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Ein Meister, hundert Künste

Zur Anschlussfähigkeit mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Forschungsperspektiven für geistesgeschichtlich-literaturwissenschaftliche Ansätze am Beispiel von Athanasius Kirchers Scrutinium physico-medicum

Attention and Speculation in Athanasius Kircher’s Scrutinium physico-medicum

Reconsidering the Relationship between Literary Studies and the History of Ideas through a Premodern Lens

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

»Auf alles, was der Mensch vornimmt, muß er seine ungeteilte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten«, sagte endlich der eine, »und wenn er dieses getan hat, so entstehn bald Gedanken, oder eine neue Art von Wahrnehmungen, die nichts als zarte Bewegungen eines färbenden oder klappernden Stifts, oder wunderliche Zusammenziehungen und Figurationen einer elastischen Flüssigkeit zu sein scheinen, auf eine wunderbare Weise in ihm. Sie verbreiten sich von dem Punkte, wo er den Eindruck fest stach, nach allen Seiten mit lebendiger Beweglichkeit, und nehmen sein Ich mit fort.« Novalis, Die Lehrlinge zu Sais

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag nimmt die unter anderem von Walter Benjamin zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Auseinandersetzung um die konzeptionelle Ausrichtung der Germanistik geäußerte Forderung in Augenschein, dass der spekulative Drang zum Philosophischen mit der verweilenden Aufmerksamkeit fürs Einzelne zu kombinieren sei, um die gleichzeitige Geltung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge und historischer Details, von konkretem Gegenstand und allgemeinem Wesen, in den Blick zu bekommen. Am Beispiel von Athanasius Kirchers Traktat Scrutinium physico-medicum von 1658 wird gezeigt, dass es an Benjamins Forderung eine frühneuzeitliche Annäherung gibt, in der die Wahrnehmungsform der spekulativen Aufmerksamkeit zu einer Möglichkeit wird, die Geistesgeschichte als Ergebnis eines Wechselverhältnisses zwischen Fokus und Entgrenzung zu verstehen.

Abstract

This paper examines the claim – made, among others, by Walter Benjamin in the context of a discussion of the conceptual orientation of German Studies in the early 20th century – that the speculative drive towards philosophy and attention for concrete objects need to be combined in order to grasp the simultaneous legitimacy of matters pertaining to the history of ideas on the one hand and issues regarding historical facticity on the other. Based on Athanasius Kircher’s treatise Scrutinium physico-medicum from 1658, this paper argues that by establishing a form of attentive-speculative epistemology, Kircher enables an understanding of the history of ideas as a result of the interrelationship between focus and digression and thereby approximates – from an early modern standpoint – the very goal that 20th century scholarship had in mind.

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Notes

  1. Erich Rothacker, »Rückblick und Besinnung«, in: Paul Kluckhohn zum siebzigsten Geburtstag. Eine Festgabe der DVjs, Stuttgart 1956, 1–12. Zugleich in DVjs 30, H. 2/3 (1956), 145–156, hier: 2/146.

  2. DVjs 1, H.1 (1923), »Vorwort«, V.

  3. Rothacker (Anm. 1), 3/147.

  4. Ebd., 2/146.

  5. Ebd., 3/147–4/148.

  6. Ebd., 9/153–10/154.

  7. Vgl. hierzu und insbesondere zur fehlgeschlagenen Zusammenarbeit mit Martin Heidegger Joachim W. Storck, Theodore Kisiel, »Martin Heidegger und die Anfänge der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Eine Dokumentation«, Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 8 (1992–93), 181–225, hier v. a. 183 f. und 192 f. Letzteres lässt sich Heideggers Zusage seiner Mitarbeit in einem früheren Brief entnehmen, in dem er Rothacker warnt, dass seine Untersuchung »ebensosehr ›systematisch‹ wie ›historisch‹« sei, (ebd., 192). Es ist vor allem der jüngere Heidegger, den problemgeschichtliche Fragestellungen umgetrieben haben, während der spätere Heidegger dieses Interesse äußerst kritisch gesehen hat. Vgl. Martin Heidegger, »Vita« (1922), in: Ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 19101976, hrsg. Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 2000, 42: »Mein Verhältnis zur phänomenologischen Forschung war damals noch unsicher. In meiner prinzipiellen wissenschaftlichen Orientierung hielt ich damals noch wissenschaftliche Forschung mit einem freier gefaßten Katholizismus für vereinbar in der Weise einer lediglich historischen Beschäftigung mit der Geistesgeschichte des Mittelalters. Ich unterschätzte damals noch die Tragweite, die das notwendige Durchdenken der prinzipiellen Fragen für eine Problemgeschichte der Philosophie unbedingt haben muß.« Zur Abgrenzung von Geistes‑, Ideen- und Problemgeschichte vgl. Nina Hahne, »Geistesgeschichte (Ideengeschichte/ Problemgeschichte/ Form-und Stilgeschichte)«, in: Methodengeschichte der Germanistik, hrsg. Jost Schneider, Berlin, New York 2009, 195–224.

  8. Storck, Kisiel (Anm. 7), 209.

  9. Rothacker (Anm. 1), 12/156.

  10. Vgl. Maximilian Benz, »Zwischen Geschichtswissenschaft, Volkskunde und ›Philologie‹. Zur Protosoziologie der mittelhochdeutschen Literatur (1895–1930)«, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 46/2 (2013), 378–392, hier v. a. 383–390.

  11. Walter Benjamin, »Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft«, in: Ders., Gesammelte Schriften III, Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a. M. 1980, 283–290, hier: 290.

  12. Vgl. Joachim Heinzle, »Literatur und historische Wirklichkeit. Zur fachgeschichtlichen Situierung sozialhistorischer Forschungsprogramme in der Altgermanistik«, in: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie, hrsg. Eckart Conrad Lutz, Freiburger Colloquium 1997, Freiburg 1998, 93–114, hier: 96 f.

  13. Ebd., 94–97.

  14. Heinzle zeigt dies anhand eines Sammelreferats von Rothacker zu Neuerscheinungen in der Kultursoziologie, das 1933 in der DVjs abgedruckt wurde und mit Referenzen auf den deutschen Volksgeist nicht spart. Heinzle hebt zugleich die Disparatheit innerhalb der wissenschaftlichen Positionen hervor, vgl. ebd., 98–100. Rothacker und Kluckhohn hatten sich in der ersten Ausgabe der DVjs gegen »Materialsammlungen« und »rein stoffliche Quellenuntersuchungen« ausgesprochen, aber »philologische Strenge« als eine der Voraussetzungen für alle Beiträge gefordert, DVjs 1, H1 (1923), »Vorwort«, V f.

  15. Hugo Kuhn, »Mittelalterliche Kunst und ihre ›Gegebenheit‹. Kritisches zum geistesgeschichtlichen Frage-Ansatz«, DVjs 14 (1936), 223–245, hier: 243. Kuhn wendet an dieser Stelle gegen die Geisteswissenschaften ein, dass deren Frage nach »inhaltlichen ›Tatsachen‹« zu »gegenständlich irrelevanten, nur-›methodischen‹ kategorialen ›Hypothesen‹« führe.

  16. Jan-Dirk Müller, »Die Epigonen und der Neopositivismus«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 43, H. 172 (2013), 132–138, hier vor allem 133. Aus Müllers Sicht können neopositivistische Ansätze nur vermieden werden, wenn die Geisteswissenschaften sich auf die Gewichtung ihrer Gegenstände nach ihrer Bedeutung und auf eine entsprechende Klärung geisteswissenschaftlicher Erkenntnisziele besinnen.

  17. Vgl. hierzu die Einleitung zu diesem Heft.

  18. Vgl. zum Forschungsüberblick über die Frühneuzeitgermanistik des frühen 20. Jahrhunderts Marcel Lepper, »Die ›Entdeckung‹ des ›deutschen Barock‹. Zur Geschichte der Frühneuzeitgermanistik 1888-1915«, Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 17/2 (2007), 300–321. Spezifisch zur DVjs ebd., 307.

  19. Benjamin (Anm. 11), 289.

  20. Vgl. Benjamins Plädoyer für eine philosophische Fundierung der Barockphilologie in Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders., Gesammelte Schriften I, 1, Frankfurt a. M. 1980, 203–430, hier: 339. Zur Bedeutung und Herausforderung der Philologie für das Trauerspielbuch vgl. Bernd Witte, »Allegorie des Schreibens. Eine Lektüre von Walter Benjamins Trauerspielbuch«, Merkur 46, 125–136. Vgl. außerdem Benjamins an Gershom Scholem adressierte Absichtserklärung angelegentlich seiner Arbeit am Trauerspielbuch: »Anfang und Schluß werden (als ornamentale Randleistung gewissermaßen) methodische Bemerkungen zur Literaturwissenschaft bringen, in denen ich so gut es geht mit einem romantischen Begriff von Philologie mich vorstellen will«, Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. 2 (1918–1924), Frankfurt a. M. 1996, 436 f.

  21. Benjamin (Anm. 11), 289.

  22. Jan Loheit, »Aus dem Buch des Lebens. Zum Status der Philologie bei Benjamin und Gramsci/From the Book of Life: Walter Benjamin’s and Antonio Gramsci’s Philological Methods«, International Gramsci Journal 3/4 (2020), 122–139, hier: 129. Kohärenz ist auch das zentrale Kriterium der Textinterpretation bei Andreas Kablitz, »Theorie der Literatur und Kunst der Interpretation. Zu einigen Blindstellen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung«, Poetica 41, No. 3/4 (2009), 219–231, hier: 230.

  23. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Ders., Gesammelte Schriften V, Frankfurt a. M. 1991, 1251.

  24. Vgl. Benjamins Intervention gegen eine »›über sich hinausweisende‹ literaturwissenschaftliche Analyse«, Benjamin (Anm. 11), 289.

  25. Vgl. Benjamins Urteil über die Geistesgeschichte und ihren »geile[n] Drang aufs große Ganze«, Benjamin (Anm. 11), 286.

  26. Benjamins eigene Erfahrung mit der DVjs ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Der von ihm eingereichte Aufsatz zu Goethes Wahlverwandtschaften stieß auf Rothackers Wohlwollen, ja weckte sogar die Gewissheit, eine Entdeckung vor sich zu haben. In einem Brief an Kluckhohn ist Rothacker voll des Lobes, nimmt aber auch Bezug auf Benjamins Umgang mit Gundolf, mit dem Benjamin zwar die Ablehnung des Positivismus bzw. der Philologie des 19. Jahrhunderts teilt, gegen den er aber auch eine scharfe Polemik führt. Dies und der Umfang des Aufsatzes wird schließlich – vermutlich auf Anraten Kluckhohns – als Grund für die Absage an Benjamins Adresse genannt, vgl. Holger Dainat, »Benjamin, Rothacker und die DVjs«, Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik 2 (1991), 23–27. Franz Schultz, bei dem sich das Manuskript des Wahlverwandtschaften-Aufsatzes zur Zeit der Korrespondenz zwischen Benjamin und Rothacker befand, erklärte sich für dessen literaturgeschichtliche Ausrichtung nicht zuständig. Dainat hebt hervor, dass dies auch das Schicksal von Benjamins Dissertation und Habilitation war, die ihn zwischen den Disziplinen situierten. Dainat legt damit den Finger auf den Widerspruch, dass der interdisziplinäre Anspruch der DVjs und insbesondere die angestrebte Methodenvielfalt offenbar keine Nische für ein Werk boten, in dem sich diese Vielfalt besonders deutlich manifestierte.

  27. Vgl. zu dieser positiven Sicht und einer insgesamt kritischen Perspektive auf den Zustand der Geistesgeschichte Karl Viëtor, »Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte«, PMLA 60/3 (1945), 899–916, hier: 905. Ähnlich optimistisch ist in Bezug auf die »moderne« Geistesgeschichte Lutz Geldsetzer, »Geistesgeschichte«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (1974), Sp. 207–210, hier: Sp. 209: »So besteht das Kennzeichen der modernen geistesgeschichtlichen Forschung nicht mehr in einem vage mit ›Geist‹ bezeichneten Forschungsgegenstand, sondern in der systematischen Nutzung aller irgend vorhandenen hermeneutischen Hilfsmittel aller historischen Disziplinen zu historischen Forschungen, die sich allen historischen Phänomenen zuwenden können.«

  28. Athanasius Kircher, Scrutinium physico-medicum contagiosae luis quae pestis dicitur, Romae 1658 (in den Fußnoten als Scrutinium angegeben). Ich verwende die deutsche Übersetzung von Johann Caspar Brandan: Athanasius Kircher, Natürliche und Medicinalische Durchgründung Der laidigen ansteckenden Sucht, und so genanten Pestilentz, Augsburg 1680 (in den Fußnoten als Durchgründung angegeben).

  29. Friedrich Kittler, Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn, München, Wien, Zürich 1980.

  30. Vgl. zu diesem Punkt und insbesondere zur Konstruktion und Indienstnahme der Figur des Gelehrten in unterschiedlichen sozio-kulturellen Zusammenhängen Tina Asmussen, Lucas Burkart, Hole Rößler, »Athanasius Kircher. Ein (Anti‑)Held der Wissenschaft und seine Bühnen«, in: Dies. (Hrsg.), Theatrum Kircherianum. Wissenskulturen und Bücherwelten im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2013, 7–22. Jocelyn Godwin spricht in der Einleitung zu John Edward Fletchers Studie zu Leben und Werk Kirchers von dessen seltsamer ideengeschichtlicher Stellung zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, siehe John Edward Fletcher, A Study of the Life and Works of Athanasius Kircher, Germanus Incredibilis‹, Leiden, Boston 2011, xvii.

  31. Tina Asmussen, Scientia Kircheriana. Die Fabrikation von Wissen bei Athanasius Kircher, Affalterbach 2016, hier: 121.

  32. ›Disziplin‹ verstehe ich hier als »klassifikatorische Einheit« und nicht als System der »Produktion und der Diffusion wissenschaftlichen Wissens«, vgl. Rudolf Stichweh, »Interdisziplinarität und wissenschaftliche Bildung«, in: Fundiert forschen. Wissenschaftliche Bildung für Promovierende und Postdocs, hrsg. Hanna Kauhaus, Norbert Krause, Wiesbaden 2017, 181–190, hier: 182.

  33. Vgl. nicht zu Kircher im Besonderen, aber zu einigen grundlegenden Vorschlägen bezüglich der Schärfung des Profils mediävistischer Literaturwissenschaft bzw. literaturwissenschaftlicher Mediävistik Christian Kiening, »Literaturwissenschaftliche Mediävistik/ Mediävistische Literaturwissenschaft«, DVjs 89, H. 4 (2015), 616–624, hier: 624.

  34. Weitgehend implizit bleibt an dieser Stelle die Reflexion der Beobachterposition und ihrer Eigenlogiken. Offenbleiben muss auch die Frage, inwiefern sich spekulative Aufmerksamkeit als Perspektive der Interpretation historisieren ließe. Vgl. zum Zusammenspiel von Forschungsgegenstand und Beobachterposition Kiening (Anm. 33), 619. Der bewusste Blick auf den Zusammenhang von Beobachterposition und historischem Gegenstand steht den Praktiken der intellectual history nahe, vgl. dazu den Aufsatz von Ernst Schulin, »German ›Geistesgeschichte‹, American ›Intellectual History‹ and French ›Histoire des Mentalités‹ since 1900. A Comparison«, History of European Ideas 1/3 (1981), 195–214, hier insbesondere 209.

  35. Vgl. Thomas Pfau, Incomprehensible Certainty. Metaphysics and Hermeneutics of the Image, Notre Dame, Indiana 2022, xiii–xx und 1–59. Vor allem (aber nicht nur) im Hinblick auf die bildende Kunst plädiert Pfau für eine Beobachterposition, welche die Kraft der Aufmerksamkeit kultiviert (15), und zwar durch die hermeneutische Verpflichtung auf die Gegebenheit des jeweiligen zu betrachtenden Phänomens, in Pfaus Worten, die Eloquenz der Formen (»eloquence of forms«, xvii).

  36. Vgl. Asmussen, Burkart, Rößler (Anm. 30), 7–16.

  37. Vgl. Helmut Zedelmaiers begriffsgeschichtliche Einordnung des Terminus ›Polyhistor‹. Der Autor verweist ausdrücklich darauf, dass die Bezeichnung ›Polyhistor‹ nicht auf einen bestimmten Texttypus beschränkt war oder ein spezifisches Konzept oder Programm zum Ausdruck brachte. Von Bedeutung war vielmehr die Betonung der Vielfalt des versammelten Wissens; Helmut Zedelmaier, »Von den Wundermännern des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu ›Polyhistor‹ und ›Polyhistorie‹«, in: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, hrsg. Christel Meier, München 2000, 421–450, hier: 433–435.

  38. Daniel Georg Morhof, Polyhistor literarius, philosophicus et practicus, t. 1, Lubecae 1732, lib. 2, c. 5, n. 41. Die erste Ausgabe des Polyhistor erschien 1688 und das Kapitel, in dem Kircher genannt wird, trägt den Titel De arte Lulliana similibusque inventis. Vgl. außerdem Conor Reilly, Athanasius Kircher. A Master of a Hundred Arts, 16021680 (Studia Kircheriana), Wiesbaden 1974.

  39. Thomas Leinkauf, Mundus Combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (16021680), Berlin 1993. Vgl. insbesondere die Einleitung, ebd., 11–34, hier: 20. Harsdörffer hat seine Bewunderung für Kirchers Gelehrtheit in Gedichtform gefasst, vgl. Georg Philipp Harsdörffer, Nathan und Jotham, das ist geistliche und weltliche Lehrgedichte zu sinnreicher Ausbildung der waaren Gottseligkeit, wie auch aller löblichen Sitten und Tugenden vorgestellet: samt einer Zugabe, genennet Simson, begreiffend hundert vierzeilige Rähtsel, Bd. 2, Nürnberg 1651, 238: »Der unsterbliche (αϑάνατος) Athanasius Kircherus aus dem Stifft Fulta buͤrtig/hatte sich umb die Musen so wol verdienet/daß ihre Mutter die Goͤttin der Gedaͤchtniß/ihm eine Ehrenseulen aufzurichten befohlen/welches nachfolgender Weise beschehen. Es war ein erhabner Pyramis gegen die vier Ortern der Welte gerichtet/also daß auf der Seiten gegen Mitternacht die trefflichen Erfindungen von dem Magnet gebildet/auf der Seiten gegen Abend/die Erfindungen von dem Liecht und dem Schatten/auf der Mittag Seiten mit Musicalischen Kunstwercken/und gegen Morgen die Orientalischen Sprachen angeschrieben waren.«

  40. Leinkauf (Anm. 39), 13.

  41. Mit Andreas Kablitz lege ich den Schwerpunkt auf die Interpretation als Kernanliegen der Beschäftigung mit Texten, vgl. Kablitz (Anm. 22), 221.

  42. Vgl. zum Einfluss von Raimundus Lullus auf die barocke Universalwissenschaft Leinkauf (Anm. 39), 11–34.

  43. Ebd., 13 f., wobei Leinkauf dem Pesttraktat allerdings keine nähere Analyse widerfahren lässt.

  44. Ebd., 302 f.

  45. Zu Benjamin vgl. oben Anm. 19 ff. Vgl. Kablitz (Anm. 22), 230.

  46. Ebd., 223, 227 und 230. Kablitz bezieht sich in seinen Ausführungen auf das Allgemeine fiktionaler Texte.

  47. Vgl. den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Heft.

  48. Leinkauf (Anm. 39), 20–23. Vgl. 1Kor 15, 28: »Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei« (nach der Einheitsübersetzung zitiert).

  49. Die Forschung bezeichnet den Iter exstaticum in der Regel als fiktionalen Text und grenzt ihn zusammen mit dem Itinerarium exstaticum aufgrund des Kriteriums der Fiktionalität vom übrigen Werk Kirchers ab, vgl. zum Beispiel Jacqueline Glomski, »Religion, the Cosmos, and Counter-Reformation Latin: Athanasius Kircher’s Itinerarium exstaticum (1656)«, in: Acta Conventus Neo-Latini Monasteriensis (Acta Conventus Neo-Latini 15), Leiden 2015, 227–236, hier: 227.

  50. Athanasius Kircher, Iter exstaticum Kircherianum preaeclusionibus et scholiis illustratum, schematibus exornatum a. P. Gasp. Schotto Societatis Jesu, Herbipolis 1671, 384: Creator omnium Deus Opt. Max. tanta mundum varietate condidit, tanto ordine disposuit, ut tametsi omnia ex chaotica materia produxerit, nullum tamen mundi corpus alteri praecise coaequatur, aut prorsus simile reperiatur; unitate in diadem, hac in triadem & tetradem se diffundente; ex qua omnium rerum diversitas & in diversitate unitas nascitur. Wofern nicht anders angegeben, stammen die deutschen Übersetzungen aus dem Lateinischen von mir. Vgl. zum Konzept omnia in omnibus Leinkauf (Anm. 39), 83–91.

  51. Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, in XII libros digestus...Amstelodami 1665, 327: Materiam vero Chaoticam non statim abolevit, sed usque ad Mundi consummationem durare voluit, uti in primordiis rerum, ita in hunc usque diem, panspermia rerum omnium refertam […].

  52. Leinkauf (Anm. 39), zur panspermia vgl. 92–110, hier: 93.

  53. Kircher (Anm. 51), 327: Quae cum ita sint, merito hoc loco quaeri potest, quaenam fuerit illa panspermia & vis seminalis rerum omnium productrix. Dico fuisse, spiritum quendam materialem seu ex subtiliori coelestis aurae sive ex elementorum portione compositum, fuisseque vaporem quendam spirituosum Mercurio-salino-mercurialem, semen universale rerum, Elementis a Deo concreatum originem omnium eorum, quae in mundo condita sunt entium corporeorum […].

  54. Der Gedanke ist paracelsischen Ursprungs, vgl. Heinrich Schipperges, Die Entienlehre des Paracelsus. Aufbau und Umriss seiner Theoretischen Pathologie, Berlin, Heidelberg 1988, v. a. 55 f. Gernot Böhme, Hartmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, das Kapitel »Paracelsus und die Alchemie« (127–130). Außerdem Leinkauf (Anm. 39), 102.

  55. Kircher (Anm. 51), 135: […] quamdiu intra corpus a natura intentas amicitiae leges servaverint, tamdiu quoque corpus in sua integritate conservabunt; si vero per excessum aliquem nimiae repletionis, aut exercitii, vel per externas causas aeris, Solis, aquae, terrestris halitus in dissonantiam dirupta fuerint, tum quoque pro excessus, qui innumeri esse possunt, quantitate, membrorumque conditione, mox innumerae exurgunt morborum species […].

  56. Leinkauf (Anm. 39), 102.

  57. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 4. In der Vorrede zur lateinischen, Papst Alexander VII. gewidmeten Ausgabe, die Brandan nicht übersetzt hat, heißt es: Medicus non sum fateor, neque artis praxin […] exercui (»Ich gestehe, dass ich kein Arzt bin und die Wissenschaft nicht praktisch ausübe«), vgl. Scrutinium (Anm. 28), Prooemium.

  58. Leinkauf (Anm. 39), 21–25 und Fletcher (Anm. 30), 3–67. Fletcher thematisiert, dass das Jahr von Kirchers Ankunft in Rom umstritten ist, vgl. ebd., 28, Fußnote 127.

  59. Leinkauf (Anm. 39), 21 f.

  60. Kircher, Scrutinium, (Anm. 28), 6: Pestis est morbus communis complures simul etiam diversarum regionum infestans, dirorum malorum causa & origo, lethalis & maxime contagiosus. Kirchers Beschreibung geht gemäß Philibertus Machinus auf den Arzt Girolamo Mercuriale zurück, vgl. Philibertus Machinus, Belli divini sive pestilentis temporis accurata et luculenta speculatio theologica, canonica, civilis, politica, historica, philosophica, Florentiae 1533, 4.

  61. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 9.

  62. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 13 f. Die Entstehung der Drachen wird mit der Verbreitung vergifteter Luft durch Höhlen und Erdöffnungen in Zusammenhang gebracht (16).

  63. Kircher, Scrutinium (Anm. 28), 17.

  64. Auch diese Verbindung ist aus der Tradition hinreichend bekannt, vgl. Fletcher (Anm. 30), 116. Ich erwähne sie hier vor allem, weil sie Kirchers Universalität und deren Bezug zum Vereinzelten zur Geltung bringt.

  65. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 35.

  66. Ebd., 40 f. Kircher erwähnt ausdrücklich, dass er sich in Bezug auf die Schublädlein des Gehirns nicht an Galenus, sondern an die Araber und vor allem Avicenna hält – ein weiterer Hinweis auf intellektuelle Breite und Flexibilität.

  67. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 45; Kircher, Scrutinium (Anm. 28), 37.

  68. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 45 f.

  69. Kircher, Scrutinium (Anm. 28), 37 f.

  70. Vgl. Fletcher (Anm. 30), 116: »Kircher’s book […] is for the most part written on orthodox lines […]. The book’s value lies in Kircher’s microscope observations, which drew on a wide sampling.«

  71. Asmussen (Anm. 31), 123–129. In einer recht weit gehenden Analogisierung von Kirchers Argumentation im Pestbuch und der barocken Emblematik versteht Asmussen die Beschreibung des Experiments als pictura, die theoretischen Voraussetzungen und Resultate als subscriptio und die Verweise auf die Tradition als inscriptio.

  72. Der Typus von Aufmerksamkeit, den ich für Kircher nachweisen möchte, verbindet die im mittelalterlich-lateinischen Gebrauch zum Tragen kommende Verwandtschaft zwischen attentio und intentio und damit eine Betonung zielgerichteter Konzentration mit der deutschen Etymologie des Begriffs, in der gemäß Peter von Moos die visuelle Vorstellung dominiert: »[…] ›Ich merke auf‹ bedeutet: ich sehe das Kenn- oder Merkzeichen, das plötzlich in meinen Gesichtskreis tritt; ich werde aufmerksam auf etwas, das vorher nicht wahrnehmbar war.« Vgl. Peter von Moos, »Attentio est quaedam sollicitudo: Die religiöse, ethische und politische Dimension der Aufmerksamkeit im Mittelalter«, in: Aufmerksamkeiten: Archäologie der literarischen Kommunikation VII, hrsg. Aleida und Jan Assmann, München 2001, 91–127, hier: 92 f.

  73. In dieser Traditionslinie ist speculatio die Übersetzung des griechischen theoria und damit »sowohl für die Einteilung der Wissenschaften als auch für die Unterscheidung der Erkenntnisvermögen relevant«, vgl. Sabrina Ebbersmeyer, »Spekulation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, 1355–1372, hier: 1355. Die einflussreichste Denktradition ist neben der aristotelischen die platonisch-augustinische. Diese legt den Akzent auf die Spekulation als eine spezifische Weise der Gottesbetrachtung und der selbstreflexiven Erkenntnis, vgl. ebd., v. a. 1356–1359.

  74. Darunter Aristoteles, Plinius, Theophrast und Lukrez.

  75. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 51; Kircher, Scrutinium (Anm. 28), 42.

  76. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 52.

  77. Michael Hagner, »Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand«, in: Aufmerksamkeit, hrsg. Norbert Haas, Rainer Nägele, Hans-Jörg Rheinberger, Eggingen 1998, 273–294. Vgl. außerdem Hans Blumenberg, »Auffallen und Aufmerken«, in: Ders., Zu den Sachen und zurück, Frankfurt a. M. 2002, 182–206. Zum Verhältnis von Aufmerksamkeit und Moderne vgl. Carolin Duttlinger, Attention and Distraction in Modern German Literature, Thought, and Culture, Oxford 2022.

  78. Joseph Vogl hat im Rahmen seiner Untersuchung zum Medium-Werden des Fernrohrs von der für den Raum des Sichtbaren konstitutiven Unsichtbarkeit gesprochen. Das Fernrohr bringt die Differenz zwischen beiden zum Vorschein, vgl. Joseph Vogl, »Medien-Werden. Galileis Fernrohr«, in: Mediale Historiographien, hrsg. Lorenz Engell, Joseph Vogl, Weimar 2001, 115–123.

  79. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 54 f.

  80. Blumenberg (Anm. 77), 190.

  81. Hagner (Anm. 77), 275 f., 279. Von hier aus wendet Hagner sich Charles Bonnet zu, bei dem Aufmerksamkeit nicht mehr im Rahmen der Affektenlehre abgehandelt wird wie bei Descartes, sondern im Zuge seiner Ausführungen zur Vorstellungskraft. In dieser Perspektive sind Vorstellungen vermittels von Aufmerksamkeit miteinander in Bezug gesetzte Wahrnehmungen, die ihrerseits – und wiederum mithilfe von Aufmerksamkeit – von der Seele neu aufeinander bezogen und angeordnet werden können. Aufmerksamkeit, so Hagner, ist bei Bonnet mithin ein Vorgang der Zerlegung, der Hervorhebung und der Neuordnung, oder in der Terminologie des Aufklärers, der Abstraktion. Als Akt der Abstraktion ist Aufmerksamkeit eine »grundlegende Fähigkeit des menschlichen Geistes«, ebd., 277.

  82. Ebd., 279.

  83. Vgl. hierzu die Dissertation von Martha Baldwin, Athanasius Kircher and the Magnetic Philosophy, Ph.D. Diss., University of Chicago 1987. Baldwin zitiert aus dem Briefwechsel zwischen Descartes und Christaan Huygens von 1643: »Le Jesuite a quantité de farfanteries, il est plus charlatan que sҫavant«, hier: 37.

  84. Kircher, Durchgründung (Anm. 28), 54; Kircher, Scrutinium (Anm. 28), 45.

  85. Damit wären für Kirchers spekulative Erkenntnistheorie sowohl der aristotelische als auch der platonisch-augustinische Hintergrund relevant.

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Prica, A. Ein Meister, hundert Künste. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 97, 485–506 (2023). https://doi.org/10.1007/s41245-023-00190-0

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/s41245-023-00190-0

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