Ein Sprecher - mehrere Dialekte : Code-Mixing und Code-Switching im tridialektalen Raum um Dinkelsbühl

One speaker – many dialect registers : code-mixing and code-switching in the multidialectical area around Dinkelsbühl

  • Wie stark kann ein Sprecher seinen Code, d.h. sein Mittel der Informationsübertragung zum Empfänger der Sprachnachricht, einer veränderten Kommunikationssituation anpassen? Die in vergleichbaren Arbeiten schon oft gestellte Frage bildet auch den Ausgangspunkt dieser dialektologischen Studie, wobei verschiedene Sprechsituationen simuliert, ausgewertet und im Anschluss daran mittels eines Sprachschichtenmodells näher klassifiziert wurden. Die beiden Extrema, zwischen denen diese Sprachschichten angeordnet sind, sind dabei im Allgemeinen einerseits die Basismundart, d.h. ein „reiner“ Ortsdialekt, andererseits die „reine“ Standardsprache. Beide sind mittlerweile auch im hier gewählten Raum abstrakte Orientierungsgrößen. In der Regel verfügen heutige Sprecher nämlich über mehrere Sprechweisen zwischen diesen beiden Extremen. Diese Sprechweisen bilden entweder ein mehr oder weniger breites Kontinuum, einen aus Merkmalen beider Ebenen gemischten Code, den ein Sprachbenutzer unbewusst, oft sprachsituationsunabhängig und vor allem ohneWie stark kann ein Sprecher seinen Code, d.h. sein Mittel der Informationsübertragung zum Empfänger der Sprachnachricht, einer veränderten Kommunikationssituation anpassen? Die in vergleichbaren Arbeiten schon oft gestellte Frage bildet auch den Ausgangspunkt dieser dialektologischen Studie, wobei verschiedene Sprechsituationen simuliert, ausgewertet und im Anschluss daran mittels eines Sprachschichtenmodells näher klassifiziert wurden. Die beiden Extrema, zwischen denen diese Sprachschichten angeordnet sind, sind dabei im Allgemeinen einerseits die Basismundart, d.h. ein „reiner“ Ortsdialekt, andererseits die „reine“ Standardsprache. Beide sind mittlerweile auch im hier gewählten Raum abstrakte Orientierungsgrößen. In der Regel verfügen heutige Sprecher nämlich über mehrere Sprechweisen zwischen diesen beiden Extremen. Diese Sprechweisen bilden entweder ein mehr oder weniger breites Kontinuum, einen aus Merkmalen beider Ebenen gemischten Code, den ein Sprachbenutzer unbewusst, oft sprachsituationsunabhängig und vor allem ohne diskursfunktionale Bedeutung benutzt – sog. Code-Mixing – oder verschiedene, voneinander getrennte Codes, zwischen denen er je nach Situation bewusst umschaltet – und damit ein sog. Code-Switching vollzieht. Diese verschiedenen Formen der Annäherung an Standard und Basisdialekt wurden zwar auch in dieser Arbeit untersucht. Der gewählte Untersuchungsraum um Dinkelsbühl bietet jedoch noch ein weiteres Problem: In ihm stoßen nämlich drei verschiedene Dialekte aufeinander: Schwäbisch als Subdialekt des Alemannischen, Ostfränkisch und Bairisch. Auch zwischen diesen Dialekten gibt es Code-Mixing und Code-Switching. Somit haben die Sprachbenutzer nicht nur verschiedene Annäherungsformen an die Standardsprache zur Verfügung, sondern auch an jeweils mindestens einen anderen Dialekt, so dass Variation in zwei Dimensionen stattfindet: vertikal zwischen Dialekt(en) und Standard sowie horizontal zwischen verschiedenen Dialekten. In dieser Studie standen im Hinblick auf die Frage nach Mixing und Switching die lautlichen Einzelphänomene im Vordergrund; es wurde überprüft, ob sie bei verändertem Kommunikationskontext „überwindbar“ sind. So ergaben sich insgesamt zwei Gruppen von Forschungsfragen, eine soziolinguistische und eine diachron-systemlinguistische, die in dieser Arbeit beantwortet wurden: 1. Welches Code-Mixing liegt bei Sprechern dieses Untersuchungsgebietes vor? Welche Code-Switching-Prozesse führen sie durch? Von welchen Variablen hängen Code-Mixing und Code-Switching ab? Wie verwenden die Sprecher in einem Raum mit drei Dialekten und der Hochsprache diese ihnen zur Verfügung stehenden Varietäten? 2. Wie sieht das dialektale Lautsystem in der „Normallage“ aus? Wie ist es, ausgehend vom Referenzsystem des Mittelhochdeutschen, entstanden? Was bedeuten Code-Mixing und Code-Switching für dieses Lautsystem? Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich verschiedene Erhebungsformen – je nach Grad der Standardisierung – unterschiedlich im Sprachprofil einer Gewährsperson niederschlagen und durch den Wechsel der Form auch ein Sprechlagenwechsel induziert wird. So können standardnaher und standardferner Sprachgebrauch derselben Gewährsperson verglichen werden. Ziel ist es, Dialektalitätswerte von Gewährspersonen zu ermitteln, die dann verglichen werden. Diese Werte wurden über die Messung phonetischer Distanz nach dem Verfahren von HERRGEN / LAMELI ET AL. errechnet. Um diese phonetischen Messungen so präzise wie möglich vornehmen zu können, wurde das phonetische Computerprogramm PRAAT herangezogen, was in dialektologischen Arbeiten eher die Ausnahme ist. Ergänzt wurden die Explorationen von standardnaher und standardferner Sprachebene durch Interviews der Gewährspersonen und Befragungen auch über multidialektalen Sprachgebrauch. Im systemlinguistischen Teil der Arbeit findet sich zunächst eine Beschreibung der Ortsmundart nach Vorlage der klassischen Lautatlanten. Hier wurde der Lautstand der Ortsmundart genau deskribiert. Das Aufzeigen der diachronen Entwicklung und eine Analyse des synchronen Lautstands bildeten die Basis dafür, die Phonologie des dialektalen Systems mit seinem auffälligen Code-Mixing und die Veränderungen durch Code-Switching-Prozesse zu untersuchen. Diese systemlinguistische Beschreibung ist dabei klassisch strukturalistisch orientiert und argumentiert mit der Symmetrie von Lautsystemen, mit Entwicklungen über Schub- und Zugketten und dgl. Durch das in der Studie aufgezeigte Code-Mixing werden Versuche zur Kategorisierung der Mundarten um Dinkelsbühl und deren Zuordnung zu größeren Dialektarealen erschwert. Denn es hat sich herausgestellt, dass für unser Areal in der Gesamtschau von einer Normallage nicht gesprochen werden kann: Zwar stellt eine dialektnahe Sprachebene noch in großen Teilen das Register dar, das im Alltag gesprochen wird, aber es besteht bei jeder Gewährsperson aus einem höchst unterschiedlichen Mixing aus Merkmalen vier verschiedener Codes mit ihren Interdependenzen, die, je nach Situation und Funktion, auch geswitcht werden können. Diese Tatsache macht es notwendig, von einem arealen Standard-Dialekte-Kontinuum mit einer vertikalen und einer horizontalen Ausrichtung - einer Art quadriglossisch ausgerichtetem Sprachvarietätenkontinuum - auszugehen. Herkömmliche Varietätenmodelle mussten aus diesem Grunde erweitert werden. Betrachtet man zunächst die vertikale Dimension, so haben die erhobenen Dialektalitätswerte gezeigt, dass sich die einzelnen Sprecher innerhalb dieses Varietätenkontinuums unterschiedlich positionieren. Soziolinguistisch vergleichbare Gruppen weisen dabei trotz unterschiedlich gemischter Codes meist ähnliche Grade von Dialektalität auf. Trotz allem handelt es sich bei Kategorisierungen nur um Tendenzen, denn ein Spezifikum dieser Region ist, dass jeder unterschiedlich spricht und sich nicht immer leicht in ein übergreifendes Modell einordnen lässt. Mit anderen Worten: Nur weil eine Gewährsperson ein bestimmtes soziolinguistisches Kriterium wie etwa ein bestimmtes Alter erfüllt, muss eine zweite Gewährsperson mit ähnlichen Eigenschaften nicht automatisch über einen gleich gemischten Code verfügen. Jedoch lassen sich bei den individuell gemischten Codes aber auch überindividuell gültige Gesetzmäßigkeiten wie Kookkurrenzrestriktionen ausmachen. Code-Mixing und auch Code-Switching geschehen daher zwar individuell, aber nicht willkürlich. Beim Code-Mixing ist ein Stadt-Land-Kontrast sowohl in Bezug auf die Präferenzen der Grunddialekte als auch eine erhöhte Standardinterferenz bei manchen Gewährspersonen im Vergleich zum Umland festzustellen. Ein ebenso gewichtiger Faktor für Dialektgebrauch in unserem UG ist neben der Urbanität der ausgeübte Beruf. Er scheint nicht nur Switchingprozesse zum Standard, sondern vor allem auch zwischen den Dialekten - also die horizontale Dimension - maßgeblich zu beeinflussen, da interdialektales Switching nur bei Berufen mit mittlerem Kommunikationsradius belegt ist. Bei der systemlinguistischen Betrachtung der Mundart um Dinkelsbühl fällt auf, dass die individuell gemischten Codes, die sich nur schwer einem Reindialekt zuordnen lassen, zu einem großen Pool an potenziellen Phonemen führen. Aus diesem Pool übernimmt ein Sprecher in seiner Normallage nicht alles, kann aber sein Lautsystem durchaus durch inaktive Phoneme, die aus einem anderen dialektalen Bereich stammen, ergänzen oder zu Gunsten eines anderen Dialektes verschieben. Pragmatisch könnte der Gebrauch der Mundart im Allgemeinen oder das Switching in eine andere Mundart im Speziellen in gewissen Kommunikationssituationen bedeuten, einen Vorteil auch auf der emotionalen Ebene (Sympathie, Zugehörigkeit, Identifikation) zu besitzen. Auch wenn das interdialektale Switching nur punktuell stattfindet, so ist es doch deutlich wahrnehmbar. Und gerade wenn aus unbewusstem Code-Mixing bewusstes Code-Switching wird, haben Sprecher aus dem tridialektal ausgerichteten Gebiet um Dinkelsbühl prinzipiell Kommunikationsvorteile, die den allgemeinen Funktionen des Code-Switchings, wie sie etwa die Fremd- und Zweitsprachendidaktik längst erkannt haben, entsprechen.show moreshow less
  • The borders of three Upper German dialects cross in the area around the medieval town of Dinkelsbühl: East Franconian coming from the north, Swabian coming from the west and south and Central Bavarian coming from the east. The study focuses on the consequences for the people and their ways of speaking in this area. First of all, an individual so-called “Code-Mixing” can be observed: The three dialects and also the Standard New High German create registers which vary from one individual to another. In other words: every person has a specific mixing of phonemes, which is for example more Swabian or more Franconian. Therefore, a “normal register” which all of the speakers possess does not exist. A second aspect of the study are the different and individual switchings between the dialects and the Standard New High German, when situations of speaking have changed. One of the results is that a person in or around Dinkelsbühl is always identifiable because of his characteristic mode of speaking. The most innovative part of this thesis isThe borders of three Upper German dialects cross in the area around the medieval town of Dinkelsbühl: East Franconian coming from the north, Swabian coming from the west and south and Central Bavarian coming from the east. The study focuses on the consequences for the people and their ways of speaking in this area. First of all, an individual so-called “Code-Mixing” can be observed: The three dialects and also the Standard New High German create registers which vary from one individual to another. In other words: every person has a specific mixing of phonemes, which is for example more Swabian or more Franconian. Therefore, a “normal register” which all of the speakers possess does not exist. A second aspect of the study are the different and individual switchings between the dialects and the Standard New High German, when situations of speaking have changed. One of the results is that a person in or around Dinkelsbühl is always identifiable because of his characteristic mode of speaking. The most innovative part of this thesis is the often neglected influence of dialects among themselves. If a person from Dinkelsbühl talks to a Swabian, his way of speaking often has Swabian phonemes. But if the same person speaks to a Bavarian (or Franconian), he usually switches to a Bavarian pronunciation (or Franconian, respectively). Two groups of reasons are responsible for this so-called “Code-Switching”: changings of the language system such as symmetries and economy in the inventory of phonemes (intralinguistic reasons) and social advantages, especially in certain types of jobs, such as a conscious creation of sympathy, closeness to another speaker, identity or familiarity (sociolinguistic reasons). Because of the wide code-mixing and code-switching, speakers from the area around Dinkelsbühl have passive and active benefits in certain situations of communication compared to “monolingual” ones.show moreshow less

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Metadaten
Author:Neu, David
URN:urn:nbn:de:bvb:824-opus4-2153
Advisor:Prof. Dr. Ronneberger-Sibold, Elke, Prof. Dr. König, Werner
Document Type:Doctoral thesis
Language of publication:German
Online publication date:2015/02/06
Date of first Publication:2015/02/06
Publishing Institution:Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Awarding Institution:Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät
Date of final examination:2014/12/04
Release Date:2015/02/06
Tag:Dialektforschung; Dialektologie; Franken; Phonologie; Sprachgeschichte; Varietätenlinguistik
GND Keyword:Dinkelsbühl; Sprachwechsel; Mündliche Kommunikation
Pagenumber:309 S. : Ill., graph. Darst., Kt.
Faculty:Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät
Dewey Decimal Classification:4 Sprache / 41 Linguistik / 417 Dialektologie, historische Linguistik
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