus-Organisationsstrukturen sowie im Beispiel der Verantwortungsdiffusion wiederfinden lassen.

Im Ergebnis zeigt sich Folgendes: Systemisch wird die Zeitebene der ABF bezogen auf den Eichmann-Prozess und jene der gegenwärtigen Krankenhaus-Organisationsstrukturen unterschieden. Die beiden sind völlig different und somit nicht miteinander vergleichbar. Im Sinne des kritischen Arendtschen Denkens ohne Geländer [17] können jedoch herausgelöst systemische Miseren im Krankenhaus im Rahmen institutioneller Missstände als für sich alleinstehende Phänomene betrachtet werden. Dabei lassen sich einige Kriterien der ABF in Krankenhausorganisationsstrukturen wiederfinden. Auf die ärztliche Verhaltensebene, illustriert am Beispiel der VD, können wir ebenfalls deutlich einige ABF übertragen. Da sich sowohl systemisch als auch im Verhalten der Akteure zentrale Elemente der ABF wiederfinden lassen, ergibt sich daraus in Anlehnung an Arendt die Feststellung der Banalität eines Missstandes. Pro futuro dienen die Ausführungen dazu, ein medizinethisch relevantes Problem zu benennen, es zu konturieren und prinzipiell bewusster zu machen, um langfristig besser gegensteuern zu können. Weiterführend lassen sich damit auch gegenwärtige gesamtgesellschaftliche Phänomene durchleuchten – alle jene, wo das Unheil aus der Verflachung kommt, es organisiert wird und die Vielen involviert sind [2].