Experimentelle Studien zur Verarbeitung von Nomen und Verben bei aphasischen Patienten

Nomen und Verben werden im Deutschen als Wortarten u.a. hinsichtlich semantischer, morphologischer und syntaktischer Eigenschaften unterschieden. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit diesen Unterschieden, aber auch mit den Gemeinsamkeiten von Nomen und Verben und deren Ein- uss auf die Prozesse der Sprachverarbeitung. Ziel ist es, kontroverse modelltheoretische Hypothesen über die Repräsentation und die sprachlich-kognitive Verarbeitung wortartspezischer Information mittels neurolinguistischer Daten empirisch zu überprüfen und zu erweitern (Caramazza & Coltheart, 2006). Hierfür wurden die Leistungen aphasischer Patienten bei der Verarbeitung von Nomen und Verben im Rahmen des Paradigmas der Kognitiven Neurolinguistik (Nickels, Howard & Best, 2011) experimentell untersucht. Neurolinguistische Studien zeigen, dass der Wortabruf von Nomen und von Verben bei Menschen mit Aphasie selektiv gestört sein kann und dass sogenannte Nomen-Verb- Dissoziationen vorliegen können (z.B. Caramazza & Hillis, 1991; Luzzatti, Raggi, Zonca, Pistarini, Contardi & Pinna, 2002; Thompson, Lukic, King, Mesulam & Weintraub, 2012; Kambanaros, 2016), mit einem häugeren Vorkommen von Nomen- im Vergleich zu Verbüberlegenheiten (z.B. Vigliocco, Vinson, Druks, Barber & Cappa, 2011). Diese Befundlage sowie weitere Aspekte der Nomen-Verb- Verarbeitung wurden in der vorliegenden Arbeit in zwei Gruppenstudien (Studie 1 und 3) und in einer multiplen Einzelfallstudie (Studie 2) mit Aphasikern untersucht. Da bisher für das Deutsche keine geeigneten Diagnostikverfahren für wortartspezische Wortabrufstörungen bei Aphasie existieren, wurden vorab Vorstudien zur Erhebung psycholinguistischer Variablen von Nomen und Verben sowie verschiedene experimentelle multimodale Stimulimaterialien erstellt. Im Rahmen der ersten Gruppenstudie mit 18 Aphasikern (Studie I) wurde die Verteilung von Nomen-Verb-Dissoziationen mit Nomen- und mit Verbüberlegenheit beim konfrontativen Benennen und beim Sprachverstehen experimentell erhoben. Weiterhin wurden die aphasischen Leistungen beim Nomen- und beim Verbabruf miteinander verglichen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen den Schluss zu, dass das in bisherigen Studien nachgewiesene Ungleichgewicht von Nomen- und Verbüberlegenheiten aufgrund der fehlenden Kontrolle der psycholinguistischen Variable 'Vorstellbarkeit' erklärt werden kann und dass Verben insgesamt nicht schlechter benannt werden als Nomen. Die Daten belegen auÿerdem das Vorkommen von sowohl modalitätsspezischen als auch -übergreifenden Nomen-Verb-Dissoziationen. Diese wurden in einer multiplen Einzelfallstudie näher untersucht. Die multiple Einzelfallstudie (Studie II) beschäftigt sich mit der Untersuchung einer wortartspezi- schenWortabrufstörung mit Verbüberlegenheit zweier Aphasiker, d.h. einer besseren Verfügbarkeit von Nomen im Vergleich zu Verben beim lexikalischen Zugri. Beide Aphasiker elen im Rahmen der Gruppenstudie (Studie I) auf, da eine Verbüberlegenheit beim Benennen vergleichsweise selten auftritt und damit ein interessanter empirischer Beleg für die selektive Störanfälligkeit der Wortart Nomen ist (z.B. Shapiro, Shelton & Caramazza, 2000; Bi, Han, Shu & Caramazza, 2007). Auf Basis einer umfangreichen neurolinguistisch-experimentellen Untersuchung zur Verarbeitung von Nomen und Verben konnte für beide Patienten eine Dissoziation der zugrundeliegenden Störungsursache nachgewiesen werden: eine modalitätsübergreifende semantisch-bedingte Verbüberlegenheit aufgrund einer Störung sensorischer Merkmalsrepräsentationen (Patientin MB) und eine modalit ätsspezische lexikalisch-phonologische Verbüberlegenheit aufgrund einer funktionalen Läsion auf lexikalischen Ebenen beim Zugri auf nominale Wortformeinträge (Patient RL). Innerhalb der zweiten Gruppenstudie mit 18 Aphasikern (Studie III) wurde eine umfangreiche Fehleranalyse zum Auftreten typischer Fehlermuster beim Nomen- im Vergleich zum Verbabruf im Rahmen des neurolinguistischen Fehleransatzes (z.B. Whitworth, Webster & Howard, 2014) durchgef ührt. Es zeigten sich sowohl beim Nomen- als auch beim Verbabruf kohyponyme und hyperonyme Fehler. Beim Nomenabruf kamen v.a. Meronymie-Fehler hinzu. Beim Verbabruf wurden zusätzlich v.a. semantisch-assoziative Fehler und semantische Fehler mit Wortartwechsel produziert, wobei die produzierten Nomen typische Mitspieler der Zielhandlung (Agens, Patiens, Instrument) darstellten. Nullreaktionen und Umschreibungen kamen im Vergleich des Nomen- und des Verbabbrufs in vergleichbarer Anzahl vor. Auf der Grundlage der erhobenen Daten wird die semantische Hypothese über Nomen-Verb- Dissoziationen (Bird, Howard & Franklin, 2000b; Elman, 2009), d.h. dass Nomen- bzw. Verbdezite aus einer Störung semantischer Kategorien resultieren, als alleinige Erklärung abgelehnt. Vielmehr liegen in Bezug auf die Diskussion über die funktionale Ursache von wortartspezischen Wortabrufst örungen Evidenzen dafür vor, dass aphasische Patienten mit Nomen-Verb-Dissoziationen keine homogene Gruppe bilden. Stattdessen ist von unterschiedlichen zugrundeliegenden Störungslokalisationen auszugehen. Hieraus lässt sich ableiten, dass die Repräsentation und der lexikalische Zugri auf die Wortartinformation auf semantischen und lexikalischen Ebenen des mentalen Sprachsystems stattndet (Levelt, Roelofs & Meyer, 1999; Dell, Schwartz, Martin, Saran & Gagnon, 1997; Caramazza, 1997). Darüber hinaus sprechen die Daten in Bezug auf die Frage nach der Repräsentation der Wortarten für eine hierarchische Bedeutungsstruktur von sowohl Nomen als auch von Verben sowie der zusätzlichen Relevanz von assoziativ-relationalen Verbindungen innerhalb der Verbrepr äsentationen, die insbesondere zwischen Verben und ihren nominalen Mitspielern angenommen werden.

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