I.

Einleitung

1764 wird in Genf eine große Ausgabe von Corneilles Theater mitsamt kritischem Kommentar publiziert. Verantwortlicher Herausgeber ist Voltaire, der die zwölf Bände dank seiner transnationalen Netzwerke überall in Europa subskribieren lässt. Im Théâtre de Pierre Corneille befindet sich allerdings auch eine ausführliche Teilübersetzung von Shakespeares Julius Caesar zu Vergleichszwecken. Voltaire strebt einen solchen Vergleich zwischen Corneilles und Shakespeares ›Genie‹ mittels einer möglichst formtreuen Übersetzung an. Formtreu meint hier, dass insbesondere das für Shakespeare typische Wechselspiel von Blankvers- und Prosarede reproduziert wird. Zum ersten Mal wird damit der Blankvers, der weitgehend mit der englischen Dramatik insgesamt und Shakespeare insbesondere assoziiert wurde, länger als nur für wenige Verse ins Französische übertragen. Vom Blankvers als ungereimtem, jambischen Pentameter bleibt im silbenzählenden französischen Vers vor allem die Reimfreiheit und eine Länge zwischen zehn und zwölf Silben. Obgleich letzteres den Vers den hohen französischen Versmaßen annähert, wertet Voltaire den Blankvers in seinem Kommentar als »bassesse«, »familiarité«Footnote 1 sowie als Briefsprache ab: »les vers blancs ne coûtent que la peine de les dicter. Cela n’est pas plus difficile à faire qu’une lettre. Si on s’avise de faire des tragédies en vers blancs, et de les jouer sur notre théâtre, la tragédie est perdue. Dès que vous ôtez la difficulté, vous ôtez le mérite.«Footnote 2 Der ›Corneille der Engländer‹ bedient sich damit laut Voltaire einer niederen, zum familiären und kolloquialen Register gehörenden Form. Erfolgreicher als seinen ›Rivalen‹ Shakespeare selbst konnte Voltaire die fremde Form des Blankverses dauerhaft diskreditieren. Wie der Literaturhistoriker Lote lakonisch ausführt, habe Voltaire mit der Übersetzung von Jules César wohl selbst die größte Zahl an Blankversen im Französischen verfasst.Footnote 3 Ohne Folgen blieben Voltaires Formimporte dennoch nicht. Auch wenn der Blankvers nicht in das französische Formrepertoire aufgenommen wird, stößt er eine alte Debatte um die Notwendigkeit des Verses und des Reims in der Poesie und Dramatik in Frankreich neu an. Voltaire positioniert sich hier noch einmal gegen frühere Debattenteilnehmer wie Antoine Houdar de La Motte oder Fénelon, die Poesie und Dramatik einem »Freiheitsprinzip unterwerfen« wollten.Footnote 4

Etwa zur selben Zeit, aber mit ganz anderem Ausgang, werden Shakespeares Tragödien in Deutschland übersetzt. Die erste Übersetzung Shakespeares in der »Versart deren sich die Engländer selbst bedienen« erscheint 1758 mit Romeo und Juliet in der Anthologie Neue Probstücke der englischen Schaubühne, zusammen mit einem programmatischen Vorwort. Während der Übersetzer seine eigene Bescheidenheit und Treue in der Übertragung der englischen Dramen betont, blickt er süffisant auf zeitgenössische französische Übersetzer, die mit der »Einräumung des Bürgerrechts« nicht scherzten, d. h. Formen, die nicht in Frankreich zur »Geburt gekommen« seien, nicht einfach nachahmten. Was »bei ihnen eine Aufnahme erhalten will, das muß zuweilen seine ganze Natur ablegen, und sich ganz nach ihrem Schnidte einkleiden lassen«.Footnote 5 Die in Frankreich herrschende »edle Freyheit« im Umgang mit fremden Formen ist damit höchst ambivalent, zeugt sie doch von der dortigen »patriotisch[en] Gesinn[ung]« und zugleich von einer Praxis anmaßender Aneignung. Das ist zunächst eine Kritik an jenen überkommenen Übersetzungspraktiken, die unter dem Stichwort der belles infidèles hinreichend bekannt sind. Aufhorchen lässt demgegenüber eine andere Form von Freiheit, die laut Übersetzer in der englischen Form selbst vorliegt und daher bewahrt werden muss: »In diser zwar gebundenen Schreibart entsagen sie einer gewissen Freyheit nicht. Warum hätte ich es tuhn sollen? […] Die Engländer haben den Gedanken-mördenden und Ohren-folternden Reimen aus ihren theatralischen Gedichten […] mit gutem Fuge, verbannet.«Footnote 6 Für den Herausgeber der Probstücke ist der englische Blankvers eine neuartige Freiheitsform, die der deutschen Dramatik einen Ausweg aus dem Reimvers weisen kann.

Trotz aller Unterschiede weist die hier skizzierte Konstellation Gemeinsamkeiten auf: Beide Vorhaben übersetzen nicht einfach nur Shakespeares Tragödien in die jeweilige Sprache, sie machen auch die erfolgreiche Übersetzung von derjenigen der Form selbst abhängig und thematisieren letztere explizit. Beide entfalten auf Grundlage des Blankverses eine kontrastive Semantik von Freiheit und Fesseln, die hier jeweils anders funktioniert. Für Voltaire ist Formfreiheit »bassesse«, der Ausfall der Fesseln der »difficulté« erniedrigt die Tragödie und vernichtet ihren poetischen Wert. Für seinen Basler Zeitgenossen hebt der »freie« Blankvers denselben und kann zum Vorbild für die deutschsprachige Dichtung werden. In beiden Fällen steht der Reim als Kontrastpunkt zum Blankvers.

Es ist diese Semantisierung des Blankverses als Freiheitsform, gerichtet gegen bestehende Fesseln der Dichtung, die im Folgenden interessiert. Sie prägt, so die These, maßgeblich den Erfolg der Form im Europa des 18. Jahrhunderts. Damit Shakespeare und andere Tragödiendichter zu »Vorreitern« einer »ästhetischen Befreiungsbewegung«Footnote 7 werden können, muss auch die den Tragödien zugrunde liegende Form, der Blankvers, mit einer solchen Bedeutung aufgeladen werden. Die europäischen Debatten um den Blankvers werden hier als ein Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts aufgefasst, auch weil Formpraxis und Formdiskurs nicht vollständig in Übereinstimmung zu bringen sind, wie bereits das Beispiel Frankreichs andeutet. Auch ohne erfolgreiche Formpraxis kann es zur Ausbildung komplexer theoretischer Diskurse über eine Form kommen. Wenn wir mit Caroline Levine davon ausgehen, dass jede Form eine bestimmbare Affordanz, eine begrenzte Bandbreite an PotenzialenFootnote 8, besitzt, so lautet die Annahme im Folgenden, dass diese nicht unveränderbar sind. Zudem gewinnt der Blankvers seine Potenziale nicht nur aus der historischen Formpraxis, sondern auch aus seiner kontinuierlichen Aufladung mit Bedeutung. Dies vollzieht sich in Spannung zu anderen Formen und Formdiskursen, vor allem dem Reim. Die Freiheit des Blankverses ist damit auch die Abwesenheit bestimmter ›unfreier‹ Formen. Welche – positiven – poetologischen Eigenschaften die Formfreiheit insbesondere im kontinentaleuropäischen Kontext bis 1800 umfasst und welche politisch-historischen Entwürfe mit dem Blankvers verknüpft sind, sollen die folgenden Überlegungen zeigen.

II.

»in Engelland eingeführet, von Trißino abgesehen«

Die Importeure der für die deutsche oder französische Tragödie des 18. Jahrhunderts ›neuen‹ Form sind sich der Tatsache bewusst, dass sie an einer größeren Debatte teilnehmen, dass sowohl die Form selbst als auch die Politisierung der Form eine transeuropäische Vergangenheit haben. Ihre Äußerungen verweisen allesamt darauf, dass der ungereimte jambische Pentameter ein gemeinsames Gut der Italiener und Engländer sei. Voltaire beklagt, dass Italiener und Engländer sich des Reims entledigt hätten, da sie »tausend Freiheiten« hätten, die der französischen Dichtung fehlten und meint damit auch den Blankvers.Footnote 9 Der Schweizer Johann Jakob Bodmer übersetzt Miltons Blankversepos Paradise Lost und gibt in der Vorrede (1732) zu Protokoll: »Das Metrum ist ein reimfreyer zehensylbigter Vers; Shakespear […] hat diese Gattung zuerst in Engelland eingeführet, und sie von Trißino dem Italienischen Poeten abgesehen«.Footnote 10 Bodmer ruft damit erstens eine europäische Reiseroute und -praxis der Form seit dem 16. Jahrhundert auf, die über Italien und England in die deutschsprachigen Länder führt. Mit der Übersetzung von Milton und der gleichzeitigen Bezugnahme auf Gian Giorgio Trissino sind, zweitens, gerade jene Akteure benannt, die am meisten zur Freiheitssemantik der Form beigetragen haben und deren Positionen mit ihren Werken verknüpft sind, etwa in Vorreden.

Ein Panorama der komplexen Itinerarien und der erfolgreichen Durchsetzung der Form zwischen Italien, England und Deutschland kann hier zwar nicht geleistet werden. Zum besseren Verständnis auch der Etappen ihrer Semantisierung seien nichtsdestotrotz einige grundlegende Bemerkungen vorangeschickt. Auch die Forschung lässt, von wenigen vorherigen Entwicklungen abgesehenFootnote 11, die Geschichte der Form des fünfhebigen reimlosen Jambus im 16. Jahrhundert und mit Trissino beginnen, der maßgeblich den Namen »verso sciolto«, ungebundener Vers, mitprägte.Footnote 12 Der sciolto soll, wie der englische blank verse, den antiken Versformen entsprechen und dient dazu, Ilias und Aeneis in die modernen Sprachen zu übertragen.Footnote 13 Die tragische Versform kommt der epischen noch zuvor: Gian Giorgio Trissinos Sofonisba (1524) gilt als erste Renaissancetragödie Italiens, später kommt ein Epos (L’Italia liberata, 1547) hinzu. Die Forschung folgt heute grob der von Bodmer vorgegebenen Richtung und geht davon aus, dass der »Italian blank verse« mitsamt Kommentaren zur Form sowohl durch Aeneis-Übersetzungen als auch durch dramatische Werke noch im 16. Jahrhundert nach England wanderte.Footnote 14 Wichtige Merkmale der Form sind zunächst also, dass sie sowohl für das Epos als auch für die TragödieFootnote 15 interessant und mit einem Projekt der Neuerfindung klassischer Formen für die modernen Sprachen verknüpft sind. Zudem setzt sie sich zunächst als Übersetzungsform zwischen Antike und Moderne durch. Ihre besondere Eignung zur Übersetzung fremder Formen wird in der späteren deutschen Rezeption englischer, aber auch französischer Werke eine Rolle spielen. Für die Semantik der Form bleibt, bis ins 18. Jahrhundert, ihre Entstehung innerhalb eines klassischen Projekts wichtig.

III.

Modern Bondage, Ancient Liberty. Zur Politisierung der Form

Von Trissino an bilden sich im transnationalen Blankversdiskurs Zuschreibungen aus, die auf die Legitimation der relativ neuen Form abzielen. Sie stellen den Blankvers vor allem in eine Gegnerschaft zum Reim und leiten aus dessen Fehlen ein Freiheitsargument ab. Im Vorwort zur Sofonisba stellt Trissino seine großenteils reimfreie Verspraxis als ein »Freilassen« (»lasciare libere«Footnote 16) dar, das die aristotelischen Vorgaben insbesondere der Mimesis umso besser erfülle. Auch in Trissinos Poetik geht es darum, die schädlichen Eigenschaften des Reims durch den verso sciolto abzuschaffen, den Sinn vor Augen zu stellen, anstatt ihn durch den Endreim zu zerhacken. Die Befreiung des Sinns ist hier markiert, was nicht verbergen kann, dass dem Blankvers von Beginn an eine weitere Mission auferlegt wird: Einen gehobenen (antiken) Ton in die Vernakularsprachen zu bringen.Footnote 17 Trissino, der auch der Herausgeber der ersten italienischen Übersetzung von Dantes De vulgari eloquentia ist, stellt sich mit seiner Poetik auch in Dantes Tradition der Aufwertung der Volkssprache, nicht zuletzt durch seine Arbeit an der »Konstruktion« der Verssprache. Diese Doppelmission der elevatio und liberatio begleitet fortan den Blankvers, wobei die Akteure eine Seite der Mission betonen und die andere abblenden können. Für die spätere, europaweite Dynamik der Formdiskurse tritt, so die These, die Freiheit zunächst in den Vordergrund, ohne dass die Erhabenheit der Form ganz vergessen würde.

So setzt Milton das Freiheitsprinzip des ungereimten Verses in seiner Notiz The Verse (1674) zu Paradise Lost absolut, und zwar als »an example set, the first in English, of ancient Liberty recover’d to Heroic Poem from the troublesome and modern Bondage of Riming«.Footnote 18 Die Polemik gibt den Ton für die folgende Karriere des Blankverses vor. Zum einen verbindet er das Alte, womit sowohl das elisabethanische Zeitalter als auch die Antike gemeint sind, mit Freiheit; zum anderen zieht er die Vorstellung einer gereimten Versform mit seiner Gegenwart zusammen und wertet den Reim als jüngere Entwicklung und Fesselung ab. Das Freiheitspathos lässt die konzise Formel Miltons bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weithin zirkulieren; zugleich ist Milton in seinem Freiheitsgestus restaurativ: Er greift auf die ›alte‹ Freiheit zurück.

Milton (und, weniger schlagkräftig, Trissino) nutzt mit der Anklage gegen den Reim einen alten Diskurs als Vehikel zur Bewerbung und Verbreitung seines »English Heroic Verse without Rime«: Die Einkerkerung und Versklavung der Dichter und ihrer Ideen durch den ›fesselnden‹ Reim.Footnote 19 Reimverse werden als tyrannische, mittelalterliche Erfindung gebrandmarkt. Ende des 17. Jahrhunderts wird diese Debatte bereits in ganz Europa geführt und gewinnt im 18. Jahrhundert weiter an Intensität. Nicolas Boileau behauptet in seinem Art Poétique von 1674, demselben Jahr, in dem Miltons Vorwort publiziert wird, dass nicht der »bon sens«, sondern der Reim Sklave sei: »La rime est une esclave et ne doit qu’obéir«Footnote 20. Im 18. Jahrhundert verkehrt sich der Satz vermehrt ins Gegenteil. Man klagt gegen den Reim (»so bizarr wie gebieterisch«) und das tyrannische MetrumFootnote 21, denen die Vernunft folgen müsse.

In der Debatte bilden sich also aufeinander abgestimmte, konträre Positionen heraus. In allen werden poetische Formen mit bestimmten politischen Ideen und mit einem geographisch-historischen Imaginären verknüpft. Während Trissino noch den mittelalterlichen Siegeszug des Reims in ganz Europa nachzeichnet, gegen den sein neuer Vers zunächst einmal bestehen mussFootnote 22, erobert und befreit der reimlose Blankvers bei Milton schon nach und nach die italienischen, spanischen und englischen Tragödien und Epen.Footnote 23 Die Idee einer historischen Legitimität und translatio imperii durch reimfreie Formen ist transeuropäisch. Anhand der gereimten Versform und ihres Widersachers wird eine Geographie Europas entworfen, das im 18. Jahrhundert zunehmend polarisiert erscheint. Es geht darum, welche Formen importiert werden dürfen und in wessen Tradition man sich damit stellt. Dabei wechseln Zivilisation und Barbarei stets den Ort, je nachdem welche Partei gerade spricht. Relative Einigkeit besteht nur darüber, dass die meisten ›Nationen‹ gereimte Formen in der jüngeren Vergangenheit eingesetzt haben. Dies machen sich deren Befürworter zunutze. In neoklassischen Traktaten wie Drydens Essay on Dramatic Poetry oder Voltaires Vorwort zu Œdipe ist der Reim in der Tragödie Ausweis der Zivilisation, »Universal consent of the most civiliz’d parts of the world«.Footnote 24 Auf der Seite der Befürworter der gereimten Alexandriner und heroic couplets stehen die auferlegten Zwänge für die Zivilisation selbst. Statt als Ketten (chaînes) sollen sie als Schmuck (ornements) verstanden werden. Der Malherbe-Schüler Antoine Godeau formuliert spiegelbildlich zu Milton: »cette nouvelle prison leur est plus avantageuse que leur ancienne liberté«.Footnote 25 Die geforderte Einwilligung in das neue, zivilisierte und polizierte Gefängnis und der Abschied von der alten Freiheit ist unschwer in Analogie zur Herausbildung der absolutistischen Monarchie zu lesen. Ihre Überlegenheit und damit die Überlegenheit ihrer poetischen Regeln und ›Fesseln‹ zieht auch ein Aufklärer wie Voltaire nicht in Zweifel. Poetiker wie La Motte oder Dubos bezeichnen den Reimvers hingegen gerade mit Blick auf die Herausbildung und Perfektionierung des modernen Staats als Relikt. Duell, Lehenswesen und auch Reim seien barbarische Überbleibsel aus der Zeit vor der ›Politur‹ der Nationen: »la rime ainsi que les fiefs et les duels, doit donc son origine à la barbarie«.Footnote 26

Es sind England und Italien, die verstärkt zusammen in den Poetiken und Traktaten des 18. Jahrhunderts auftauchen, weil sie reimfreie Formen wie den Blankvers systematisch einsetzen. Damit bilden sich Allianzen von Ländern in Europa aus – England und Italien erscheinen etwa als unzivilisierte Heimat barbarischer Formlosigkeit oder aber als wahre Nachfolger der griechisch-römischen Zivilisation und (Reim‑)Freiheit. Auch wenn solche historisierend-kulturalisierenden Diskurse über den Reim ihren Ursprung nicht im Blankvers haben, gewinnt dieser in der Debatte zunehmend an Bedeutung; der Blankvers fügt der Debatte etwa in Deutschland und Frankreich eine als neu angesehene reimfreie Versform hinzu und damit eine dritte Möglichkeit zwischen Reimvers und Prosa. Umgekehrt kann sich also der Blankvers auf den seit Langem geführten »Kampf um den Reim«Footnote 27 stützen.

Die beschriebene Verschränkung der Diskurse bedingt, dass die Wahl der poetischen Form im 18. Jahrhundert zunehmend zu einer Frage der Weltanschauung wird, gerade wenn ›fremde‹ Tragödien oder Epen in die ›eigene‹ Literatur importiert werden sollen. Zeitgenössische Akteure wie Voltaire und Gottsched erkennen in der Orientierung nach England und im Siegeszug der reimlosen, ›fehlerhaften‹ Form ein poetisches renversement des alliances. Gottsched etwa verweist im Briefwechsel mit seinem Kontrahenten Johann Jakob Bodmer 1739 auf den politischen Gehalt der Entwicklung, erkennt aber auch die Austauschbarkeit der Positionen: »Es scheint als wenn die Engländer die Franzosen bald aus Deutschland verjagen wollten. Es möchte immer seyn, wenn nur nicht eine eben so blinde Hochachtung gegen sie einreißt, als gegen die ersten bey allen unsern Hofleuten und großen Herrschern herrschet.«Footnote 28

Der Verdrängungsprozess gegen die »Franzosen« und zugunsten der »Engländer«, den Gottsched vorausahnt, findet tatsächlich im Verlauf des 18. Jahrhunderts statt. An dessen Ende kann er als vollzogen gelten.

Wenn Ende des 18. Jahrhunderts indes vermehrt französische Tragödien in Weimar übersetzt und aufgeführt werden, wird das mit dem Verweis auf die eigene veränderte Position, nämlich eine im Kielwasser der »Briten« und »Griechen«, legitimiert. Das zeigen insbesondere Schillers bekannte Stanzen An Goethe als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte (1799).Footnote 29 Sie versammeln etliche, seit Längerem zirkulierende Vorstellungen über die französische und englische Tragödien- und Verspraxis. Schillers Gedicht entsteht auf Bitten Goethes, es hat auch die Funktion, Goethes Unternehmen, Voltaires Regeltragödie Mahomet ins Deutsche zu übertragen, vor Kritik zu schützen. Goethe aber erfüllt diese Aufgabe laut den Stanzen vollumfänglich. Er habe die Tragödie »vom falschen Regelzwange« befreit:

Und auf der Spur des Griechen und des Briten / Ist er [der deutsche Genius] dem bessern Ruhme nachgeschritten. / Denn dort, wo Sklaven knien, Despoten walten, / Wo sich die eitle Aftergröße bläht, / Da kann die Kunst das Edle nicht gestalten […].Footnote 30

Mit der neuen Vorrangstellung Englands und Griechenlands vor dem »abgeschiednen Geist« Frankreich wird der Import und die Übertragung französischer Regeltragödien erklärungsbedürftig, eine Aufgabe, die Schillers Stanzen erfüllen. Goethe relokalisiert Voltaires Tragödie, er löst sie von jenem Ort ab, wo ein »Ludwig« das »Edle« aussät und kontrolliert. Die Ablösung von knieenden »Sklaven« und von Despoten lässt sich allerdings auch als eine von den Fesseln des Reims und der strengen Kodifikation verstehen. Im Jahr 1800 wird der gereimte Alexandriner derart mit den »alten Fesseln«Footnote 31 identifiziert, dass ihre Übertragung etwa in deutsche Alexandriner schlichtweg unmöglich erscheint. Eine Übersetzung ausgerechnet in den von Voltaire geächteten Blankvers ist notwendig, um die Tragödie erfolgreich dem neuen Kontext anzupassen. Als Ausdruck einer »gewissen Freyheit«, um mit dem Herausgeber der Probstücke zu sprechen, trägt die Wahl des Blankverses zur Legitimität der Übertragung französischer Regeltragödien ins Deutsche bei.

Das angesprochene renversement des alliances von einem französischen hin zu einem englisch-romantischen System wird in der Literaturgeschichte oftmals über bestimmte Autoren, allen voran Shakespeare, über Philosopheme und Strömungen vermittelt. Pemble geht so weit zu sagen, dass die unterschiedliche Produktivität der Shakespeare-Rezeption in den europäischen Ländern den kritischen Moment einer Teilung zwischen der »old Catholic world« stagnierender und steriler Kulturen und Staaten wie Italien, Spanien, Frankreich und der »new Protestant world« der Engländer, Niederländer, Deutschen markiert.Footnote 32 Das Bild ist komplexer, wie die Transmetrisierung französischer Stücke in vormals ›englische‹ Formen zeigt; auch kreuzt der ungereimte italienische oder englische Blankvers diese europäische Teilung. Gleichwohl verfestigen die Debatten um den Blankvers das Bild einer Polarisierung Europas in kodifizierte und unkodifizierte, freiheitliche und tyrannische Formpraktiken und zugehörige Regionen. Henry Home Kames’ Elements of Criticism, die Mitte des Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt werden, enthalten einige solcher Bilder zum Blankvers und umgekehrt zu den Reimformen. Home hegt die Hoffnung auf Zurückdrängung der Reimverse – wenigstens in England – hinter ihre »natürlichen Grenzen«:

Rhyme is not less unfit for anguish or deep distress, than for subjects elevated and lofty; and for that reason has been long disused in the English and Italian tragedy. […] The boundaries assigned it by nature, were extended in barbarous and illiterate ages; and in its usurpations it has long been protected by custom: […] there is no reason to doubt, that rhyme, in Britain, will in time be forc’d to abandon its unjust conquests, and to confine itself within its natural limits.Footnote 33

Die Politisierung der Form ist hier aus der Abwertung der Reimform in den gewohnten Bildern ersichtlich. Die »ungerechten« Eroberungen des Reims in »barbarischer« Zeit projizieren auf die betroffenen Gattungen ein geographisch-historisches Imaginäres, das auf der Ausbildung der hier aufgezeigten Semantiken basiert. Für unsere Frage nach den Potenzialen des Blankverses ist es indes nützlich, den Blick umzudrehen. Neben ihrem politisch-geographischen ›Output‹ gilt es, den Eigenschaften nachzugehen, die der Form zugeschrieben werden. Politische Befreiungsgesten wie sie bei Home zu finden sind, sind schließlich angewiesen auf ein Formvokabular, das dem Wirken der Form in der Tragödie entsprechende Potenziale im poetologischen Sinn zuweist. Wenn der reimlose Vers hier als geeignetes Maß für die ganze Amplitude zwischen »schmerzvoll-traurigen« und »erhabenen« Stoffen gepriesen wird, dann erscheint er als Form, die ihren Gegenständen weniger Grenzen aufzeigt als die Konkurrenz. Folgerichtig lässt der Blankvers nach Home auch der »Fantasie in ihren kühnsten Flügen freien Lauf«.Footnote 34 Welche poetologischen Zuschreibungen dienen also dazu, die Form zur Freiheitsform zu machen?

IV.

Dimensionen der Freiheit im Blankvers

Der Blankvers ist formal frei und selbst eine Form, die Freiheit schafft. Zwischen diesen beiden Polen, dem poetischen und politischen, scheint der Vers zu vermitteln. Die Freiheit vom Reim ist dafür ein prioritärer Grund, daneben gibt es weitere: »Der fünffüßige Jambus trägt weniger als alle anderen dramatischen Maße den Charakter der Geschlossenheit; seine Kürze und die Ungleichheit seiner Fußzahl drängt die Rede von selbst zum Überschlagen aus der einen in die andere Versreihe.«Footnote 35 Sehr deutlich wird in den jüngeren Beschreibungen des Verses seit dem 19. Jahrhundert, dass die historische Formpraxis Shakespeares, Lessings oder Schillers in die Affordanz der Form selbst eingegangen ist. McDonald spricht im Hinblick auf Shakespeare von »countervailing pressures« der Kohärenz und Irregularität,Footnote 36 Henkel vom »Überschlagen« der Rede. Der Vers dreht und wendet sich, wird von ›fremden‹ Versfüßen unterbrochen, wechselt den Rhythmus. Mehr als andere Formen scheinen die Blankverse zur Transgression der eigenen Form zu ermuntern. Mit Lessing gesprochen wären sie »viel schlechter, wenn sie viel besser wären«.Footnote 37 Die charakteristische Rede von »Schnitzern« »wider die Grammatik«, von widerstreitenden Bewegungen und »Verkehrungen« im Vers, aber auch von »familiärer«, »niederer« Ordnung lässt es geboten erscheinen, die Konnotationen der postulierten Freiheit näher zu bestimmen. Drei Bereiche sollen daher als mögliche Dimensionen der Freiheit der Form untersucht werden: Erstens die Frage der Natürlichkeit und Nähe zur Prosa. Zweitens die Bewegung und Beweglichkeit, die auch die Handlungen und Dialoge erfassen und beleben soll. Drittens die Konsequenzen für die Handlung, das Ausagieren des Verses durch die Schauspieler.

Natürlichkeit

Voltaires Polemik gegen den Blankvers anlässlich seiner Übersetzung von Julius Caesar stellt eine zentrale Zuschreibung an die Form aus: ihre Nähe zur Prosa. Darin aber liegt für Voltaire eine doppelte Gefahr. Mit dem Blankvers werde entweder prosaisches Mittelmaß – oder aber, um diesem zu entkommen, stilistischer Exzess produziert: »L’auteur alors, pour se sauver de la médiocrité et de la langueur prosaïque, est obligé d’employer souvent des idées et des expressions gigantesques, par lesquelles il croit suppléer à l’harmonie qui lui manque.«Footnote 38 Voltaire kommentiert in seiner eigenen Shakespeare-Übersetzung beständig dessen Stil. Der Blankversrede, die im Caesar ja den höherstehenden Figuren vorbehalten ist, verweigert Voltaire die Anerkennung als hoher Stil; all das sei natürlich, aber es sei die Natürlichkeit des Pöbels.Footnote 39 Dass auch englische neoklassische Autoren wie Dryden den Blankvers mit dem Prosa-Attribut »Sermo pedestris« bezeichnen, belegt, dass es in Frankreich nicht allein um eine Konkurrenz nationaler Formen geht, sondern um eine Art Systemkonkurrenz. ›Ungebundene‹ Formen können in dieser Logik keine gehobenen Formen darstellen. Voltaire hat sichtlich Addisons Spectator gelesen – und dessen Ausführungen ins Negative verkehrt: »where the verse is not built upon rhymes, there, pomp of sound and energy of expression are indispensably necessary to support the style and keep it from falling into the flatness of prose«Footnote 40. So beschrieben, ist für den Blankvers die Prosanähe zugleich Chance und Gefahr. Chance, weil gerade der ›natürliche‹ Vers zur stilistischen Hebung auffordert; Gefahr, weil stets die Grenze zur Formlosigkeit droht. Den Befürwortern des Blankverses zufolge zeichnet ihn gerade diese bedeutende Amplitude von Fähigkeiten aus, zwischen natürlicher Sprechweise und »elevation of style«Footnote 41.

Der Abbau der Formschranken, insbesondere der difficulté vaincue des Reims, bedingt für die Autoren eine neue Pflicht: Die gewonnene Freiheit virtuos zu nutzen. Hier verbinden sich Potenzial der Form und zeitgenössischer Autor- und Geniediskurs, der seinerseits eine Befreiung vom französischen Rigorismus enthält. Noch einmal Addison: »There appears something nobly wild and extravagant in these great natural Genius’s, that is infinitely more beautiful than all the Turn and Polishing of what the French call a Bel Esprit«.Footnote 42 Per Definition erschafft ein Genie, »pur don de la nature«, Schönheiten, die frei vom »polish« der Konventionen, wild und »négligée«, sind.Footnote 43 Es ist auch solchen zeitgenössischen ›Naturgenie‹-Konzepten zuzuschreiben, dass gerade Verstöße gegen die natürliche Wortreihenfolge, Enjambements und wilde Richtungswechsel im Vers als Ausweis der Natürlichkeit gelten können. Gemeinsamer Gewährsmann ist, neben Milton, Shakespeare. Dessen Blankversdramen konnten im 18. Jahrhundert als Exempel einer »ästhetischen Befreiungsbewegung«Footnote 44 im Sinne der Natürlichkeit gelten, die sowohl Projektionsflächen einer Genie-Konzeption als auch einer vermeintlichen Regellosigkeit bilden.Footnote 45 Auch Lessings Eigenlob für die sehr freien, ja »schlechteren« Blankverse in Nathan der Weise muss vor dem Hintergrund importierter Blankverse und mitgelieferter Genie- und Natürlichkeitsgedanken gelesen werden. Er bescheinigt sich so selbst, die Formfreiheit virtuos genutzt zu haben. Bereits in der Hamburgischen Dramaturgie wird der Nachbau des französischen Verses und der »Wert der überstandenen Schwierigkeit« als »elender«Footnote 46 abgelehnt.

Der Einsatz des Blankverses reagiert dabei nicht allein auf den (französischen) Alexandriner. Er gerät als Alternative zur und konsequenten Fortführung der – gerade durch Lessing geformten – Prosa als eine »Versform auf Grundlage der Prosa, […] für die das Prosaische zur konstitutiven Bedingung wird«.Footnote 47 In den Blick gerät mit der einstweiligen Abwendung vom Reimvers, und mit der Prosa als Grundlage neuer Versformen, auch die Frage des Rhythmus. In der breit geführten, zeitgenössischen Rhythmusdebatte erscheint der Blankvers wiederum als Vermittlungsform zwischen strengem Gesetz und der Suche nach freien, natürlichen Rhythmen, zwischen antiker Dignität und neuer, gefühlsbetonter Darstellungsform. Auch Lessing ist auf der Suche nach einem »Metrische[n] der Poesie«, das der »griechischen ungleich näher kommen« kann, »die durch den bloßen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften […] anzudeuten vermag«Footnote 48. Anstatt einer ›künstlichen‹ Rhetorik soll die Akustik selbst die natürliche Darstellung der Leidenschaften garantieren. Mit der Rezeption englischer ästhetischer Schriften verknüpft sich die Suche nach dem freien, aber harmonischen, »griechischen« Rhythmus mit dem Bild des englischen Blankverses, der etwa bei Shaftesbury als Form der »antient Poetick Liberty« alle Desiderata einlöst: »true Rhythmus, and harmonious Numbers«.Footnote 49

Einher gehen solche Argumentationen auch mit einer Naturalisierung bzw. Ent-Naturalisierung der Sprachen. Dem Italienischen (und dem Altgriechischen), aber auch teils dem Englischen und Deutschen wird das »Metrische«, der Rhythmus, sowie die Melodie zugeschrieben, das Französische kennt hingegen nur »grammatikalisch kalte Verse«.Footnote 50 Solche Zuschreibungen finden sich bevorzugt dort, wo ungereimte Versformen wie der Blankvers erörtert und verteidigt werden. Im englischen Kontext etwa in Homes Elements of Criticism. Nicht nur erscheint dort Shakespeares Blankvers als »measured prose […] perfectly well adapted to the stage […]«.Footnote 51 Auch wird der Vorzug des Blankverses als Annäherung an »Greek and Latin Hexameter« und in Abgrenzung zu den »defects« des französischen heroischen Verses definiert.Footnote 52 Im Italienischen ist es Antonio Schinella Conti, Englandreisender und Dauergast der Pariser Salongesellschaft, der nicht nur Shakespeares Julius Caesar zum Ausgangspunkt für eigene Tragödien (Il Cesare, Marco Bruto) nimmt, sondern auch Racines Regeltragödie Athalie ins Italienische überträgt – im verso sciolto. In seinen programmatischen Schriften nähert er, wie andere, seine ›reiche, starke, konzise und melodiöse‹ Sprache dem Griechischen an. Dabei ist es nicht zuletzt der gewonnenen Handlungsfreiheit durch den sciolto zuzuschreiben, dass Conti sich die gelungene Übertragung vom Französischen ins Italienische bescheinigt. Die Sprache sei »come la cera cedente«, wie schmelzendes Wachs, zur flexiblen Formung geeignet.Footnote 53

Der Blankversdiskurs verbindet sich somit über die Natürlichkeit der Form sowohl mit der Idee eines freien Autor-Genies als auch mit derjenigen eines Genius bestimmter Sprachen, mit denen die Form im Bund steht. Zwischen dem wachsweichen Italienisch und der ungebundenen Form entsteht eine Wechselwirkung.Footnote 54 Dasselbe soll auch für den – wesentlich jüngeren – deutschen Blankvers gelten, der vom zeitgenössischen Ideal einer fluiden Sprache profitiert. Der Aufwand »rhythmisch zu denken« und die »Jamben fließend zu machen«Footnote 55 tritt hinter solchen Naturalisierungen – und Nationalisierungen – zurück. In zeitgenössischen deutschen Blankversdiskursen wird viel eher jene Mühe sichtbar, die in die Identifikation von Sprachgenie und Form gesteckt wird, etwa in Herders frühen Fragmenten über »die Eigenheit unserer Sprache«. »Stärke, Fülle und Abwechslung« der Jamben werden nicht nur gegen den Alexandriner abgegrenzt, sondern auch, wie bei Conti, als »unserer Sprache eigenthümliche Stärke« eingemeindet, sodass der Blankvers nicht mehr nur das »brittische, Miltonische« Silbenmaß bezeichnen solle, sondern zukünftig auch das »deutsche«. Herder setzt den Jambus damit überhaupt erst als »Natur« für das Deutsche und verankert dessen natürliche Freiheit gerade in bestimmten formalen Eigenschaften: Gerade weil die Blankverse sich ihrer »Materie anschmiegen«, »erlauben« sie sich »Sprünge und Kadenzen« und lassen sich nicht »einkerkern«.Footnote 56 Zugleich wird deutlich, dass diese Befreiungsmission auf radikalere Freiheitsformen, speziell diejenigen Klopstocks, reagiert. Der »Zügellosigkeit« von dessen Silbenmaß kann mit dem freien, zugleich aber hohen Jambus Einhalt geboten werden. In der sich anschmiegenden Form ist bereits eine weitere Eigenschaft des Blankverses angesprochen: Ihr Wirken auf die Materie, die durch sie nunmehr »alles belebt und beweget«. Wie wird dieses Phantasma der Bewegung und Belebung ausgestaltet?

Bewegung und Belebung

Beide Wirkungen werden schon bei Trissino dem Blankvers zugeschrieben, allerdings jeweils beschränkt auf den Gebrauch innerhalb einer spezifischen Gattung.Footnote 57 Im Vorwort zur Tragödie Sofonisba ist es die noch aristotelisch gedachte Bewegung im Sinne von Mitleid (»muovere compassione«) im Zuschauer, die den endecasillabo sciolto zum idealen Tragödienvers macht. In der Vorrede zum Epos hingegen betont Trissino das Ziel der enargeia, weil Handlungen und »Perioden« nicht gekappt würden.Footnote 58 Auch im 18. Jahrhundert werden heroische und tragische Blankverse in einzelnen Aspekten unterschieden. Die epistemischen und ästhetischen Voraussetzungen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert haben sich indes geändert. Mitte des 18. Jahrhunderts ist eine »Ästhetik der Bewegung« und ein »gewandeltes anthropologisches Verständnis« zu beobachten, die das »Bewegliche mit dem Lebendigen« und die »Bewegung mit der Freiheit« verschränken.Footnote 59 August Wilhelm Schlegel stellt die »Werke höherer Geisteskunst«, »lebendig, in sich selbst beweglich«, gegen die toten »Werke mechanischer Kunst«.Footnote 60 Ein solches Ideal der Beweglichkeit der Kunst vermag auch den von Schlegel und anderen adoptierten Blankvers mit neuer Bedeutung aufzuladen und dessen Potenziale zusammenzuführen.

In Italien setzt im 18. Jahrhundert eine Rezeption Trissinos ein, die seine Vorstellungen aufnimmt und aktualisiert. So entwirft Scipione Maffei, Autor der erfolgreichen Tragödie Merope und Übersetzer eines Teils der Ilias in versi sciolti, den italienischen Blankvers als Befreiung der Gefühle und Dialoge aus ihrer Gefangenschaft in einem »begrenzten Raum«.Footnote 61 Vom rhetorisch gedachten »muovere« wird auf die größere Beweglichkeit und Lebendigkeit der reimfreien Versform selbst geschlossen. Die Gefangenschaft im Reim würde laut Maffei wiederum der »Freiheit berauben, auf verschiedene Weise darzustellen und den Leidenschaften sowie dem Thema zu folgen, indem wir die Natur nachahmen, die sich mal in zwei, mal in vielen und tiefen Worten ausdrückt und sie mit einem Atemzug miteinander verbindet.«Footnote 62 Erstens gibt also der ›ungebundene‹ Vers den Figuren den nötigen Raum für zusammenhängende Dialoge. In der Tragödie und im Epos hebt er die enge Verbindung der couplets, terza rima oder anderer VersverbündeFootnote 63 auf und ermöglicht größere Sinnzusammenhänge und emotionale Wirkung der Verse. Sodann gehören ›anschmiegsame‹ Form und enargeia zusammen; so verschieden die darzustellenden Objekte auch sein mögen, so verschieden werden sie durch den variablen Blankvers in der gebotenen Kürze oder Länge dargestellt, nachvollziehbar und erlebbar gemacht. Das Bild des Hauchs oder Atems, der die Verse verbindet, tut sein Übriges zur Verlebendigungsrhetorik.

Auch in Sachen Beweglichkeit ist für die Schlagkraft des Diskurses die Konstruktion eines Gegenspielers entscheidend. Der Blankvers (beweglich) richtet sich hier erneut gegen den Alexandriner (unbeweglich). Schiller spricht in einem bekannten Brief an Goethe von der »Regel des Gegensatzes«, der »zweischenklichte[n] Natur des Alexandriners«. Dessen Wirkung sei verheerend: »Der Verstand wird ununterbrochen aufgefodert und jedes Gefühl, jeder Gedanke in diese Form wie in das Bette des Prokrustes gezwängt.«Footnote 64 Die ›ungebundene‹ Form des Blankverses hingegen führt Goethe und auch Schiller zufolge zu einem Treiben »ins Breite«Footnote 65. Der Blankvers schafft und fordert Raum. So feiert Schiller Goethe für seinen Mahomet in Blankversen, weil dieser »des Theaters Enge« erweitert und »der Natur getreues Bild« gemalt habe.Footnote 66 Damit ist allerdings keine völlige Entgrenzung des Kunstwerks gemeint, sondern eine neue Form von Ordnung: »In edler Ordnung greifet Glied in Glied/ Zum ernsten Tempel füget sich das Ganze,/ Und die Bewegung borget Reiz vom Tanze.« Die Stanzen feiern, in fast durchgängig binärer Logik, eine Befreiung der Form – ohne damit Regellosigkeit zu meinen. Vielmehr sind, innerhalb eines »Ganzen«, Elemente in Bewegung, die sich »edel« miteinander verbinden.

Interessant daran ist weniger, dass sich diese Ordnung den unbeweglichen und »unveränderlichen Schranken« der »Franken« entgegenstellt. Vielmehr bietet sie, abseits des zeitgenössischen Phantasmas der Verflüssigung, eine ergänzende Vorstellung: Das Ineinandergreifen von »Glied in Glied«. Diese kann durchaus auf den Blankvers bezogen werden. Trissino benennt die Leistung des sciolto im 16. Jahrhundert als »concatenatio«: Verbindung bzw. Verknüpfung. Den Begriff entleiht er von Dante, er meint das Prinzip der Verknüpfung von Gliedern in einer geordneten Abfolge. Dante aber geht es dabei um den Reim und dessen Leistung der Verknüpfung von Canzonen-Strophen.Footnote 67 Damit eignet sich Trissino gezielt einen Begriff an, der ganz auf den Reim abzielt und die ›Ketten‹ in sich trägt. Trissino zufolge garantiert nun gerade der reimlose Blankvers eine »concatenazione de i sensi, e de le costruzioni«.Footnote 68

Der Begriff taucht mit der Trissino-Rezeption im Italien des 18. Jahrhunderts wieder verstärkt auf. Importe des englischen Blankverses durch Tragödien- und Eposübersetzungen, systematisierende Übersetzungsgeschichten und neue Übersetzungen der Klassiker verstärken in Italien das Interesse am ›richtigen‹ Versbau. So wird das Prinzip der Verknüpfung semantisch neu aufgeladen und kann auch in verschärfter Weise dem französischen Versbau entgegengestellt werden. Der italienische Blankvers gehorcht in seiner »Verkettung« derselben »quasi continua legatura« wie sie lateinische und griechische Verse besitzen. Dadurch wird auch laut Maffei der Sinngehalt der Verse beweglich. Maffei verknüpft hier explizit Trissinos Vorstellung der »concatenazio de i sensi« mit derjenigen Miltons des »sense variously drawn out from one Verse into another«.Footnote 69 Grundlage dafür ist der durch den sciolto garantierte, »unendliche« Variationsreichtum innerhalb des Verses aufgrund der flexiblen Setzung der Zäsuren und der ebenso flexiblen »Unterbrechung« der DialogeFootnote 70. In Erwiderung der französischen Kritik am Exzess ungereimter Formen wird mit den zitierten Zuschreibungen das Bild einer proportionalen und flexiblen, darum aber nicht weniger geordneten Form entworfen. Conti spricht in seiner Vorrede zur übersetzten Atalia von der Kraft der Form, »in die gebundene Rede die Freiheit der ungebundenen Rede« einzuführen (»introduce nel dir legato la libertà del dir sciolto«). Der Blankvers erscheint als selbsttragende Ordnung mit einem Maximum an Bewegungsfreiheit, ›Varietät der Zäsuren‹, er macht die Dialoge natürlich und die Verse schmiegsam.Footnote 71 In den italienischen Diskursen verknüpfen sich dabei die Bewegungs- und Verbindungsvorstellungen von Verkettung und Verflüssigung. Der sciolto verhindere nicht, sondern fördere gar »die Verkettung und das mannigfaltige Wogen« der Gedanken (»concatenazione, e quel vario ondeggiamento«).Footnote 72

Auch mit Blick auf die Beweglichkeit der Form selbst werden explizite Schlüsse auf den Erfolg und die grenzüberschreitende Bewegung der von ihr getragenen Werke gezogen. Maffei etwa schreibt dem ungebundenen Vers den internationalen Erfolg seiner Tragödie Merope zu: »C’è chi ha creduto, la maniera di girare il verso, e quasi di nasconderlo, adattandolo a persone che dialogizano insieme, avere assai contribuito al felice incontro, qual […] ha conseguito in ogni luogo la MeropeFootnote 73

Die Deklamation und die Frage der Handlungsfreiheit

Die Freiheitsdiskurse bleiben nicht auf die Form selbst, auf den hergestellten Sinnzusammenhang während der Lektüre, auf die Entfesselung der Leidenschaften oder der Dialoge beschränkt. Flankiert wird die Debatte um Natürlichkeit, Lebendigkeit und Freiheit der tragischen Versformen von derjenigen um ihre Technik. Zusammen mit der ›kalten Mechanik‹ der französischen Regeltragödie gerät ihr Korrelat, die Deklamation, in die Kritik. Luigi Riccoboni, der die Merope Maffeis in Modena und vor allem Venedig umsetzt und kurz darauf Direktor der Comédie-Italienne in Paris wird, sieht im Status quo der Deklamation ein Hindernis für die Akzeptanz der französischen Tragödie: »Presque tous les Étrangers qui entendent pour la première fois la Déclamation Tragique, en sont d’abord dégoûtés à l’excès«.Footnote 74 Versucht Riccoboni noch, die »Fesselung aller Sinne« durch die deklamatorische Kunst im Namen ihrer Beseelung positiv umzudeuten und Sensibilität und Kunst zu versöhnenFootnote 75, gerät sie im 18. Jahrhundert mit Verweis auf gebotene Natürlichkeit und individuelle Anpassung an das sujet weiter unter Druck. Schiller macht die Deklamation dafür mitverantwortlich, dass im »Trauerspiel der ehemaligen Franzosen« sich die Schauspieler nicht erlaubten, »der Natur in sich ihre Freiheit zu lassen«.Footnote 76

Das Bild der Fesseln für eine rigide empfundene Form und das Gegenbild der Natur und Freiheit überträgt sich damit auch auf die Deklamation. Eine Gegenform wie sie der Blankvers für den Alexandriner sein kann, findet sich für die Deklamation nicht. Dennoch hält die Debatte um letztere Lektionen für die hier zu bestimmende Freiheitssemantik des Blankverses bereit. Deutlich wird nämlich, auch und gerade in der innerfranzösischen zeitgenössischen Debatte, wie nach Abwechslung und Verlebendigung der Tragödie in ihrer Aufführung selbst gesucht wird. Hauptgegenstand der Diskussion ist die Stellung der Handlung. Voltaires Cambridge-Notebooks zeugen vom Neid des Franzosen in England auf die dortige Tragödientradition, die wirkliche Handlung auf der Bühne zulässt: »We want action«.Footnote 77 Er beklagt zudem fehlenden Platz auf der französischen Bühne, die den Handlungsraum zusätzlich verengt. Für Diderot wiederum gehören Emphase und Versifikation zusammen. Er entwirft ein Theater, das nicht dem Vers, sondern unmittelbareren Handlungsformen wie der Pantomime ihren Raum lässt.

Dass beide, Vers und schauspielerische Handlung, miteinander zusammenhängen, zeigt die Reaktion Diderots auf die Pariser Auftritte des bekannten Theaterdirektors der Drury Lane und Schauspielers David Garrick. Wie die reisende Form Blankvers, die vor allem produktive Auswirkungen auf die Diskussion der Tragödien- und Epospoetik hat, haben reisende Akteure mit ihren Auftrittspraktiken unmittelbare Folgen für die Schauspielkunst und deren Diskurs in Frankreich. David Garrick sorgte so mit seinen improvisierten Auftritten vor Pariser Salonpublikum für die weitere Erschütterung der herrschenden Deklamationsform. Diderots Schauspieltraktat Paradoxe sur le Comédien steht ganz unter dem Eindruck von Garrick. Dort konstatiert er die fundamentale Differenz, Theater in England und Frankreich zu schreiben und zu spielen. Diderots Sympathien erscheinen angesichts seiner Beschreibung dieses Kontrasts klar:

celui qui sait rendre parfaitement une scène de Shakespeare ne connaît pas le premier accent de la déclamation d’une scène de Racine, puisque enlacé par les vers harmonieux de ce dernier comme par autant de serpents dont les replis lui étreignent la tête, les pieds, les mains, les jambes et les bras, son action en perdrait toute sa liberté […].Footnote 78

Wer einmal eine Szene aus Shakespeare, gespielt von Garrick, gesehen hat, dem erscheint die traditionelle Deklamation als Freiheitsberaubung. Hier scheinen bereits die »harmonischen« Alexandriner Racines aus fremder und befremdeter Perspektive wahrgenommen zu werden. Diderot kehrt mit der »Schlange« aber auch eine mächtige Bildtradition der französischen Klassik um. Die Kunst hat nicht mehr die Schlange, das Monstrum, ästhetisch annehmbar zu machen, wie Boileau noch programmatisch vorgab; vielmehr ist die Kunst (Vers und Deklamation) nun selbst Schlange, die die Handlung zu hemmen droht. Auch hier geht es um »action«, nicht mehr nur um die Rhetorik der Leidenschaften, die die Deklamation traditionell stützt und zur Perfektion bringt.Footnote 79

V.

Schlussbemerkungen

Neben weit radikaleren Lösungen, wie denjenigen Diderots, die das traditionelle Verständnis des »Parler, c’est Agir«Footnote 80 durch ihre Theaterreformen stärker angreifen, können die hier analysierten Debatten um den Blankvers als eine Bemühung verstanden werden, Handlung und Verssprache stärker zu korrelieren. Die diskutierten Zuschreibungen (Freiheit als Natürlichkeit, Bewegung und Verlebendigung) verweisen darauf, dass gerade der ›sich versteckende‹, sich an die Darstellung anpassende Blankvers für die Einlagerung von Handlung in die Form selbst steht.Footnote 81 Bei dieser Vorstellung hilft der Mythos des Jambus. Laut Horaz fingen sowohl der tragische als auch der komische Schauspieler, Soccus und Coturnus, den stürmenden Jambus ein. Sein Potenzial ist beschrieben als: »alternis aptum sermonibus et popularis/ vincentem strepitus et natum rebus agendis«Footnote 82, also »geeignet zu Wechselreden, siegreich das Lärmen des Volks übertönend, geschaffen zum Handeln«. Auch die jambische Form ist, hierin der Prosa nachgeordnet, ein Mittel der Beschleunigung; befreit vom Reim, erlangt diese eine neue Qualität. Die parallele Verwendung des fünfhebigen reimlosen Jambus, alias Blankvers oder sciolto, in Tragödie und Epos ist daher kein Zufall. Durch den Wegfall des Reims tritt die Lyrizität des Metrums zurück. Es verkettet zwar, ›umschlingt‹ aber nicht die Worte und diejenigen, die sie sprechen. Im Horazischen Bild des ›Einfangens‹ des rasenden Jambus zeigt sich aber auch, inwiefern sich Ordnung und Akzeleration, Binden und Losbinden im Metrum die Waage halten sollen. Entsprechend seiner neuzeitlichen Kommentierung ist auch der jambische Blankvers ein Vers gemäßigter Freiheit.

In Schillers Stanzen an Goethe gewinnt man den Eindruck, dass die Rückgewinnung der Kunst mit expliziten Übernahmen aus Frankreich sowie ihre Befreiung aus dem »Regelzwange« und der den »Genius« umschnürenden »Schlange« Hand in Hand gehen. Dieses Abwägen von Freiheit und Form hängt erheblich von der Wahl der Versform ab.

Gegen den »Lärm des Pöbels« (Horaz) oder aber das »rohe Leben«, das »Thespis Wagen« umzustürzen droht (Schiller), kommt mit dem Blankvers eine »edle« klassische Form zum Einsatz, die allerdings weniger unterdrückt als vielmehr selbst durch das Dargestellte in »Schwingung« gerät.Footnote 83 Auch eine andere Gefahr, die des »Prokrustesbettes« des Alexandriners mit seiner festen Zäsur und der gleichmäßigen Verteilung der Versfüße, scheint mit dem Blankvers gebannt. Der fünffüßige Vers »verunmöglicht« allzu starre Symmetrien und schafft mit seinen häufigen Akzenten in der zweiten Hälfte des Verses eine »vorwärtsdrängende Bewegung«.Footnote 84 Damit erweist er sich gleichsam als Mittelweg zwischen Handlungs- bzw. Bewegungsfreiheit und notwendigerweise begrenzender Form. In der Debatte in Deutschland spielt kaum eine Rolle mehr, dass auch der deutsche Alexandriner selbst ein Jambus ist. Die Vorstellung einer erhabenen Freiheit ist, durch die beharrliche Politisierung und Kommentierung der Formen, auf den Blankvers übergegangen.Footnote 85

Dass die Potenziale der Form durch fortlaufende Kommentierung und Semantisierung stets selbst in Bewegung sind, zeigt sich um 1800 im Hinblick auf den Reim, den, nur folgerichtig, die Romantik einholt. August Wilhelm Schlegel konzipiert ihn als »romantisches Prinzip« und stellt ihn gegen den (antiken) Rhythmus. Dieser isoliere »plastisch«, der Reim stehe hingegen für »Allgemeines Verschmelzen, hinüber und herüber ziehen. Aussichten ins Unendliche«Footnote 86. Damit sind Potenziale benannt und gleichsam umgedreht, die an den reimlosen Blankvers, an seine Verflüssigung, seine Leistung, den Sinn über die Verse mitzuziehen, erinnern. Für den späten Schiller ist der Reim ein Zeichen der Kunstfreiheit.Footnote 87 Für die politische Geographie der Formen brechen damit neue Zeiten an, die die Logiken antiker Freiheit oder mittelalterlicher Barbarei und der ihr nachfolgenden Nationen durchbrechen.