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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.06.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990608028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899060802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899060802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
- Tag1899-06-08
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Srtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefördernag 60.—, mit Postbeförderung ^l 70.—. Anzeiger. Amtsvlatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Notizei-Aintes der Stadt Leipzig. Donnerstag den 8. Juni 1899. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgr u-AuSgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Politische Tagesschau. . , * Leipzig, 8. Juni. Ein seltener Fall in den jüngeren Annalen des Reichs tag»: er hat gestern beschlossen, ein Gesetz ohne Coinmissions- berathung fertig zu stellen, dasjenige über Verwendung von Mitteln des Reichsinvalidenfonds für Kriegsteil nehmer und Angehörige von solchen. Der nationalliberale Abg. GrafOrio la, ein unermüdlicher Kämpfer für Gerechtigkeit und Billigkeit gegen die Tapferen der großen Kriege, erklärte aber, auf eine Commissionsverhaudlung nur unter der Voraussetzung verzichten zu können, daß spätestens bis zum Frühjahre 1900 ein Gesetz vorgelcgt werde, daö alle Jnvalidenfragen organisch regele und die Gleichstellung der invaliden Staatsbeamten mit den Communalbeamten, die Beseitigung der Bedürfnißfrage bei Unterstützung der Hinter bliebenen und die gesetzliche Berücksichtigung der Wittwen der nach dem Kriege an KricgSwunden Verstorbenen mit sich bringe. Eine solche allgemeine Ordnung erachten auch wir als eine Pflicht, deren alsbaldige Erfüllung um so weniger Schwierigkeiten bereitet, als sich schon jetzt berauSgestestt hat, daß die fiuanzielleTragweite dcrBegrüudung solcher festen Ansprüche gewaltig übertrieben worden ist. Nachdem Graf Oriola mit seinen Darlegungen geschlossen, .wäre die gestrige Debatte „mit Rücksicht auf die Geschäftslage deS Hauses" rasch beendet worden, wenn der Socialdemokrat Singer sich nicht bemüßigt gesehen . hätte, die Lebensverhältnisse der ländlichen Arbeiter des preußischen OstenS heranzuzerren. Ohne die Berührung dieses Themas kann, so scheint eS, im Reichstag über nichts mehr verhandelt werden. Gestern fand eS Herr Singer zweckmäßig, sich auf den — Kaiser zu berufen, der,, wie wir gemeldet» die Wohnungen der Arbeiter im Osten im Allgemeinen und die auf dem ihm zum Geschenk gemachten Gute Eadinen insbesondere ungünstig beurtheilt hat. Der revolutionäre Republikaner kennzeichnete, indem er die Autorität eines MonarchrnworteS anerkannte, seinen Agrarierhaß; er folgte übrigens in diesem Puncte den Spuren der bürgerlichen Demokratie, did nicht mlkde wird, das — in seiner Allgemeinheit und in seiner Gegen überstellung von Ställen und Arbeiterwohnunzen jedenfalls nicht ganz einwandfreie— kaiserliche Urtheil auSzubeuten. Von den elenden Löhnen, die Berliner Confcctionsarbcitern gezahlt werden und deren WobnungSverüältnisse bestimmen, ist dabei nicht die Rede. Die Beschlußfähigkeit des Reichstags war gestern nicht «»gezweifelt worden, und so konnte, nachdem der erste Berathungsgegenstand verlassen war, die vor Beginn der Psingst- ferien gescheiterte Abstimmung über tz 51 deS Invaliden gesetzes vor sich gehen und dieser die Annahme der folgen den Paragraphen bis einschließlich H 66 — mit einer einzigen nicht sehr erheblichen Ausnahme — in der EommissionSsafsung folgen. Von der Annahme eines CoinmissionSzusatzeS zu tz 66, wonach eine Zusammenlegung, Theilung oder Auf hebung bestehender Versicherungsanstalten der Zustimmung deS Reichstags bedarf, bat ein bayerischer Bevollmächtigter im Namen seiner Negierung abzustehen und wurde hierin vom Grafen PosadowSky, von dem Ministerial direktor Woedtke und aus dem Hause von dem Abgeordneten Gamp von der Reichspartei und dem bayerischen BauernbündlerHilpcrt — von diesem mit Inkauf nahme eine- Ordnungsrufes — unterstützt. Graf PosadowSky stellte, wie schon in der Commission, überwiegend staats rechtliche Erwägungen an. Herr Gamp erklärte sogar, er persönlich werde im Falle der Annahme des Zusatzes gegen daS Gesetz stimmen. Tie Erwartung des Staatssekretärs, daß sich die Differenz zwischen zweiter und dritter Lesung be seitigen lassen werde, wird wohl in Erfüllung gehen. Vorläufig stimmte das Centrnm, in seinem früheren Jargon gesprochen: unitarisch. Die Berathung der Vorlage wird heute fort gesetzt. Nach ihrer Erledigung sollen außer den Gesetzen, deren Fertigstellung unumgänglich oder beschlossene Sache ist, noch die erste Lesung des ÄrbeiterschutzgesetzeS und die Verabschiedung der Posttarifgesetze folgen. Während dergestalt dem Reichstage »ach der Erledigung des Invaliden gesetzes noch eine Fülle für die Plenarberathung reifen Materials bleibt, sicht das Plenum deS preußischen Abgeord netenhauses, obwohl auch dies Parlament überlastet ist, in einigen Tagen der Arbeitslosigkeit entgegen. Die Herstellung deS CvmmissionöberichteS über dieEanalvorlagc verzögert sich, und die alljährlich wiederkehrende, vom Kaiser schon vor einiger Zeit genehmigte Secundärbahnvorlage läßt ans sich warten. Die Canalterroristen möchten darin eine Absicht erblicken — kein Canal, keine Eisenbahnen —, mau scheint es aber nur mit einem neuen Symptom der herrschenden Dispositionsunfähigkeit zu thun zu haben, denn ein zugesagtes Gesetz über finanzielle Förderung der inneren Colonisation steht gleichfalls noch aus. Der mit dem Commissionöbericht über diesen Gegenstand im Rückstände bleibende Berichterstatter ist, beiläufig bemerkt, Mitglied deS C e n t r u m S. Wie viele andere Bundesstaaten will auch Preuße »Richtern in vorgerücktem Lebensalter am Zeitpunct des Inkrafttretens deS Bärgerlich en Gesetzbuches den Entschluß, in den Ruhestand zu treten, durch zeitweilige PcnsionSerhöhung erleichtern. Das preußische Abgeordnetenhaus bericth am Dienstag in erster Lesung eine diese Angelegenheit regelnde Gesetzvorlage, die Richter, welche daS 65. Lebensjahr am 1. Januar 1900 erreicht haben werden, unter Gewährung deS vollen Gehaltes für die nächsten drei Jahre auf Ansuchen zu pensioniren gestattet, sich aber von denselben Zweck verfolgenden besetzen mancher anderer Staaten dadurch unterscheidet, daß es Herren, welche daS 75. Lebensjahr zurückgelegt haben, im Falle deS Rücktrittes vom Amte nur den gewöhnlichen Ruhe gehaltsanspruch zuerkennt. Um diese Eximirnng drehte sich in der Hauptsache die mit der Verweisung deS Entwurfs an eine Commission beendigte Debatte des Abgeordnetenhauses. Die Anregung, daS volle Gcbalt 5 Jahre lang zu gewähren, fand bei der Mehrheit keinen Anklang. Es haben sich denn auch 245 von 365 in Betracht kommenden Richtern von der durch die Regierung vorgeschlagenen Regelung befriedigt erklärt und die Einreichung ihres Pensionsgesuches in Aussicht gestellt, von dem Reste dürfte sich ein nicht unbeträchtlicher Theil anschließen, wenn die Zeit gekommen sein wird. Mit derVersagung deS vollenGehaltS derFünfnndsiebzigjährigen, die sich am 1. Januar künftigen Jahres pensioniren lassen, wird die Regierung aber kaum durchdringen und das mit gutem Grunde. ES ist zwar nicht unverständlich, wenn eS der Justizverwaltung schwer fällt, Richter, die sich von der Höhe der Leistungsfähigkeit mehr oder minder weit entfernt und ihr Amt nur im Hinblick auf die durch die Pensionirung herbeigeführte Schmälerung deS Einkommens behalten haben, nachträglich für diese Ausdauer zu prämiiren. Aber einmal giebt cs, und dies hat der Iustizminister Schönstedt selbst anerkannt, Ausnahmen; die im höchsten Alter noch voll ihre Pflichten erfüllen können, sodann werden die anderen in Frage kommenden Beamten — eS handelt sich im Ganzen um 37 — überwiegend in ihren Familien verhältnissen zwingenden Anlaß zum bisherigen Verbleiben im Amte gehabt habe». Und, waö die von dem Nationalliberalen vr. Krause hervorgehobene Hauptsache ist: es handelt sich gar nicht so sehr um die betagte» Richter, als um das recht suchende Publicum, das den Anspruch besitzt, beim Inkraft treten deS neuen Gesetzentwurfs einen zu dessen An wendung durchweg befähigten Nichterstand zu haben. Der Einwand des IustizministerS, eine weitere Be vorzugung der Richter als die von der Vorlage in Aussicht genommene würde in anderen Beamtenkreisen eine üble Stimmung erzeugen, wurde von vr. Krause schlagend mit einer Bemerkung widerlegt, die darauf hinauSlief, daß an andere Beamtenkreise nicht die außergewöhnlichen Anforde rungen herantreten, wie an die Richter durch die Einführung deS neuen Gesetzes. Wie eS scheint, wird sich nur ein Theil des Ccntrums auf die Seite des Ministers schlagen, die anderen Parteien aber einmüthig die Härte gegen die be jahrtesten Beamten auSmerzen. Durch die Annahme deS Antrags Courtney, der den englische» Frauen die Wählbarkeit zu GrafschaftS- räthen verleiht, hat daS Unterhaus am 6. d. M. den eng lischen Frauen zu einem weiteren Erfolge im Kampfe nm das Wahlrecht in öffentlichen Angelegenheiten verhalfen. Schon im Jahre 1894 errangen die Frauen bei der Be schlußfassung über die Luiisk anä Vi8tiiot Oouncils Rill (DistrictratbSordnung) daS passive wie daS active Wahlrecht in unangreifbarer Form. Jede Frau, verheirathet oder nicht, ist nicht nur unter den gleichen Bedingungen wie die Männer zum Wählen berechtigt, sondern auch gleich diese» wählbar, während bis dahin die verheiratheten Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Demnach sind jetzt, wenn das Oberhaus dem Anträge Courtney zustimmt, die eng lischen Frauen nur noch von der Theilnahme an den Par- lamentSivahlen ausgeschlossen. Ihnen auch daS Wahlrecht zum Parlament zu ertheilcn, dafür hat sich daS Unterhaus im Princip am 3. Februar 1897 mit 228 gegen 157 Stimmen ausgesprochen. Nach dem damals ver bandelten Anträge soll jede Frau stimmberechtigt sein, die Besitzerin oder Mietherin ein:» Wohnhauses ist oder ein Gebäude im Stadt- oder Landbezirk selbstständig verwaltet. Hieraus ergiebt sich, daß das politische Frauenstimmrecht in England, dem dortigen Wahlsystem entsprechend, eine ganz andere Bedeutung hatte, als bei uns eine Ausdehnung deS Wahlrechts auf die Frauen haben würde. Trotzdem dürfte der Antrag, der den Frauen daS Parlamentswahlrecht ge währt, in absehbarer Zeit nicht Gesetzeskraft erlangen. — Außer in England üben die Frauen daS Stimmrecht in der localen Selbstverwaltung in den englischen Colonien, in Schweden, Irland, Finland und Rußland, sowie in den Unionsstaaten Kansas, Colorado, Utah, MassachusetS, Vermont und Wyoming aus. In Rußland dürfen die Frauen allerdings nur durch Stellvertreter wählen. Durch Stell vertreter wählen die Frauen auch in Deutschland und Oester reick, soweit ihnen auf Grund liegenden Besitzes hier daS active Gemeindewahlrecht zusteht. Für die Schulver waltung besitzen die Frauen in 22 Städten der Union, in Norwegen und in Stockholm daS active und passive Wahl recht, für die Armenverwaltung in Schweden und Finland. Auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung stellt Deutschland die Frauen wie in Bezug auf die Beitrags pflichten, so auch betreffs aller Rechte den Männern gleich. Politische Gle ich b ereck tig u ng haben die Unionstaaten Colorado, Arizona und Minnesota im Jahre 1893 den Frauen ertheilt, nachdem Wyoming und Utah Jahrzehnte zuvor daS Gleiche geihan hatten. In Neuseeland wurde ebenfalls im Jahre 1893 den Frauen daS politische Wahl recht verliehen. — Der eingangs erwähnte Beschluß deS englischen Unterhauses wird nicht verfehlen, auch in Deutsch land die Bewegung der Frauen-Emancipation zu beleben. Praktische Ergebnisse sind aber bei unS zu Lande vor der Hand nicht zu erwarten. Eine rnssische Anleihe von drei Millionen Pfund ist in England abgeschlossen worden. Das bedeutet einen nur verschwindenden Betrag unter den riesigen Massen aus wärtiger Staatsschulden, welche alljährlich in London Unter kunft finden. Dennoch bat diese kleine Eisenbahn-Anleihe ein erhöhtes Interesse; sie bedeutet eine neue Etappe in der vielfach verschlungenen Wanderung, welche die russische Staatsschuld durch die capitalSrcichen Länder Europa macht. Tie Werthe jener Länder, welche mit England nicht in frenndschastlickem Verhältnisse stehen und deren Pölitik vom englischen Volke moralisch verurtheilt wird, werdem vom englischen Capital erbarmungslos zurückgcwiesen. So batte, wie die „Tägl. Rundschau" in einem gut orientirenden Artikel ausführt, seinerzeit die Politik auch einen Sturm gegen die russischen Werthe hervorgerufen. Durch Jahrzehnte war England der wichtigste StaatSgläubigrr Rußland». Viele Hunderte von Millionen russischer StaatSpapiere be fanden sich im Besitze deS englischen CapitalS. Die kriegerischen Verwickelungen 1885 brachten aber eine jähe Wendung. Russische Truppen fielen in Afghanistan ein. Ganz England empfand diesen Ueberfall als einen Angriff in die eigene Interessensphäre. Der Krieg erschien nahezu unausweichlich. Eine furchtbare Erbitterung gegen Rußland bemächtigte sich der City und in kurzer Zeit war der früher so bedeutende Besitz deS englischen Capital» an russischen Staatspapieren auf ein sehr kleines Maß ver ringert. Diese Effectenwanderung wurde dadurch begünstigt, daß Deutschland eine politische Annäherung an Rußland suchte, und daß die Regierung deSFürsten BiSmarck daS deutsche Capital zum Ankäufe russischer Papiere ermutbigte. Berlin wurde zum Mittelpunkte deS russische» CreditS, die Anleihen der nächsten Jahre wurden ausschließlich in Deutschland begeben. Damit war jedoch die Wanderung der russischen Werthe nicht beendet. Die Beziehungen zwischen Deutschland Und Rußland erfuhren 1887 eine jähe Verschlechterung. Infolge dessen eröffneten maßgebende Berliner Stellen eine» finanziellen Krieg gegen Rußland. Eine zweite Effectenwanderung begann, diesmal über den Rbei», aber wesentlich geringer, da daS fran zösische Capital nur in ziemlich bescheidenem Umfange die alten russischen Papiere übernahm. Aber während der nächsten Jahre weckte die politische Annäherung zwischen Rußland nnd Frankreich bei den französischen Sparern eine Neigung zu russischen Anleihen, den Alliance- Anleihen. Nahezu fünf Milliarden Franken wurden vom französischen Capital ausgenommen. Die Uebersättigung blieb aber auch beim französischen Publicum nicht aus, die letzten russischen Anleihen konnten nur mehr mühsam unter gebracht werden. Deutschland zeigte sich später zwar wieder williger, bot aber dennoch keinen guten Markt. Wohl oder übel verstand sich so der russische Finanz- Fettilleton. Außer Diensten. 23j Roman von Ernst Wichert. Nachdruck verbrtu. Es war so dunkel, daß der Freiherr unmöglich vom Gesicht seines Gefährten ablesen konnte, was ihn etwa innerlich bewegte, wenn dessen Cigarre auch ein paar Mal Heller als vorher auf leuchtete. Jungenheim antwortete nicht sogleich. Dann sagte er anschsrnrüd sehr ruhig: „Es wär« albern, Neber Onkel, wenn ich mich gegen Dein freundliches Lob wehren wollte. Ich hoffe, Du wirst mich auch so für bescheiden genug halten, daraus keine ungehörigen Folgerungen zu ziehen. Es freut mich, daß Du mir etwas zutraust. Ader wenn Du mich wirklich nicht überschätztest, so wär'S doch eben nur bedauerlich, daß aus mir nicht werden könnte, wozu ich allenfalls d'aS Zeug hätte. Söhr viele Sterbliche sind nicht gllücklicher." „Wie meinst Du daS?" fragte Jttenborn. „Ich denke, wenn Du daS Zeug dazu hast . . ." „ES lohnt nicht, darüber zu reden, Onkel. Ich bin ein ein facher Arbeiter, und nicht einmal einer von denen, di« sich von der Partei unterhalten lassen können, wenn sie in deren Dienst thätig sind." / „Ein Kopfarbeiter." „DaS macht da keinen Unterschied. Kurz, einer, der von feiner Arbeit leben muß und betteln gehen kann, wenn er nicht wehr Arbeit hat." „Du übertreibst." „Nicht im Mindesten. Ich bin ja auch mit meinem LooS ganz zufrieden und beklage mich jedenfalls nicht. Nur, daß ich unter solchen Umständen nicht gratis fürs Gemeinwohl thätig fein kann, möchte sich wohl von selbst verstehen." > Der Freiherr blies den Cigarrendampf aus dem offenen Fenster, -indem er sich vorbeugte. Er schien zu überlegen, ob er das Gespräch fortfetzen solle. Dann sagte er doch leichthin und ohne sich zurückzuwenden: „Du wirst eine gute Partie machen müssen." Jungenheim lachte hell auf. „Möchtest Du mir zu einer reichen Jüdin rathen?" „Hm . . . Wenn sie sehr reich wäre, und übrigens hübsch uckd liebenswürdig ... Es ist wirklich zu schade um Dich. Ich denke, Du wärst vorurtheilsfrei genug . . . - „In allem Ernst, Onkel, ich würde unbedenklich eine Jüdin heirathen, wenn ich sie liebte. Brächte sie mir Reichthum zu, um so besser; er sollte gut angewandt werden." „Wenn Du sic liebtest!" Der Freiherr wandte den Kopf nach der Schulter hin. „Dein Herz ist wohl nicht mehr frei?" „Kann sein." „Ah so! Ja, dann ist Dir nicht zu helfen. Ich wette darauf, ein Mädchen, arm wie Du, und dazu bürgerlich — vielleicht kleinbürgerlich." Jungenheim lachte wieder, aber diesmal nur verhalten. „Und wenn's eine sehr vornehme und reiche, schöne junge Dame wäre?" „Ja, dann wüßte ich nicht, warum Du zögertest — voraus gesetzt, daß sie Dich mag." „Und was würde der Vater sagen, wenn der Journalist um die Hand seiner Tochter «»hielte?" „Ach, der Vater!" „Bitte, Exccllenz, die Bedeutung der Väter vornehmer, reicher, schöner, junger Damen nicht zu unterschätzen." Nun stieß der Freiherr einen kurzen Lachlaut aus, entgegnete aber nichts weiter. Gleich darauf lenkte ein entgegenkommendes Fuhrwerk, dessen Leiter schlief und von dem herrschaftlichen Kutscher derb angerufen werden mußte, die Aufmerksamkeit ab. Ms man glücklich vorüber war, kam das Gespräch nicht mehr auf den früheren Gegenstand zurück. Frische Cigarren wurden nicht angesteckt, und 'bald schlummerte Jeder in seiner Wagenecke. Nicht lange vor der Auffahrt der rosenfinyrigen EoS trafen sie in Horfkln ein und begaben sich gleich zur Ruhe, womöglich den versäumten Schlaf nachzuholen. DaS gelang dem Freiherrn, der sich vorläufig aller Sorgen entledigt fühlte, besser als dem Doctor. Zwar überwältigte ihn augenblicklich die Müdigkeit, aber im Traum stand er bald auf der Rednertribüne und sprach sonderbarer Weise lateinisch. Der Aerger, daß eine Phrase sich nicht gut ciceronisch ausrunden wollte, weckte ihn auf. Er warf sich dann noch eine halbe Stunde auf den Kissen herum, ohne doch jetzt bei Hellem Tage wieder einschlafen zu können. Auch be schäftigten ihn sofort sehr ernste Ueberlegungen. Was gestern geschehen war, mußte ihn bedenklich machen, ob der Freiherr Stand halten werde. Dann aber bedeutete es nur verlorene Zeit, sich länger in Horseln aufzuhalten und überhaupt in der Wahl angelegenheit thätig zu sein. Für einen der nächsten Tage war eine Versammlung der Gegner einberufen, in der Graf Gunzen- stein sprechen sollt«. Das hatte für diesen keine Schwierigkeiten, da er nur in seiner Partei tausend Mal Gesagtes zu wicderholen brauchte und des Beifalls seiner Gesinnungsgenossen sicher war. Der ungünstige Eindruck, den der persönliche Rückzug deS Frei herrn übte, ließ sich augenblicklich verwischen; wenn er aber ganz beseitigt werden sollte, mußte seine Presse im Stande sein, zu versichtlich ein neues Auftreten bei besserem Wohlsein in nahe Aussicht zu stellen. Jungenheim hatte das Gefühl, daß Jtten born nicht mit ganzem Herzen bei der Sache sei und, wenn er wirklich noch einmal aufträte, die Wirkung seiner eigenen Rede nur abschwächen werde. Es war ihm aber keineswegs auch nur sicher, daß man von ihm jetzt ein muthigeres Vorgehen zu er warten habe. Als er an seinen Schreibtisch trat, fand er darauf Briefe, die gestern in seiner Abwesenheit angekommen sein mußten, darunter einen aus England, den er sogleich in Eile öffnete und überflog. Er betraf, wie er vermuthete, die Angelegenheit des Eapitäns und enthielt als Beilagen Abschrift von Protokollen, die es außer Zweifel stellten, daß die beiden deutschen Matrosen zur Besatzung des von ihm geführten Schiffes gehört hatten. Es gab also Zeugen der Katastrophe! Er zog sich sofort fertig an und suchte den Onkel auf. Es hieß, er sei draußen in der Wirthschaft. Jungenheim fand ihn im Roßgarten bei den Fohlen, die er in Gesellschaft des Roßarztes musterte. „Nun, wie ist's gestern ge gangen, mein Kerlchen?" fragte der Capitän. Er berichtete kurz und schonend. Das scharfe Auge des alten Seemannes blickte doch gleich durch. „Hast ihn also so zur Noth herausgerissen, mein Jungchen", bemerkte er. „Hm hm . . . Schon als ihr ab fuhrt, hab' ich mir gedacht, daß der unwohl werden würde. Ist doch nichts für ihn. Ja, wenn Du . . ." „Onkel, ich habe Dir noch etwas Besonderes mitzuthcilen", unterbrach der Doctor. . ! „Na — schieß los!" „Aber nicht hier. Wir verhandeln das am besten in Deiner Kajüte." So — brauchst Du Geld? Ich hab's auch nicht im Uebrr- fluß; aber . . ." „Wie kommst Du darauf, Onkel?" „Ach! junge Leute — und so geheimnißvoll . . . Vielleicht ist Dir's aber auch nur um einen Cognac zur Stärkung zu thun. Den sollst Du haben." Auf dem Wege, als sie allein waren, sagte Jungenheim: „ES geht Dich selbst näher an, als Du glaubst. Ich habe bisher ge schwiegen, weil ich noch nichts Näheres wußte. Und über allen Zweifel mag's ja auch jetzt noch nicht sein, aber für mich behalten kann ich's doch nicht länger." „Was denn, Kerlchen, was? Sie waren Nicht mehr weit vom Schlosse. Jungenheim fing zu erzählen an, erst nur vorbereitend von der Insel und den Schiffbrüchigen und der Rettung; der Capitän ahnte noch nicht, worauf's hinaus wollte. Kaum aber war von dem versunkenen Schiff die Rede, so packte er den Doctor mit einem eisernen Griff am Arm, zwang ihn, stehen zu bleiben und rief: „HanS —! Teufelskerl! Du glaubst doch nicht . . ." AuS seinem braunen Gesicht war alles Blut gewichen. „Der Capitän erfuhr weiter, was geschehen sei, sichere Nach richt zu erhalten. Und gestern ist nun der Brief aus England eingetroffen." „Und — und — und? So rede doch!" „Es scheinen Deine Leute zu sein." Der Capitän muß:e sich am Stall auf einen Holzklotz nieder setzen. Er aldmeie kur; und schnaufend, der Kopf hob sich und fiel ihm wieder aut die Brust. „Ich will Dir innen die Papiere vorlegen", sagte Jungenhcim, „Du wirst ja selbst sehen." Nun erhob er ück und schwankte seiner nahen Wohnung zu. Seine Hände zitterten so, daß er Mühe hatte, den Schlüssel inS Loch zu bringen. „Sieb, gieb!" rief er, als sie eingetreten waren. „O Du allgütiger Gott, wenn das richtig sein sollte!" Er riß ihm die Briese und Protokollabschriften aus der Hand. „Hans, wenn das . . .!" Jungenheim schob ihm einen Stuhl hin und drückte ihn darauf. Halen las mit halblauter Stimme, immer hastig, gleichgiltige Worte und Zeilen überspringend, von Zeit zu Zeit mit der Hand auf den Tisch schlagend. Als der Name seines Schiffes genannt wurde, sprang er auf und fiel dem jungen Manne um den Hals. Die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er konnte sich lange nicht beruhigen. „Die müssen es wissen, di« müssen es wissen", wiederholte er immer. Dann las er zu Ende und nochmals genauer. „Es stimmt Alles — es stimmt. Hans, Du bist mein Retter!" „Nur ruhig, Onkel, nur ruhig", mahnte Jungenheim, „noch fehlt viel . . ." „Da soll der Teufel ruhig sein!" rief der Capitän. „Nichts fehlt. Wenn die Kerls die Wahrheit sagen, wird das ganz« Urtheil umgeworfen. Muß!" „Aber noch haben wir sie nicht so weit. Man muß be denken . . ." „Handeln muß man!" fiel Halen ein, „sofort — an Ort und Stelle." Er faltete die Hände. „Herr, mein Gott, laß die Kerls gesund an Land kommen! Ich muß dabei sein, ich lasse sie nicht mehr aus den Augen, bis sie verhört sind. Noch heute reise ich nach Bremen — nach England." Er bebte am ganzen Leib«. - '
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