Das Paradigma des Herbartianismus unter problemgeschichtlichem Aspekt

Die vorliegende Schrift sucht aufzuzeigen, daß sich zwischen 1851 und 1920 der Herbartianismus als erstes Paradigma erziehungswissenschaftlicher Theorienbildung herausgebildet hat. Um diese These zu erhärten, durchleuchtet der Autor im ersten Teil seiner Schrift unter Zugrundelegung der Hauptwerke Stoys, Zillers, Dörpfelds und Reins den Theorieansatz der Herbartianer noch einmal historisch-systematisch, um dann im zweiten Teil in einer Art Bilanz den Gewinn zu ermitteln, den die Herbartianer im Laufe ihrer langjährigen und erfolgreichen Wirkungsgeschichte für die Erziehungswissenschaft erzielt haben. Im Herbartianismus, der 1883 auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung von Dilthey als eine "Anomalie" im Gefüge der Wissenschaften bezeichnet wurde, begann sich die Pädagogik in Anlehnung an Herbart erstmals als eine eigenständige Disziplin zu etablieren, was die Theorieprogramme ab 1900 unter der Bezeichnung "Autonomie der Pädagogik" für sich beanspruchten. So gründete der Frühherbartianer Stoy die Pädagogik auf ein geschlossenes Ganzes wohlgeordneter Begriffe und erklärte die philosophische, historische und praktische Pädagogik zu Hauptwissenschaften. In seiner "Einleitung in die allgemeine Pädagogik" behandelte Ziller die Ethik, Psychologie und die Religionslehre als Hilfswissenschaften der Pädagogik, die wie jede eigenständige Wissenschaft vom "Gegebenen" auszugehen habe. Auch für den Spätherbartianer Rein umfaßt die pädagogische Wissenschaft die Erfahrung der "ganzen Welt". Sie sollte aber niemals bloß empirisch, sondern zugleich auch spekulativ betrieben werden. Dörpfeld, einer der produktivsten Herbartianer, bezeichnet das damalige deutsche Schul- und Bildungssystem als unzeitgemäß, unfrei und unmenschlich. Er forderte daher eine gerechte, gesunde, freie und friedliche Schulverfassung. Die Schulgemeinde, die Kirche, die Schule selbst und der Staat sollten ihre Ansprüche so regeln, damit die Familien in allen Fragen der Schulverwaltung mitberaten und mitentscheiden konnten. Aufgrund solcher Forderungen, kann der Herbartianismus als Vorläufer eines demokratischen Bildungswesens angesehen werden. Der Herbartianismus hat vor allem in den Bereichen wie allgemeine Didaktik und Methodik, aber auch in denjenigen der Schul- und Lehrplantheorie Varianten pädagogischer Theorienbildung entwickelt, die dann später grundständige Theorienfelder der Erziehungswissenschaft geworden sind. So haben die Herbartianer die in der Erziehungslehre Herbarts angestrebte sittliche Charakterstärke des Menschen unter Einbeziehung der christlich-religiösen, der emotionalen und gesellschaftlich-teilnehmenden Komponenten als eines ihrer höchsten Erziehungsziele klarer herausarbeiten und begründen können. Unter Beachtung der Vielseitigkeit der Interessen, der Erkenntnis und Teilnahme, die Herbart als die bestimmenden Kräfte des geistigen und seelischen Lebens bezeichnete, haben Ziller, Dörpfeld und Rein das Spektrum der Unterrichtsmethoden mehrmals erweitert und zugleich differenziert. Regierung und Zucht, denen Herbart in seiner allgemeinen Pädagogik eine Schlüsselrolle zuwies, wurden von den Herbartianern nach intensiver Beobachtung der geistigen und seelischen Entwicklung des Kindes und Jugendlichen in allen möglichen Variationen pädagogischer Führung theoretisch durchdacht und ausprobiert. Schon 1855 schilderte Stoy in seiner "Hauspädagogik in Monologen und Ansprachen. Eine Neujahrsgabe an die Mütter" ein "paradiesisches" Schulleben, in welchem sich die Kinder in aller Stille und völliger Hingabe an die Natur ihre Talente entfalten und im freien Umgang mit Gleichaltrigen ihren sittlichen Charakter ausbilden konnten. Er entwarf und praktizierte somit die gleiche Idee, welche Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Paul Geheeb und Kurt Hahn bei der Planung und Einrichtung ihrer Landerziehungsheimen im Zuge der pädagogischen Reformbewegung zugrunde legten. Im Rahmen seiner historischen Pädagogik wandte Stoy die Methode des Verstehens an, durch welche sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik später auszeichnen sollte. Wenn Dilthey eine Verbindung zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie anstrebte, um die historisch gewordene Lebenswirklichkeit in ihrer Einzelheit und Ganzheit besser verstehen und allgemeine Aussagen über sie machen zu können, dann wies auch er, wie die Herbartianer, der Philosophie diejenige Schlüsselposition zu, die sie bei jeder pädagogischen Theorienbildung eines geisteswissenschaftlichen Ansatzes innehat. Schließlich zielte das Interesse der Herbartianer wie dasjenige der geisteswissenschaftlichen Pädagogik auf das einzelne, auf das Besondere und auf die Erfassung des "Ganzen". In Anbetracht der im zweiten Teil der Schrift erstellten Bilanz, läßt sich die These gut vertreten, daß der Herbartianismus als Paradigma entgegen der üblichen Auffassung in der Geschichte der Pädagogik eine moderne Erziehungswissenschaft hervorgebracht hat. Da die Herbartianer vom Gegebenen, der Erziehungswirklichkeit, ausgingen und alle Erziehungsfelder der Erziehungswissenschaft miteinbezogen, folgten sie einem wissenschaftlichen Prinzip, das in der pädagogischen Forschung auch heute noch Beachtung findet.

This dissertation demonstrates how Herbartianism developed into the most important paradigm of educational theory, between 1851 and 1920. In order to support this thesis, Part One examines the main contributions of Stoy, Ziller, Dörpfeld and Rein, while Part Two illustrates the very long-lasting and successful historical consequences that these Herbartians have won for the field of education. Herbartianism reached its zenith in 1883 when Dilthy described it as an "anomaly" in the structure of science, when pedagogy began to establish itself as an independent discipline in accordance with Herbartian principles. As a result, the early Herbartian Stoy established pedagogy as a cluster of well-ordered notions and expounded philosophical, historical and practical pedagogy, establishing it as a major discipline. In his book Introduction to General Pedagogy, Ziller considered ethics, psychology, and religious studies as supplemental subjects of pedagogy, which like every other discipline, begins with experience. As well, the late Herbartian Rein considered an encompassing pedagogical experience of the "entire world", placing equal weight on both empirical and speculative orientation. Dörpfeld, one of the most productive Herbartians, labeled the then German educational establishment as antiquated, unfree, and inhuman. He therefore fostered a just, healthy, free, and peaceful school code. The school community, the church, the schools themselves, as well as the state, should regulate their demands, so that families too could be included in school-related discussion and decision-making. On the basis of such demands, Herbartianism can be viewed as a precursor of a democratized system of education. Above all, Herbartianism developed a universal didactic and method in all areas, including educational theory as well as theories of class- and curriculum-planning that later evolved into fundamental fields of pedagogy. The Herbartians strove to establish more clearly that the development of a moral strength of character, consistent with Christian values, as well as emotional and socio-participatory components, is one of the highest goals of education. Ziller, Dörpfeld, and Rein simultaneously broadened and differentiated the spectrum of teaching methods in observance with the multiplicity of interests, knowledge, and participation that Herbart considered the determining forces in mental and spiritual growth. 'Peaceful orderliness and cultivation of the future character of the person,' ("Regierung und Zucht") played key roles in pedagogy for Herbart, which the Herbartians, after intensive observation of the intellectual and spiritual development of children and adolescents, thought out and tested all possible variations of educational leadership. Already in 1855, the appearance of his book Boarding School Pedagogy in Monologues and Speeches: A New Year's Present to Mothers, Stoy depicted a "paradisiacal" school life where in a free environment, like-aged children develop and train in all ways entirely consistent with the nature of their talents as well as their moral characters. Stoy conceptualized and practiced the same ideas that Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Paul Geheeb and Kurt Hahn implemented in the planning and structure of the "Landerziehungsheimen" (country boarding schools) following the wake of the pedagogical reform movement. In the context of his historical pedagogy, Stoy applied a method of understanding, through which the pedagogy of the liberal arts was to distinguish itself. If Dilthy strove to show a connection between the individual disciplines and philosophy, in order to better understand the historical development of "Lebenswirklichkeit" in its parts and entirety, allowing one to make universal assertions, then he also proved, consistent with the Herbartians, that philosophy lies at the core of any humanities-related methods of understanding. Finally, the interests of the Herbartians aimed at the unique, at the special and at the comprehension of the whole. Part Two of the dissertation argues strongly that in contrast to the usual interpretation of the history of pedagogy, Herbartianism has produced a modern pedagogy. Following from the Herbartians, who drew from their experience in the classroom and from the practical realities of education generally, a scientific principle emerged that is still to be found in educational research today.

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