I.

Es lässt sich darüber streiten, ob die Gegenwart schrumpft (Hermann Lübbe) oder breiter wird (Hans Ulrich Gumbrecht). Dass sich der Bereich des Literarischen im 21. Jahrhundert ausgedehnt hat, ist offensichtlich. Die traditionelle Grenzziehung zwischen dem Primären und dem Sekundären, zwischen dem ›eigentlichen‹ literarischen Werk und dem nebengeordneten Beiwerk wird immer poröser, und zwar sowohl in der literarischen Produktion als auch in deren wissenschaftlicher Beobachtung. Besonders markant zeigt sich das an der Textsorte ›Interview‹.

In den Fokus der literaturwissenschaftlichen Gattungsreflexion geriet das Interview genau an jener Epochenschwelle, die von vielen als Beginn der Gegenwartsliteratur begriffen wird. Gérard Genettes umfangreiche Studie zu Paratexten erschien 1989 auf Deutsch (1987 im französischen Original) und räumte dem Interview ein eigenes, wenn auch kurzes Kapitel ein. Bezeichnend ist die Widerwilligkeit, mit der sich Genette dem Interview widmete: Es handele sich um ein »konstitutiv schales Genre«, das aus »reduktionistischen Klischees« bestehe und zu dem sich Schriftsteller:innen folgerichtig »eher passiv und […] ohne große intellektuelle Motivation«Footnote 1 bereitfänden. Einen Forschungsboom initiierte Genette mit dieser Darstellung aus nachvollziehbaren Gründen nicht, es blieb in der Germanistik lange Zeit still um das Interview.

Die entscheidenden Impulse für eine Neubewertung des Interviews kamen – und das ist in der Gegenwartsliteraturforschung eher die Regel als die Ausnahme – aus der literaturbetrieblichen und literarischen Praxis. Es verdankt sich vor allem der so ambitionierten wie leichtfüßigen Interviewtätigkeit Heiner Müllers in den frühen 1990er Jahren, dass 2001 gleich zwei literaturwissenschaftliche Dissertationen zum Interview erschienen. Für beide Autoren machten Müllers Interviews evident, dass man es bei Interviews mit Schriftsteller:innen nicht ausschließlich mit einer »kommentierende[n] Sekundärkommunikation«,Footnote 2 sondern bisweilen mit einer primären Kunstform zu tun habe. Denn wie in anderen literarischen Texten lasse sich auch in Interviews die »Generierung eigenständiger und sich selbst tragender Zeichenwelten«Footnote 3 beobachten. Als Interviews und Gespräche in der 2008 bei Suhrkamp erschienenen Müller-Werkausgabe gleich drei Bände füllten und mit ihren über 2700 Seiten den umfangreichsten Werkkomplex darstellten, konnte man das als institutionelle Bestätigung der Kunsthaftigkeit des Interviews verbuchen.

Die akademische Nobilitierung des vermeintlichen Beiwerks wurde noch davon überboten, dass man die ursprünglich journalistische Textsorte ab 2000 zunehmend als Spielart literarischen Erzählens nutzte. Bei Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (2004) und Wolf Haas’ Das Wetter vor 15 Jahren (2006) – zwei der bis heute meistdiskutierten Texte der frühen 2000er Jahre – handelt es sich um Romane, die von der ersten bis zur letzten Seite eine ästhetische Anverwandlung und damit eine Entparatextualisierung des Interviews betreiben. Auch das »ultimative Buchideal«, das Rainald Goetz in seinem poetologischen Roman loslabern (2009) entwickelt, sieht vor, dass »ein Buch eigentlich erst fertig und eine ganze Sache wäre, wenn die Interviews, die man nachher dazu geben könnte, im Buch selbst schon enthalten wären«.Footnote 4 Die anvisierte »ganze Sache« ist eine inklusive Utopie, die unausgesprochen einem Großteil der avancierten Gegenwartsliteratur zugrunde liegt. In ihr wird die klare Grenzlinie zwischen Primär- und Sekundärkommunikation, Text und Epitext, Produktion und Distribution, Kunstwerk und Werbung, textinterner Autorfigur und textexterner Autorpersona lustvoll verwischt. Interviews ermöglichen eine so weitgehende Annäherung an dieses Ideal wie wenige andere Textsorten. Insofern ist der Umgang mit ihnen eine paradigmatische Herausforderung für die Literatur und die Literaturwissenschaft der Gegenwart.

II.

Was sich unter den Bedingungen der Gegenwartsästhetik an der Stellung des Interviews verändert hat, gewinnt an Kontur, wenn man die aktuelle Situation mit derjenigen vor 50 Jahren vergleicht. Auch um 1970 interagierten Interview und Literatur(betrieb) bereits auf vielfältige Weise. Prominente Literaturvermittler wie Heinz Ludwig Arnold und Ekkehart Rudolph etablierten das ausführliche Werkstattgespräch als festen Bestandteil des Literaturbetriebs, Erika Runges vielbeachtete Bottroper Protokolle (1968) sind – wie man dem Klappentext entnehmen kann – »aus Interviews hervorgegangen«Footnote 5 und in Ingeborg Bachmanns Malina (1971), einem der avanciertesten Romane der Zeit, erstreckt sich ein fiktionales Interview über 14 Seiten.Footnote 6 Dennoch blieben die strikten Grenzen zwischen der literarischen und der nicht-literarischen Sphäre bei all dem weitgehend gewahrt.

Zwar wurden die Bottroper Protokolle von einem emphatischen Vorwort des schon damals renommierten Autors Martin Walser eröffnet – aber anstatt den ästhetischen Wert hervorzuheben, lobte er den Text aufgrund seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung und verglich ihn mit »Soziologiebüchern«.Footnote 7 Und während die nicht als Autorin, sondern als ›Aufzeichnerin‹ geführte Erika Runge sich später zu dem verschämten Eingeständnis gezwungen sah, die mit der arbeitenden Bevölkerung geführten Gespräche nachträglich bearbeitet zu haben, trägt Kathrin Rögglas ganz ähnlich entstandener Text wir schlafen nicht die selbstbewusste Gattungsbezeichnung ›Roman‹ bereits auf dem Cover. Symptomatisch ist das in doppelter Hinsicht: Zum einen wird es »zunehmend selbstverständlicher, dokumentarischen Texten auch literarische Qualitäten zuzuschreiben«,Footnote 8 zum anderen wird dokumentarisches Material offensiver literarisch weiterverarbeitet. Rögglas Interview-basierter Text enthält keine Fragen, verzichtet oft auf eine eindeutige Zuordnung der Sprecher:innen und gibt das Gesagte auch im Konjunktiv (und in der dritten Person) wieder. Die Authentizitätseffekte der Interviewform werden damit zugleich aufgerufen und verworfen, die im Paratext beschworene Faktualität eines Sachtextes (»diesem text liegen gespräche […] zugrunde«)Footnote 9 wird ostentativ in Richtung eines fiktionalen Romans mit artifizieller Sprachverwendung unterlaufen.

Zwar ›opfert‹ schon Ingeborg Bachmann vierzehn Romanseiten für die Textsorte ›Interview‹, zielt damit aber letztlich noch auf eine gattungstheoretische Distanzwahrung. Die Ich-Erzählerin in Malina, die als Autorin von einem tumben Literaturjournalisten interviewt wird, begreift das Gespräch mit seinen erwartbaren Fragen als eine Kreativitätsverhinderungstätigkeit, die mit ihrem literarischen Sprechen nichts zu tun hat. Einige Jahrzehnte später lässt sich in quantitativer wie qualitativer Hinsicht das genaue Gegenteil beobachten. Wolf Haas’ Roman Das Wetter vor 15 Jahren besteht aus nichts als einem fiktionalen Interview, das eine Literaturkritikerin mit einer autofiktional angelegten Wolf-Haas-Figur führt. Die Pointe des Textes besteht darin, dass die vermeintlich über den neuen Roman redenden Figuren diesen Roman im Interview erst entwerfen und miterzählen: In der fiktionalen Diegese ist der Roman bereits erschienen, in unserer Wirklichkeit existiert er nur innerhalb dieses Interviewromans. Interview und Roman, Literaturbetrieb und Literatur sind bei Haas tatsächlich (wenn auch im Rahmen einer Rainald Goetz eher fernstehenden Poetik) miteinander verschmolzen – es gibt das Eine nicht mehr ohne das Andere.

Auch im Hinblick auf journalistische Interviews haben sich die Erwartungen und Bewertungen verschoben. Elfriede Jelinek, die 2004 den Literaturnobelpreis – so die Urteilsbegründung – »for her musical flow of voices and counter-voices in novels and plays«Footnote 10 erhalten hatte, erklärt den ›Fluss von Stimme und Gegenstimme‹ in den von André Müller u. a. mit ihr geführten Interviews im Vorwort zu deren Buchausgabe von 2011 kurzerhand »zu Literatur«Footnote 11 (und auch Felicitas Hoppe verehrt Müllers Interviews als »richtige Königsdisziplin«).Footnote 12 Auf den Gedanken, ihre stark ritualisierten Gespräche mit Schriftsteller:innen für Literatur zu halten, sind Arnold oder Rudolf selbst dann nicht gekommen, als sie in den 1970er Jahren erstmals umfangreiche Buchausgaben mit Interviews veröffentlichten. Ausdrücklich und ausschließlich ging es ihnen darin um eine »authentische Deutung«Footnote 13 der besprochenen literarischen Texte, schließlich sei nirgendwo sonst ein »unverstellteres Bild«Footnote 14 literarischer Autorschaft zu gewinnen. Dass das weder zu erwarten noch überhaupt zu wünschen ist, wird im 21. Jahrhundert zum Konsens. Im Nachwort zu einer Buchausgabe seiner Interviews kommt Hans Magnus Enzensberger 2006 zu dem Schluss, dass es sich bei Interviews – und zwar ausdrücklich »im besten Fall« – um ein »trickreiches Rollenspiel handelt, bei dem beide Seiten sich komplizierter Finten und Manöver bedienen. Ein guter Interviewer bringt sein Gegenüber dazu, Dinge zu äußern, die dieser nie zuvor gesagt oder geschrieben, ja an die er vielleicht nicht einmal gedacht hat.«Footnote 15 Vom zeitgemäßen Interview werden kreative Prozesse nicht mehr nur rekonstruiert, sondern auch produziert.

Um das zu ermöglichen, hat sich eine Vielzahl an Formaten herausgebildet, die sich als Serie auch dann mit ästhetischem Vergnügen rezipieren lassen, wenn man die interviewte Person gar nicht kennt – von den provokativ-psychologischen Interviews André Müllers über Moritz von Uslars verspielte 99/100 Fragen an … (die u. a. von Harald Schmidts Interviewtechnik inspiriert sind) bis zu den wortlosen Antworten der Sagen Sie jetzt nichts-Fotointerviews aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung. Das – freilich mit der Zeit selbst konventionell werdende – Ziel all dieser Interviewformen besteht darin, die Genrekonventionen aufzubrechen, um die irritierten Interviewten aus ihren Medienroutinen zu reißen.

Während in der Interviewpassage aus Bachmanns Malina die Fragen des Literaturjournalisten getilgt sind, weil sie offenbar nichts als jene erwartbaren Klischees enthalten, vor denen es auch Genette grauste, hat sich das Blatt auf paradigmatische Weise dort gewendet, wo das ZEIT-Magazin vom 11. Juli 2013 schon auf dem Cover ein Interview Moritz von Uslars mit dem Theaterregisseur Frank Castorf ankündigt – und die 99 Fragen im Magazin dann auch auf drei Seiten abdruckt, obwohl Castorf das Gespräch kurzfristig abgesagt hatte. Im Fall von Clemens J. Setz’ Buch BOT. Gespräch ohne Autor (2018) wird das Scheitern eines geplanten Interviewbuchs dadurch literarisch produktiv gemacht (so zumindest die im Buch lancierte – und möglicherweise fingierte – Entstehungsgeschichte), dass die als Herausgeberin geführte Interviewerin Angelika Klammer ihre Fragen nicht dem Autor stellt, sondern an eine von ihm generierte Datei richtet. Bei Uslar/Castorf wie bei Setz/Klammer geht mit der Entparatextualisierung des Interviews auch eine Aufwertung der fragenstellenden Person einher, die von Genette noch als austauschbare »Unperson«Footnote 16 entindividualisiert worden war.

Kurz gesagt: Eine Annäherungsbewegung zwischen Interview und Literatur kann man in der Gegenwart auf beiden Seiten beobachten. Während tatsächlich geführte Interviews häufig literarischer (verarbeitet) werden, nutzt man in fiktionalen Texten fiktive Interviews zunehmend als eine neue Spielart literarischen Erzählens (neben vielen anderen etwa auch in Hoppes Autofiktion Hoppe von 2012 oder John von Düffels KL von 2015). Symptomatisch für die Gegenwartsästhetik ist diese Verschiebung insofern, als sie die Trennung zwischen dem literarischen Sprechen und dem Reden über Literatur in einem hybriden »Textgerede«Footnote 17 aufhebt – die früheren Randbezirke des Literarischen lassen sich von dessen Zentrum kaum mehr unterscheiden.

III.

Sucht man für die erstaunliche Karriere des Interviews nach Erklärungen, die über jene eingangs skizzierten Nivellierungstendenzen zwischen Primärem und Sekundärem, über die allgemeine Ausdehnung des Literarischen hinausgehen, kann man zunächst quantitativ argumentieren. Schriftsteller:innen werden im 21. Jahrhundert in einem nie gekannten Ausmaß interviewt. Das liegt zum einen an medienhistorischen Entwicklungen, insbesondere der Expansionen des Fernsehens und des Internets; zum anderen setzte am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem im deutschsprachigen Raum eine Eventisierung des Literaturbetriebs mit der Neugründung zahlreicher Literaturhäuser und -festivals ein. Im Zuge der von Hans Ulrich Gumbrecht für die Gegenwart diagnostizierten Transformation von einer Sinn- in eine Präsenzkultur lässt sich das Interview als »prominentestes Element einer literarischen Präsenzkultur mit ihrem Interesse an Ereignis und Performanz«Footnote 18 begreifen. »Als deutscher Autor«, so konstatiert der Österreicher Daniel Kehlmann, »ist man ständig, ununterbrochen, auf Schritt und Tritt ein Befragter. Paßt man nicht auf, kann es passieren, daß man diese fragende Instanz internalisiert und plötzlich mit sich selbst beim Zähneputzen oder Schuhezubinden im Interviewton spricht.«Footnote 19 Und eben nicht nur beim Schuhezubinden: Kehlmann verfasste seine mit diesem Zitat einsetzende Göttinger Poetikvorlesung von 2006 ebenso in Interviewform wie Wolfgang Herrndorf als Dankesrede zum 2008 erstmals verliehenen Deutschen Erzählerpreis ein selbstverfasstes fiktionales Interview vortrug, in dem der fiktive Kosmonaut Friedrich Jaschke befragt wird.

Wenn das Selbstinterview beim Schuhezubinden in den metafiktionalen Passagen von Kehlmanns fiktionaler Poetikvorlesung nachklingt, ist das bezeichnend auch für die generell hohe Durchlässigkeit zwischen Kunst und Alltagsrealität in der Gegenwartsliteratur. Damit ist ein qualitativer Grund für die literarische Attraktivität des Interviews benannt: Seine Form garantiert – im fiktionalen Interview: suggeriert – eine besondere Wirklichkeits- und Alltagsverbundenheit unabhängig von den Inhalten des Gesagten schon dadurch, dass jedes gedruckte Interview auf eine reale Begegnung zweier Menschen und damit auf etwas ganz Normales referiert. »Ein Gespräch ist keine Hochkunst, sondern plebejische Kunst, einfache Kunst, Kunst unter Menschen«Footnote 20 – und in den Augen Alexander Kluges damit für eine zeitgemäße Ästhetik ausgesprochen attraktiv: »die Literatur der Zukunft wird sehr stark dialogischen Charakter haben.«Footnote 21 Stand die Komplexitätsreduktion insbesondere in deutschsprachigen ästhetischen Debatten lange unter Generalverdacht, profitiert das Interview vom neuen Interesse an einer ›einfachen‹ Kunst.

Im Kontext einer zunehmend anti-elitär ausgerichteten Ästhetik bietet sich die Nutzung der ›plebejischen‹ Interviewform auch deshalb an, weil sich mit ihrer Hilfe gesellschaftlich und/oder ästhetisch unterprivilegierten Stimmen eine Bühne bereiten lässt. Während Arbeiter:innen im bürgerlichen Roman wie »Kreuzritter und Kondensstreifen«Footnote 22 platziert worden sind (so Martin Walser im Vorwort der Bottroper Protokolle) und auch die von Röggla befragten Unternehmensberater:innen nicht gerade Stammgäste hochliterarischer Werke waren, können sie im Interview vermeintlich selbst und in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen. Die kulturelle Aneignung ist dabei zumindest erzähltechnisch insofern reduziert, als in der Regel keine Erzählinstanz vermittelnd zwischen Figur und Lesende tritt. Jedes Interviewbuch ist gewissermaßen qua Genre dem Own Voice Movement verpflichtet.

Einerseits. Andererseits ist die ›eigene Stimme‹ des Interviewten bei Runge und Röggla ebenso wie in Feridun Zaimoglus Kanak Sprak (1995) im Schreibprozess bearbeitet worden und in fiktionalen Interviewromanen vollständig fingiert. Selbst journalistische Interviews in Zeitungen und Zeitschriften liefern keine verlässliche Dokumentation der primären Kommunikationssituation, sondern eine »›Sekundärsituation‹, in der dieses Gespräch […] an ein Publikum verbreitet wird«.Footnote 23 In einem von Christian Thiele verfassten journalistischen Interview-Ratgeber heißt es dazu: »Ein gut verschriftlichtes Interview ist weniger authentisch (korrekte Wiedergabe des tatsächlich Gesagten) als attraktiv (für den Leser).«Footnote 24 Dazu gehört u. a., dass selbst in journalistischen Interviews die Authentizität zur Not konstruiert werden muss, z. B. indem man spontane und nach Mündlichkeit klingende Sprechweisen in den originalen Interviewtext hineinredigiert. Damit ein Interview erfolgreich ist, muss in ihm die Nicht-Inszeniertheit inszeniert werden.Footnote 25

Aber damit ist das redigierte Interview nicht einfach zum fiktionalen Text geworden. Bei Thiele heißt es im direkten Anschluss an den zuletzt zitierten Satz weiter: »Die Wahrheit des Gesprächs muss durch das Redigieren konzentriert und kondensiert werden für die Schriftfassung.«Footnote 26 Anders gesagt: Gerade weil das verschriftlichte Interview nicht ganz authentisch ist, weil es zu einem gewissen Anteil ein Kunstprodukt ist, kommt es der Wahrheit des Gesprächs näher. Diese Überzeugung findet sich bei allen professionellen Interviewer:innen der letzten Jahrzehnte, von André Müller bis zu Moritz von Uslar.Footnote 27 Journalistische Interviews sind nicht entweder Fakt oder Fiktion, sondern setzen Täuschung und Wahrheit in ein produktives Spannungsverhältnis. Das Interview ist immer Mischware – »weder autonomes Kunstwerk noch heteronomer Gebrauchstext, sondern stets beides«.Footnote 28

Genau diese Janusköpfigkeit macht Interviews für die Gegenwartsästhetik so attraktiv. Wenn man mit Paul Ricœur davon ausgeht, dass Literatur grundsätzlich an die Transformation von Mündlichkeit in Schriftlichkeit gebunden ist und durch den von diesem Prozess bewirkten Referenzverlust entsteht (der das Kunstwerk zu einem fiktionalen und autonomen macht),Footnote 29 dann stellen gedruckte Interviews ein Schnittstellenphänomen dar. Sie halten mit ihrer Referenz auf ein vorangehendes Gespräch und mit ihrer konzeptuellen Mündlichkeit diesen Transformationsprozess in der Schwebe und bevölkern sozusagen das Niemandsland zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Heteronomie und Autonomie.

Wie sich dieses Areal auch mit gefilmten Interviews bespielen lässt, hat Alexander Kluge mit Dutzenden Fake-Interviews vorgeführt: Im Stil seiner faktualen Kulturgespräche interviewt er Helge Schneider oder den Schauspieler Peter Berling, die improvisiert in diverse Rollen schlüpfen und darin z. B. als Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs befragt werden. Im Unterschied zu manipulativen fake news geht es Kluge um eine Fälschung, die ihre Aufdeckung schon mitkonzipiert – und genau damit Lustgewinne und Reflexionsprozesse anregt.Footnote 30 »Dieser Muskel, der in einem Menschen fähig ist, zwischen Fiction und sogenannter Realität zu unterscheiden«, so Kluges Konzept, »den kann man ja nur strapazieren, wenn man beides bunt mischt«.Footnote 31 Während man die für das Interview konstitutive Verbindung von Authentizität und Inszenierung lange als ästhetischen Mangel verbucht hat, versteht man diese Unreinheit in der Gegenwart – darin dem internationalen Boom der Autofiktion vergleichbar – als Gewinn.

Einer postautonomen Ästhetik kommt das Interview mit Künstlerinnen und Schriftstellern besonders entgegen. Das gilt schon aufgrund seiner spezifischen Sozialform: Interviews sind bereits etymologisch an eine Zusammenkunft gebundenFootnote 32 und immer eine Koproduktion – der im Interview entstehende Text ist ein kollaborativer und in hohem Maße kontextbasiert. Und das kommunikative Dreieck der Interviewkonstellation umfasst neben fragender und antwortender Person stets auch das anwesende oder mitbedachte Publikum. Interviewtexte entstehen nie ›für sich‹, sondern stets für die mediale Verbreitung und sind insofern immer auch nicht-autonome Gebrauchstexte.

So unterschiedlich reale Interviews inhaltlich ausgerichtet sind, lenken sie die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf Person und Produktionsprozess, destabilisieren das Konzept autonomer Kunst also in Richtung kunstpsychologischer und -soziologischer Dimensionen. Wenn man so will, handelt es sich bei Interviews um dialogisierte Autosoziobiografien. Dass dies im Fall von Kunstschaffenden auf ein zunehmendes Interesse trifft, lässt sich auch mit Blick auf den u. a. von Andreas Reckwitz für die post-industriellen Kulturen diagnostizierten Prozess »gesellschaftlicher Ästhetisierung«Footnote 33 plausibilisieren. Wo das Kreative zur »hegemoniale[n] Subjektform spätmoderner Kultur« avanciert, werden Künstler:innen von »kulturelle[n] Nischenfigur[en]« zu »Prototypen gesellschaftlich anerkannter Kreation«.Footnote 34 Was sie über ihr Kreativsein zu sagen haben, gewinnt an Marktwert auch außerhalb des im engeren Sinn kulturellen Feldes. Deshalb besteht die Kunst des Interviews darin (um noch einmal den Interviewkünstler Alexander Kluge zu zitieren), die »Ich-Schranke« des interviewten Menschen zu öffnen, ihn »von seiner Distributionssphäre der Öffentlichkeit in die Produktionssphäre« zu bringen, dahin, »wo er selber ist, wenn er arbeitet, nicht dahin, wo er verkauft«.Footnote 35 Zu beobachten, inwiefern das gelingt – auch darin liegt ein besonderer Reiz der Interviewrezeption.

Gérard Genette hat zwar recht damit behalten, dass das Interview »unweigerlich einen großen Aufschwung erleben wird«.Footnote 36 Die in dieser 1987 formulierten Prognose mitschwingenden zynisch-apokalyptischen Untertöne finden in der Ästhetik der Gegenwart aber wenig Nachklang. Die Karriere des literarischen Interviews, die journalistische Gespräche mit Schriftsteller:innen ebenso umfasst wie fiktionale Interviewtexte, steht vielmehr beispielhaft für eine Textgeneration, deren ästhetische Koordinaten selbst der avancierteste Paratextforscher nicht hat vorhersehen können. Beobachten lässt sich an der Entparatextualisierung des Interviews, wie vermeintliche Beiwerke aus der literarischen Peripherie ins Zentrum drängen – und damit zu jenen tektonischen Verschiebungen beitragen, die charakteristisch für die Literatur der Gegenwart sind.