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Martina Sauer arbeitet mit dem Gedanken einer vorsprachlichen Wahrnehmung; sie geht von der Grundüberzeugung aus, dass die Wahrnehmung im Allgemeinen, die Bildwahrnehmung im Besonderen vor aller sprachlichen und kognitiven Vermittlung immer schon affektiv ist. Für diese These stützt sie sich auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und dessen Auffassung, dass sich das Weltverhältnis des Menschen in Sprache, Mythos und (wissenschaftlicher) Erkenntnis symbolisch artikuliert. Voraussetzung jeder dieser symbolischen Formgebungen ist für Cassirer die Ausdruckswahrnehmung. Sauer zieht daraus den Schluss, dass die Ausdruckswahrnehmung auch im Fall der Beschreibung der Bildwahrnehmung in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Genau dies bestimmt ihr Anliegen: Auf der Grundlage von Cassirers Theorie der symbolischen Weltauslegung sucht Sauer nach neuen Wegen, den Sonderstatus der Bildwahrnehmung im Gegensatz zur Dingwahrnehmung zu erforschen. Ihre leitende Idee ist, dass ein Bild das ursprüngliche Ausdruckserlebnis in potenzierter Form darstellt, und somit nicht als semiotischer Informationsträger, sondern als Präsenz von Ausdruck erscheint. Das bedeutet für Sauer: Im Bild wird das primäre Wirkungspotential eines Ausdruckserlebnisses fixiert – mit der Konsequenz für die Bildrezeption, dass Bilder in den für sie spezifischen Eigenschaften schon verständlich sind, bevor über sie hermeneutisch reflektiert oder gar gesprochen wird. Eine regelrechte Instrumentalisierung der spezifischen Ausdruckspräsenz von Bildern findet Sauer in der kommerziellen Werbung und in politischer Propaganda.

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Der Gewinn von Sauers überzeugender Rekonstruktion von Cassirers Philosophie unter bildtheoretischen Gesichtspunkten besteht insbesondere in folgendem Gedanken: Wenn Bilder sich als eine Potenzierung jener Ausdruckswahrnehmung begreifen lassen, die unser ursprüngliches Weltverhältnis darstellt, dann sollte nicht nur die ästhetische und semiotische Dimension, sondern auch das affektive Ausdrucksvermögen des Bildes ins Zentrum der Aufmerksamkeit einer Bildtheorie gerückt werden. So erhält Cassirers Philosophie das bisher noch nicht angemessen herausgestellte Potential, für eine Theorie des bildlichen Ausdrucks genutzt werden zu können – deren künftige systematische Ausgestaltung man Martina Sauer nur wünschen kann.

 

Lizenz

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Empfohlene Zitierweise

Wiesing L.: Kommentar zu Martina Sauer: Wahrnehmen von Sinn vor jeder sprachlichen oder gedanklichen Fassung? Frage an Ernst Cassirer (Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2008-6). In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-53 (urn:nbn:de:0009-23-21976).  

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