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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.02.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-02-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980209024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898020902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898020902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-02
- Tag1898-02-09
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Vrstßere Schrift« laut »usrrern Preist» verzetchniß. Tabellarischer und Aiffernsatz »ach höherem Laris. Extra*Vellage»» (gesalzt), nur mit de» Morgen-Ausgabe, ohne Voslbtsürderunz' ^l 60.—, mit Poftbesörderung 70.—. Annahmeschlllß für Anzeigen: Nb end »Ausgabe: BormittagS 10 Uhr. Ntorg««»Ausgabe: Nachmittags «Uhr. Pei dm Filiale» «nd Annahmestelle» je ei« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets au di« Expedition zu richte». Druck und «erlag von E. Pol» i» Lelvjlch 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 9. Februar. Endlich einmal hat der Reichstag wieder einen „großen Tag" gehabt, »n dem freilich das gestern nur leidlich besetzte HauS nicht besonders viel beigetragen hat. DaS Haupt verdienst um die Bedeutung deS TageS erwarb sich der Staatssecretair deS Auswärtigen Amtes v. Bülow, der die ihm durch die Berathung seines Etats gebotene Ge legenheit, seine schon jüngst in der Budgetcommission über die anSwärtigen Beziehungen de» Reiche» gemachten Mittheilungen im Plenum zu ergänzen, offenbar gern ergriff. Uno daS ist begreiflich genug. Was er gestern über die Hal tung deS Reiches den orientalischen Wirren, besonders der kretischen Frage gegenüber und in Ostasien zu er klären in der Lage war, muß die Leiter unserer auswärtigen Politik mit berechtigtem Stolze erfüllen. Klar und offen liegt e» jetzt, wie heule die „Nat. - lib. Corr." mit voller Befriedigung constatirt, vor aller Welt, daß daS Vorgehen in Kiaotschau im rechten Augenblick, unter strenger Berücksichtigung fremder Ansprüche und schonendster Rücksichtnahme auf die chinesische Negierung er folgte, daß Deutschland an Kreta kein anderes Interesse hat, al» daß der Brand auf dieser Insel isolirt bleibt, und daß eS eher au« dem europäischen Concert sich zurückziehen wird, als auf die hohe Pforte zu Gunsten der Be werbung des Prinzen Georg zum Gouverneur von Kreta einen Druck auszuüben, der in der Endwirkung den Frieden Europas erschüttern könnte. Zweimal sprach der Staatssecretair und zweimal wies er ver nehmlich auf die Interessen hin, die Deutschlano und Ruß land gemeinsam sind; leise deutete er die Mißstimmung an, die das Treiben der englischen Blätter erregt, und ließ dann herausfühlen, daß Rußland dem europäischen Frieden dient und der Gerechtigkeit, wenn eS den Sultan nicht zur Annahme des griechischen Prinzen al» Gouverneur von Kreta zwingt, dessen Initiative den griechisch-türkischen Krieg hervor gerufen. Zweifellos werden diese Miltheilungen selbst und ebenso die außerordentlich markante, fein abgewogene und durch treffende Charakterisirung ausgezeichnete Art des Vor trags, welche alle Schärfen der Situation auSglich und doch, ohne verletzende Empfindungen zu erregen, den festen Willen der Fortführung deutscher Friedenspolitik bekundete, nach außen und nach innen gleich vortheilhaft wirken. Nach außen wird sie dem europäischen FriedenSbevürfniß eine Festigung schaffen und nach innen in den Herzen aller Urtheilsfähigen auch die Ueberzeugung Wurzel fassen lassen, daß die Stellung des Reiches fest und geschickt im alten BiSmarckischen Geiste gewahrt wird, und daß die Negierung, welche solche Rechenschaft dem Volke ablegen darf, auch volles Ver trauen verdient gegenüber der kleinlichen, in trostlosem Zahlengeklingel sich erschöpfenden Zweifelsucht, — wenn sie von der Nation nun die Mittel Verlangt, diese Politik weiter zu führen, dir der Ehre und den LebenSinterefsen deS Reiches entspricht. Je mehr sich das Vertrauen auf die Seemachtspolitik der jetzigen Regierung im Reiche befestigt, um so bänglicher muß es der Centrumsfraction de« Reichstag» angesichts der in ihren Reihen herrschenden Differenzen wegen der Stellung zur Flotten frage werden. Der bayerische Centrums« abgcorvnete Vr. Heim hat bekanntlich dieser Tage in einer Volksversammlung erklärt, er werde „mit Hurrah" gegen die Marinevorlage stimmen. Hingegen hat der Abgeordnete I)r. Schävler etwa gleichzeitig erklärt, die Marine forderung sei in ihrem materiellen Theile keineswegs unberechtigt, nur gegen das „Septennat" und gegen die etwa aus der Bewilligung der Vorlage resultirenden neuen Steuern müsse man stimmen. vr. Sckävler steht somit auf demselben Standpuncte, ven in den Weih- nachtSserien Freiherr v. Hertling verfochten hat. Er stimmt mit diesem auch darin überein, daß er dringend mahnt, das Centrum möge sich in der Marinefrage nicht spalten. Die Befolgung dieser Mahnung wird aber sehr schwer, wenn nicht unmöglich sein, denn man kann jetzt sogar drei Gruppen im Centrum unterscheiden. Die eine unter Or. Lieber's Fübrung ist einer gewissen Bindung deS Reichs tags nicht principiell abgeneigt; die zweite Gruppe will zwar das diesjährige Marinebudget bewilligen, sich aber auf irgend welche Bindung des Reichstages nicht einlassen; die dritte Gruppe endlich will die Vorlage, wie sich I)r. Heim geschmackvoll ausdrückt, mit Hurrah ablebnen. Wie da eine Einigung erzielt werden soll, ist nicht abzusehen. Man kann eS den Führern des Centrums daher nachfühlen, daß sie vor einer Spaltung der Partei in der Flottensrage sich ernstlich fürchten. Denn wenn eine solche Spaltung einträte, so könnten die einzelnen Gruppen einander neutralisiren, wie daS bekanntlich bei den Handelsverträgen geschehen ist. Und wo bliebe dann der „ausschlaggebende" Einfluß des CentrumS, von dem der Abgeordnete Lieber in der ersten Lesung der Vorlage mit dem ihn auszeichnendcn Selbst bewußtsein gesprochen hat? Wenn man trotz deS Dresdener Parteitages in konser vativen Kreisen nicht recht klar über die Stellung wird, die der Bund der Landwirthe bei Wahlen gegen konservative Candidaten einerseits und gegen antisemitische andererseits einzunehmen gedenkt, so ist das kein Wunder, denn in BundeS- krrisen selbst ist man darüber sehr verschiedener Ansicht. So hat am 7. d. M. in Berlin eine Hauptversammlung des Bundes der Landwirthe für Teltow und Niederbarnim unter dem Vorsitze de» Abg. Ning stattgekunden Auf ihr ist nach dem Berichte der „Kreuzztg." der „Bescheid oes Bauern für die antisemitische Partei geradezu vernichtend ausgefallen". Vor der Hauptversammlung nahmen nämlich die Vertrauens männer die konservativ-bündleriscke Candidatenliste (Ring, Vorberg, Felisch, Or. Irmer, von Veltheim, Vr. Pauli) fast einstimmig an: „trotzdem ihnen vom Vorsitzenden die Candidatur de« Antisemiten Herrn Fröhlich offictell mit dem Bemerken mit« grtheilt wurde, daß nach allen eingezogenen Erkundigungen Herr Fröhlich „rin «hrenwerlher Mann" sei. Tie Antisemiten seien aber principiell in Differenz mit der Leitung des Bunde« der Landwirthe in den Berlin benachbarten Wahlkreisen Teltow, Ober- und Niederbarnim. Di« Antisemiten hätten sich um den Bund der Landwirthe in beiden Kreisen und sein Ergehen noch nie gekümmert. Jetzt vor den Wahlen erschienen sie nun mit einem im Kreise Teltow ganz fremden Candidaten, hätten eine Absiimmung über denselben im Bund der Landwirthe herbeigeführt und wären nun hoffentlich logischer Weise, nachdem dieser Herr mit erdrückender Majorität abgelehnt worden sei, als Mitglieder des Bundes der Landwirthe unbedingt verpflichtet, für die angenommenen Landidotenlisten einzutceten. Wollten sie sich nicht Len begrünvrten Vorwurf zuziehen, den Bund der Landwirthe in Teltow und Barnim nur für ihre AgitationSzwecke zu benutzen, so wären sie anstandshalber verpflichtet, sich der überwältigenden Majorität zu fügen. Er wünsche aber und hoffe, daß ihnen dieser Vorwurf eripart bleiben möge." „Der Versuch der Antisemiten", heißt eS in dem Berichte der „Kreuzztg." weiter, „den Bund der Landwirthe zu ihren Agitationszwecken zu benutzen, kann daher al« gänzlich ge scheitert betrachtet werden." An anderer Stelle theilt dagegen dasselbe Blatt folgenden Bericht der antisemitischen „StaatSb. Ztg." aus Halle a. S. mit: „In einer zahlreich besuchten Versammlung sprach der Abg. vr. Dicderich Hahn über die Stellung deS Bundes der Land wirthe zu den politischen Parteien. Er bedauerte lebhaft die schroffe Erklärung des Herrn v. Manteuffel in Dresden und jagte, daß dem Bunde der Landwirthe die deutsch-sociale Re« soriupartei miudestens ebenso lieb sei, wie die confer- vative. Der Bund der Landwirthe verpflichte sich zu gar nichts betreffs der Wahlen, sondern würde von Fall zu Fall die Candidaten prüfe», wie sie zum Programm des Bundes der Landwirthe ständen. Es wäre nur zu wünschen, daß Eonfer- vative und die deutsch-sociale Resormpartei zufammengingen, nicht aber die Führer sich befehdeten." Hieraus schließt die „Kreuz-Ztg." sehr logisch, „daß die Sympathien deS Direktors des Bundes der Land wirthe viel mehr auf Seiten der Antisemiten, als auf Seiten der Cvnservativen sind". Die sehr nahe liegende Frage aber, wie Herr v. Ploetz den Auslassungen des Bunvesdirectors über die Manteuffel'sche Rede einerseits und über die Sympathien des Bundes für die Antisemiten andererseits sich stellt, wirft die „Kreuz-Ztg." nicht auf. Und doch wird sie von conservativer Seite gestellt werden müssen, wenn die Verwirrung, die vor dem Dresdner Parteitage herrschte, nicht eine noch größere werden soll. In Oesterreich ist eS nicht so schlimm gekommen, als noch vor wenigen Tagen besorgt werden mußte. Die Regierung hat freilich daS einfachste und zuverlässigste Mittel zur Be ruhigung der akademischen Jugend und zur Wieder herstellung der regelmäßigen Thätigkeit an den deutschen Hochschulen nicht angewendet, sie hat das Prager Farben- verbot noch nicht ausgehoben; aber was die AutoritätSschwärmer und Polizei-Fanatiker so dringend anriethen, ist doch auch nicht befolgt worden. Mit den am Montag veröffentlichten beiden Erlässen an die Rectorate der deutschen Hochschulen hat dir Regierung einen Mittelweg eingcschlagen. Sie hat durch die verfügte und mit Montag eingetretene frühzeitige Schließung de« Winter-Semesters, der ein früherer Beginn des Sommer-Semesters entspricht, dem Studenten-AuSstand, der Boycottirung der Vorlesungen und den daraus sich ergebenden Conflictrn den Boden entzogen, und hat eS doch vermieden, die akademische Jugend dafür zu strafen, daß sie, einer großherzigen Regung folgend, für ihr Recht und für ihr Volksthum auf die Gefahr hin eingelreten ist, ihre künftige Laufbahn zu schädigen. Gewiß, eS wäre nicht» leichter gewesen, als zu beweisen, daß die Regierung, die über die sämmllichen Machtmittel der Executive verfügt, stärker ist als ein paar Hundert Jünglinge, die nicht» haben als ihren Muth, ihre Opserwilligkeit und ihre Begeisterung. Sie hätte ein akademisches Ketzergericht abhalten, die Streikenden mit dem Verluste eines Semesters strafen, die Mißliebigen mit Disciplinirungen, Nelegirungen, Verlust der Stipendien treffen können, und wäre e» nach dem Wunsche gewisser Nath- geber gegangen, so hätte man den deutschen Studenten auch wirklich den Proceß gemacht und durch diese neue Verletzung de» deutschen Nationalgefühls eine neue Kris« »u den schon bestehenden geschaffen. Das Alles ist sehr vernunstigerweise nicht geschehen. Durch die Schließung der Hörsäle wird die Ruhe hergestellt, und da» beinahe abgelaufene Semester geht den Studirenden doch nicht verloren. Durch die verfügte Einstellung der Vorlesungen bis zum 2l. März gewinnt die Regierung sechs Wochen Zeit. Inzwischen kann die Land tagSsession geschlossen, da« Prager Farbrnverbot aufgehoben und damit die Ursache der Aufregung beseitigt werden. Ist das geschehen, dann wird eS der akademischen Jugend nicht schwer fallen, daS durch die Erlasse vorgeschriebene schriftliche Gelöbniß, die akademischen Gesetze zu beobachten, mit gutem Gewissen zu leisten. Unerläßliche Vorbedingung aber ist, daß nach Schluß Les Landtags die Aufhebung des Farbenverbotes wirklich erfolgt. Wenn cs schon peinlich berühren mußte, daß die Regierung diese Frist setzte und wenn dies den Schluß gestattete, daß sie es nicht wage, den pflichtgemäßen Schutz eines von ihr anerkannten Rechte» gegenüber der anspruch-vollen Laune der tschechisch-feudalen Landtags-Majorität zu vertreten, so würde die Aufrechthaltung de« Verbotes gegen da« gegebene Versprechen geradezu eine Capitulation vor dem tschechischen Straßenpöbel bedeuten und einen neuen noch radikaleren Ausbruch der Volksleideuschaft in allen deutschen Ländern Oesterreichs Hervorrufen. Der Eindruck, den man bi» jetzt auS den zweitägigen Verhandlungen des Zola-Proeesse- gewonnen hat, ist der von aller Welt erwartete: Der Gerichtshof führt im Auftrage der Regierung, welche angeblich aus der Enthüllung der vollen Wahrheit Uber den Dreyfu»»Proceß internationale Gefahren für die Republik erwachsen sieht, eine neue Iustiz- comövie auf. Der erste Tag brachte die charakteristische Entscheidung de» Gericht», daß die Angeklagten und ihre Vertheidiger nicht berechtigt seien, alle in dem Briefe Zola'» angeführten Behauptungen zu beweisen und nur für jene Behauptungen den Beweis führen dürfen, welche in der Vorladung-acte enthalten sind. Damit ist da» Beweisverfahrcn auf den Fall Walsin-Esterhazy be schränkt, und e» darf die AffaireDreyfuSnicht in Dis kussion gezogen werden. Mit dieserBeschränkung hat zwar der Gerichtshof der Vertheidigung eine vortheilhafte Lage ge schaffen, die der temperamentvolle Labori geschickt zu benutzen weiß, und dem Angeklagten Zola Gelegenheit gegeben, in effektvoller Pose den Märtyrer der Gerech tigkeit zu spielen, der er in der That ist, allein wenn der Borsitzenve streng die ihm gezogene Richtungslinie einhält, ist nicht abzusehen, wie der Proceß Zola Licht in den Proceß DreyfuS bringen soll. Einen Augenblick konnte eS aller dings scheinen, daß die Couliffen der StaatSraison sich öffnen würden. Offenbar um der hochgradigen Entrüstung der radicalen und socialistischen Blätter über das Fernbleiben, der militairischen Zeugen den Boden zu entziehen, beschloß der Gerichtshof am zweiten VerhandlungStage schleunigst, den Zeugen Billot, Boisdeffre, Mercier und du Paty de Clam den Zeugnißzwang aufzulrgen. Aber auch das ist blos ein Fechterkunststück, daS die Sache Zola'S und DreyfuS' nicht um einen Zoll vorwärts bringt. Die hohen Herren können ebenso gut zu Hause bleiben, denn der Gerichtshof hat ja von vornherein daS Fraaerecht Zola'» und seine« Der- theidigerS derart beschränkt, daß gerade die wichtigsten Fragen unerörtert bleiben müssen. Von diesem Recht der Frage verweigerung hat der Vorsitzende denn auch den ausgiebigsten Gebrauch gemacht. DaS klassische Beispiel dafür ist die Ver nehmung de» früheren Präsidenten der Republik, Casimir- Per ier, über die, wie über den Fortgang deS ganzen Pro- ceffeS wir ausführlich an anderer Stelle berichten. Fünf aus da» berüchtigte „geheime Schriftstück" sich beziehende Fragen Alice. tlj Roman von I. Lrrmina. Nichdnick verrott». „Nein, nein", versetzte Davidot, „sagen Sie mir nur, woran ich ihn erkennen kann. Er darf nicht ahnen, daß ich mich für ihn interesstre." „Nun denn, ein großer Mann von etwa 60 Jahren, sehr mager, stark wie eine Eiche, dichten Schnurrbart und mit einer Narbe auf der Stirn." „Da« genügt, r» ist sogar mehr, al» ich brauche." Mit diesen Worten trat Davtdot in da» Spielzimmer, wo die Spieler an einem länglichen Tische theils saßen, theil» standen. Er wurde kaum beachtet; Alle sahen dem Spiele zu, während der Bankhalter mit seiner heiseren Stimme fortwährend: ^k'nltss votrs jeu, msuisurs!^ autrief. Wie ein richtiger Spieler hatte Davidot «ine Nadel und eine Karte au» seiner Tasche ge zogen und notirte gewiffenhaft die Gewinne und Verluste. Dann erhob er, um besser sehen zu können, seine Karte bi» zur Höbe der Lampen und folgte aufmerksam dm Arabe»ken der bereit» durchstochenen Löcher. To vobachtete er, ohne daß Jemand auf ihn Acht gab, da» mehr al» gemischt» Publicum, al» er plötzlich bestürzt zurückfuhr. In einer ihm ganz nahen Gruppe bemerkte er einen Mann, der, wüthend auf seinen Schnurrbart beißend, gierige Blicke auf die umherliegenden Haufen Bold«» warf. Mit üppigen, aber grauen Haaren, starkknochigen Zügen und einer Narbe mitten aus der Stirn, stand dieser Mann mit gekreuzten Armen da und verfolgte mit fieberhafter Aufmerksamkeit die Zufälle de» Spiel». Die-mal war Davidot weniger Herr seiner selbst, «nd eS fehlte nicht viel, so hätte er laut den Namen gerufen, der ihm auf die Lippen stieg: Der Lapitain Laverdi-re! Er erkannte ihn ganz genau, diesen Sprößlina einer alt adeligen Familie, der seit der Revolutionszeit alle möglichen unehrenhaften Bewerbe betrieben hatte, der Spion, Straßen räuber, Spitzel FouchS's, Betrüger gewesen war und bei Ge legenheit gewiß auch Mörder sein konnte. In diesem Augenblick warf der Capitain einen Louisdor auf den grünen Teppich, und man sah ihm an, daß er nur mit Mühe seine Erregung beherrschte. Mit verzerrten Zügen folgte er den Karten rrno stieß mit lauter Stimme »inen heftigen Fluch au», als das Goldstück verloren war. Dann drehte er sich mit roher Bewegung um und durchbrach die Menge, die heftig, allein dergeblich, gegen diese Brutalität protestirte. Schnellen Schrittes ging er nach dem Vorzimmer, warf dem Garderobier die Nummer seine» Hute» fast auf den Kopf, stülpte sich den Hut auf und rannte die Treppe hinunter. Davidot war ihm nachgeeilt. Der kleine Mann besaß zwei großartige Eigenschaften: er war flink wie ein Hirsch und leichter als eine Feder; sein Schritt erweckte kein Echo. Warum hätte LaverdiSre übrigens auch fürchten sollen, ver folgt zu werden? Allerdings hatte er kein gutes Gewissen, doch er glaubte LaverdiSre todt und begraben; unter dem Namen Baucroix verborgen, setzte er seine Miffethaten fort, die ihn nach und nach durch alle Theile der Welt führten. Sobald der Glücksritter, der eigentlich Hubert de Queyraz hieß, in dem schlecht erleuchteten Garten angelangt war, blieb er einen Augenblick stehen und lehnte sich an einen Baum, als wolle er sein gestörte» Gleichgewicht wiedergewinnen. So blieb er einige Augenblicke unbeweglich, und seine hohe Gestalt verschmolz mit dem schwarzen Stamm« de» Baumes. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, aber diesmal ziemlich langsam und wandte sich einer engen Seitengasse zu. Davidot wunderte sich nicht; der Mann, den er verfolgte, war der ständige Gast Vieser Winkelstraßen, in denen das Ver brechen und da» Laster aller Art mitten im Tentrum von Pari» ihre Zuflucht suchten und fanden. Der Polizist kannte keine Furcht; vorsichtig an den Mauern hinschleichend, folgte er dem Manne noch immer und verlor da ss lange gesuchte Wild nicht au» den Augen. Vaucorix blieb nicht stehen, er rannte sogar einen Menschen um, der ihm in den Weg kam, und antwortete nicht einmal auf dessen zorniges Geschrei. Trotzdem hätte man glauben können, er wisse nicht einmal, wohin er ginge. Ohne anscheinende Nothwendiakeit schritt er von einer Seite zur anderen, durchstapfte die Wasserpfützen, ging langsamer, bog um eine Eck« und blieb einen Augenblick stehen, ohne sich um- zuwenden. Davidot wunderte sich über diese» Benehmen, zweifellos hatte er in dieser Gegend irgend einem Lumpen seiner Art ein Stell dichein gegeben und traf ihn nicht; da» war die einzige mögliche Erklärung. Davidot wurde darüber jedoch ein wenig unruhig, denn er fürchtete, da» gejagte Wild könnte in irgend einem Loche ver schwinden. Daher sah er mit einem Seufzer der Erleichterung Baucroix endlich einen Entschluß fassen und festen Schrittes den Earroussel- platz betreten. Er hatte ihn nicht einen Augenblick verlassen, und seine Verfolgung wurde augenscheinlich durch die Zer streutheit des Glücksritters begünstigt, der sich recht wenig darum zu kümmern schien, was hinter feinem Rücken vorging. Man war auf dem Pont-Royal angelangt, und jetzt verfolgte Baucroix seltsamer Weise den Weg, auf dem Davidot in seine Wohnung gelangen mußte. Trotzdem war es recht unwahr scheinlich, daß Jener daran dachte, ihm einen Besuch zu machen, und der Criminalist mußte bei diesem unglaublichen Gedanken unwillkürlich lächeln. Baucroix ging über die Brücke mit festen Schritten, als wäre er nun seiner Sache sicher. Er nahte sich augenscheinlich seinem Ziele und Davidot ebenfalls. Jetzt sah dieser zu seiner größten Ueberraschung, daß Baucroix, statt die Rue de Bac zu betreten oder über den Quai zu gehen, sich der Holztreppe zuwandte, die zum Ufer führte. Die Nacht war so schwarz, daß sein Schatten mit der ihn ringS umgebenden Dunkelheit verschmolz. Diesmal hatte Davidot Furcht, die Fährte zu verlieren. Er sah vom Geländer nach unten herab und bemerkte, daß sich nichts rührte. Im Hafen zu scheitern, wäre ihm als ein namenloses Pech erschienen. Er lief daher mit seinem leisen Schritt zur Treppe und sprang mit einem Satz auf diese. Kaum aber hatte er den Fuß auf da» Ufer gesetzt, al» er sich kräftig bei den Schultern gepackt und zum Flusse gezerrt fühlte; bevor er dann noch die Kraft hatte, einen Schrer aus zustoßen, wurde er in da» schwarze Wasser geschleudert. Auch Baucroix hatte kein Wort gesprochen, sondern blieb jetzt, die Hände über die Augen legend, stehen und lauscht«. Nichts rührte sich. Da» Wasser war tief, und Davidot mußte wohl unter gegangen sein. Der Verbrecher steckte die beiden Hände in die Laschen und ging, ein Liedchen trällernd, weiter. XU. Gebrochen, fast sterbend, war Alice nach Hause zurückgekehrt. Während der Fahrt von dem Hotel Dien nach der Rue de Beaume hatte Lacour nicht ein einzige» Mal den Mund geöffnet. Sie wußte nicht einmal, daß sie nicht allein fuhr, sie dachte nicht, sie erinnerte sich an nicht». Der Polizeibeamte hatte sie, sie stützend, bi» zu ihrer Thür gebracht, dann war er, ohne rin Wort de» Danke» ckbzuwarten, schnell davongegangen. Al» Alice allein war, fing sie an, in ihrem Zimmer auf- und abzugehen, vom Fenster zur Thür und von der Thür zum Fenster, wie es eine gewisse Elaste von Wahnsinnigen in ihrer Zelle thut. Sie konnte leinen Gedanken fassen, und nur ein dunkles Sausen im Ohre war daS einzige Gefühl, das sich ihr bemerkbar machte. Sie wußte nichts, weder die Zeit, noch den Ort, noch die Ver gangenheit, noch die Gegenwart, Nichts lebte in ihr, al» eine dumpfe, quälende Angst. So vergingen Stunden, ohne daß sie es zu bemerken schien. Plötzlich sand sie sich wieder an dem Kamin, die Stirn an den kalten Marmor gelehnt. Das war ihre erste Empfindung, das Erwachen ihres Gefühls, die Rückkehr in die Wirklichkeit. Wo war sie, warum befand sie sich hier und nicht anders wo? Was that sie, was hatte sie gethan? Diese Fragen legte sie sich mehreremale vor, ohne eine Ant wort daraus finden zu können; dann aber zerriß der Schleier mit einem Male, sie erinnerte sich wieder, sie wußte Alles, sie begriff Alles! Ein unendlicher Schmerz, der sich bald in einen furchtbaren Schrecken verwandelte, bemächtigte sich ihrer; denn in demselben Augenblicke, da das schreckliche Bild der Sterbenden wieder vor ihr stand, sagte Alice sich: „Ich habe sie getödtet, ich!" Sie hatte Madame Benoit getödtet; auch sic hatte einen Mord begangen! Und zu dem Entsetzen, mit dem sie diese Selbstanklagen erfüllten, kam noch die Erinnerung an ihren Gatten. Daß Gaston schuldig war, daß er ein gemeines Verbrechen begangen hatte, war unbestreitbar, und doch war ihr der Gedanke weniger schmerzlich, weniger überraschend, al» da» Ge fühl ihrer eigenen Unwllrdiakeit; ja, die Erschütterung war so stark, daß sie wie eine Wahnsinnige aufschrie: „Nein, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!" Sie betrachtete ihre kleinen, feinen, schwachen Hände, als wolle sie sie befragen. Nein, sie hatte nicht getödtet! Und doch wagte Alice nicht, sich vollständig freizusprechen. Sie hatte volles Bewußtsein von dem Kampfe, der sich in dem Augenblick in ihr abgespielt, da sie geglaubt hatte, die Sterbende würde den Namen ihre» Gatten auSsprechen. In dieser Secunde hatte sie sie mit der ganzen Kraft ihres Leben» gehaßt und verflucht. Sie hatte den festen Wunsch ge habt, sie möchte sterben. Trotz der Unllarbeit der Gefühle, die sich in ihr rege machten, hatte sie wenigsten» die »in» Erkenntniß, daß di» dro»
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