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Chalcidius: Commentarius in Platonis Timaeum (Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 192)

Bibliographische Beschreibung

Handschriftentitel
Chalcidius : Commentarius in Platonis Timaeum
Entstehungszeit
1. Hälfte 11. Jh. (?)
Beschreibstoff
Pergament
Umfang
123 Blätter
Format
240 mm x 185 mm
Persistenter Identifier
urn:nbn:de:hbz:kn28-3-868 Persistent Identifier (URN)
Weitere Angaben
Land
Deutschland
Ort
Köln
Sammlung
Dombibliothek
Signatur
Cod. 192
Katalogsignatur
Jaffé/Wattenbach: CXCII.
Frühere Signatur
Darmst. 2167
Katalogsignatur
Handschriftencensus Rheinland: 1142

Überblickbeschreibung

Calcidius: Übersetzung und Kommentar zu Platons Dialog Timaios

Die Vorstellungen des griechischen Philosophen Platon (427-347 v.Chr.) über die Entstehung und Zusammenfügung des Universums wurde dem Mittelalter in zwei Werken nicht nur mit Worten, sondern auch mit Diagrammen (Zeichnungen in geometrischer Form) vermittelt. Das eine ist der Kommentar des Macrobius (um 430) zum berühmten 'Somnium Scipionis' (Traum des Scipio Africanus) im 6. Buch von 'De re publica' (Über den Staat) des Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) (vgl. Dom Hs. 186, Kat.Nr.65), das andere die teilweise Übersetzung und der Kommentar des Calcidius (tätig um 400) zum Dialog 'Timaeus' (griechisch Timaios), in dem Platon sein bedeutendes Weltbild beschrieb. Diese Welt, das Universum, hat nicht nur einen Leib, dessen Idealgestalt kugelförmig ist und in dem die Planeten um die im Zentrum angesetzte Erde kreisförmige Bahnen ziehen und so die Zeit verursachen, sondern auch eine Seele (7). Die Weltseele besteht aus Zahlen, gereiht über ein Lambda (griechischer Buchstabe L), von dessen Spitze 1 links nach unten die geraden Zahlen 2, 4, 8, rechts die ungeraden 3, 9, 27 angeordnet sind. Ihre gegenseitigen Verhältnisse bilden die Grundlage der Harmonie der Welt, die schließlich auch in den Harmonien der Musik (Quarte, Quinte, Oktav) ihren Ausdruck findet (9). Zwischen Platon und Calcidius liegen etwa 600 Jahre, in denen die griechischen Astronomen wie Eudoxos von Knidos (um 400-347 v.Chr.), Heraklides Ponticus (um 385-310 v.Chr.), Aristarchos von Samos (um 310-230 v.Chr.), Hipparchos von Nikaia (um 190-120 v.Chr.) und Claudius Ptolemaios (100/120-178 n.Chr.) große Beobachtungen anstellten und daraus ebenso bedeutende Theorien ableiteten. Die Römer haben sie studiert, Calcidius und Macrobius haben sie in ihre Kommentare integriert. Vor allem das ptolemaeische, geozentrische Weltbild lebte neben der biblischen Kosmologie der Genesis während des ganzen Mittelalters fort und überlagerte noch die Entdeckungen der neuzeitlichen Astronomen wie Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Galileo Galilei (1564-1642) und Johannes Kepler (1571-1630).

In den Kommentaren des Calcidius und des Macrobius fallen stets zwei platonische Ideen ins Gewicht, einmal der Urgrund aller materiellen Zusammensetzung (1-6) und ihrer in Zahlenverhältnissen ausgedrückten Harmonie, nämlich die Weltseele (7-9), die der Demiurgos, der Schöpfergott, dem Universum einpflanzte. Dann aber faszinieren die mittelalterlichen Gelehrten die der Philosophie zugrunde liegenden Bewegungen am Himmel, Bewegungen der Planeten in kreisförmigen Bahnen, die Gegenbewegung des Fixsternhimmels und die Erde im Zentrum des Ganzen, von der aus der Betrachter alles sieht, und die sich nach Ptolemaios nicht bewegt. Die Beobachtungen sind in Form von Diagrammen festgehalten und spiegeln zugleich die inhaltliche Struktur des Calcidius-Kommentars. Sie finden sich nur in dessen erstem Teil mit den Kapiteln I-VI über die Entstehung der Welt (I-II), die Harmonie- und Zahlenlehre (III-IV) und den Himmel mit seinen festen und wandelnden Sternen (V-VI). Die außergewöhnlichen Beobachtungen und daraus entwickelten Theorien der antiken Astronomen faszinierten auch die mittelalterlichen Gelehrten besonders: etwa die Exzenter-Theorie, nach der die ungleichförmige Bewegung der Sonne oder Merkurs und vor allem der Venus so erklärt wird, daß das Zentrum des Kreises ihrer Umlaufbahn nicht im Zentrum der mittleren Erde liege, sondern außerhalb, und daß daher diese Planeten der Erde einmal näher, dann aber wieder entfernter erscheinen (14). Noch eindrücklicher ist die Epizykeltheorie! Sie sagt aufgrund von Beobachtung, daß Venus und Merkur, die täglich auf- und untergehen, nicht um die Erde, sondern um die Sonne kreisen (Heraklides Ponticus - Martianus Capella) und daß die Sonne sie daher auf ihrer kreisförmigen Bahn um die Erde mittrage. Der Sonnenkreis wird Deferent genannt, die Auf-Kreise, auf denen der Planet einmal links von der Sonne (Venus = Morgenstern) und einmal rechts davon (Venus = Abendstern) zu sehen ist (22, 23), sind die Epizykel (15). Auch die Konstellationen von Erde, Mond und Sonne sind in diagrammatischen Zeichnungen erfaßt. Sie stellen Sonnen- und Mondfinsternisse dar (17-19). Manchmal ist die Vorstellungskraft des Lesers solcher Texte und Diagramme stark gefordert, beispielsweise beim Spalten der Materie einer Geraden von ihren Enden zur Mitte hin in die zwei Teile a und b, beim Biegen der vier Enden zum X (= griechischer Buchstabe Chi) und beim Vereinen der Enden des X zu zwei Kreisen, die sich gegenläufig drehen und damit die Kreise des Fixsternhimmels mit der Ekliptik (Tierkreis) und die planetarischen Bewegungen darstellen sollen (20). Kein Wunder also, daß der Zeichner des Diagramms auf Folio 15r (2) in die Quadrate schrieb: Deus adiuva me - Gott hilf mir!In Dom Hs. 192 kamen sämtliche 24 in den Haupthandschriften überlieferten Diagramme zur Ausführung (Wir geben unten bei der Beschreibung jeweils die Seitenzahl der Abbildung in der Edition von Waszink in Klammern an). Wo sie entstand, kann hier nicht entschieden werden. Die Calcidius-Tradition ist leider nicht so gut nachweisbar wie die des Macrobius-Kommentars zu Ciceros 'Somnium Scipionis'. R.M. McKitterick (in: H.J. Westra [Hg.], From Athens to Chartres. Neoplatonism and Medieval Thought. Studies in Honour of Edouard Jeauneau, Leiden/New York/Köln 1992, S. 86ff., bes. 89) sieht die älteste Handschrift (Paris, Bibl. Nat., Lat. 2164) in Nordfrankreich schon um 800 entstanden und glaubt, Calcidius sei schon seit 780 im Aachener Gelehrtenkreis der Hofschule Karls des Großen (768-814) bekannt gewesen. M. Huglo (in: Scr 44 [1990], S. 3ff., bes. 11) tritt dagegen für eine Entstehung der Handschrift im 10./11.Jahrhundert in Fleury ein und erklärt sie zur Schwesterhandschrift (sosie = Doppelgängerin) des Macrobius Lat. 6365 in Paris. Die gegen Ende des 9.Jahrhunderts in Reims geschriebene Calcidius-Kopie (Valenciennes, Bibl. Municipale, Ms. 293), einst im Besitz des Gelehrten Hucbald von Saint-Amand (gest. 930), repräsentiert den Höhepunkt der Verbreitung des Calcidius in der Karolingerzeit, die sich im Zeitalter der Ottonen und Salier fortsetzt. Wir können sie alsdann über Wilhelm von Conches (um 1080-um 1154), Francesco Petrarca (1304-1374) und den Florentiner Humanisten Marsilio Ficino (1433-1499) weiterverfolgen (vgl. von Euw 1991, S. 386).

Überblickbeschreibung aus: Glaube und Wissen im Mittelalter. Katalogbuch zur Ausstellung, München 1998, S. 309-312 (Anton von Euw)

Impressum
Herausgeber
Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln
Redaktion
Im Rahmen des DFG-Projekts CEEC bearbeitet von Patrick Sahle; Torsten Schaßan (2000-2004)
 
Bearbeitung im Rahmen des Projekts Migration der CEEC-Altdaten von Marcus Stark; Siegfried Schmidt; Harald Horst; Stefan Spengler; Patrick Dinger; Torsten Schaßan (2017-2019)
Ort
Köln
Datum
2018
URN
urn:nbn:de:hbz:kn28-3-868
PURL
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-868
Lizenzangaben

Die Bilder sind unter der Lizenz CC BY-NC 4.0 veröffentlicht

Diese Beschreibung und alle Metadaten sind unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 veröffentlicht

Klassifikation