Können Gedächtnisinhalte frühe visuelle Wahrnehmungsprozesse beeinflussen? - Untersuchung des Familiarity-Effekts mit ereigniskorrelierten Potentialen

Language
de
Document Type
Doctoral Thesis
Issue Date
2016-06-10
Issue Year
2016
Authors
Becker, Linda
Editor
Abstract

Die vorliegende Doktorarbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob Gedächtnisinhalte frühe visuelle Wahrnehmungsprozesse beeinflussen können. Um diese zu beantworten, wurde der Familiarity-Effekt (FE) mit ereigniskorrelierten Potentialen (EKPs) untersucht. Der FE (z. B. Frith, 1974; Wolfe, 2001) beschreibt das Phänomen, dass etwas Unvertrautes in einem Hintergrund von etwas Vertrautem schneller und mit weniger Fehlern entdeckt werden kann als etwas Vertrautes in einem Hintergrund von etwas Unvertrautem. In sechs Experimenten, die sich in der Art des verwendeten Stimulusmaterials unterschieden, wurde untersucht, zu welchem Zeitpunkt sich der FE (zuerst) manifestiert. Hierzu wurden Elektroenzephalogramme abgeleitet und für drei EKP-Komponenten (die N1, die posteriore N2 und die P3), die zu unterschiedlichen Zeitpunkten während des Wahrnehmungsprozesses auftreten, untersucht, in welcher Komponente sich der FE manifestiert. In den Experimenten 1 und 2 wurde – in Anlehnung an Meinecke und Meisel (2014) – der FE in Textursegmentierungsaufgaben untersucht. Dabei handelte es sich bei den für die Versuchspersonen vertrauten Stimuluselementen um Gruppen des Buchstabens N und bei den unvertrauten Stimuluselementen um Gruppen des gespiegelten Ns (Иs). In Experiment 1, in dem homogene Texturen mit konstantem Abstand zwischen den Stimuluselementen verwendet wurden, manifestierte sich der FE ausschließlich im Bereich der N2p und damit im Grenzbereich zwischen Bottom-up- und Top-down-Verarbeitungsprozessen. In Experiment 2, in welchem inhomogene Texturen verwendet wurden, konnte darüber hinaus ein Effekt im späten Bereich der P3 und damit ein typischer Top-down-Effekt gefunden werden. In den Experimenten 3 bis 6 wurden – in Anlehnung Frith (1974) sowie Meinecke und Meisel (2014) – die Stimuluselemente zeilenförmig angeordnet. In den Experimenten 3 und 4 wurden – in Anlehnung Frith (1974) sowie Meinecke und Meisel (2014) – die Stimuluselemente zeilenförmig angeordnet, und als vertraute Elemente As und als unvertraute Elemente um 180° rotierte As verwendet. Der Buchstabe A wurde ausgewählt, da er im Gegensatz zu dem in den Experimenten 1 und 2 verwendeten Buchstaben N kein Primärmerkmal enthält. In den Experimenten 3 und 4 wurde der FE für alle drei EKPs und damit sowohl im frühen, im mittleren als auch im späten Zeitbereich des Wahrnehmungsprozesses gefunden. Allerdings zeigte sich der FE im Zeitbereich der N1 nur für Targetpositionen am Rand der Fovea und weiter in der Peripherie. Es konnte daher in den Experimenten 3 und 4 gezeigt werden, dass sich der FE unter spezifischen Voraussetzungen (Verwendung von Buchstabenzeilen mit Buchstaben, die kein Primärmerkmal enthalten und Targetdarbietung außerhalb der zentralen Fovea) schon während der ersten Stufe des Informationsverarbeitungsprozesses manifestieren kann. In Experiment 5 wurde untersucht, ob sich der FE zu einem anderen Zeitpunkt manifestiert, wenn in den Stimuluselementen Primärmerkmale enthalten sind. Daher wurden als Stimuluselemente erneut Ns und Иs verwendet, diese wurden aber im Gegensatz zu den Experimenten 1 und 2 zeilenförmig angeordnet. Der Unterschied zwischen beiden Buchstaben besteht in der Orientierung der Diagonalen und damit in der Ausprägung auf einer Primärdimension (für das Primärmerkmal Orientierung). In Experiment 5 manifestierte sich der FE zuerst im Zeitbereich der N2p sowie zusätzlich im Zeitbereich der P3 und damit später als in den Experimenten 3 und 4, in denen die Stimuluselemente kein Primärmerkmal enthielten. In Experiment 6 wurde der FE für Achtelnoten und um 180° rotierte Achtelnoten untersucht, welche symbolartige und seltenere Stimuluselemente als Buchstaben darstellen. Für diese manifestierte sich der FE – wie für den Buchstaben A sowohl im Bereich der N1, der N2p und der P3. Der Effekt im Zeitbereich der N1 konnte wie für den Buchstaben A nur für Targetdarbietungen am Rand der Fovea gefunden werden. Die Erfahrung mit Notenmaterial beziehungsweise mit Achtelnotensymbolen hatte keinen Einfluss auf die Stärke des FEs. Es konnte daher in Experiment 6 gezeigt werden, dass sich der FE auch bei Verwendung von Symbolen schon während der ersten Stufe des Wahrnehmungsprozesses manifestieren kann. Als Gesamtergebnis wird geschlussfolgert, dass der FE unter spezifischen Voraussetzungen (hochüberlernte Stimuluselemente wie Buchstaben oder Symbole ohne Primärmerkmale) schon früh im Wahrnehmungsprozess auftreten kann und daher bereits die frühe visuelle Informationsverarbeitung von Gedächtnisinhalten beeinflusst werden kann.

DOI
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