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Integrationsgrad vorangestellter Adverbialsätze im Neuhochdeutschen (1650–2000)

von Péter Kappel (Autor:in)
©2021 Dissertation 380 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch untersucht die Integration der vorangestellten Adverbialsätze im Neuhochdeutschen anhand eines Korpus, das die Nähe-Distanz-Dimension systematisch berücksichtigt. Die Analyse liefert Ergebnisse zum – in der Forschung bislang weitgehend vernachlässigten – Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit: Im Hinblick auf die Anbindung vorangestellter Adverbialsätze bestehen relevante Unterschiede zwischen konzeptionell mündlichen und konzeptionell schriftlichen Texten. Es wird zudem aufgezeigt, dass die integrative Stellung im Korpus in der Gesamtschau nicht den frequentesten Stellungstyp darstellt. Eine zentrale Bedeutung kommt dem Parameter der Inhaltsrelation bei der Frage nach der historischen Entwicklung der Verteilung der einzelnen Varianten zu.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Gegenstandsbestimmung und Forschungskontext
  • 1.2 Zielstellung
  • 1.3 Zum Aufbau
  • 2 Forschungsstand
  • 2.1 Integration vorangestellter Adverbialsätze in der Gegenwartssprache
  • 2.1.1 Zur syntaktischen Variation im Allgemeinen
  • 2.1.2 Ebenenbezug: propositionale, Sprechakt- und epistemische Ebene
  • 2.1.3 Bedingungen für die Wahl bzw. die Bevorzugung einer Variante
  • 2.1.4 Integration im Spannungsfeld von Mündlichkeit/Schriftlichkeit
  • 2.2 Zur Erforschung der historischen Entwicklung von Adverbialsätzen
  • 2.2.1 Zur formalen Markierung von Nebensätzen in der Sprachgeschichte
  • 2.2.1.1 Wortstellung im Nebensatz
  • 2.2.1.2 Konnektoren
  • 2.2.2 Zur topologischen Integration von Adverbialsätzen bis zum Gegenwartsdeutschen
  • 2.2.2.1 Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch
  • 2.2.2.2 Frühneuhochdeutsch und frühes Neuhochdeutsch
  • 2.2.3 Erklärungsansätze
  • 2.2.3.1 Grammatikalisierung
  • 2.2.3.2 Rekategorisierung bzw. Reanalyse
  • 2.2.3.3 Soziopragmatische Erklärungen
  • 2.3 Zur Notwendigkeit eines Neuansatzes
  • 2.4 Hypothesen
  • 3 Theoretische Grundlegung
  • 3.1 Terminologische Überlegungen
  • 3.1.1 ‚Satz‘, ‚Nebensatz‘
  • 3.1.2 ‚Adverbial‘, ‚Adverbialsatz‘
  • 3.1.3 Stellungstypen
  • 3.1.4 ‚Korrelate‘, ‚Resumptiva‘
  • 3.2 Zur Erfassung der Linearstruktur des komplexen Satzes
  • 3.2.1 Das Vorfeld und das linke Außenfeld
  • 3.2.2 Vorangestellte Nebensätze im Rahmen des Stellungsfeldermodells
  • 3.2.3 Das Stellungsfeldermodell in historischen Untersuchungen
  • 3.3 Junktion, Integration, Subordination
  • 3.3.1 Subordination im Rahmen der Junktionstheorie
  • 3.3.2 Ebenen der Integration
  • 3.4 Semantische Typen von Adverbialsätzen
  • 3.4.1 Klassifizierungen von Adverbialsätzen
  • 3.4.2 Temporalsätze
  • 3.4.3 Konditionalsätze und Irrelevanzkonditionale
  • 3.4.4 Kausalsätze
  • 3.4.5 Weitere Typen von Adverbialsätzen im engeren Sinne
  • 3.4.5.1 Final- und Konsekutivsätze
  • 3.4.5.2 Adversative Adverbialsätze
  • 3.4.5.3 Konzessivsätze
  • 3.4.5.4 Spezifizierende Adverbialsätze (Explikativ- und Restriktivsätze)
  • 3.4.5.5 Vergleichssätze (Komparativ- und Proportionalsätze)
  • 3.4.5.6 Lokalsätze
  • 3.4.5.7 Mischtypen
  • 3.4.6 Periphere bzw. pragmatische Adverbialsätze
  • 3.5 Mündlichkeit/Schriftlichkeit bzw. Nähe/Distanz
  • 3.5.1 Grundlagen und Operationalisierung
  • 3.5.2 Mündlichkeit/Schriftlichkeit aus sprachgeschichtlicher Sicht
  • 4 Zur Methode
  • 4.1 Grundlagen der Korpusanalyse
  • 4.2 Methodologische Überlegungen
  • 5 Empirischer Teil
  • 5.1 Temporalsätze
  • 5.1.1 Temporalsätze in den Korpustexten aus dem 17. Jh.
  • 5.1.2 Temporalsätze in den Korpustexten aus dem 18. Jh.
  • 5.1.3 Temporalsätze in den Korpustexten aus dem 19. Jh.
  • 5.1.4 Temporalsätze in den Korpustexten aus dem 20. Jh.
  • 5.1.5 Zusammenfassung
  • 5.2 Konditionalsätze
  • 5.2.1 Konditionalsätze in den Korpustexten aus dem 17. Jh.
  • 5.2.2 Konditionalsätze in den Korpustexten aus dem 18. Jh.
  • 5.2.3 Konditionalsätze in den Korpustexten aus dem 19. Jh.
  • 5.2.4 Konditionalsätze in den Korpustexten aus dem 20. Jh.
  • 5.2.5 Zusammenfassung
  • 5.3 Kausalsätze
  • 5.3.1 Kausalsätze in den Korpustexten aus dem 17. Jh.
  • 5.3.2 Kausalsätze in den Korpustexten aus dem 18. Jh.
  • 5.3.3 Kausalsätze in den Korpustexten aus dem 19. Jh.
  • 5.3.4 Kausalsätze in den Korpustexten aus dem 20. Jh.
  • 5.3.5 Zusammenfassung
  • 5.4 Weitere Typen von Adverbialsätzen im engeren Sinne
  • 5.4.1 Finalsätze
  • 5.4.2 Konsekutivsätze
  • 5.4.3 Adversative Adverbialsätze
  • 5.4.4 Konzessivsätze
  • 5.4.5 Irrelevanzkonditionale
  • 5.4.6 Spezifizierende Adverbialsätze (Explikativ- und Restriktivsätze)
  • 5.4.7 Komparativsätze
  • 5.4.8 Proportionalsätze
  • 5.4.9 Temporal-kausale Adverbialsätze
  • 5.4.10 Lokalsätze (inkl. lokal-konditional)
  • 5.5 Pragmatische Adverbialsätze
  • 5.5.1 Moduskommentierende Adverbialsätze
  • 5.5.2 Modusmodifizierende Adverbialsätze
  • 5.5.3 Diktums- bzw. einstellungskommentierende Adverbialsätze
  • 5.5.4 Formulierungskommentierende Adverbialsätze
  • 5.5.5 Diskursstrukturierende Adverbialsätze
  • 5.5.6 Thematisierende Adverbialsätze
  • 5.5.7 Zusammenfassung
  • 5.6 Diskussion der Ergebnisse
  • 5.6.1 Historische Aspekte
  • 5.6.2 Nähe-Distanz-Unterschiede
  • 6 Zusammenfassung und Ausblick
  • 7 Anhang
  • 7.1 Belegliste
  • Temporalsätze (Kapitel 5.1)
  • Konditionalsätze (Kapitel 5.2)
  • Eingeleitete Konditionalsätze
  • Uneingeleitete Konditionalsätze
  • Kausalsätze (Kapitel 5.3)
  • Weitere Typen von Adverbialsätzen im engeren Sinne (Kapitel 5.4)
  • Finalsätze (Kapitel 5.4.1)
  • Konsekutivsätze (Kapitel 5.4.2)
  • Adversative Adverbialsätze (Kapitel 5.4.3)
  • Konzessivsätze (Kapitel 5.4.4)
  • Irrelevanzkonditionale (Kapitel 5.4.5)
  • Spezifizierende Adverbialsätze (Explikativ- und Restriktivsätze) (Kapitel 5.4.6)
  • Komparativsätze (Kapitel 5.4.7)
  • Proportionalsätze (Kapitel 5.4.8)
  • Temporal-kausale Adverbialsätze (Kapitel 5.4.9)
  • Lokalsätze (inkl. lokal-konditional) (Kapitel 5.4.10)
  • Pragmatische Adverbialsätze (Kapitel 5.5)
  • Moduskommentierende Adverbialsätze (Kapitel 5.5.1)
  • Modusmodifizierende Adverbialsätze (Kapitel 5.5.2)
  • Diktums- bzw. einstellungskommentierende Adverbialsätze (Kapitel 5.5.3)
  • Formulierungskommentierende Adverbialsätze (Kapitel 5.5.4)
  • Diskursstrukturierende Adverbialsätze (Kapitel 5.5.5)
  • Thematisierende Adverbialsätze (Kapitel 5.5.6)
  • 7.2 Diagramme
  • 8 Literaturverzeichnis
  • 8.1 Primärliteratur
  • 8.2 Sekundärliteratur
  • Reihenübersicht

←12 | 13→

1 Einleitung

Abstract:According to König and van der Auwera (1988: 127), preposed adverbial clauses have undergone a diachronic process of integration. This study focuses on investigating whether this hypothesis can be supported by a corpus of New High German that systematically takes into account the differences between the ‘language of immediacy’ and the ‘language of distance’. In the introduction the topic is briefly outlined and embedded in a larger research context.

Keywords:historical syntax, language variation, word order patterns

Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Integration vorangestellter Adverbialsätze im Neuhochdeutschen anhand eines selbst zusammengestellten Korpus zu untersuchen und dadurch eine Forschungslücke der historischen Syntax zu schließen. Die zentrale Fragestellung der Arbeit ist, inwiefern die von König/van der Auwera (1988: 107 f.) formulierte Hypothese zu einer zunehmenden Integration von vorangestellten Adverbialsätzen durch ein Korpus des Neuhochdeutschen untermauert werden kann. Der Integrationsprozess wird in der einschlägigen Literatur nicht nur rein grammatisch (vgl. König/van der Auwera 1988, Axel 2002, Axel-Tober 2012), sondern auch unter Heranziehung weiterer (u.a. pragmatischer bzw. stilistischer) Faktoren erklärt (vgl. Lötscher 2005, 2010). Ich werde für die Notwendigkeit einer systematischen Untersuchung des Integrationsgrades vorangestellter Adverbialsätze aus dem Zeitraum 1650–2000 argumentieren, die alle Adverbialsatztypen und auch außersprachliche Faktoren berücksichtigt. In der hier vorgelegten, soziopragmatisch ausgerichteten Untersuchung werden die Faktoren Zeit (die vier Jahrhunderte vom 17. bis zum 20. Jh.) und Dimension der konzeptionellen Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit (Ágel/Hennig 2006a) in den Mittelpunkt gestellt. Zudem werden Unterschiede im Stellungsverhalten verschiedener semantischer Adverbialsatztypen eingehend analysiert.

1.1 Gegenstandsbestimmung und Forschungskontext

Zur Präzisierung der Gegenstandsbestimmung sollen zunächst einige begriffliche Vorerklärungen angeführt werden. Eine detailliertere Erläuterung der Begriffe ist im Kapitel 3 zu finden. Der Gegenstand der Untersuchung ist der Grad der Integration vorangestellter Adverbialsätze in den nachfolgenden ←13 | 14→Hauptsatz. Adverbialsätze können mit dem übergeordneten Satz unterschiedlich verknüpft werden. Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf die topologische Integration gelegt, die mit einer dreistufigen Skala zwischen Integration und Desintegration erfasst werden kann.

Bezüglich der vorangestellten Adverbialsätze im Deutschen werden von König/van der Auwera (1988: 102 f., 107) drei Stellungstypen unterschieden und durch folgende Beispielsätze illustriert:

(1) Weil er krank ist, kann Fritz nicht mitkommen.

Dieser Satz veranschaulicht die am stärksten integrierte Form, sie wird als ‚integrativ‘ bezeichnet. Der vorangestellte Nebensatz steht direkt vor dem Hauptsatzfinitum, er ist in die Satzstruktur (ins Vorfeld, s. Kapitel 3.2.2) des übergeordneten Satzes integriert.

(2) Wenn er krank ist, dann bleibt er zu Hause.

Beim zweiten Typ, der als ‚resumptiv‘ bezeichnet wird, ist die Integration des Nebensatzes im Hauptsatz grammatisch nicht so offensichtlich markiert wie im vorigen Fall. Der vorangestellte Nebensatz wird durch ein Korrelat (dann) wieder aufgenommen, erst danach folgt das Hauptsatzfinitum. Da bei diesem Typ keine topologische Einbettung vorliegt, ist er schwächer integriert als der erste, der integrative, Typ. Das Korrelat stellt aber eine Entsprechung des Adverbialsatzes im Hauptsatz dar und bildet mit ihm eine semantische Einheit, daher ist dieser Typ stärker integriert als der dritte, nicht-integrative, Typ.

(3) Selbst wenn sie nicht alle gekommen sind, wir können mit dem Besuch zufrieden sein.

Nach dem vorangestellten Nebensatz steht hier kein Korrelat, sondern ein anderes, selbstständiges Stellungsglied (das pronominale Subjekt wir), erst diesem folgt das Hauptsatzfinitum. Der vorangestellte Nebensatz ist zwar formal durch die Nebensatzgestalt integriert (s. dazu Kapitel 3.3.2), eine topologische Integration liegt jedoch nicht vor. Die Wortstellung des Nachsatzes wird vom vorangestellten Nebensatz nicht beeinflusst. In Anlehnung an Faucher (2000: 6) könnte man auch so formulieren, dass die Verb-Zweit-Regel den vorangestellten Nebensatz ausgrenzt. Dieser Typ ist am schwächsten integriert, er wird ‚nicht-integrativ‘ genannt. Die Unterscheidung der obigen Stellungstypen hat sich sowohl in der gegenwartsbezogenen als auch in der sprachhistorischen Forschungsliteratur eingebürgert (vgl. Kapitel 3.1.3), und wird auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt. Die Wahl der Terminologie und die kritische Betrachtung von ←14 | 15→alternativen Begriffsbestimmungen ist im theoretischen Teil nachzulesen (s. Kapitel 3.1.3).

Kausalität, Konditionalität, Konzessivität bzw. die weiteren Inhaltsrelationen können nicht nur durch die Junktionstechniken der Subordination ausgedrückt werden. Im Sinne der Junktionstheorie von Raible (1992) gibt es sowohl integrativere als auch weniger integrative Techniken. Im Falle der Kausalität wäre ein Satz mit der Inkorporation einer Präpositionalgruppe wie in (4) integrativer, die koordinative Verknüpfung wie in (5) jedoch weniger integrativ als die Subordination im Beispielsatz (1):

(4) Wegen seiner Krankheit kann Fritz nicht mitkommen.

(5) Fritz kann nicht mitkommen, er ist nämlich krank.

Dabei können bestimmte inhaltliche Relationen durchaus präferierte Ausdrucksformen besitzen: Zum Beispiel die Konzessivität wird nur selten mit einer koordinativen Verknüpfung ausgedrückt. Zwischen konzeptionell mündlichen bzw. konzeptionell schriftlichen Texten bestehen wichtige Unterschiede, so wird die Kausalität in einem konzeptionell mündlichen Text aus dem 17. Jh. „fast nur konjunktional“, im konzeptionell schriftlichen Vergleichstext aus dem 17. Jh. „überwiegend subjunktional ausgedrückt“ (Ágel 2012: 200). In der vorliegenden Arbeit finden koordinative Aussagenverknüpfungen, auch wenn sie mit dem gleichen Inhalt in Form eines Adverbialsatzes und eines übergeordneten Hauptsatzes ausgedrückt werden könnten, keine Berücksichtigung.

Auch die Integration vorangestellter Subjekt-, Objekt- bzw. Relativsätze bildet nicht den Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Stellungscharakteristika der Ergänzungssätze und Relativsätze wurden in mehreren Arbeiten untersucht (Oppenrieder 2006: 909 ff., Boszák 2009, bzw. Lehmann 1984 und 1995, Zitterbart 2013). Dabei wurden wichtige Unterschiede zwischen einzelnen Nebensatztypen nachgewiesen.1 Ich beschränke mich auf die Analyse der Adverbialsätze, denn der Integrationsgrad vorangestellter Adverbialsätze ist ein komplexes Phänomen, dessen Untersuchung größte theoretische und methodische Sorgfalt erfordert.

Ausgeklammert bleibt auch der kontrastive Aspekt, die Integration und ihre Veränderungen in anderen Sprachen. Einschlägige Untersuchungen liegen ←15 | 16→bereits zu mehreren, v.a. germanischen Sprachen vor.2 Laut König/van der Auwera (1988: 128) prägt der Integrationsprozess mehrere germanische Sprachen, aber in unterschiedlichem Maße, skandinavische Sprachen mehr als das Deutsche, das Deutsche aber mehr als das Niederländische.

Ebenfalls denkbar, allerdings schwer realisierbar wäre eine Ausdehnung des Forschungsgegenstandes auf frühere Zeitepochen des Deutschen (z.B. auf das Frühneuhochdeutsche oder gar auf das Althochdeutsche).3 In der vorliegenden Arbeit werden jedoch andere Schwerpunkte gesetzt, die linguistisch genauso, oder eventuell noch relevanter sind. Der wichtigste Grund für die Einschränkung des Themenbereiches ist darin zu suchen, dass die einschlägigen Entwicklungen im Neuhochdeutschen bisher nicht systematisch analysiert wurden, obwohl gerade diese Epoche wichtige Erkenntnisse über die Satzintegration verspricht.

Während frühere Zeitstufen relativ gut erforscht sind, liegen zum Integrationsprozess vorangestellter Adverbialsätze in der neuhochdeutschen Epoche nur Einzelstudien vor. Die ungünstige Lage der Erforschung des Neuhochdeutschen ist u.a. wohl darauf zurückzuführen, dass man oft stillschweigend davon ausgeht, dass in dieser Periode keine relevanten syntaktischen Veränderungen mehr zu beobachten sind (zur Kritik dieser Auffassung s. Mattheier 1995 bzw. Ágel 2000: 1855 ff.). Einige Untersuchungen (z.B. Axel-Tober 2012) legen nahe, dass die Durchsetzung des integrativen Typs zu Beginn des Neuhochdeutschen bereits abgeschlossen ist. Es bleibt jedoch zu klären, wann und ob überhaupt der Integrationsprozess zum Abschluss kommt.

←16 | 17→

Die Frage nach dem Verhältnis von Mündlichkeit/Schriftlichkeit und Satzintegration wurde bisher fast völlig ausgeblendet, obwohl – wie im Kapitel 2 gezeigt wird – angenommen werden kann, dass diese Ebene der sprachlichen Variation einen Einfluss auf das zu untersuchende Phänomen ausüben kann. Daher wird eine empirische Untersuchung durchgeführt, die neben dem historischen Aspekt auch dem Unterschied zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit Rechnung trägt. Im Folgenden wird die eigene Arbeit in einem breiteren Forschungskontext verortet.

Die vorliegende Arbeit ist angelehnt an die neuere, soziopragmatisch ausgerichtete deutsche Sprachgeschichtsforschung. In der Sprachgeschichtsforschung ist in den letzten Jahrzehnten eine Verlagerung des Interesses auf die jüngere Geschichte des Deutschen zu verzeichnen (vgl. Gardt/Mattheier/Reichmann 1995, darin v.a. Mattheier 1995, bzw. Elspaß 2007a: 2 ff.). Das wissenschaftliche Denken über die deutsche Sprache in der Neuzeit wird immer mehr durch verschiedene Fragestellungen der äußeren Sprachgeschichte geprägt, während die innere Sprachgeschichte zu den weniger favorisierten Themenbereichen gehört (vgl. die Bestandsaufnahme zur neuhochdeutschen Syntax von Ágel 2000). Auch im Bereich der inneren Sprachgeschichte, d.h. in der historischen Grammatik, werden jedoch Untersuchungen durchgeführt, die eine gewisse Sensibilität gegenüber der äußeren Sprachgeschichte haben. Seit den 1980er Jahren entwickelt sich eine soziopragmatisch orientierte Sprachgeschichtsforschung, die das Verhältnis von syntaktischen Strukturen und der Vertikalisierung des Varietätenspektrums (im Sinne von Reichmann 1988, 2003), der Herausbildung von Sprachwertsystemen (Mattheier 1981: 298 ff.), dem Einfluss des Sprachbewusstseins u.v.m. zu erschließen hat. In diese Tendenz sind etwa die Arbeiten von Ebert (1998), Elspaß (2005 und 2015), von Polenz (1995) und Takada (1998) einzuordnen. Die vorliegende Arbeit möchte diesem letzten, jüngeren Ansatz der Sprachgeschichtsforschung gerecht werden: Es wird eine Untersuchung zur historischen Syntax des Neuhochdeutschen durchgeführt, die aber durch Verknüpfungen zur äußeren Sprachgeschichte über den Rahmen der reinen Systembeschreibungen hinausgreift. Das Vorhaben steht unter dem Zeichen der inneren Sprachgeschichte, indem der Integrationsgrad der vorangestellten Adverbialsätze und die Tendenz zur zunehmenden Integration in der neuhochdeutschen Periode untersucht werden. Es ist davon auszugehen, dass sich im untersuchten Zeitraum wichtige Veränderungen im Bereich der vorangestellten Adverbialsätze abspielen, bzw. dass diese nicht einfach systemhistorisch aufgedeckt werden können. Es wird deshalb auch nach außersprachlichen Faktoren des Wandels und der syntaktischen Variation gesucht. Eine dem untersuchten Gegenstand angepasste Vorgehensweise sollte bestimmte Bereiche der äußeren ←17 | 18→Sprachgeschichte berücksichtigen und systematisch analysierbar machen. Durch die Einbeziehung der Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (= Sprache der Nähe und Sprache der Distanz, vgl. Koch/Oesterreicher 1985 bzw. 1994, Ágel/Hennig 2006a) bei der Beschreibung der Satzverknüpfung im Neuhochdeutschen reiht sich diese Arbeit in die sozio- bzw. varietätenlinguistisch inspirierte historische Syntax des Deutschen ein, die nach Fleischer (2015: 381) bis heute bedeutend ist.

In den letzten Jahren fanden grammatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen konzeptionell mündlichen und schriftlichen Texten, in mehreren Projekten und Untersuchungen besondere Berücksichtigung. Im Rahmen des OTKA-Projekts zur Neuhochdeutschen Grammatik 1650–2000 (Laufzeit 2001–2004) wurden wichtige theoretische und methodologische Vorarbeiten zur „Grammatik aus Nähe und Distanz“ durchgeführt, die im Sammelband von Ágel/Hennig (2006) dokumentiert sind. Das Nähe/Distanz-Modell von Ágel/Hennig (2006a) wurde auch im DFG-Projekt „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zu einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“ (Laufzeit 2007–2009) auf historische Quellentexte angewendet. Es wurde u.a. untersucht, in welchem Verhältnis die Verteilung der einzelnen Junktionstechniken4 mit der Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit steht (vgl. Ágel/Hennig 2007). Im Junktionsmodell von Ágel/Hennig, das auf Raible (1992) aufbaut, wurden im Phänomenbereich ‚explizite Junktion‘ u.a. Grundtechniken der Subordination erfasst und operationalisiert (vgl. Ágel 2010). Ihre Vorkommenshäufigkeit wurde auch zu anderen Junktionstechniken u.a. bei der Koordination in Beziehung gesetzt. Es konnten dabei Unterschiede im Junktionsprofil von konzeptionell mündlichen bzw. schriftlichen Texten nachgewiesen werden (Ágel 2012). Zudem wurden mehrere Einzelphänomene anhand historischer Quellentexte behandelt (u.a. Czicza 2014, Hennig 2010a, Kappel 2004). Die aufgeführten Arbeiten sind eingebunden in das größere Langfristprojekt „Neuhochdeutsche Grammatik“, das zum Ziel hat, eine Sprachstufengrammatik für die neuhochdeutsche Epoche (1650–2000) zu erstellen.5 Diese Grammatik, die als die letzte noch fehlende Sprachstufengrammatik des Hochdeutschen in der Reihe „Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte“ erscheinen wird, soll die Nähe/Distanz-Dimension, also grammatische Gemeinsamkeiten ←18 | 19→und Unterschiede zwischen konzeptionell mündlichen und schriftlichen Texten, systematisch berücksichtigen.

1.2 Zielstellung

Zur Erfassung der Integration vorangestellter Adverbialsätze in die nachfolgenden Hauptsätze im Neuhochdeutschen werden folgende Ziele gesetzt.6 Da das Phänomen ‚Integration vorangestellter Adverbialsätze‘ bisher einerseits zeitlich einseitig behandelt wurde, indem frühere Epochen in den Vordergrund gerückt wurden, andererseits methodisch vom möglichen Einfluss des Varietätenspektrums losgerissen wurde, soll in der vorliegenden Arbeit der Forschungshorizont erweitert und überprüft werden, welche neuen Erkenntnisse durch die Untersuchung neuhochdeutscher Texte aus den Bereichen der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gewonnen werden können. Zentrales Anliegen der Arbeit ist die Analyse der Veränderungen der Satzintegration im Neuhochdeutschen. Es soll in diesem Sinne überprüft werden, ob im Neuhochdeutschen relevante Häufigkeitsunterschiede beim Vorkommen der im Kapitel 1.1 angeführten Stellungstypen auftreten. Dabei wird überprüft, ob die Durchsetzung des integrativen Typs zu Beginn des Neuhochdeutschen bereits abgeschlossen ist bzw. ob er die dominierende Variante im Neuhochdeutschen ist. Des Weiteren bleibt zu klären, wie der Integrationsgrad verschiedener Typen von Adverbialsätzen ist. Zu unterscheiden sind dabei semantische Typen wie etwa Kausalsätze oder Konzessivsätze, aber auch strukturelle Typen wie uneingeleitete Verberstsätze, die überwiegend konditional verwendet werden (vgl. Freywald 2013: 321). Es wird auch der Frage nachgegangen, ob es überhaupt sinnvoll ist, verschiedene Adverbialsatztypen zusammenzufassen und im Allgemeinen deren Integrationsgrad zu bestimmen.

Letztlich soll der Einfluss außersprachlicher Faktoren beim Integrationsprozess nachgewiesen werden. Dies wäre ein Argument gegen die Auffassung des Integrationsprozesses als ein rein grammatisches Phänomen. Die operationalisierbare Erfassung der Unterschiede zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit nach dem Nähe-Distanz-Modell von Ágel/Hennig (2006a und 2006b) bietet m.E. einen methodologisch nachvollziehbaren Zugang zu diesem Problembereich. Es soll also überprüft werden, ob die Variable Mündlichkeit/←19 | 20→Schriftlichkeit einen Einfluss auf die syntaktische Variation im Bereich der Satzintegration hat.

Die vorliegende Arbeit, die zu den obigen zentralen Bereichen einen Beitrag liefern möchte, soll auf empirischen Daten basieren. Es kann kein Ziel der vorliegenden Arbeit sein, ein repräsentatives Korpus zum Neuhochdeutschen zusammenzustellen (vgl. Kapitel 4.1). Daher wird bewusst in Kauf genommen, dass die zu ermittelnden Daten über die untersuchte Datenmenge hinaus nicht ohne Weiteres generalisierbar sind. Die Leitprinzipien der Korpuszusammenstellung sind die Unterscheidung mehrerer synchroner Schritte und die Unterscheidung zwischen konzeptionell mündlichen und konzeptionell schriftlichen Texten. Weitere Dimensionen der sprachlichen Variation sollen möglichst konstant gehalten werden, um die Möglichkeit ihrer Einflüsse auf die syntaktische Variation zu reduzieren.

1.3 Zum Aufbau

Im Einleitungsteil wurden u.a. der Gegenstand der Arbeit kurz umrissen und in einem größeren Forschungskontext verortet sowie die Zielstellung der Arbeit erläutert. Im zweiten Teil wird ein Überblick über den Stand der Forschung zur Integration vorangestellter Adverbialsätze in Gegenwart und Geschichte geboten. Zudem soll auch gezeigt werden, welche Bereiche des angenommenen Integrationsprozesses bisher wenig erforscht wurden und somit ein Desiderat darstellen. Der Forschungsstand wird in zwei Teilen – getrennt nach gegenwartsbezogenen (2.1) und sprachhistorischen Untersuchungen (2.2) – skizziert. Davon werden dann wissenschaftlich relevante Fragestellungen abgeleitet und die Hypothesen für die eigene Untersuchung festgelegt (2.3 bzw. 2.4). Dadurch wird die eigene Arbeit im Kontext der einschlägigen Forschungsliteratur eingeordnet.

Im dritten, umfassenderen Teil werden die wichtigsten Termini und Theoriebausteine der Untersuchung behandelt. Das Kapitel beginnt mit der Diskussion der einschlägigen Begriffe ‚Satz‘ bzw. ‚Nebensatz‘, ‚Adverbial‘ bzw. ‚Adverbialsatz‘ sowie den Möglichkeiten zur Erfassung der Stellungstypen (Kapitel 3.1). Danach erfolgt – v.a. aufgrund der Fachliteratur zur Gegenwartssprache – die Behandlung vorangestellter Nebensätze im Rahmen des Stellungsfeldermodells (Kapitel 3.2) bzw. der syntaktischen Bereiche der Satzverknüpfung (Kapitel 3.3). Veränderungen im Bereich der Integration vorangestellter Adverbialsätze sollen in einem theoretischen Rahmen erfasst werden, der in der Lage ist, neben dem intensiv erforschten topologischen Aspekt auch weitere Aspekte der Subordination zu berücksichtigen und Unterschiede zwischen weniger integrativen und integrativeren Techniken adäquat zu erfassen. Im Kapitel 3.3 soll daher v.a. in ←20 | 21→Anlehnung an die Arbeiten von Raible (1992), Fabricius-Hansen (1992), Zifonun et al. (1997: 2250–2253) sowie Ágel (2010) ein komplexes Mehr-Ebenen-Modell zur Erfassung von Satzverknüpfungstechniken skizziert werden.

Im nächsten Unterkapitel (3.4) werden die für die Analyse notwendigen semantischen Klassen aufgearbeitet. Bezüglich der semantischen Klassen wird zunächst die Klassifizierung von Adverbialsätzen problematisiert, um sich im zweiten Schritt auf die Analysekategorien und die Integration in den einzelnen semantischen Bereichen konzentrieren zu können. Der theoretische Teil endet mit einem Überblick über die Erfassung der Mündlichkeit/Schriftlichkeit im Rahmen des Nähe-Distanz-Modells von Ágel/Hennig (2006a und 2006b) (Kapitel 3.5).

Anschließend wird auf die Datengrundlage (Kapitel 4.1) und auf methodologische Fragen (Kapitel 4.2) eingegangen. Im fünften Teil sind die empirischen Analysen zu finden. Dabei werden verschiedene Typen von Adverbialsätzen getrennt behandelt und neben der topologischen Integration der Adverbialsätze, die im Vordergrund der vorliegenden Arbeit steht, auch weitere Aspekte der Integration thematisiert.

Nach der Zusammenfassung (Kapitel 6) ist ein Anhang zu finden, in dem die Beleglisten (Kapitel 7.1) und Diagramme (Kapitel 7.2) aufgeführt werden, die zur angemessenen Dokumentation des Forschungsprozesses beitragen sollen.

←21 |
 22→

1 Die Integration von Ergänzungssätzen mit dass und ob ist z.B. in einem Korpus aus Soldatenbriefen aus dem 19. Jh. weiter vorangeschritten als bei den meisten Adverbialsätzen (vgl. Neumann 2019: 285 f.).

2 Zum Deutschen und Niederländischen s. König/van der Auwera (1988), zum Deutschen und Französischen s. Wegener (2001), bezüglich des Teilbereichs der V1-Konditionale s. auch Hilpert (2010) zum Deutschen und Schwedischen, Van den Nest (2010) zum Deutschen und Englischen. Des Weiteren s. auch Donaldson (2012) zum Altfranzösischen, Vandenberghe (2003) zum Mittelniederländischen. Zur typologischen Untersuchung der linken Peripherie im Allgemeinen aufgrund sieben europäischer Sprachen (Deutsch, Englisch, Schwedisch, Französisch, Russisch, Finnisch, Ungarisch) s. auch Molnár (2012).

Details

Seiten
380
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631856222
ISBN (ePUB)
9783631856239
ISBN (Hardcover)
9783631851128
DOI
10.3726/b18482
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
historische Syntax Vorfeld Adverbial komplexe Sätze Subordination Mehrfachnegation Nebensatzintegration Negationsforschung Nähe/Distanz Sprachgeschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 380 S., 32 s/w Abb., 23 Tab.

Biographische Angaben

Péter Kappel (Autor:in)

Péter Kappel hat in Szeged (Ungarn) ein Studium der Germanistik und Hungarologie absolviert. Dort erfolgte auch seine Promotion. Derzeit ist er Oberassistent am Institut für Germanistik der Universität Szeged. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Syntax, Variationslinguistik und Sprachgeschichte.

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