Der Roman "Transit" von Anna Seghers. Aufbruch ins Ungewisse, Emigranten im Exil (Teil I)


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2016

16 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung
Therapeutische Funktion des Erzählens
Wirklichkeitsbewältigung durch Schreiben
Autoren auf der Flucht und im Exil
Zur Publikationsgeschichte von "Transit" (Vgl. Schlenstedt: Kommentar, 338 - 354)
Problematische Heldenfigur und "bürokratischer Terror"
Sehnsucht nach dem "gewöhnlichen Leben"

2. Orte des Geschehens
Schauplatz Marseille
Durchgangs- oder Endstation
Heterotopien: ortlose Zwischenräume
Cafés als heruntergekommene "Wartesäle"
Orte der Hoffnungslosigkeit und der vertrödelten Zeit

3. Brennpunkte der Romanhandlung und Deutungsansätze
Ich-Erzählung eines Namenlosen mit geborgter Identität
Aufbauende Funktion des Lesens
Marseille als Nadelöhr für die Weiterreise nach Übersee
Marie als Komplementärfigur zum Erzähler
Gerüchte oder Wahrheit?
Leben in Gemeinschaft als Zielperspektive
Marie als Andromache-Figur
Zueinanderhalten als lebensgeschichtliche Erfahrung bei Anna Seghers
Thematik des Im-Stich-Lassens im Roman
Tragi-komische Episodenfiguren
Menschliche Grunderfahrungen oder "archetypische Urbilder"
Rückgriff auf Mythologie und Geschichte: das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

4. Exildasein als lebens- und zeitgeschichtliche Erfahrung und ihre literarische Verarbeitung in "Transit"
Literatur als Zeitdokument
Krisen und Umbrüche im Leben Anna Seghers'
Romanfiguren und ihre realen Vorbilder
Exil als Zwischenstadium auf dem Weg zurück in die Heimat
Engagement als antifaschistische Schriftstellerin
Bedeutung der Begriffe "Heimat", "Vaterland" und "Muttersprache"
Rückkehr nach Deutschland
Linientreue Staatsschriftstellerin?
"Bürokratischer Terror": "immanentes Schicksal" oder Symptom einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung?
"Imstichlassen" auf der politischen Ebene
Negativ konnotiertes Mexiko-Bild

Literaturverzeichnis

1. Einführung

Therapeutische Funktion des Erzählens

"Ich wußte, daß er erst jetzt, in dieser Minute, an diesem Tisch, sein vergangenes Leben abschloß. Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt hat." (T 8/4, 215) Mit diesen Worten kommentiert der namenlose Erzähler in "Transit" - hier jedoch in der Rolle des gebannt lauschenden Zuhörers - den Bericht seines Zimmernachbarn, ein wegen seiner Tapferkeit hochdekorierter Soldat, über seine Erfahrungen bei der Fremdenlegion. Wie der Erzähler zu Beginn des Romans "begann er von selbst [d. h. ohne, dass er darum gebeten wurde] zu erzählen, weil es ihm not tat." (T 8/4, 212) Damit bekundet er einerseits das alltägliche Bedürfnis, sich einem zuhörenden Gegenüber im Wechselgespräch mitzuteilen. Zugleich bietet sich ihm auf diese Weise die Möglichkeit, das Erlebte im Vorgang des Erzählens zu verarbeiten, zu bewältigen, sich davon zu distanzieren und damit abzuschließen. So bekommt das Erzählen die Funktion einer Selbstvergewisserungs- und Selbstbehauptungsstrategie mit therapeutischer Wirksamkeit. In ihren Geschichten und Romanen ließ Anna Seghers im Rückgriff auf orale Erzähltraditionen und antike Vorbilder wiederholt Erzähler- und Zuhörerfiguren auftreten, um den Wirklichkeitsbezug des Erzählten zu unterstreichen und eine Verbindung zwischen alltäglicher und literarischer Sprache herzustellen. Im Erzählen - so betonte sie in ihrem Aufsatz "Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt" - knüpfe man an "Geschehenes und Gehörtes an, während man schreibend leicht an Geschriebenes anknüpft statt an die sichtbare Wirklichkeit. Deshalb ist es gut, was man schreiben will, zuerst einem imaginären Zuhörer zu erzählen." (Zehl Romero 1993, 11)

Wirklichkeitsbewältigung durch Schreiben

Als Autorin setzte sich Anna Seghers schreibend mit der selbst erlebten Wirklichkeit auseinander, wobei sie allerdings im Gespräch mit Christa Wolf zwischen biografischen und autobiografischen Texten unterschied und bekannte, dass sie selbst "schon viele biographische Arbeiten geschrieben habe, aber keine autobiographischen." (Hilzinger, 274) Bezüglich ihres Romans "Transit" schrieb sie jedoch am 07.03.1960 an Lew Kopelew: "Ich habe fast alles, was darin vorkommt, miterlebt." Und sie fügte hinzu, sie habe "niemals etwas so unmittelbar im Erlebnis Steckendes geschrieben." (Gutzmann, 141) Auf ihrer Flucht aus Paris habe sie bereits 1941 in Pamiers am Fuße der Pyrenäen begonnen, dieses Buch zu schreiben und ihre Arbeit in Cafés, Wartezimmern und Konsulaten in Marseille, dann - im weiteren Verlauf ihrer Fluchtroute - auf Schiffen, Inseln, in Ellis Island (New York) und schließlich in Mexiko fortgesetzt und beendet. (Vgl. ebd.)

Autoren auf der Flucht und im Exil

Als Jüdin und antifaschistische Autorin musste sie damit rechnen, auch im unbesetzten Teil Frankreichs verfolgt zu werden, obwohl sie - wie viele andere Autorinnen und Autoren ihrer Generation (stellvertretend seien hier genannt: Hilde Domin, Bertolt Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Erika und Klaus Mann, Lion Feuchtwanger und Franz Werfel) - lieber in Europa geblieben wäre. Sie versammelten sich in Orten wie Toulouse, Montpellier und vor allem Marseille, wo sie die erforderlichen Papiere (Visen, Ausreise- und Transitgenehmigungen) für die Weiterreise ins überseeische Exil beantragen mussten, ohne die jede Hoffnung, an den ersehnten Zielort zu gelangen, null und nichtig gewesen wäre.

Zur Publikationsgeschichte von "Transit" (Vgl. Schlenstedt: Kommentar, 338 - 354)

Nach Fertigstellung des Romans in Mexiko verweigerte der mexikanische Exilverlag El Libro Libre im Jahre 1942 die Publikation, obwohl Anna Seghers Mitglied im Kuratorium des Verlages war. Der Erstdruck erfolgte im Mai 1944 in englischer Übersetzung bei einem amerikanischen Verlag in Boston (vgl. Zehl Romero 1993, 76) und im gleichen Jahr in spanischer Übersetzung bei Nuevo Mundo in Mexiko. Die deutsche Erstausgabe erschien erst 1948 in der französischen Besatzungszone bei Weller in Konstanz. Zuvor war aber zwischen dem 3. August und dem 7. November 1947 in der "Berliner Zeitung" eine Fortsetzungversion unter der Federführung von Paul Rilla erschienen, wobei zum Leidwesen der Autorin an vielen Stellen der Wortschatz und die Interpunktion verändert bzw. "verbessert" wurden. Die Erstausgabe in der DDR erschien 1951 im Aufbau-Verlag, wobei man allerdings bemängelte, dass mit dem Schluss des Romans "die Ebene des Typischen und Allgemeingültigen verlassen" und "eine versöhnliche und fast idyllische Lösung von Konflikten versucht" worden sei, die "wie nachträglich angeklebt" wirke. (Schlenstedt: Kommentar, 346) Von BRD-Seite wurde gut zehn Jahre später aus einem anderen Blickwinkel heraus durch Marcel Reich-Ranicki der Schluss als psychologisch unglaubwürdig kritisiert.

Problematische Heldenfigur und "bürokratischer Terror"

In den USA warf man der Autorin nach dem großen Erfolg ihres Romans "Das siebte Kreuz" ("The Seventh Cross", 1942) vor, in "Transit" einen problematischen, unheroischen, zögerlichen und zaudernden Helden zu präsentieren. Man vermisste einen zuversichtlichen, zupackenden und kämpferischen Charakter, der sich leidenschaftlich für den Sieg des Guten über das Böse einsetzt und schließlich triumphiert. In der DDR würdigte Paul Rilla den Roman in seinem Essay "Die Erzählerin Anna Seghers" und entdeckte eine "Verwandtschaft mit der erzählerischen Alpdruckwelt Kafkas". Darin offenbare sich die beängstigende Präzision eines "tödlichen Apparates" und ein "bürokratischer Terror", der in seinem Wesen bürgerlich und gegen den Aufbau des Sozialismus ausgerichtet sei. (Ebd., 349) In der Bundesrepublik wurde Anna Seghers in den fünfziger Jahren nicht gedruckt, weil sie als typische DDR-Autorin angesehen wurde. Als der Luchterhand-Verlag 1962 eine Anna Seghers-Werkausgabe ankündigte, gab es dagegen öffentliche Protest- und Boykottaufrufe. Erst im Laufe der Jahre wandelte sich das Bild von Anna Seghers als DDR-Autorin. Man entdeckte in ihr zunehmend die Meisterin literarischer Erzählkunst, als die sie heute wahrgenommen wird.

Sehnsucht nach dem "gewöhnlichen Leben"

Erzählend bzw. schreibend zur Verarbeitung und Bewältigung des Erlebten beizutragen, ist die gemeinsame Bezugsebene, wo sich die Wege der Autorin und ihres fiktiven Protagonisten in "Transit" kreuzen. Darüberhinaus verbindet sie aber auch - wie es sich am Schluss des Romans herausstellt - die Sehnsucht nach einem "gewöhnlichen Leben"[1] (T 2/3, 45) und die "Suche nach dem, was für immer vorhält" (T 5/6, 125), nach einem "Prinzip Hoffnung" (Thielking, 133), nach etwas Überzeitlichem, das historische Krisen, Verfolgungen und Vertreibungen überdauert und neue Lebenskräfte weckt. Im Gespräch mit Peter Roos und Friderike Hassauer-Roos betonte Anna Seghers, dass ihre schriftstellerische Arbeit ihr im Unterschied zu manchen anderen Autorinnen und Autoren im Exil "über schwere Zeiten hinweg" geholfen habe. Insofern habe es für sie auch "keine Krisenzeiten" gegeben. Im Gegenteil: "Ich konnte überall schreiben, in Cafés, interniert auf Martinique, auf Schiffen usw. ... 'Transit' schrieb ich beinahe in der Zeit, in der 'Transit' spielt." (Roos u. Hassauer-Roos, 158)

2. Orte des Geschehens

Schauplatz Marseille

Schauplatz des Romans ist die südfranzösische Stadt Marseille. Sie ist nicht nur für politisch Verfolgte, aus Konzentrationslagern geflohene oder ehemals inhaftierte Zwangsarbeiter aus Deutschland zum Fluchtort geworden, sondern auch für Tausende von Franzosen und Belgiern und für Spanier, die nach der Niederlage der spanischen Republik gegen General Franco über die Pyrenäen nach Frankreich geflohen waren. Aufgrund des zwischen Deutschland und dem besiegten Frankreich am 25. Juni 1940 in Kraft getretenen Waffenstillstandsvertrages, musste Frankreich verdächtige Personen deutscher Abstammung nach Deutschland ausliefern. Damit war das Asylrecht aufgehoben. Deutsche Exilierte und Emigranten wurden praktisch zu Vogelfreien erklärt. (Vgl. Walter, 14) Um Frankreich verlassen zu können, mussten die Flüchtlinge in Marseille bei den ausländischen Konsulaten Visa besorgen und Schiffspassagen buchen. Sie konnten sich nur mit besonderen Reiseerlaubnissen (sog. "sauf-conduits") bewegen, die meist - wie im Roman mehrfach beschrieben (vgl. beispielsweise T 3/4, 64) - zeitlich befristet waren. Um ausreisen zu können, brauchte man nicht nur Ausreise- bzw. Einreisevisen der betroffenen Länder (also z. B. der USA oder Mexikos), sondern auch Transitvisen derjenigen Länder (wie z. B. Spanien oder Portugal), die auf dem Wege dorthin zu durchfahren waren. Das Verwirrende daran ist - wie der Erzähler vom kleinen Kapellmeister in Kapitel 2/4 belehrt wird -, dass mancher so lange auf das Transitvisum warten muss, bis das bereits gewährte Ausreisevisum ("visa de sortie") erloschen ist. Dann beginnt die Prozedur wieder von vorn. (Vgl. T 2/4, 47 f.) Nach der Logik der betroffenen Konsulate wird ein "Transit" überhaupt erst ausgestellt, "wenn feststeht, daß man nicht bleiben will". (Ebd., 47) Auch die materielle Situation der Flüchtlinge war äußerst prekär. Viele waren nach ihrer Internierung und tage- oder wochenlanger Flucht völlig mittellos und auf Wohlfahrtseinrichtungen oder Hilfen aus dem Ausland angewiesen. Im Roman ist wiederholt die Rede von Lebensmittelknappheit (z. B. Obst und Gemüse betreffend) von "Schlangestehen", "Ersatzkaffee mit Sacharin", "alkoholfreien Tagen" und Brotkarten. (Vgl. z. B. T 69)

Durchgangs- oder Endstation

Infolge der geschilderten Umstände wurde Marseille für Tausende von Flüchtlingen zu einem Ort, wo das "Organisieren, Erbetteln, Ergaunern der essentiell gewordenen Papiere und Stempel [...] und das alltägliche Anstehen und Gerangel auf Konsulaten, Agenturen und bei diversen Hilfskomitees" (Thielking, 127) an der Tagesordnung war. Angesichts dieser Verhältnisse gleicht die Situation einer aus den Fugen geratenen und auf den Kopf gestellten Welt. Mit dem "Märchen vom toten Mann" wird von dem verzweifelten "kahlköpfigen Mittransitär" (T 8/2, 204) die ganze Absurdität und Hoffnungslosigkeit dieser Situation bloßgelegt und auf die Spitze getrieben. Die Hölle wird zum ultimativen Ort der totalen Verzweiflung, wo alle Sehnsüchte und Träume von einem Leben in Freiheit endgültig begraben werden, und zu einem Totenreich, in dem wesenlose Schatten zu einem endlosen Warten auf das Nichts verdammt worden sind:

Sie kennen vielleicht das Märchen von dem toten Mann. Er wartete in der Ewigkeit, was der Herr über ihn beschlossen hatte. Er wartete und wartete, ein Jahr, zehn Jahre, hundert Jahre. Dann bat er flehentlich um sein Urteil. Er konnte das Warten nicht mehr ertragen. Man erwiderte ihm: 'Auf was wartest du eigentlich? Du bist doch schon längst in der Hölle.' Das war sie nämlich: Ein blödsinniges Warten auf Nichts. (Ebd., 208 f.)

Marseille erweist sich als eine Art Märchenort, an dem die einer "Horde abfahrtssüchtiger Teufel" (T 3/4, 64) gleichenden Bewohner wie durch magische Zauberkraft festgebannt sind und nicht vom Fleck kommen, bis sie irgendwann wie mit der "Arche Noah" ("Von jedem Tier nur ein Paar", T 3/3, 63) abreisen können oder - wie der Kapellmeister, für den Marseille nicht zu einer Durchgangs-, sondern zur Endstation wird - zermürbt und entkräftet zugrunde gehen. Die Stadt bleibt aber auch ein symbolischer Ort der Hoffnung an der Schnittstelle zwischen Land und Meer, der die Verbindung zu überseeischen Kontinenten und Ländern herstellt und ein Leben in Freiheit verheißt.

Heterotopien: ortlose Zwischenräume

Über den ganzen Roman verstreut gibt es eine Vielzahl weiterer Handlungsorte (Reisebüros, Konsulate, Hotels und vor allem Cafés). Die meisten von ihnen sind nur Durchgangsorte ohne Verweildauer bzw. nach Michel Foucault "provisorische Halteplätze" (Delfau, 44), die kaum Schutz und Geborgenheit bieten. Hin und wieder gibt es auch "Ruheplätze" (ebd.) wie das Haus der Familie Binnet, wo der Erzähler in ihrer Gemeinschaft eine "unvermutete Geborgenheit" erlebt, bevor er sich beklommen in seine eigenen "vier Wände" zurückzieht, die sich ironischerweise in der "Rue de la Providence" befinden. (T 3/2, 60) Meistens handelt es sich um "Orte des Dazwischen", die man im Sinne Fouccaults als "klassische Heterotopien" (Delfau, 42) bezeichnen kann, d. h. um Orte, "die in der Alltagswelt verankert sind, gleichzeitig aber mit anderen (teilweise irrealen) Räumen in Verbindung stehen und dadurch selbst einen ortlosen Zwischenraum bezeichnen." (Ebd.) Es ist ein Erlebnis, das jeder erfährt, der sich auf einem Schiff in die Weite des Ozeans begibt, seinen Abfahrtsort aus den Augen verloren hat und seinen Zielort noch nicht erkennen kann. Insofern ist die von vielen Flüchtlingen ersehnte Reise nach Übersee ein transitorischer Raum, in dem man seine Heimat hinter sich gelassen hat und sich auf ein Ziel zubewegt, das noch in weiter Ferne liegt. Diese Vorstellung weckt im Erzähler eine naive Kindheitserinnerung, als er "das Ende der Welt" am heimischen Gartenzaun vermutete (T 10/7, 272) - übrigens eine der wenigen Stellen, wo der Leser etwas über seine Kindheit erfährt. Ein vergleichbares Beispiel solcher begrenzten Weltsicht zeigt sich auch beim Erwachsenen, wenn er sich nach dem Muster des einäugigen Türwächters im mexikanischen Konsulat die Mexikaner als ein "Volk von Zyklopen" (T, 31) vorstellt. Derartige, mit der Realität nicht zu vereinbarende Vorstellungen können als transitorische Erlebnisse aufgefasst werden, die im Laufe der Zeit abgewandelt bzw. durch realistische, auf Erfahrung gegründete Vorstellungen abgelöst werden. Schließlich kann der Erzähler selbst, der im Unterschied zu den vielen Abreisesüchtigen gar nicht abreisen will, als transitäre Figur aufgefasst werden, die sich in Zwischenräumen hin- und herbewegt, bis sie sich entscheidet, Wurzeln zu schlagen und sesshaft zu werden.

Cafés als heruntergekommene "Wartesäle"

Zu weiteren wichtigen Orten innerhalb des Großschauplatzes Marseille gehören die vielen über das ganze Stadtgebiet verteilten Cafés. Sie sind

Relaisstationen: anonyme Zonen, achtlos aufgesucht, wo mit dem verstreuten Aufnehmen und Weiterleiten von Gerüchten und Halbgehörtem die Zeit vertrödelt wird. Vor dem Mistral schützende Wartesäle, heruntergekommen, verraucht, eng, schäbig, billig , hässlich. (Cohen, 289)

Die Bezeichnung "Wartesäle" erinnert an die Titelformulierung des von Wulf Koepke verfassten Standardwerkes über die Erlebnisse deutscher Exilschriftsteller: "Wartesaal-Jahre. Deutsche Schriftsteller im Exil nach 1933". Koepke führt diesen Ausdruck auf drei Romane Lion Feuchtwangers ("Erfolg", "Die Geschwister Oppermann" und "Exil") zurück, die dieser seine "Wartesaal-Trilogie" genannt hatte - eine Bezeichnung, die auch von anderen Schriftstellern, z. B. von Thomas Mann, übernommen wurde. (Vgl. Koepke, 15) In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Anna Seghers nach eigener Aussage oft in Cafés geschrieben hat, zum Beispiel an ihrem Roman "Das siebte Kreuz" im Pariser Exil der Dreißiger Jahre.

Orte der Hoffnungslosigkeit und der vertrödelten Zeit

Die Cafés in "Transit" sind jedoch keine Orte nach dem Muster der legendären Pariser Literatencafés oder der literarischen Kaffeehäuser im Berlin der Zwanziger Jahre. Zur Zeit der deutschen Besatzung in den Jahren 1940/41 waren die Cafés von Marseille vielmehr Sammelbecken für geschundene, heruntergekommene, zwielichtige Gestalten aus aller Herren Länder. Die im Roman genannten Cafés werden mit wenig schmeichelhaften Beinamen wie "schäbig", "schmutzig", "häßlich" oder "schmierig" versehen. Sie sind im Unterschied zu den renommierten Pariser Literatencafés keine Stätten von Bildung und Kultur, sondern Orte der Hoffnungslosigkeit und der sinnlos vertrödelten Zeit - Treffpunkte fragwürdiger, in die Illegalität abgerutschter bzw. getriebener und in die Anonymität abgetauchter Existenzen. Man will beobachten, aber möglichst ohne gesehen zu werden. Man will teilhaben am Austausch der letzten Neuigkeiten, an Klatsch und Tratsch. Neugierig saugt man Gerüchte und Vermutungen auf und trägt sogleich dazu bei, sie verhohlen oder unverhohlen weiter zu verbreiten. Als Orte beständigen Kommens und Gehens gehören die Cafés zu den transitären Räumen für transitorische Existenzen mit Träumen, die sich nicht erfüllen werden, Illusionen, die wie bunte Seifenblasen in der Luft zerplatzen und sich spurlos verflüchtigen. Es sind Orte flüchtiger Begegnungen, in denen hinter durchlöcherten Zeitungen ein "Spiel des Sehens und Gesehenwerdens" (Cohen, 291) bzw. des "Verbergens und Beobachtens" (ebd. 293) betrieben wird, von schemenhaften, gesichtslosen Typen, die zugleich als Subjekte und Objekte fungieren. Mit Robert Cohen kann man sie auch als "hybride Räume" bezeichnen, "die sich der Festlegung entziehen" (ebd., 291) und in denen wie in Samuel Becketts absurden Theaterstück "Warten auf Godot" zwei Vagabunden, Wladimir und Estragon, auf ein nicht eintretendes Ereignis bzw. eine nicht eintreffende Person warten und mit leerem Geschwätz die Zeit totschlagen.

[...]


[1] Für den Erzähler verdichtet sich die Sehnsucht nach dem "gewöhnlichen Leben" zu einer neuen Lebensperspektive und zu einer veränderten Wahrnehmung seiner Umgebung: "Netze werden getrocknet und geflickt, Händlerinnen öffnen ihre Läden, Arbeiter gehen zur Frühschicht, die Pizzabäckerin beginnt ihre Arbeit wie eh und je, sie alle gehören zur Menge derer, die nie abfahren, mag geschehen, was will. Der Einfall, abzufahren, kommt ihnen so wenig, wie einem Baum oder einem Grasbüschel." (T 10/7, 270)

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Details

Titel
Der Roman "Transit" von Anna Seghers. Aufbruch ins Ungewisse, Emigranten im Exil (Teil I)
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
-----------------
Autor
Jahr
2016
Seiten
16
Katalognummer
V319673
ISBN (eBook)
9783668197145
ISBN (Buch)
9783668197152
Dateigröße
451 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Transit, Anna Seghers
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2016, Der Roman "Transit" von Anna Seghers. Aufbruch ins Ungewisse, Emigranten im Exil (Teil I), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/319673

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