Essay: Epigraphik im digitalen Umfeld

von Torsten Schrade



Zur Entwicklung historischer Onlineangebote am Beispiel der Plattform „Deutsche Inschriften Online“

〈1〉In seinen jüngst publizierten Empfehlungen zu „Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften“1) misst der Wissenschaftsrat dem Aufbau digitaler Informations- und Forschungsressourcen eine besondere Bedeutung zu und legt den öffentlichen Forschungsförderern nahe, „sich nachhaltig für einen Ausbau forschungstauglicher Digitalisierungen und die Abstimmung unter den Anbietern bei der Standardisierung und der Vernetzung der Portale einzusetzen“2). Auf wissenschaftspolitischer Ebene können die Vorteile der digitalen Erschließung und Aufbereitung von Forschungspublikationen und -objekten inzwischen als unbestritten gelten.3) Trotz der sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften langsam verbessernden Situation muss im Vergleich zu den Naturwissenschaften nach wie vor ein Mangel an Ressourcen auf mehreren Ebenen konstatiert werden.4) Auch das Phänomen digital erschlossener Bestände, die nicht im Online-Zugriff verfügbar sind, gegenüber online verfügbaren Materialien, die aber nicht mit Metadaten für die wissenschaftliche Recherche ausgestattet wurden, ist nach wie vor anzutreffen.5) In der Summe stellt die Entwicklung geisteswissenschaftlicher Onlineangebote für die ausführenden Institutionen eine wissenschaftspolitisch unabdingbare und gleichzeitig komplexe Herausforderung dar.

〈2〉Wie ordnen sich geschichtswissenschaftliche Onlineprojekte in das dynamische Feld der ‚Digitalen Geisteswissenschaften’6) ein? Was bedeutet ‚Digitalisierung’ im Kontext historischer Editionen und großer Archivbestände? Wo müssen Schwerpunkte gesetzt werden, um aus komplexen Textstrukturen digitale Objekte zu erzeugen? Wie kann neben der fachwissenschaftlichen Nutzerschaft auch eine breitere Öffentlichkeit mit der Präsentation der historischen Daten angesprochen werden? Diese Fragen sollen in aller Kürze anhand eines Beispiels aus dem Bereich der historischen Editionen angerissen werden.7) Seit einem Jahr ist das epigraphische Fachportal „Deutsche Inschriften Online“ (www.inschriften.net) im Web verfügbar. Bei der Plattform handelt es sich um ein interakademisches Onlineprojekt der Inschriften-Arbeitsstellen an den deutschen Akademien der Wissenschaften. Ziel ist die Digitalisierung der im Rahmen des Editions- und Forschungsunternehmens „Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“ entstehenden Publikationsreihe.8) Neben der Bereitstellung digitaler Inschriftenkataloge liegt der Fokus vor allem auf der Entwicklung innovativer Recherchemöglichkeiten in Ergänzung zur gedruckten Fassung. Das Projekt wurde durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Inschriften-Arbeitsstellen in Göttingen, Greifswald und Mainz sowie der Abteilung ‚Digitale Akademie’9) (www.digitale-akademie.de) der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (www.adwmainz.de) initiiert. Bisher können insgesamt elf Inschriftenbände mit 4170 Katalognummern und circa 4000 Abbildungen frei im Netz abgerufen werden.

〈3〉Die Stärke der digitalen Inschriftenplattform liegt dabei in der Möglichkeit, die einzelnen Inschriftenobjekte aus ihrem Bandkontext herauszulösen und sie über Rechercheinstrumente in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Eine Suchanfrage nach „Glocken zwischen 1200 und 1400 mit gotischer Majuskel“ lässt sich online in Sekunden ausführen. Die gleiche Fragestellung könnte ein Benutzer nur mit hohem Zeitaufwand an den gedruckten Bänden nachvollziehen. Eine weitere Stärke des digitalen Angebotes liegt in der Unbegrenztheit des zur Verfügung stehenden Raumes. Viele Abbildungen, die im Druck aus Platz- oder Kostengründen ausgelassen werden mussten, können ohne weiteres in die Online-Version eingearbeitet werden (z.B. die Abbildungen der kopialen Überlieferung). Über die Möglichkeit, zu jedem digitalen Inschriftenartikel auch Addenda et Corrigenda einzustellen, ist eine Fortschreibung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu jedem Inschriftenobjekt möglich.

〈4〉Nach Ansicht und Erfahrung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ‚Digitalen Akademie’ Mainz führt eine iterative Vorgehensweise bei der Umsetzung geisteswissenschaftlicher Digitalisierungsvorhaben oft zu den besten Resultaten. Entgegen dem in den historischen Editionswissenschaften oft anzutreffenden Vollständigkeitsanspruch erfordert das Medium Internet aufgrund des sprunghaften Rezeptionsverhaltens10) der Nutzer zunächst eine Konzentration auf das Wesentliche. Es gilt das „Paretoprinzip“11): Zuerst sollten diejenigen Funktionalitäten realisiert werden, die 80% des Nutzerbedürfnisses befriedigen. Editorische Feinheiten, tiefenstrukturierte Texte und komplexe Expertensuchen fallen in die verbleibenden 20%, für die der höchste Zeit- und Arbeitsaufwand betrieben werden muss. Sie sollten zu Beginn des Projektes zurückgestellt werden. Spezialfunktionalitäten, oft nur für einen Bruchteil der gesamten Nutzerschaft eines Portales relevant, können problemlos auch nach dem ersten Onlinegang in einem weiteren Entwicklungszyklus angegangen werden. Der iterative Ansatz hat mindestens fünf Vorteile: Erstens kommt er den oft komplexen Strukturen der Textdaten entgegen. Zweitens entlastet er die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Forschungsstellen, da diese sich weniger und nur an bestimmten Stellen in den digitalen Aufbereitungsprozess einbringen müssen. Drittens ermöglicht er einen effizienteren Einsatz der personellen Ressourcen seitens der Entwickler. Viertens können solchermaßen geplante Onlineprojekte aufgrund der etappenweisen ‚Abgeschlossenheit’ die Akzeptanz bei den verantwortlichen Leitungsgremien befördern. Und fünftens generiert ein schneller Onlinegang ein frühes Feedback des ins Auge gefassten Rezipientenkreises. Hierdurch können am Projektanfang in Übereinstimmung mit den Nutzern wichtige Weichenstellungen für die weitere Entwicklung vorgenommen werden. Ohne eine solche Rückkopplung besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe verfehlt wird und eine Menge Entwicklungsaufwand umsonst geschieht.

〈5〉Eine Herausforderung bei der Realisierung editionswissenschaftlicher Internetprojekte besteht also in der Aufgabe, aus der oft gewaltigen Textdatenmasse in Zusammenarbeit mit den Fachwissenschaftlern ein griffiges ‚Informationsprodukt’ herauszuarbeiten. Zentral ist dabei die richtige Einschätzung der Informationsbedürfnisse der Nutzer, um mittels einfach funktionierender Mechanismen dieses ‚Informationsprodukt’ einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

〈6〉Die Besucher von „Deutsche Inschriften Online“ kommen nicht primär zum Lesen, sondern zum Finden. Sie nehmen dabei typischerweise den Weg, der ihrem Eindruck nach am schnellsten zum Erreichen ihres Suchinteresses führt.12) Bei den Gestaltungsprozessen des Portals wurde daher von Anfang an auf ein regelmäßiges Testen der Oberfläche mit Vertretern aus den anvisierten Zielgruppen geachtet.13) Es zeigten sich schnell verschiedene Bedürfnisse: Ein Teil der Nutzer möchte gerne in bewährter Weise auf die nach Sammelgebieten geordneten Online-Katalognummern zugreifen. Für diese Benutzergruppe ist es wichtig, dass die Bandstruktur der Druckpublikationen nicht völlig aufgebrochen wird. Eine zweite Zielgruppe sieht genau darin eine zentrale Funktion. Diese Gruppe ist rechercheorientiert und möchte komplexe Suchanfragen auf den Gesamtbestand der digitalen Katalognummern ausführen. Beide Benutzergruppen umfassen vor allem die Fachwissenschaftler aus den verschiedenen historischen Disziplinen.

〈7〉Daneben existiert noch ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Benutzertypus. Dieser tritt nicht mit einem spezifischen Such- oder Nachschlageinteresse an das Portal heran, sondern gelangt entweder über Verlinkungen aus anderen historisch-kulturellen Webangeboten (Wikipedia, Genealogieforen etc.) oder über Suchmaschinen (Google, Yahoo usw.) auf die Seite. Aufgabe des User Interfaces ist es, alle Zielgruppen bei der Hand zu nehmen und das Interesse für die epigraphischen Inhalte zu wecken.

〈8〉Der Oberfläche der Website kommt demnach besonderes Gewicht zu. In Fachkreisen haben sich feste Prinzipien herausgebildet, nach denen ein gutes Webinterface funktioniert. Unter anderem sind dies ‚Klarheit’, ‚Präzision’, ‚Wiedererkennungswert’, ‚Reaktionsfreudigkeit’, ‚Konsistenz’, ‚Effizienz’, ‚Fehlertoleranz’ und ‚ästhetischer Anspruch’.14) Das Design ist ein wichtiger Erfolgsfaktor, wenn es darum geht, Nutzer dauerhaft an das historische Onlineangebot zu binden. Wenn eine digitale Edition nicht nur klar funktioniert, sondern dabei auch noch ansprechend gestaltet ist, wenn der Nutzer sich also nicht nur auf die Rezeption der Inhalte konzentriert, sondern die Interaktion mit der Website aufgrund der guten Präsentation gleichzeitig ‚genießt’, ist eine ideale Basis für eine sich stetig vergrößernde Online-Leserschaft gelegt.

Fazit

〈9〉Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die digitale Publikationsform sicherlich den Vorteil der direkten, orts- und zeitunabhängigen Verfügbarkeit der Daten bietet. Für die Entwicklung einer Onlinepublikation ist dennoch ein ähnlich hoher Zeitaufwand notwendig wie für die Herstellung einer Printpublikation. Bei schlechter Planung kann die Realisierung digitaler Projektkomponenten die eigentlichen Forschungsarbeiten und Publikationszyklen eines wissenschaftlichen Vorhabens verlangsamen und somit den Zeitplan des gesamten Forschungsprojektes beeinträchtigen. Anders als bei Druckerzeugnissen entstehen für digitale Angebote außerdem konstante Zeitaufwände bei der Nachsorge. Die generische Natur des digitalen Mediums bringt zwar die Chance einer permanenten Fortschreibung der erzielten Forschungsergebnisse durch den unmittelbaren Austausch mit der Wissenschaftsgemeinde mit sich, aufgrund des schnellen technologischen Wandels gleichzeitig aber auch die Verpflichtung zur ständigen Weiterentwicklung und Optimierung der digitalen Ressourcen. Die positive Wahrnehmung der Plattform „Deutsche Inschriften Online“ sowohl in der Fachwelt, aber auch der breiten Öffentlichkeit zeigt, dass diese Investition dennoch in vielerlei Hinsicht lohnend ist.

Literaturverzeichnis

  • Fadeyev, Dimitry: User Interface Design in Modern Web Applications, in: The Smashing Book, Lübeck 2009. S. 10–27.
  • Friedman, Vitaly; Lennartz, Sven [Hrsg.]: The Smashing Book. Lübeck 2009.
  • Krug, Steve: Don’t Make Me Think. A Common Sense Approach to Web Usability. Berkeley, 2. Aufl. 2006.
  • Maier, Andrew; Leggett, David: Usability Principles for Modern Websites. In: The Smashing Book, Lübeck 2009. S. 122–152
  • Schreibman, Susan [u.a]: The Digital Humanities and Humanities Computing: An Introduction, Oxford [u.a.] 2004.
  • Wissenschaftsrat: „Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ [Drs. 10465-11] vom 28.01.2011, unter http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10465-11.pdf (Zugriff 28.04.2011).

Fußnoten

  1. Wissenschaftsrat (nachfolgend WR), „Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ [Drs. 10465-11] vom 28.01.2011, http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10465-11.pdf (28.04.2011). »
  2. WR, Forschungsinfrastrukturen, S. 10. »
  3. Vgl. WR, „Empfehlungen zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen“ [Drs. 10464-11] vom 28.01.2011, http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10464-11.pdf (28.04.2011), S. 40. Schon im Jahr 2006 hat die DFG in ihrem richtungsweisenden Positionspapier „Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme, Schwerpunkte der Förderung bis 2015“ der digitalen Erschließung wissenschaftlicher Inhalte und Archivmaterialien eine hohe Priorität und somit besonderes Förderungsinteresse zugesprochen. Vgl. DFG Positionspapier vom 29.05.2006, http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/positionspapier.pdf (28.04.2011). »
  4. „Personal, Serverkapazitäten, apparative Ausstattung, Software“. WR, Sammlungen, S. 40. »
  5. Vgl. WR, Sammlungen, S. 40. »
  6. Der Begriff hat sich im deutschen Sprachraum neben einigen anderen (z.B. Digital Humanities, e-Humanties) etabliert. Für weitere Informationen vgl. Schreibman, Susan (u.a): The Digital Humanities and Humanities Computing: An Introduction. Oxford (u.a.) 2004, S. XXV. S. auch http://www.digitalhumanities.org/companion (30.04.2011). »
  7. Zum nachfolgenden Abschnitt vgl. Torsten Schrades umfangreichere Darstellung „Vom Inschriftenband zum Datenobjekt. Die Entwicklung des epigraphischen Fachportals ‚Deutsche Inschriften Online’“ in der bald erscheinenden Festschrift „40 Jahre Deutsche Inschriften Göttingen“. »
  8. Liste der Bände unter http://www.inschriften.net/projekt/publikationen.html (30.04.2011). »
  9. Die ‚Digitale Akademie’ der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz ist eine Konzeptions-, Entwicklungs- und Serviceeinrichtung, die sich primär mit der Digitalisierung von Fachdaten und Forschungsergebnissen der Akademievorhaben auseinandersetzt. »
  10. „One of the very few well-documented facts about Web use is that people tend to spend very little time reading most Web pages. Instead, we scan (or skim) them, looking for words or phrases that catch our eye“. Krug, Steve: Don’t Make Me Think. A Common Sense Approach to Web Usability. Berkeley, 2. Aufl. 2006, S. 22. »
  11. Bei dem Paretoprinzip bzw. der 80-zu-20 Regel handelt es sich um die statistische Beobachtung, dass 80% der Ergebnisse eines Projektes oft in 20% der Zeit erreicht werden können, während für die verbleibenden 20% der Ergebnisse oft ein sehr hoher Zeitaufwand betrieben werden muss. Vgl. Maier, Andrew; Leggett, David: Usability Principles for Modern Websites. In: The Smashing Book. Lübeck 2009, S. 122–152, hier S. 144. »
  12. Vgl. Krug, Web Usability, S. 26–27. »
  13. Zur wichtigen Bedeutung von Nutzertests gerade in frühen Stadien der Website-Entwicklung vgl. Maier und Legget, Usability Principles, S. 150–152 und Krug, Web Usability, S. 133–135. »
  14. Vgl. Fadeyev, Dimitry: User Interface Design in Modern Web Applications. In: The Smashing Book. Lübeck 2009, S. 10–27, hier S. 11–12. »
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Autoreninformation

Torsten Schrade ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und dort verantwortlich für die Leitung des Bereichs Digitale Akademie.

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Torsten Schrade: Epigraphik im digitalen Umfeld, in: Skriptum 1 (2011), Nr. 1, URN: urn:nbn:de:0289-2011051816, Abs. XY [Datum des Zugriffes].