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»Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv« (1918)

K. L. Hib (Hermann Broch)

»Unpublished Writings from the Casanova Archive at Dux« (1918)

K. L. Hib (Hermann Broch)

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Im Jahr 1918 veröffentlichte der damals noch unbekannte Schriftsteller Hermann Broch einen literarischen Kurztext, »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv«, unter Pseudonym in der Wiener Wochenzeitschrift Der Friede. Dieses Broch bisher nicht zugeordnete Frühwerk, ein Stück historical fiction, gibt sich als fehlender Teil der Erinnerungen Giacomo Girolamo Casanovas (1725-1798) aus und reiht sich als solches in den extensiven Textkorpus ein, der im frühen 20. Jahrhundert Casanova zum Thema hatte – und stellt dabei gleichzeitig die tradierten Muster herkömmlicher Darstellungen des berühmten Venezianers auf den Kopf. Der Text, der den magischen Realismus vorwegnimmt, gibt das fiktive Gespräch zwischen Casanova und dem Vicomte d’Estignac wieder, in dem über die Vorzüge bzw. Nachteile des neuen »Leinwandtheaters« (d.h. des Stummfilms) als Kunstform gestritten wird.

Abstract

In 1918, the then-unknown author Hermann Broch published a short literary text, »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv [Unpublished Writings from the Casanova Archive at Dux]«, under a pseudonym in the Viennese weekly Der Friede. This text, never previously attributed to Broch, is a work of historical fiction that presents itself as a newly rediscovered episode from Giacomo Girolamo Casanova’s (1725-1798) memoirs and in so doing joins the ranks of the extensive body of work dedicated to Casanova in the early 20th century – while simultaneously subverting the conventions characteristic of previous fictional treatments of the famous Venetian. Broch’s »Casanova« prefigures magical realism and presents a fictitious dialogue between Casanova and the Viscount d’Estignac, in which the advantages and shortcomings of the new »theatre of the screen« (i.e. silent film) are debated.

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Notes

  1. Der Hinweis auf die Hinrichtung Robert-François Damiens’ legt den Zeitraum der hier erzählten Episode auf den späten März bzw. frühen April 1757 fest.

  2. Giacomo Girolamo Casanova (1725-1798).

  3. Robert-François Damiens (1715-1757), versuchte 1757 ein misslungenes Attentat auf König Louis XV. in Versailles.

  4. Graf Edoardo Tiretta di Treviso (1731 oder 1734-1809), ein Freund Casanovas.

  5. Casanova schreibt in Histoire de ma vie über die Folter und Hinrichtung Damiens’, der er zusammen mit Tiretta von einem Fenster am Place de Grève (heute: Place de l’Hôtel de Ville) aus zugeschaut hatte. Auffallend an dieser in der Histoire beschriebenen Szene ist die Tatsache, dass Casanova sich mehr für die sexuellen Unziemlichkeiten seines Freunds Tiretta mit einer vor ihm am Fenster stehenden Frau zu interessieren schien als für die vor seinen Augen sich abspielende Hinrichtung (Fonds Casanova. Giacomo Girolamo Casanova, Histoire de ma vie, Livre IV [1789-1798], Folio 33v-34v, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b6000850b/f67.item [»Quelques jours après [...]«]).

  6. Erstaufführung 1669 in Paris.

  7. Mademoiselle Clairon (Claire-Josèphe Léris, 1723-1803), französische Schauspielerin.

  8. »La bouchière lutin dans la cheminée« (»Die schelmische Fleischersfrau im Schornstein«) aus Les cent nouvelles nouvelles, Erzählungen gesammelt im 15. Jahrhundert für den Herzog von Burgund von Antoine de la Sale (bzw. Salle). Der Münchner Verlag Georg Müllers, der auch 1907-1913 die Memoiren Casanovas auf Deutsch publizierte, hatte 1907 eine deutsche Ausgabe der Nouvelles (Die hundert neuen Novellen des Anthoine de la Sale) auf den Markt gebracht. Im Jahr davor war im Verlag Julius Zeitler in Leipzig Franz Bleis Übersetzung von de la Sales Les quinze joyes de mariage (Die fünfzehn Freuden der Ehe) erschienen. Es ist davon auszugehen, dass Broch auf de la Sale durch Blei aufmerksam gemacht wurde.

  9. Sich selbst in den Adelsstand erhebend gab sich Casanova den Titel Chevalier de Seingalt (»Saint-Galle«).

  10. Alfred Freiherr von Berger (1853-1912), österreichischer Dramaturg, Theaterdirektor und Schriftsteller. Mit seiner Studie Raumanschauung und formale Logik (1886) wollte er die Hypothesen Friedrich Albert Langes zu Raumbildern infrage stellen.

  11. Friedrich Albert Lange (1828-1875), deutscher Philosoph (Neukantianer), Autor der Logischen Studien. Ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik und der Erkenntnisstheorie (1877), die Berger zum Gegenstand seiner Kritik machte. Broch verweist auf Lange in seiner frühen Studie »Zur Erkenntnis dieser Zeit. Paradigmatische Skizzen zur Geschichtstheorie« (1917-1919), an der er zeitgleich zur Casanova-Erzählung gearbeitet haben wird: »Selbst das gewiß im zeitlichen Material eingeschlossene Kunstwerk trägt eben als Zeichen seiner Kunstwerklichkeit die Umformung des Zeitlichen zum Räumlichen in seiner Architektonik zur Schau, und das gewiß raumlose erkenntnismäßige Wertziel gestattet mit dem Augenblicke, da es mit Hinblick auf die Idee des wertsetzenden empirisch möglichen Menschen empiristisch-psychologistisch genommen werden darf, sofort, wie bei Lange, räumliche Ausdeutungen« (Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe [im Folgenden: KW], 13 Bde., hrsg. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1974-1981, hier: KW10/2, Philosophische Schriften 2: Theorie, 50).

  12. Der Form-Inhalt-Thematik im Kontext der Sprache geht Broch vertieft in seinem Vortrag »Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens« (1946) (KW9/2, Schriften zur Literatur 2: Theorie, 61-86) nach. Die Stelle ruft auch Brochs literaturtheoretische Konzeption der »Realitätsvokabeln« hervor, die Komponenten des Systems der »dichterischen Syntax« ausmachen: »[V]on jedem theoretischen Unterbau abgesehen wissen wir, daß der Traum seine Elemente durchaus der Erfahrung entnimmt und Erfahrungsbruchstücke oder, wie wir sagten, Realitätsvokabeln nach einer ihm eigenen Syntax und Logik neu zusammensetzt. [...] [G]leich dem Traum gewinnt die Dichtung in neuer und eigener, und jetzt dürfen wir auch sagen, in subjektiver Logik und Syntax aus der Zusammenstellung dieser Vokabeln den Sinn, die Wirklichkeitstreue, den Symbolwert ihres autonomen Bereiches« (»Das Weltbild des Romans«, KW9/2, 106).

  13. Broch gebraucht den Begriff »Situation« als terminus technicus in seiner Studie »Über syntaktische und kognitive Einheiten« (1945-6, KW10/2, 246-299): »Die Eidos-Einheit ist auf einen bestimmten äußeren oder inneren Weltausschnitt bezogen, der an einer bestimmten Stelle des Raumes und der Zeit lokalisiert ist und für die Dauer seines Bestehens als ›Ganzes‹ erfaßt wird. Ließe sich ein derartiger Weltausschnitt vollkommen isolieren, so könnte er, besonders wenn er bloß einen einzigen Augenblick andauerte, als in sich veränderungslos betrachtet werden, als eine veränderungslose, gewissermaßen absolut statische ›Situation‹, die daher wohl als ›Elementarsituation‹ zu bezeichnen wäre. [...] [A]uch der ›Vorgang‹ [ist] eine ›Situation‹, und zwar die der ›Grenze‹ zwischen ›Situation‹ und ›Nachbarsituation‹; der ›Vorgang‹ ist die ›Zwischensituation‹ zwischen zwei aufeinanderfolgenden Filmbildern [...]« (249-250).

  14. Vgl. hierzu Brochs »Notizen zu einer systematischen Ästhetik« (1912), v.a. seine Ausführungen zur »zeitlichen Symmetrie«: »Am nächstliegenden im musikalischen Ausdruck. Aus der Wiederholung der Rhythmenfigur sich hier entwickelnd, wird Symmetrie-Gleichgewicht, Wesen des Musikalischen!, und der räumlichen Erfassung der Symmetrie entsprechend, wird das Tonstück zur Architektur, das Bauwerk aber tönend zur ›gefrorenen Musik‹. Das Ästhetische, Einheit in Zeit und Raum« (KW9/2, 18).

  15. Der auf die Architektur angewendete Begriff »gefrorene« bzw. »erstarrte Musik« hat höchstwahrscheinlich seinen Ursprung in F.W.J. Schellings Jenaer Vorlesungen 1802/3 über die Philosophie der Kunst und stammt nicht, wie in der Forschung oft behauptet worden ist, von Friedrich Schlegel. Vgl. Khaled Saleh Pascha, »Gefrorene Musik«: Das Verhältnis von Architektur und Musik in der ästhetischen Theorie, Diss., Technische Universität Berlin 2004, 22-43.

  16. Friedrich Theodor Vischer (1807-1887), deutscher Literaturwissenschaftler und Philosoph. Auf Vischer verweist Broch im Aufsatz »Zum Begriff der Geisteswissenschaften« (1917) (KW10/1, Philosophische Schriften 1: Kritik, 115).

  17. Vgl. Hermann Broch, »Hugo von Hofmannsthals Prosaschriften (Dritte Fassung)« (1950): »[D]er visuelle Eindruck läßt sich ins Auditive umsetzen – auch dies ist eines der Wunder der weltschaffenden (keineswegs weltimitierenden) großen Musik –, während Auditives sich kaum vollwertig im Visuellen ausdrücken läßt« (KW9/1, Schriften zur Literatur 1: Kritik, 312).

  18. Vgl. Brochs Unterscheidung zwischen Komik und Witz: »[D]as Witzige ist durchaus Produkt des Rationalen. […] Die rationale Reflexion, auf deren Grund immer, wenn auch unbewußt, die philosophisch-idealistische Schauung, zumindest deren Möglichkeit schimmert, vermag das Unvermittelte des Empirischen und damit dessen Komik zu erkennen – indem sie diese feststellt, wird sie zum Witze« (KW9/1, 49-50); auch: »[D]as Witzige entsteht erst, wenn die verschiedenen Dinge der Erscheinungswelt aus ihrer scheinbaren Hierarchie der dogmatischen Gegebenheit herausgehoben werden, wenn ein idealistisch wirkender Verstand sie paritätisch nebeneinander stellen kann und zwischen ihnen jene sonderbaren Kurzschlüsse zustande kommen können, die als das Komische empfunden werden« (KW10/1, 236).

  19. Pietro Aretino (1492-1556), italienischer Renaissancedichter.

  20. Zwei Jahre nach Erscheinen dieser Erzählung Brochs schrieb Alfred Polgar zum Thema Eskapismus, den das Kino Mitgliedern der ärmeren Gesellschaftsschichten anbot: »Da Theater und Bücher zu teuer, das Dasein der Not fruchtbare Philosophie über die Not des Daseins nicht gedeihen läßt und Gespräche über den Kommunismus leider immer die gleiche Erkenntnis zeitigen: nämlich, daß dümmer als der Kommunismus nur noch die Einwände gegen ihn – so bleibt [...] einzig das Kino, das geistige Leben der Stadt in Schwung zu halten. In seine erdumspannende Abenteuerluft entfliehen die Armen ihres Daseins hoffnungsloser Enge; und in seinem tropisch blühenden Schwachsinn wird den seelisch Frierenden warm« (»Geistiges Leben in Wien«, Prager Tagblatt 14 Nov. 1920, 4).

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Erstdruck in: Der Friede, Bd. 1, Nummer 16 (10. Mai 1918), 382-385

Ediert und kommentiert von Jennifer Jenkins

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Jenkins, J. »Ungedrucktes aus dem Duxer Casanova-Archiv« (1918). Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 91, 311–320 (2017). https://doi.org/10.1007/s41245-017-0040-4

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