Ökomorphologische Diversität und Funktion des Klebfangapparates mitteleuropäischer Stenus-Arten (Coleoptera, Staphylinidae)

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Zitierfähiger Link (URI): http://hdl.handle.net/10900/106199
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-dspace-1061994
http://dx.doi.org/10.15496/publikation-47577
Dokumentart: Dissertation
Erscheinungsdatum: 2020-09-04
Sprache: Deutsch
Fakultät: 7 Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Fachbereich: Biologie
Gutachter: Betz, Oliver (Prof. Dr.)
Tag der mündl. Prüfung: 2020-07-15
DDC-Klassifikation: 590 - Tiere (Zoologie)
Schlagworte: Kurzflügler , Stenus , Adhäsion , Beutefang , Adhäsionsarbeit , Phylogenie , Käfer , Taxonomie , Morphologie , Gliederfüßer , Funktionsmorphologie , Ökologie
Freie Schlagwörter: Dianous
Beutefangapparat
Haftsystem
phylogeny
functional morphology
adhesion
ecomorphology
prey-capture device
adhesive system
adhesive secretion
adhesive pad
Lizenz: http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=de http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=en
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Inhaltszusammenfassung:

Mit mehr als 3000 beschriebenen Arten bildet die Gattung Stenus die artenreichste Tiergattung überhaupt (Puthz, pers. Mitt.). Innerhalb der Familie der Staphylinidae gelten sie als die einzigen Vertreter, die ein stabförmig verlängertes Fanglabium aufweisen, das durch Hämolymphdruck innerhalb weniger Millisekunden hervorgeschnellt werden kann. Bleibt ein Beutetier an den zu Haftpolstern umgebildeten Paraglossen haften, wird die Beute durch Retraktion des Labiums zwischen die Mandibeln gebracht und kann gefressen werden. Die beim Beutefang auftretenden Haftkräfte wurden bislang nur theoretisch bestimmt (Kölsch 2000), während die beim Ausschleudern des Labiums auftretenden Druckkräfte noch völlig unbekannt sind. Zentraler Teil der vorliegenden Arbeit ist die Bestimmung der über den Klebfangmechanismus erzeugten Druck- und Zugkraft. Dazu wurde eine Messmethode, mit der es erstmals möglich ist, den genauen zeitlichen Verlauf der entwickelten Kräfte zu verfolgen und statistisch auszuwerten. Die Tiere sind visuell orientiert und "schießen" mit ihren Klebzungen auf einen sich bewegenden Insektennadelkopf, der mit einem Kraftmessgerät verbunden ist (Publikationen I-III). Umfangreiche Studien von Betz (1996) an verschiedenen Stenus-Arten zeigten, dass größere und strukturell komplexere Haftpolster zu einem erhöhtem Fangerfolg führen. Diese Schlussfolgerung wird durch die neuen Experimente unterstützt und mit der Integration der Performanzmessungen kann nun erstmalig ein direkter Zusammenhang zwischen der Morphologie der Haftpolster, deren Haftperformanz und dem Beutefangerfolg hergestellt werden. Die während des Klebfanges entstehenden Druck- (beim Auftreffen der Klebpolster auf eine Beuteattrappe) und Adhäsionskräfte (beim Rückzug der Klebpolster von der Attrappe) wurden bei 14 mitteleuropäischen Vertretern der Gattung Stenus bestimmt (Publikation III). Mit Werten zwischen 0.28 mN bei S. morio und 1.08 mN bei S. bimaculatus zeigen vor allem die Adhäsionskräfte signifikante interspezifische Unterschiede, welche auf die unterschiedliche Größe und die Komplexität der Haftpolster (d.h. der Anzahl an Hafthaaren und Haftkontakten) zurückzuführen sind (Publikation III). Die durchschnittlichen Druckkräfte während des Fangschlages erreichten Werte zwischen 0.05 mN bei S. biguttatus und 0.18 mN bei S. juno und waren somit um eine Größenordnung niedriger als die Adhäsionskräfte. Außerdem konnte gezeigt werden, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen Druckkraft und Zug- (Adhäsions-)kraft besteht, d.h., je größer die Kraft mit der die Klebpolster auf ein Beuteobjekt auftreffen, desto größer ist auch die Adhäsion zwischen Klebpolstern und Beute. Dieses Ergebnis weist auf einen druckempfindlichen Haftmechanismus bei Stenus hin. Die phylogenetisch-vergleichenden Analysen zeigten weiterhin, dass sich die Zugfestigkeit (Haftkraft pro Haftposterfläche) mit zunehmender Haftpolsterfläche verringert, sodass Stenus-Arten mit kleineren Haftpolstern zwar geringere absolute Adhäsionskräfte erzeugen, aber insgesamt höhere Zugfestigkeiten erreichen und somit adhäsiv effizientere Haftpolster besitzen. Die berechneten Werte für die Zugfestigkeit lagen dabei zwischen 51.9 kPa bei S. bimaculatus und 153.2 kPa bei S. humilis (Publikation I, III). Die negative Korrelation von Zugfestigkeit und Haftpolsterfläche zeigt, dass das Haftsekret, welches während des Fangschlages über die Fläche des Haftpolsters verteilt wird, einen sehr großen Beitrag zur Haftfähigkeit des Fangapparates leistet. Dadurch sind auch Arten mit kleineren Haftpolstern befähigt, eine relativ gute Haftperformanz zu erreichen. Die während des Fangschlages auftretenden Kräfte können in Bezug mit Daten über den Fangerfolg bei verschiedenen Beutegrößen gesetzt werden. Bei diesen Fangversuchen wurden verschiedene einheimische Stenus-Arten mit Springschwänzen (Heteromurus nitidus) verschiedener Größen- (bzw. Gewichts-)klassen konfrontiert und die Anwendungshäufigkeiten beider Fangtechniken (Labium/Mandibel) sowie der Fangerfolg analysiert. Die Analysen zeigten, dass eine höhere Adhäsionskraft der Klebpolster zu einem höheren Fangerfolg gegenüber Collembolen der Art H. nitidus führt. Dieser Effekt war beim Fang größerer Collembolen wesentlich stärker ausgeprägt (p < 0.001) als beim Fang kleiner Collembolen (p < 0.1) (Publikation III). Außerdem wurde die Haftleistung der Klebzunge auf Oberflächen unterschiedlicher Rauigkeit und Oberflächenenergie untersucht (Publikation II). Dazu wurden unterschiedliche Oberflächen am Insektennadelkopf angebracht und die Haftperformanz bestimmt (Publikation II). Es stellte sich heraus, dass die Haftleistung der Klebpolster von S. juno und S. bimaculatus selbst auf sehr rauen Oberflächen nicht vermindert ist. Diese Beobachtung weist darauf hin, dass es sich bei dem Haftsekret der Käfer um einen echten Klebstoff handelt, da auch diese eine gleichbleibende bzw. bessere Klebfestigkeit auf rauen Oberflächen erreichen. Die Bedeutung rauer Oberflächen für die Haftkraft liegt einerseits in der besseren Verzahnung von Klebstoff und Oberfläche und andererseits in der Vergrößerung der Kontaktfläche zwischen Klebstofffilm und Substrat und damit in der Steigerung der spezifischen Adhäsionskräfte. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass sich die Haftkräfte auf Oberflächen mit unterschiedlichen Oberflächenenergien nur geringfügig voneinander unterscheiden (Publikation II). Auf Oberflächen mit geringer Oberflächenenergie (hydrophobe Oberfläche) ist die Haftleistung zwar vermindert, kann jedoch wahrscheinlich infolge der Zusammensetzung des Haftsekretes aus hydrophilen und hydrophoben Komponenten kompensiert werden. Die Klebpolster bestehen aus mehreren Funktionselementen, die synergistisch während des Beutefangprozesses zusammenwirken (Publikation I). Das Netzwerk aus weichen endokutikularen Fasern stabilisiert das Haftpolsterinnere und verleiht der gesamten Struktur Flexibilität und Elastizität (in Verbindung mit dem elastischen Protein Resilin), so dass sie sich an die speziellen Formen und Oberflächenunregelmäßigkeiten der Beutetiere anpassen kann. Das dichte Netz aus kutikulären Fasern unterstützt beim Fangschlag mechanisch die eigentliche Kleboberfläche, die in zahlreiche Hafthaare strukturiert ist. Diese Hafthaare sind während des Fangschlages fast vollständig mit dem Sekret benetzt werden - lediglich deren terminale Verzeigungen ragen aus dem Sekret. Die Unterteilung der Haftkontakte in viele Einzelelemente ist verantwortlich für den optimalen Haftkontakt zwischen den Haftpolstern und den unvorhersehbaren Oberflächenstrukturen der Beutetiere (in Kombination mit dem Haftsekret). Außerdem ermöglichen derartige endständige Verzweigungsstrukturen generell eine höhere Packungsdichte der Hafthaare, da die endständigen Verzweigungen ein Verkleben benachbarter Hafthaare verhindern. Die histochemischen Färbungen ergaben, dass es sich bei dem Haftsekret um ein komplexes Gemisch aus mehr als nur einer chemischen Phase handelt, d.h. aus einer Emulsion aus wasserlöslichen (Zucker: Mucopolysacchariden; Proteine) und fettlöslichen (Lipide) Komponenten. Die meisten in der Natur vorkommenden Haftsysteme basieren ebenfalls auf proteinösen sowie zuckerhaltigen Komponenten (siehe Scherge & Gorb, 2001). Wie für das Tarsalsekret von Heuschrecken (siehe Scherge & Gorb, 2001) vermutet, könnte eine solche Emulsion für die effektive Verteilung des Sekrets über verschiedene Oberflächentypen (hydrophil und lipophil) von Vorteil sein. Die große Sekretmenge, die hohe Viskosität des Sekretes sowie die Tatsache, dass deren Haftwirkung bei hoher Geschwindigkeit auftritt, lassen vermuten, dass der Adhäsionsmechanismus vor allem auf den viskosen Eigenschaften des Sekrets basiert (Stefan-Adhäsion). Die hohe Viskosität konnte durch Hochgeschwindigkeits-Videoaufnahmen belegt werden, auf denen das Zurückziehen der Klebpolster von einer Oberfläche zu sehen ist: wie bei kommerziell verfügbaren Haftklebstoffen dehnt sich das Sekret dabei aus und gliedert sich in lange parallele Fasern (Fibrillation) auf, bevor es schließlich an der Kontaktzone mit dem Substrat abreißt. Diese Eigenschaft des Haftsekretes steht im Zusammenhang mit einer hohen inneren Festigkeit, sodass die Verbindung nicht innerhalb des Sekretes bricht (hohe kohäsive Kräfte). Zusammenfassend lässt sich folgern, dass es sich bei dem Beutefangapparat der Gattung Stenus um ein hierarchisch aufgebautes System handelt, bei dem ein multiphasisches Haftsekret mit der spezifischen Struktur terminal verzweigter Hafthaare kombiniert ist. Zwischen den Hafthaaren im Sekret befinden sich zahlreiche Bakterien, deren Funktion bisher unbekannt ist. Über die Sequenzierung des ribosomalen 16S rRNA-Gens wurden diese Bakterien identifiziert (Publikation IV). Die Analyse ergab eine vielfältige Bakterienzusammensetzung: die meisten dieser Bakterien konnten den Gruppen der Actinomycetales (Arthrobacter, Microbacterium, Rhodococcus) und Pseudomonadales (Acinetobacter, Pseudomonas) zugeordnet werden. Die Bakteriendiversität innerhalb des Haftsekretes ist wahrscheinlich sogar noch größer, da nur Arten identifiziert wurden, die in vitro auf Agarplatten kultiviert werden konnten. Die Bakterien leben als Kommensalen im Haftsekret bei Stenus und nutzen möglicherweise die verschiedenen Komponenten des Haftsekretes als Nahrungsquelle (Mucopolysaccharide, Proteine, Lipide). Der Klebfangapparat wurde bisher als prominenteste Autapomorphie der Gattung Stenus angesehen und galt als wesentliches Abgrenzungsmerkmal für die Monophylie dieser Gattung gegenüber der Schwestergattung Dianous. Im Vergleich zu Stenus zeigt das Labium der Gattung Dianous allerdings den gleichen Grundbauplan, nur in verkürzter Form, wobei die Paraglossen bei Dianous nicht zu Haftpolstern differenziert sind. Bisher wurde davon ausgegangen, dass das morphologisch einfach gebaute, verkürzte Labium von Dianous den plesiomorphen, und das vorschnellbare Fanglabium mit den modifizierten Paraglossen von Stenus den apomorphen Zustand darstellt. Diese Vermutung wurde in einem weiteren Teil der Dissertation mit Hilfe molekularer Sequenzdaten von 41 Arten der Gattung Stenus sowie 13 Arten der Gattung Dianous analysiert (Publikation V). Die Analyse des Cytochrom Oxidase I (COI)-Gens zeigte interessanterweise, dass die untersuchten Dianous-Arten eine monophyletische Gruppe innerhalb der Gattung Stenus bilden, wobei Arten der Untergattung Stenus s. str. (S. ater-, clavicornis-, humilis- und guttula-Gruppe) dabei eine Nachbarposition zu Dianous einnehmen. Aus Konsequenz der phylogenetischen Untersuchungen ist allerdings eine sekundäre Reduktion des ehemals komplexeren Fangapparates bei Dianous wahrscheinlich. Diese Aussage wird durch (i) Untersuchungen der Gensequenzabschnitte COI, 16S rRNA, Histon H3 (Lang et al. 2015) und 18S rDNA (Grebennikov & Newton 2009), (ii) chemische Analysen des Pygidialdrüsensekretes (Lang et al. 2015) sowie (iii) bisher unveröffentlichte Studien zur Kopfmorphologie (Gold, unpublizierte Diplomarbeit) bestätigt. Allerdings sind weitergehende morphologische und phylogenetische Untersuchungen mit einer größeren Artenzahl sowie anderen Genen nötig, um ein genaueres Bild über die Verwandtschaftsbeziehungen der „Schwestergattungen“ Stenus und Dianous zu geben.

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