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Neue Ansätze und Perspektiven zur sprachlichen Raumkonzeption und Geolinguistik

Fallstudien aus der Romania und der Germania

von Roger Schöntag (Band-Herausgeber:in) Laura Linzmeier (Band-Herausgeber:in)
©2024 Sammelband 364 Seiten

Zusammenfassung

Der Band versammelt Beiträge der im Jahr 2021 veranstalteten Online-Tagung Neue Ansätze und Perspektiven zur sprachlichen Raumkonzeption und Geolinguistik. Der Fokus liegt auf Fallstudien aus der Romania und Germania, die sich mit der Verteilung, Ausgestaltung und Wahrnehmung sprachlicher Formen und ihrer Variation im Raum beschäftigten. Der Sammelband legt hierbei eine Definition des Konzepts „Sprachraum“ im weiteren Sinne zugrunde, der zunächst als durch physische (d.h. geographische und humane) Faktoren geprägt verstanden wird, der llerdings auch durch multimediale Sprachverwendung und moderne Darstellungsformen und Erforschungsmethoden eine Erweiterung ins Digitale und Virtuelle erfahren kann. Die germanistischen und romanistischen Beiträge eröffnen neue Perspektiven für die Erforschung und die multimediale Darstellung der Sprachdynamiken realer und virtueller Räume und liefern in diesem Sinne neue Ansätze zur Geolinguistik.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Raumkonzeption und Geolinguistik
  • „Das ist doch der Dialekt von Hannover“: Die diatopische Lokalisierung standardnaher Sprache durch Sprachbenutzer:innen
  • Dialect geography “from below” – Toward a typology of subjective spatial delimiting factors
  • Zur geolinguistischen Erkundung des Atlas zur Salzburger Alltagssprache (ASA)
  • Nome di battesimo e articolo espletivo – crowdsourcing e cartografica linguistica nello studio della variazione linguistica in Trentino-Alto Adige e Veneto
  • Die Entstehung des ALD (Atlante linguistico del ladino dolomitico dolomitico e dei dialetti limitrofi): ein biblio- und biographischer Rückblick über ein halbes Jahrhundert Atlasarbeit
  • Sociolinguistic features of internal migrations in an Alpine valley: the CoLIMBi project
  • Io lo so di non parlare italiano! – Eine mikrodiachrone Studie zum Toskanischen im Wandel: Neue Ergebnisse
  • Renouveler la visualisation de l’espace francoprovençal à l’aide de la collecte de données participative
  • Von Rotterdam bis Rott am Inn – Die Romania Submersa und die Etymologie von frz. route
  • Sprachbewusstsein in Portugal im 16. Jahrhundert
  • Der Einfluss von Geofaktoren auf die ethnische Vitalität des Samaná-Kreyòl in der Dominikanischen Republik
  • Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung und der digitalen Kommunikation für das Sassaresische
  • Geofaktoren als Determinanten der Sprachraumgenese – ein theoretischer Abriss mit Fallbeispielen aus der Romania
  • Index

Roger Schöntag/Laura Linzmeier

Einleitung: Raumkonzeption und Geolinguistik

Die grundlegende Idee des vorliegendes Bandes sowie der vorausgegangenen Tagung war eine Erweiterung des Begriffes ʻGeolinguistikʼ bzw. seine Zurückführung auf seine intuitive Bedeutung. In der Forschung wird damit meist entweder alternativ die traditionelle Dialektologie bezeichnet oder aber in Abgrenzung dazu neuere Erhebungs- und Verarbeitungsmethoden der Varietätenlinguistik. Die vorliegenden Beiträge, die hier zu diesem Thema versammelt sind, sollen aber ein weiteres Spektrum zeigen, nämlich tatsächlich die allgemeinste Konzeption von ʻGeolinguistikʼ im Sinne einer Korrelation von geographischem Raum und Sprache (oder Varietät). Dazu gehört zunächst einmal die prinzipielle Frage, was einen Sprachraum ausmacht, wie er darstellbar ist, womöglich unter Aspekten von sprachlicher Heterogenität und Mobilität bzw. Migration der Sprecher. Die Möglichkeiten der Erfassbarkeit eines sprachlichen Raumes müssen immer wieder neu ausgelotet werden, durch neue Ansätze, Perspektiven, Erhebungsmethoden und Darstellungsweisen. Dazu gehören zweifelsohne die sich immer weiter entwickelnden digitalen Möglichkeiten der Datenverarbeitung, aber auch neue Forschungsansätze wie die vermehrte Berücksichtigung der Perzeption der Sprecher (cf. Laienlinguistik), die Berücksichtigung von geographischen Gegebenheiten des jeweiligen Areals (cf. Geofaktoren), das individuelle Sprechverhalten in bestimmten Kommunikationssituationen (cf. Repertoire), das allgemeine Wechselspiel von sozio- kulturellen, politischen und sprachlichen Entwicklungen oder auch metasprachliche, Zeugnisse von historischen Konstellationen, in denen Sprachräume ideologisch verteidigt werden. Sprachen sind immer in zugehörigen Territorien verankert, auch wenn diese sich durch Migration oder sozio- politische Umstände ändern bzw. verschieben (z.B. Diaspora-Varietäten bzw. Außenmundarten) und heutzutage sich sogar als digitale Sprachräume konzipieren können. Um die komplexen historisch gewachsenen Strukturen und ihre Veränderungen auch im Konflikt bzw. Kontakt von Standardsprache(n) und Varietäten zu erfassen, braucht es immer wieder neue Perspektiven. Der vorliegende Sammelband soll dazu einen kleinen Beitrag leisten.

Für eine erste Übersicht soll im Folgenden daher in Ergänzung zu den jeweiligen englischen abstracts, die den einzelnen Artikeln vorgeschaltet sind, eine kurze thematische Zusammenfassung der Beiträge gegeben werden:

Stefan Ehrlich widmet sich in seinem Artikel der Stadtsprache von Hannover („Das ist doch der Dialekt von Hannover“: Die diatopische Lokalisierung standardnaher Sprache durch Sprachbenutzer:innen. Perzeptive Geolinguistik im DFG-Projekt Die Stadtsprache Hannovers). Im Rahmen des zugehörigen Projektes werden dabei zwei Ziele verfolgt: zunächst ein objektsprachliches, indem die historische Stadtsprache von Hannover (Hannöversch) anhand von verschiedenen Variablen in Bezug auf ihre Standardnähe untersucht wird und zum anderen ein metasprachlicher perzeptiver Aspekt, nämlich der Topos vom „reinsten Hochdeutsch“. Dafür wurde eine Erhebung mit 100 Personen durchgeführt, mit denen neben Aufgaben zur Sprachproduktion auch Tests zur Lokalisierung der Norm des Hochdeutschen durchgeführt wurden. Dabei kommen neue Verfahren des Mental Mappings (Draw-a-map-Task) zum Tragen, um metasprachliches Raumwissen zu generieren und darzustellen.

Philipp Stöckle und Christian Schwarz untersuchen in ihrem Beitrag Dialect geography “from below” – Toward a typology of subjective spatial delimiting factors dialektale Variation und Sprachraumgrenzen in der Wahrnehmung der Sprecher selbst. Die Perzeption der Sprecher bezüglich ihres eigenen Varietätenraumes in Bezug auf die Salienz diatopischer Merkmale und ihre Distribution sowie die Delimitierung des zugehörigen Sprachraumes eröffnet eine wichtige zusätzliche Perspektive zu den von den Linguisten „objektiv“ erhobenen Daten. Die dazu gewählten Untersuchungsgebiete sind einmal der Südschwarzwald/Oberrhein (Lörrach, Freiburg, Kaiserstuhl, Lahr, Hotzenwald, Münstertal, Elztal etc.), d.h. Verbreitungsräume des Alemannischen in verschiedener Ausprägung, die deutschsprachige Schweiz (Hoch- bzw. Höchstalemannisch) und zum anderen Südtirol (Südbairisch) mit der Hauptstadt Bozen und all seinen Seitentälern (Ahrntal, Passeiertal, Vinschgau, Sarntal, Pustertal, Eisacktal etc.).

Julian Blaßnigg, Konstantin Niehaus, Simon Pröll, Simon Pickl und Stephan Elspaß präsentieren in ihrem Artikel Zur geolinguistischen Erkundung des Atlas zur Salzburger Alltagssprache (ASA). Erste Ergebnisse zu einem zentralen Sprachraum Österreichs einen Einblick in ihr laufendes Projekt. Ausgangspunkt war der bereits bestehende Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA), dessen Konzeption auf das österreichische Bundesland Salzburg übertragen wurde, welches dialektal in einem Übergangsraum vom Mittel- zum Südbairischen liegt. In Zusammenarbeit mit den Salzburger Nachrichten, wurden von Oktober bis Dezember 2019 die Erhebungen gestartet (Software LimeSurvey) und dabei 76 Variablen vor allem aus dem Lexikon, aber auch der Phonetik, Grammatik und Pragmatik abgefragt. Von den Probanden wurden Wohnort, Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss, Berufsgruppe, Wohndauer und Herkunft der Eltern ermittelt, was am Ende insgesamt 9.668 Datensätze ergab. Methodisch wurde mit Clusteranalyse und Multidimensionaler Skalierung (MDS) gearbeitet, um diverse Einflussfaktoren wie Mobilität, administrative Gliederung, Urbanität oder Infrastruktur in Bezug auf die diatopische Variation darzustellen, d.h. vor allem Gemeinsamkeiten und Übergänge in den mikrodiatopischen Sprachräumen.

Stefan Rabanus beschäftigt sich in seinem Beitrag Nome di battesimo e articolo espletivo – crowdsourcing e cartografica linguistica nello studio della variazione linguistica in Trentino-Alto Adige e Veneto mit der Artikelverwendung vor Eigennamen in Varietäten und Minderheitensprachen des süddeutschen und norditalienischen Raums (v.a. Südtirol). Die Daten, die mithilfe der Crowdsourcing-Plattform VinKo erhoben wurden, deuten auf einen starken Artikelgebrauch an der deutsch-italienischen Sprachgrenze in Südtirol (Autonome Provinz Bozen-Südtirol) hin, insbesondere in den oberitalienischen deutschen Minderheitensprachen Fersentalerisch, Zimbrisch und Sauranisch (cf. dt. Zahre, it. Sauris). Der Rekurs auf den Artikel grenzt die Sprachen und Varietäten vom jeweiligen Standard ab und kann ebenfalls als Ausdruck von Lokalidentität angenommen werden.

Hans Goebl lässt in seinem Beitrag Die Entstehung des ALD („Atlante linguistico del ladino dolomitico dolomitico e dei dialetti limitrofi“): ein biblio- und biographischer Rückblick über ein halbes Jahrhundert Atlasarbeit sein Wirken im Rahmen des Großprojektes ALD Revue passieren und wirft im Rahmen dessen auch einen kritischen Blick auf die technischen Neuerungen, ihre Möglichkeiten und Probleme. Im Gegensatz zu den bisherigen Sprachatlanten wie dem ALF, dem AIS, dem NALF oder dem DSA sollte das ab 1972 gestartete Projekt des ladinischen Sprachatlasses dezidiert Mehrsprachigkeit erfassen. Innovativ war zudem die Ausweitung des Erhebungsradius auf die angrenzenden Varietäten sowie die konsequente Nutzung von aktueller EDV (z.B. Digital Map Generator). Das Ergebnis der beiden Projektstufen ALD-I (1985–1998) und ALD-II (1999–2012) war ein zweibändiger Sprachatlas (1998, 4 Bände; 2012, 5 Bände) sowie schließlich der digitALD und der aus 21 ALD-Messpunkten des ladinischen Sprachraumes erhobene Sprechende Sprachatlas.

Chiara Meluzzi geht in ihrem Beitrag Sociolinguistic features of internal migrations in an Alpine valley: the CoLIMBi project der narrativen und phonetischen Variabilität im Sprachverhalten von nach Biella (Piemont, Italien) zugezogenen Sprechern des Venezianischen und Sardischen nach. Basierend auf einer ersten Analyse des CoLIMBi-Korpus wird aufgezeigt, dass das Sardische eine weit höhere Vitalität als das Venezianische aufweist und nach wie vor in der innerfamiliären Kommunikation Verwendung findet. Dies wird mit dem engen Zusammenhalt der sardischsprachigen Einwanderer und dem Wunsch nach Aufrechterhaltung der sardischen Kultur begründet. Für Sprecher des Venezianischen scheint diese Form der Gemeinschaft zu fehlen, was die Aufgabe der Varietät begünstigt haben kann.

Simona Fabellini widmet sich mit ihrem Beitrag „Io lo so di non parlare italiano!“Eine mikrodiachrone Studie zum Toskanischen im Wandel: Neue Ergebnisse der Frage nach der Präsenz und Beschaffenheit dialektaler Merkmale im Sprachgebrauch von Sprechern aus Montaione, einem kleinen in der Provinz Florenz zwischen den Städten Florenz, Pisa und Siena gelegenen Ortes, in dem vier toskanische Dialektgebiete aufeinandertreffen. Anhand einer Überprüfung diatopischer Phänomene, die ergänzt wird durch Sprecheraussagen zur Wahrnehmung und Zuschreibung der dialektalen Formen, kann festgehalten werden, dass der Dialektgebrauch grundsätzlich zunehmend durch die Nivellierung dialektal markierter Strukturen geprägt ist und dass sich die Beurteilung einiger lokaldialektaler Phänomene seitens jüngerer Sprecher in das Diastratische/Diaphasische verschoben hat.

Anja Mitschke beschäftigt sich in ihrem Beitrag zum Frankoprovenzalischen (Renouveler la visualisation de l’espace francoprovençal à l’aide de la collecte de données participative) mit einer modernen Form der sprachwissenschaftlichen Feldarbeit und Sprachraumanalyse: Crowdsourcing. Das Sammeln von GPS-Daten und begleitenden soziolinguistischen Informationen der Sprecher lässt Rückschlüsse auf ihre Mobilität und ihre Sprachwahl in Abhängigkeit von ihrer Geolokation zu. Die Daten verdeutlichen, dass eine traditionelle Vorstellung eines zusammenhängenden Sprachraumes des Frankoprovenzalischen nicht zeitgemäß ist: das mehrsprachige Gebiet ist v.a. durch die starke Präsenz des Französischen und Italienischen geprägt, der Gebrauch des Frankroprovenzalischen erfolgt in spezifischen Situationen, die durch das Geotracking sichtbar werden.

Thomas Krefelds Beitrag Von Rotterdam bis Rott am Inn – Die Romania Submersa und die Etymologie von frz. ʻrouteʼ zeigt anhand deutscher oder niederländischer Toponyme mit dem Formativ Rott/Rott-, dass eine Erklärung über das Germanische zu kurz greift und vielmehr eine Herleitung über den Romanischen Substrateinfluss anzunehmen ist. Auffällig ist hierbei, dass Orte, die das toponomastische Formativ in ihrer Bezeichnung beinhalten, häufig in unmittelbarer Nähe von früheren römischen Straßen zu finden sind und daher das lateinische rupta (eine Ellipse von via(m) rupta(m)) in der Bedeutung ʻunterbrochenʼ zugrundegelegt werden sollte.

Barbara Schäfer-Prieß beschäftigt sich in ihrem Beitrag Sprachbewusstsein in Portugal im 16. Jahrhundert. Das Verhältnis von Sprache, Sprachraum und Nationalstaat im Spiegel zeitgenössischer Werke mit einem metasprachlichen Aspekt von Sprachraum. Während im Zuge der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel verschiedene Herrschaften und auch Sprachräume entstanden bzw. sich verschoben, sind ab dem 16. Jahrhundert nur noch zwei Königreiche bestimmend, nämlich Portugal und Spanien. Entsprechend wird auch in den maßgeblichen Werken über diese territoriale Sprachhoheit verhandelt, wobei vor allem die Portugiesen sich nach einer kurzen kolonialen Blüte in Zugzwang fühlen die Bedeutung ihrer Sprache zu verteidigen. Konkret wird deshalb das Sprachbewusstsein in der Gramática da linguagem portuguesa (1536) von Fernão de Oliveira (1507–1581) und dem Diálogo em louvor da nossa linguagem (1540) von João de Barros (1496–1570) untersucht sowie in den Regras (1574) von Pero de Magalhães de Gandavo (ca. 1540–1580) und dem Orígem da língua portuguesa (1606) von Duarte Nunes de Leão (ca. 1530–1608).

Jessica Stefanie Barzen diskutiert in ihrem Beitrag Der Einfluss von Geofaktoren auf die ethnische Vitalität des Samaná-Kreyòl in der Dominikanischen Republik den Einfluss von Geofaktoren auf die Genese und den drohenden Untergang des Samaná-Kreyòl auf der Halbinsel Samaná im Nordosten der Dominikanischen Republik. Dieses französisch basierte Kreol ist eine Varietät des Haiti-Kreols und wurde durch die Migrationsbewegungen infolge der Haitianischen Revolution (1791) auf die Halbinsel Samaná gebracht. Bis Haiti sich im Jahre 1804 für unabhängig erklärte, flüchteten ein Vielzahl französischer Kolonisten in die ebenfalls auf der Insel Hispaniola entstandene spanische Kolonie Santo Domingo. Die Genese dieser Diaspora-Varietät und ihr Erhalt hängen demnach eng mit Migration und der Besiedlung eines geographischen Rückzugsgebietes (Halbinsel, Gebirge) zusammen; dazu gehört auch die mangelnde Infrastruktur und die Tatsache, dass es eine Grenzregion zu Haiti bildet. Der einsetzende Sprachverfall wiederum ist in Zusammenhang mit der dominanten Staatssprache Spanisch einerseits und der mangelnden Kodifizierung des Samaná-Kreyòl andererseits zu sehen.

Laura Linzmeier bespricht in ihrem Artikel Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung und der digitalen Kommunikation für das Sassaresische – Aspekte einer modernen Sprachraumkonstituierung das Angebot digitaler Ressourcen für das Sassaresische, eine im Nordwesten Sardiniens verbreitete sardisch-korsische Varietät. Im Vordergrund steht die Zusammenstellung und Diskussion digitaler Medien und Dienste, die der Verbreitung, Bereitstellung, Verarbeitung und Schaffung von Nutzungsbereichen für das Sassaresische dienen und das Bewusstsein für den sassaresischen Sprachraum, der durch die Sprachbenutzer – auch in virtuellen Räumen – aktiv mitgestaltet wird, prägen können.

Roger Schöntag untersucht in seinem Beitrag Geofaktoren als Determinanten der Sprachraumgenese – ein theoretischer Abriss mit Fallbeispielen aus der Romania die Abhängigkeit von geographischen Gegebenheiten wie Bodenrelief, Klima, Vegetation etc. in Bezug auf die Entstehung und Veränderung von Sprachräumen und ihren Grenzen. Dabei wird zunächst untersucht wie im Rahmen der Besiedlungsgeschichte und der Entwicklung früher Hochkulturen im Vorderen Orient und in Europa die Geofaktoren die Wahl eines Siedlungsplatzes bzw. einer Stadt bestimmten und unter welchen Bedingungen diese Siedlung, die dann auch einen Sprachraum ausbildet weiter prosperiert. Im Weiteren wird dann das Zusammenspiel von politischen und sozio- kulturellen Faktoren in Korrelation mit den erwähnten Geofaktoren bei der weiteren Konstituierung von Sprachräumen und ihren Grenzen dargestellt, was schließlich anhand der Minderheitensprachen Aranesisch (Val d’Aran, Pyrenäen), Frankoprovenzalisch (Aosta/Evolène, Alpen) und Jersey- Französisch (Kanalinseln) exemplifiziert wird.

Stefan Ehrlich

(Hannover)

„Das ist doch der Dialekt von Hannover“: Die diatopische Lokalisierung standardnaher Sprache durch Sprachbenutzer:innenPerzeptive Geolinguistik im DFG-Projekt Die Stadtsprache Hannovers

Abstract: For more than 150 years, Hanover has been known as the locus of the “best and purest” articulation of the German language. It is a common belief amongst the German speaking community that Hanoverians speak the most standardized variety of High German, but sociolinguistics has never investigated the linguistic reality of the capital of Lower Saxony and the beliefs of its inhabitants. This work-in-progress report presents the geographical data collected by the sociolinguistic and perceptual variationist DFG project Die Stadtsprache Hannovers, which for the first time intents to satisfy this desideratum. By applying a combination of data about knowledge attitudes of language users (gathered from perceptual experiments such as stimuli localisation and mental mapping) and the results of a representative survey, the paper will not only allow a perspective on the individual and social dimension of this “language myth” but also show, how vertical defined language is located geographically by German language users.

Keywords: perceptionmental mappingstandard High German in Hanoverstimulus localisationlanguage myth

1. Einleitung und Kontext: Das Projekt Die Stadtsprache Hannovers

Hannover gilt unter den Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzern des deutschen Sprachraums als der Ort des „besten Hochdeutsch“, wie in laikalen Sprachnormierungsdiskursen und selbst im eigenen Stadtmarketing schnell ersichtlich wird. Trotz der enormen Präsenz des Topos vom reinsten Hochdeutsch in Hannover, wurde die sprachliche Realität der niedersächsischen Hauptstadt bislang kaum untersucht. Es finden sich einzelne Arbeiten, die der Herkunft des Topos nachgehen (cf. Elmentaler 2012; Stellmacher 2018) oder die fast in Vergessenheit geratene Stadtsprache Hannöversch überblicksartig fokussieren (cf. Blume 2001). Das DFG-Projekt Die Stadtsprache Hannovers1 widmet sich nun seit Januar 2020 mit variations- und perzeptionslinguistischen Methoden diesem Desiderat.

In der Untersuchung steht die Aussprache insbesondere in standardnahen Sprachlagen im Vordergrund, allerdings werden ebenso für den ostfälischen und insgesamt niederdeutschen Sprachraum dokumentierte Variablen untersucht. Das Projekt versucht, mit einem breiten Sampling die Sprachvariation in Hannover zu beleuchten und aufzuzeigen, wie standardnah Hannoveranerinnen und Hannoveraner wirklich sprechen. Neben dieser objektsprachlichen Herangehensweise werden mit perzeptionslinguistischen und sprachbiografischen Methoden Normhorizonte und regionalsprachliche Wissensbestände der Bewohnerinnen und Bewohner der ostfälischen Metropole untersucht, um besondere Muster, d.h. (meta-)sprachliches Wissen zur Stadtsprache Hannöversch und die Tradierung des Topos vom reinsten Hochdeutsch am „Ort des Geschehens“ zu untersuchen. Um diese Fragestellungen zu bearbeiten, wird eine Erhebung mit 100 Personen durchgeführt, die in einem experimentellen Erhebungsteil zunächst verschiedene Aufgaben zur Sprachproduktion (Bilderbenennung, Lücken- und Vorlesetexte etc.) und zur Perzeption (Norm, Lokalisierung) absolvieren sollen und anschließend sprachbiografisch interviewt werden.

Das Projekt bleibt bei der Untersuchung an einem Ort und versteht sich als ein soziolinguistisches Vorhaben, im Zuge dessen Variation vor allen Dingen entlang soziodemographischer Variablen beleuchtet wird, auch wenn die Gewährspersonen aus unterschiedlichen Vierteln des inzwischen sehr weitläufigen Gebiets der Stadt kommen. Dass die horizontale Dimension dennoch eine Rolle insbesondere im perzeptionslinguistischen Projektteil spielt, soll der vorliegende Artikel zeigen. Es handelt sich hier um einen Werkstattbericht, denn das Projekt ist noch nicht abgeschlossen und die Datenauswertung befindet sich noch in den letzten Zügen. Zunächst soll aufgezeigt werden, warum auch ein syntopisches Projekt der Stadtsprachenforschung Geodaten benötigen könnte und warum diese gerade in Bezug auf Hannover wertvoll sind. Im dritten Kapitel wird die geografische Fragestellung vorgestellt und Anknüpfungspunkte aus dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs aufgezeigt. Darauf folgt eine Beschreibung der angewendeten Methodik in Bezug auf die geografischen Daten und eine kurze Zusammenfassung bisheriger Tendenzen und Praxiserfahrungen.

2. Wozu braucht man Geodaten in einem syntopischen Projekt?

Das Setting des Projekts Die Stadtsprache Hannovers ist mit der Fokussierung auf das reine Stadtgebiet2 wenig areal ausgerichtet, auch wenn nach Stadtteilen differenziert wird.3 Dennoch werden horizontale Fragestellungen bearbeitet, denn mit dem Topos vom reinsten Hochdeutsch ist der Thematik eine geografische Komponente inhärent.

Schon in frühen Arbeiten, die sich mit der deutschen Sprache und ihrer „korrekten“ Aussprache beschäftigen, finden sich Aussagen zu Hannover und der umgebenden Region, die zum ostfälischen und damit niederdeutschen Sprachgebiet gehört. Erste Quellen, die dem Norden Deutschlands eine besonders gute Aussprache zuschreiben, finden sich bereits Ende des 17. Jahrhunderts, also noch in der späten Phase des Sprachwechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen, der zumindest in Hannover als vollständig abgeschlossen betrachtet werden kann. So spricht Bödiker (1698:182–183) dem gesamten Niederdeutschen Sprachraum eine gute Aussprache des Hochdeutschen zu, wenn er schreibt: „Ein gebohrner NiederSachse/ Märcker/ Pommer/ Westphaler/ Braunschweiger/ u. s. w. kan die Hochdeutsche Sprache am reinsten außsprechen/ besser als die Oberländer.“ In den folgenden Jahrzehnten wird dieser Raum verengt, bspw. auf ein Gebiet bis zur unteren Elbe (cf. Kloppstock 1855, [1779/1780]:360), größere Städte im Königreich Hannover (cf. Sonne 1829:36) und schließlich nur noch auf Hannover (cf. Huß 1879:3)4. Auch wenn es sich hierbei im Grunde um klassische Normierungsdiskurse handelt, so wird hier der „guten“ Aussprache nicht etwa eine bestimmte soziale Herkunft oder Situation zugeordnet, sondern eine, im Kontext des damaligen deutschen Sprachgebiets, kleinräumige Verbreitung.

Bis heute hält die konzeptuelle Verknüpfung von Hochdeutsch mit Norddeutschland und insbesondere mit (der Region) Hannover5 an. Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei „Hochdeutsch“ um ein laikales Konzept von Standardnähe handelt, denn in dialektgeographischer Hinsicht ist das Hochdeutsche das Sprachsystem des mittel- und oberdeutschen Raumes, während in Norddeutschland niederdeutsche Varietäten den Basisdialekt bilden (cf. Kap. 4.4). Bereits in verschiedenen Projekten der aktuellen perzeptiv ausgerichteten Regionalsprachenforschung ist dieser Topos, meist am Rande, aufgetreten. So finden sich in den Daten des Kieler DFG-Projektes zum deutschen Sprachraum aus Sicht linguistischer Laien einige Belege in den Aussagen der Befragten (u. a. bei Hundt 2017). Hoffmeister (2017) fasst die Aussagen seiner Gewährsleute in besagtem Projekt wie folgt zusammen:

Details

Seiten
364
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631906842
ISBN (ePUB)
9783631908648
ISBN (Hardcover)
9783631889909
DOI
10.3726/b21096
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 364 S., 44 farb. Abb.

Biographische Angaben

Roger Schöntag (Band-Herausgeber:in) Laura Linzmeier (Band-Herausgeber:in)

Roger Schöntag ist Privatdozent an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Seine Forschungsschwerpunkte sindSprachgeschichte, Sprachkontakt, Diachrone Migrationslinguistik, und Geolinguistik. Laura Linzmeier ist akademische Rätin auf Zeit am Institut für Romanistik der Universität Regensburg (UR). Ihre Forschungsschwerpunkte sind historische Soziolinguistik, Varietäten Sardiniens und maritime Schriftlichkeit.

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Titel: Neue Ansätze und Perspektiven zur sprachlichen Raumkonzeption und Geolinguistik