Lötscher, Andreas (2016). Die (Un-)Verständlichkeit von Gesetzen – eine Herausforderung für die Gesetzesredaktion. Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik (ZERL).

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Abstract

Gesetze müssen verständlich sein, so die Forderung, sie können aber nach der herrschenden Lehre diese Anforderung nicht erfüllen, da ihre Bedeutung nicht in der geforderten Weise bestimmt sein kann, wie die Auslegungstätigkeit in der Anwendung zeigt. Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie unter diesen Umständen Verständlichkeit bei der Versprachlichung von Gesetzesnormen möglich ist. Voraussetzung für eine Antwort sind präzisierte Vorstellungen über die Prozesse des Verstehens, die Verständlichkeit von Texten und den Zusammenhang zwischen Verstehen, Bedeutung und Auslegung. 1. Die Bedeutung von Texten zeigt sich im Verstehen. Verstehen ist ein konstruktiver, inferenzieller Prozess, in dem anhand des Wortlautes mit Hilfe von prototypischen Annahmen, Sachwissen, Situationswissen und inferenziellen Regeln u. a. ein mentales Modell von Sachverhalten und Bewertungen der Relevanz der Informationen im gegebenen Kontext hergestellt werden. Die sprachliche Bedeutung eines Textes ist selbst kein Abbild eines Sachverhaltes, sondern eine Konstruktionsanweisung, ein solches Abbild in der Form eines mentalen Modells herzustellen. 2. Gesetzesaussagen sind normative generell-abstrakte Aussagen. Generell-abstrakte Aussagen zu verstehen, bedeutet, eine Menge von familienähnlichen mentalen Modellen entsprechend den sprachlichen und sachlichen Vorgaben rekonstruieren zu können. 3. Es gibt nicht ein einziges Verstehen, sondern Abstufungen des Verstehens zwischen relativ vagem und relativ präzisem Verstehen und zwischen punktuellem Verstehen und Erkennen der möglichen Schlussfolgerungen aus einer Aussage. Laienverstehen und professionelles, präzises Verstehen und Begreifen können in Konflikt zueinander stehen, müssen aber nicht, soweit das Laienverstehen in wesentlichen Aspekten kompatibler Teil des professionellen Verstehens ist. 4. Verstehen ist Arbeit mit einem Aufwand. Verständlichkeit entspricht dem Aufwand, der erforderlich ist, um einen Text zu verstehen. Der Aufwand hängt von der Sachkenntnis der Interpretin, von der Abstraktheit und Komplexität der vermittelten Information der Aussage und der sprachlichen Gestaltung ab. 5. Wer einen Inhalt wie eine Gesetzesnorm zu versprachlichen hat, muss vom vorgegebenen Inhalt und den textspezifischen und sachlichen Vorgaben ausgehen und kann diese nur begrenzt beeinflussen. Ein gegebene Information kann vom Inhalt so sachspezifisch und komplex sein, dass sie nicht beliebig leicht (d.h. allgemein-) verständlich formuliert werden kann. Gestaltbar ist dagegen die Textform. Die Aufgabe besteht darin, die Textform so zu gestalten, dass sie allgemeinen pragmatischen und kognitiven Verstehensregeln entspricht und die kognitiven Verstehensprozeduren in der Konstruktion mentaler Modelle unterstützt. Stichwörter sind Transparenz, Ikonizität, Erkennbarkeit der Relevanz der Inhaltselemente, Vermeidung von Konflikten mit der Allgemeinsprache. 6. Der Einwand der Unbestimmtheit (und entsprechend der Unverständlichkeit) von Gesetzestexten betrifft die Aufgabenstellung der Gesetzesredaktion nicht direkt. Das Verstehen eines Gesetzestextes bei seiner Formulierung und die Auslegung sind zwei unterschiedliche Vorgänge in unterschiedlichen Zusammenhängen. Ein Gesetzestext (der Normtext in der Terminologie der Strukturierenden Rechtslehre) setzt eine allgemeine Norm innerhalb eines allgemeinen Erwartungshorizonts. Auch wenn er eine Vielzahl von potenziellen konkreten (fiktiven) Anwendungsfällen als mentalen Modellen zu rekonstruieren erlaubt, sind unter den vorgegebenen Voraussetzungen die Regeln dieser Rekonstruktionen grundsätzlich (bei angemessener Formulierung) bestimmt. Auslegung ist demgegenüber Herstellung einer Rechtsnorm für den konkreten Fall auf der Grundlage von generell-abstrakten Normtexten. Der konkrete Fall ist individuell und hat von seinem Wesen her keinen Zusammenhang mit einer generell-abstrakten Norm. Die individuell-konkrete Rechtsnorm kann durch inferenzielle Ableitung einer Einzelnorm aus dem generellen Normtext hergeleitet und begründet werden; dies entspricht dem Resultat von gewöhnlichen Verstehensprozeduren, ist aber ebenfalls eine inferenziell gesteuerte Konstruktion einer neuen Norm. In vielen Fällen ist die Rechtsnorm aber das Resultat von Inferenzen aus einer Vielzahl von Normtexten und sonstigen Inputdaten wie Relevanzkriterien und nicht eine direkte Konkretisierung einer einzelnen bestimmten generell-abstrakten Norm. Die vielzitierte Unbestimmtheit von Normtexten in der Anwendung ist nicht Reflex der Unbestimmtheit der Bedeutung eines generell-abstrakten Normtextes als solchen, sondern der vielfältigen Vermitteltheit einer konkreten Rechtsnorm aus je nach Situation unterschiedlichen Vorgaben.

Item Type: Journal Article
Translated abstract:
AbstractLanguage
It is a generally acknowledged truth that laws must be comprehensible. However, according to the prevailing view among jurists, it is impossible to fulfil this requirement because laws, as shown by the practice of legal interpretation, do not have a precisely defined meaning. Based on this premise, this article addresses the question of how comprehensibility can be made possible when formulating legal norms. The answer requires a precise understanding of the processes of comprehension, of the conditions for comprehending texts and of the relations between the meaning of a text, comprehension of a text and legal interpretation. 1. The meaning of a text becomes manifest in comprehending it. Comprehension is a inferential process whereby mental models and an evaluation of the relevance of the information are constructed on the basis of prototypical assumptions and expectations, factual and situational knowledge and rules of inference (in the broad sense of cognitive linguistics). The linguistic meaning of a text is not a representation of a fact, but an instruction for constructing such a representation. 2. Statements of legal norms are normative, general and abstract statements. To understand general abstract statements means to be able to construct a multiplicity of mental models with a family resemblance in accordance with the linguistic and material conditions of the utterance. 3. Comprehension can take different grades of precision from an isolated more or less vague understanding of the utterance to the recognition of the possible conclusions from it. The layperson’s understanding and the professional’s understanding can be in conflict, but this need not be so if the understanding of laypersons is a compatible part of that of professionals. 4. Comprehension is work that requires effort. Comprehensibility is the measure of the effort necessary for comprehending a text. The effort depends on the factual knowledge of the interpreter, the abstractness and complexity of the information in the statement and the linguistic presentation. 5. The drafter of a legal norm must do so on the basis of the content and specific textual and factual preconditions as given and can influence these only to a limited degree. Some content can be so specific and complex that there is no presentation in a text that is easy to comprehend in the everyday sense. The task is to optimize the linguistic presentation of the content so that it matches the general pragmatic and cognitive rules of interpretation and supports the cognitive procedures in the construction of a mental model. Key words are transparency, iconicity, recognisability of the relevance of content’s elements, avoiding conflicts with ordinary language. 6. The objection that comprehensibility is not achievable because of the inherent semantic indeterminacy of legal texts does not directly affect the task of drafting laws. Comprehension of a legal text as a general rule and legal interpretation in the application of this text are two different processes in different contexts. The text of a law –“norm text” in the terminology of the German Strukturierenden Rechtslehre – constitutes a general norm within a horizon of general expectations. Although it allows the construction of a multitude of mental models as potential (and fictitious) case situations, the rules of construction as such are precise and well defined if the formulation is appropriate. Legal interpretation, on the other hand, is the establishment of a special case norm for the individual case on the basis of general abstract norm texts. The single case is individual and in its essence has no connection with any general abstract norm. The individual case norm has to be derived from general abstract norm texts. The derivation may correspond to the usual procedures of comprehension; but, like the result of comprehension, it is a construction of a new norm. In most cases, the individual case norm is not a direct specification of a single general abstract norm text, but the output of combined inferences from a multitude of general abstract norm texts and additional input data such as relevance criteria. The much cited indeterminacy of norm texts in the application of laws is not a reflexion of a semantic indeterminacy of the texts as such, but of the multiplicity of the input factors in constituting a specific individual case norm depending on the variety of situational conditions in the different individual cases.English
Creators:
CreatorsEmailORCIDORCID Put Code
Lötscher, AndreasUNSPECIFIEDUNSPECIFIEDUNSPECIFIED
Editors:
EditorsEmailORCIDORCID Put Code
Burr-Haase, Isoldeburr@uni-koeln.deUNSPECIFIEDUNSPECIFIED
URN: urn:nbn:de:hbz:38-68207
DOI: 10.18716/ojs/zerl/2016.0.631
Journal or Publication Title: Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik (ZERL)
Date: 20 June 2016
Language: German
Faculty: Faculty of Arts and Humanities
Divisions: Faculty of Arts and Humanities > Fächergruppe 5: Moderne Sprachen und Kulturen > Romanisches Seminar > Professur für Europäische Rechtslinguistik
Subjects: Law
Language, Linguistics
Uncontrolled Keywords:
KeywordsLanguage
Allgemeinsprachlichkeit , Auslegung , Gesetzestexte, Informationstexte , Normtexte , Optimierung der Verständlichkeit ,German
law texts, legal norms, comprehension, optimizing comprehensabilityEnglish
Refereed: Yes
URI: http://kups.ub.uni-koeln.de/id/eprint/6820

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