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Kompendium der Zeitrechnung, Naturlehre und Himmelskunde (Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 83-II)

Bibliographische Beschreibung

Handschriftentitel
Kompendium der Zeitrechnung. Naturlehre und Himmelskunde
Entstehungsort
Köln
Entstehungszeit
798 und 805
Beschreibstoff
Pergament
Umfang
219 Blätter;
Format
365 mm x 265 mm
Persistenter Identifier
urn:nbn:de:hbz:kn28-3-420 Persistent Identifier (URN)
Weitere Angaben
Land
Deutschland
Ort
Köln
Sammlung
Dombibliothek
Signatur
Cod. 83-II
Alternative Signatur
Cod. 83 II
Dom Hs. 83II
Köln, Dombibliothek Hs. 83-II
Katalogsignatur
Jaffé/Wattenbach: LXXXIII-II
Handschriftencensus Rheinland: 1046
HMML Microfilm-No.: 35,120
Frühere Signatur
Darmst. 2084
"24" (bis, earlier fond number, ff. 1r and 2r)

Überblickbeschreibung

Kompendium der Zeitrechnung, Naturlehre und Himmelskunde Köln, 798 und 805

Dom Hs. 83II darf als berühmteste Handschrift der Dombibliothek Erzbischof Hildebalds ( vor 787-818) und als Kölner Enzyklopädie des frühmittelalterlichen astronomisch-komputistischen (zeitrechnerischen) Wissens bezeichnet werden. Wie Folio 14v und 55r erweisen, wurde sie 798 und 805 geschrieben. Die beiden ersten Lagen ( 2r-14v) bilden formal und inhaltlich eine Einheit. Sie behandeln die christliche Geschichtsschreibung (Chronistik) seit Eusebios von Kaisareia ( 260/264-339/340) und dessen Übersetzer Hieronymus (347/348-419/420), seit Orosius (gest. nach 418) und Isidor von Sevilla ( um 560-636), die die Weltgeschichte von Adam bis Christus in Perioden erfaßten. Isidor zählt im 5. Buch seiner 'Etymologiae' sechs Weltalter auf ( 5r-12v ). Nach ihnen addiert auch der Kölner Chronist die Jahre seit der Erschaffung der Welt bis auf das Jahr 798, in dem er die Chronik ergänzte.

Nach diesem chronistischen Teil ( I) setzen mit Auszügen aus Isidors 'Etymologiae' die mathematisch-komputistischen Teile des Buches ein. In 39 Kapiteln bringt der Kompilator das zur Sprache, was die Zeitrechnung voraussetzt ( II), nämlich Mathematik, Astronomie, Zeiteinheiten von Jahren, Monaten, Tagen usw. Wieder holt er sich den Stoff bei Isidor . Die erste bedeutende Größe in der Zeitrechnung ist der Mond, denn nach seiner Umlaufbahn um die Erde wird seit dem Konzil von Nikaia ( 325) für jedes Jahr das Osterfest berechnet. Es soll am Sonntag nach dem Vollmond stattfinden, der auf das Frühlingsäquinoktium folgt. Noch einmal ist Isidor der Hauptzeuge ( III), aber auch ein Dialog zwischen Lehrer und Schüler dient zur Erläuterung der Materie ( III). Der folgende Teil ( IV) bietet einen Überblick über die Entwicklung der Zeitrechnung - beginnend bei den Griechen, denn schon der Athener Meton hatte 432 v. Chr. herausgefunden, daß die Neumonde nach neunzehn Jahren wieder auf die gleichen Tage des Sonnenjahres treffen. Mondjahr und Sonnenjahr unterscheiden sich in der Länge. Das Mondjahr hat 354 Tage, 6 Stunden, 29 Minuten und 36 Sekunden; das Sonnenjahr 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 48 Sekunden. Das Mondjahr ist demnach fast elf Tage kürzer als das Sonnenjahr. Da nun schon Gaius Julius Caesar ( 100-44 v. Chr.) im Jahr 46 v. Chr. das Sonnenjahr als Grundlage der Zeitrechnung eingeführt hatte, sollte es künftig die Aufgabe der Zeitrechner sein, Sonnen- und Mondjahr zu koordinieren. Die Griechen und Römer hatten dafür Tabellen aufgestellt ( V), eine Tabelle für die 28jährigen Sonnenzyklen und eine Tabelle für die 19jährigen Mondzyklen. Im 4. Jahrhundert handhabten die Römer noch einen 84jährigen Mondzyklus, in dem drei 28jährige Sonnenzyklen aufgingen; die Alexandriner rechneten dagegen mit dem 19jährigen Mondzyklus. Nach langem Streit gelang es dem Skyten Dionysius Exiguus (gest. vor 556) in Rom, den 19jährigen Zyklus einzuführen und das julianische Sonnenjahr damit so zu koordinieren, daß die Zeitrechnung nicht mehr mit der diokletianischen Ära ( ab 284 n. Chr.), sondern mit der Geburt Christi begann, wobei er die Geburt Christi um sechs Jahre zu spät ansetzte. Aber die Voraussetzungen für den christlichen Kalender, den nun auch Dom Hs. 83II bringt ( VI), waren geschaffen. Dieser ist keineswegs ein Kölner Kalender, sondern beruht auf einer Vorlage, die wahrscheinlich aus Reims kam. Es ist ein immerwährender Kalender, das heißt, er enthält die Herren- und Heiligenfeste, sowie die Geburt Christi am 25. Dezember in allen kommenden Jahren ihren festen Platz haben. Wie aber fand man die Daten für Ostern und das davon abhängige Fest der Himmelfahrt Christi (vierzig Tage später) und das Pfingstfest (fünfzig Tage nach Ostern)? Zur Lösung der Frage bringt unsere Handschrift im Anschluß an das Kalendar ( VI) die Tabellen des Osterzyklus oder Cyclus decemnovennalis ( VII), die vom Jahr 798 bis zum Jahr 911 führen und u.a. die Daten für Ostern enthalten. Da diese Tabellen in der 2. Kolumne fortlaufend auch die Jahre seit der Geburt Christi bringen, fand man hier Gelegenheit, an den Seitenrand Annalen zu schreiben. Leider enthalten sie nur Begebenheiten von 810 bis 818, bis zum Jahr, in dem Erzbischof Hildebald verstarb.

Dom Hs. 83II erfährt durch die dreizehn autonomen, das heißt kaum von Text begleiteten Diagramme eine besondere Auszeichnung ( VIII). Die gesamte Komputistik wird hier an Lehrfiguren gezeigt, die auf den Grundformen des Kreises, Dreiecks und Quadrates beruhen und darin die komputistischen Größen wie die Epakten (Zahlen des Mondalters), Wochentage, Monate, Äquinoktien (Tag- und Nachtgleichen), Solistitien (Sonnenwenden), Planetenläufe usw. enthalten. Manche dieser Diagramme werden zu Gebilden mit eigenem künstlerischen Ausdruck. Sie spiegeln letztlich alle die zur Weltanschauung des klassischen griechischen und späteren römischen Altertums zurückführenden Weltvorstellungen und beweisen, daß die Gelehrten des Mittelalters der Antike folgten - auch in der Auffassung, das Universum und die in seinem Zentrum ruhende Erde seien entgegen den biblischen Vorstellungen kugelförmig. Zu den antiken Weltvorstellungen und der Makrokosmos-Mikrokosmos-Lehre, die den Menschen auch in seiner elementaren Zusammensetzung von Erde, Wasser, Feuer und Luft als Abbild des Universums sah, führt das imposante Diagramm ( VIII, 11) auf Folio 84r zurück.

Der berühmteste frühmittelalterliche Zeitrechner war der englische Benediktinermönch Beda Venerabilis ( 673/674-735). Seine Werke durften in keiner Bibliothek fehlen. Die Kölner Dombibliothek Erzbischof Hildebalds besaß sie vollständig in Dom Hs. 103 ( Kat. Nr. 23), Wohl deshalb hat der Kompilator unserer Handschrift aus Bedas ' De temporum ratione ' nur eine Auswahl von Texten ( IX) zusammengestellt, und zwar in einer ganz anderen Reihenfolge als bei Beda. Hier schreitet sie vom Tag zur Woche, zum Monat, Jahr und Osterzyklus fort. In einer Enzyklopädie des etymologischen Wissens darf 'De natura rerum' Isidors von Sevilla nicht fehlen ( X). Das wegen seiner kreisförmigen Diagramme Buch der Räder ( Liber rotarum ) genannte Werk wurde von Isidor dem Westgotenkönig Sisebut ( 612-621) gewidmet. Es ist eine großartige Kosmologie (Beschreibung der Welt), in der Isidor das Weltwissen der griechischen und römischen Antike wenigstens teilweise in das frühe Mittelalter hinüberrettete. Die Diagramme "demonstrieren" die Monate, Jahreszeiten, Breitengürtel der Welt, die vier Elemente mit ihren Eigenschaften und Verbindungen, die Temperamente, Planetenbahnen, die Himmelsrichtungen und die aus ihnen wehenden Winde, Alles führt zur großen Einheit im Kosmos, dessen Abbild der Mensch ist ( X, 7).

Wer die Zeit errechnen wollte, mußte sich in den Erscheinungen des Himmels, der Bewegung seiner Planeten und des Fixsternhimmels auskennen. Eine Grundlage dafür bildeten schon bei den Römern die ' Phainomena ' des Griechen Aratos von Soloi ( um 310-um 245 v. Chr.), vor allem in der lateinischen Übersetzung des Caesar Germanicus ( 15 v. Chr. - 37 n. Chr.). Unsere Handschrift enthält jedoch den sog. revidierten ' Aratus Latinus ' ( XI). Diese aus einer griechischen Kurzfassung der ' Phainomena ' hervorgegangene und mit Fabeln des römischen Dichters Avienus 4. Jh. n. Chr.) erweiterte Ausgabe wurde im 8. Jahrhundert in das Lateinische übertragen. Der revidierte ' Aratus Latinus ' enthält neben den astrothetischen Angaben (Positionen der Sternbilder am Himmel) mythologische Erklärungen und die Aufzählung der Sterne, die das Sternbild als solches erscheinen lassen. In den Miniaturen selbst sind jedoch keine Sterne eingetragen. Die antiken Vorbilder dieser Miniaturen entdeckt zu haben, dürfen sich die Karolinger rühmen; Isidor und Beda haben sie nicht gekannt. Leider sind die meisten Sternbilder unseres Zyklus ( XI) und auch die Globen und Planisphären nicht nach dem ursprünglichen Plan ausgeführt. Doch haben sich zu einigen Sternbildern noch Vorzeichnungen in Form von Griffelritzungen erhalten, die wahrscheinlich von der Hand des Illuminators stammen, der die ersten Bilder ausgeführt hat. In einigen dieser Vorzeichnungen sieht man Anweisungen zum Kolorieren (vir = viridis = grün). Einige der Sternbilder sind alsdann von einer anderen Hand in flotter brauner Federzeichnung hingeworfen. So können wir schließlich fast den ganzen Bilderzyklus, einschließlich der Globen und Planisphären auch mit Hilfe anderer bebilderter Handschriften der revidierten 'Aratus Latinus'-Gruppe ( Paris, Bibl. Nat., nouv. acq. lat. 1614; St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 902, 250) rekonstruieren. Aber auch unter Hinzunahme der Bilder in den Kopien der sog. Aachener Enzyklopädie des Jahres 809 (Borst 1993, S. 71ff.), deren Inhalt sich in sieben Bücher gliedert, geht das entstehungsgeschichtliche Ziel von Dom Hs. 83II deutlich hervor: Sie ist offensichtlich eine von Erzbischof Hildebald in Auftrag gegebene, 805 abgeschlossene Kölner Enzyklopädie der astronomisch- komputistischen Wissenschaften und darf in gewisser Weise als Vorläufer der Aachener Enzyklopädie Karls des Großen ( 768-814) betrachtet werden.

Aber Hildebalds Interessen gingen, wie auch seine kirchenrechtlichen Sammlungen (z. B. Dom Hs. 115, Kat. Nr. 21) zeigen, über die zeitrechnerischen Fragen hinaus. So erhält der folgende Abschnitt ( XII) in Dom Hs. 83II seine Bedeutung aus dem geschichtlichen Ringen um die Osterfestbestimmung und -berechnung. Der Streit zwischen Römern und Alexandrinern und ihren verschiedenen Ausgangspunkten bei der Osterfestberechnung, der noch zu Zeiten Karls des Großen lebendig war, obwohl er eigentlich von Dionysius Exiguus 525 hätte beigelegt sein können, war unter Papst Leo I. ( 440-461) so aufgeflackert, daß er die östliche und die westliche Kirche zu trennen gedroht hatte. Zwischen Rom, Byzanz und Alexandria hatte sich damals eine Korrespondenz entwickelt, die teilweise auch in Dom Hs. 83II enthalten ist. Namen wie Kyrillos von Alexandrien ( 412-444), Pascasinus von Lilybaeum und Proterios von Alexandrien ( 451-457) sind mit Schreiben an Papst Leo I. vertreten (zum Inhalt Strobel 1984). Im Jahr 455 hatte der Papst den Alexandrinern nachgegeben, die Osterfestberechnung nach dem 19jährigen 'Cyclus decemnovennalis' wurde dem 84jährigen römischen vorgezogen.

Der letzte große Abschnitt ( XIII) festigt gewissermaßen das Vorangegangene mit einem Zeugnis über Zeit und Zeitrechnung im ersten Buch der ' Saturnalia ' des Macrobius ( um 430). Es folgt ein langer Dialog zwischen Lehrer und Schüler über Zeit und Zeitrechnung, eine im 9. Jahrhundert noch beliebte antike Form der Mitteilung, Im Anhang ( XIV) beschließen ein Horoskop über Erkranken und Gesunden sowie die Abschrift einer Urkunde für das Stift St. Severin zu Köln das Buch.

Kodikologisch hat das Werk, wenngleich Folio 2r-14v früher entstanden, einen einheitlichen Charakter. Die mit Flechtband verzierten Initialen in diesem Teil ( I) haben ähnlichkeit mit dem E(piscopus) ( 20r) in Dom Hs. 115 ( Kat. Nr. 21). Die in feiner Feder gezogenen Initialen ( 45r, 55r, 55v, 126r und 173v) finden sich im Stil entsprechend beispielsweise in Dom Hs. 41 ( Kat. Nr. 12). Von ganz anderer Art und im Kölner Skriptorium singulär sind die Initialen der Einleitung zu der Aratea in Lage 21 ( 146r-154r ). Das A(ratea) ( 146r) ist eine sonst nirgendwo nachweisbare Symbiose von insularer und kontinentaler Initialkunst, deren Entstehung in Italien oder im westfränkischen Reich näher läge als in Köln. Der Jünglingskopf auf dem A(ratea) zeigt überraschend antike Züge. Die Initialen dieser Lage sind auch farblich anders als jene der Lagen 22-24 ( 154v-171v) im Bereich des Sternbilderkataloges. Letztere sind zwar koloriert, ihre Buchstabenkörper bestehen jedoch aus Federzeichnung, die motivisch und stilistisch der zweiten Gruppe nahe stehen ( 154v, 156v ). Die erhaltenen Bilder wie die Bärinnen ( 155r-155v ), Herkules ( 156v) und der Schlangenträger ( 157r) zeugen von einer ausgezeichneten Vorlage des Buchmalers, deren Quellen - wie bei der Leidener 'Aratea' ( Bibl. der Rijksuniversiteit, Voss. Lat. Q.79) oder der Metzer Prachtausgabe der Aachener Enzyklopädie von 809 ( Madrid, Bibl. Nacional, Cod. 3307) - in der Spätantike zu suchen sind. Die Initialen ( 146r-153v) lassen nicht zuletzt aufgrund des Kopfschmuckes der sie bildenden Tierköpfe eine oberitalienische Vorlage vermuten. Ein vergleichbares Phänomen bieten Isidors ' Etymologiae ' Cod. CCII der Biblioteca Capitolare in Vercelli. In gewisser Weise rätselhaft bleibt immer noch die Miniatur mit dem Jüngling in der Biga ( 154v ), von Thiele (1898, S. 159) als Luna interpretiert. Möglicherweise war aber der Freiraum dort für eine Darstellung des Himmelsglobus vorgesehen, der in den anderen Handschriften des revidierten ' Aratus Latinus ' den voran- gegangenen Text der ' Involutio sphaerae ' illustriert ( Thiele 1898, S. 43f., Fig.7). Der geflügelte Jüngling auf der Biga wäre dann eine imposante künstlerische Eigenleistung des Kölner Illuminators und so am ehesten als aufgehender Tag zu deuten.

Überblickbeschreibung aus: Glaube und Wissen im Mittelalter. Katalogbuch zur Ausstellung, München 1998, S. 136-156 (Anton von Euw)

Impressum
Herausgeber
Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln
Redaktion
Im Rahmen des DFG-Projekts CEEC bearbeitet von Patrick Sahle; Torsten Schaßan (2000-2004)
 
Bearbeitung im Rahmen des Projekts Migration der CEEC-Altdaten von Marcus Stark; Siegfried Schmidt; Harald Horst; Stefan Spengler; Patrick Dinger; Torsten Schaßan (2017-2019)
Ort
Köln
Datum
2018
URN
urn:nbn:de:hbz:kn28-3-420
PURL
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-420
Lizenzangaben

Die Bilder sind unter der Lizenz CC BY-NC 4.0 veröffentlicht

Diese Beschreibung und alle Metadaten sind unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 veröffentlicht

Klassifikation