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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.05.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-05-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18940522024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894052202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894052202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-05
- Tag1894-05-22
- Monat1894-05
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Taoellarischer und Zifferujatz oach höherem Tarif. Srtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderunz 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Aurgabe: Vormittag« 10 Uhr. Marge n.Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Sonn- und Festtags früh ",S Uhr. Bei deu Filialen und Aniiahinestellen je ein« halbe Stunde früher. Anzeige« sind siet« an die Shpevitio» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. ^? 257. Dienstag dm 22. Mai 1894. 88. Jahrgang. politische Tagesschan. * Leipzig, 22. Mai. Da» preußische Abgeordnetenhaus hat gestern mit großer Mehrheit den grundlegenden Paragraphen de« Gesetz entwurss über die Landwirthfchastskammcril nach den konservativ-nationalliberalen Compromißanträgen an genommen. Dafür stimmten die beiden conservativcn gractioncn geschlossen, die Nationalliberalen mit sebr be deutender Mehrheit, dagegen daS Zentrum, die Polen und die Freisinnigen geschlossen. Es ist eine gute Zweidrittels Mehrheit. Ten Nationalliberalen werden natürlich von linksliberaler Seile wieder die üblichen Vorwürfe gemacht, daß sie „umgcfallen" seien, und diese Behauptung wird vornehmlich darauf gestützt, daß sie die obligatorische Errich tung der Kammern rugcstanden, die fakultative preiSgegebcn hätten. „Das — so führt heute die „Nat.-Lib. Corr." auS — ist durchaus unbegründet. Es werden überhaupt keine obliga torischen Kammern eingcführt. Wenn dies im Gesetz ent halten wäre, so würden sie alsbald für die ganze Monarchie in Kraft treten müssen. DaS ist aber durchaus nicht der Fall. Sie können, aber sie müssen nicht eingesührt werden. Man wird sich darauf verlassen dürfen, daß sie in einigen Provinzen, wo kein Bedürfniß und kein Wunsch hier für vorhanden ist, nicht eingesührt werden, so in Rheinland, Westfale», Hannover, namentlich in Posen, und vielleicht auch noch anderswo. DaS heißt doch nicht obligatorisch, sondern eS ist in der That fakultativ. Wir hätten allerdings auch gewünscht, daß die Einführung der Kammern nicht bloS an tie Anhörung, sondern an die Zustimmung der berufenen provinziellen Vertretungen gebunden worden wäre. ES wäre ein Bertraucnsbruch, wenn die Regierung gegen den aus gesprochenen Willen der provinziellen Vertretungen bandeln jollte. DicS vorauSzusctzeu, liegt kein Anlaß vor. Die Re gierung hätte, wie aus dem Verlauf der Ver- dandlungen klar hcrvorgina, sich auch mit einer schärferen Bindung der sacultative» Einrichtung einverstanden erklärt, und das ist doch ein Beweis dafür, daß sie einem bestimmt imSzesprochenen und gut begründeten Widerspruch der berufenen Vertretungen einzelner Provinzen Rechnung tragen und ihnen nicht eine unerwünschte und unzweckmäßige Organi sation aufdrängen wird. Sonst wäre eine solche auch durch aus unwirksam und würde gegenüber besseren landwirth- schaftlichen Vertretungen jeglichen Werth verlieren. Im Grunde ist, wenn man die ganz verschiedenartigen Verhältnisse in Betracht zieht, die neue landwirthschaftliche Organisation nichts Anderes als die Vertretung von Handel und Gewerbe in den Handelskammern, die sich für ihre Zwecke gut bewährt bat. Unv nun ziehe man in Betracht, auf wie viel schlechteren Grundlage» das Gesetz mit Hilfe dcS EentrumS, das sörmlich lüstern war, unter dem entsprechenden Parteiprosit milzu wirken, zu Stande gekommen wäre! Vollständig zwangsweise Einführung der Einrichtung, ein lediglich auf das ultra- iiiontane Parteiinteresse zugeschnittcneS Wahlverfahren. die Auslieferung der Provinz Posen an das Polenthui», das wären die unfehlbaren Folgen einer conservativ-klerikalen Eoalition gewesen. Da wird man doch nicht bestreiten tönncn, daß ein großer Theil der Nationalliberalcn fick wohl berech tigt kalten durste, in dieser Zwangslage manche Bedenken zu überwinden. Das ist eine wohl zu rechtfertigende Real politik." Daß die Trennung der oberste» Aemter de« Reiche« und Preußen» von Nachtheil ist, gesteht so ziemlich Alles zu, was nicht seine Freude an dem Mangel an Uebercinstimmung zwischen den Inhabern dieser Aemler hat. Und eben des halb ist es natürlich, daß ab und zu Gerüchte über die bevor- Feiiillet-n. 2m feindlichen Leben. 201 Roman von I. Schwabe. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Sie stutzten. Ihr Vater hielt in seiner Rede inne. Man sah sich um, man leuchtete mit den Fackeln umher, sah sic aber offenbar nickt, und dadurch muthig gemacht, fuhr Rose fort: „Fürchtet den Fluch de« Goldes und traut der Macht Eurer Arbeit! Lohnt man Euch schlecht — wer hindert Euch, Andere- zu ergreifen? Seid Ihr dazu nicht klug und geschickt genug — wessen Schuld ist daS ? Beuten Andere Eure Kräfte wucherisch aus — warum laßt Ihr eS Euch gefallen? Könnt' Ihr mit Dem, was Ihr verdient, nicht au-kommeu, rechnet eS Eurem Herrn vor, daß Ihr mehr zu einem menschenwürdige» Dasein braucht! Kann oder will er Euch dann den Lohn nicht erhöhen, so habt Ihr daS Recht, Euch nach besser bezahlter Arbeit umzuschen, dazu habt Ihr da« Recht, und wenn Ihr dies Euer Recht anständig auSübt, wird jeder vernünftige Mensch auf Eurer Seite stehen! Aber redet nicht von der Gewalt Eurer Fäuste! Ihr babt nicht das Recht, zu rauben und zu stehlen! Ihr habt nickt das Recht, Dem, der Euch da» tägliche Brod gicbt, mit Mord und Brand zu drohen! Gewalt fordert wieder Gewalt heraus, und gesetzt auch, Ihr siegtet in dem ungleichen Kampf, so werdet Ihr dennoch keinen Nutzen davon bähen. Ihr werdet Alle« für Euch sortern, was Genuß heißt, und Ihr werdet daran zu Grunde geben! Der letzte entscheidende Sieg gehört niemals der brutalen Gewalt, sondern der Intelligenz, dem Geist, der sittlichen Hoheit: wo diesen dreien sich die Tbatrast zuzesellt, ta wird alle Gewalt Eurer Fäuste zu nichte! Was aber würdet Ihr thun, wenn Ihr plötzlich den doppelten Lohn erhieltet?" Zunächst antwortete Keiner. Sie sah e», wie die Meisten scheu nach dem Felsen schauten. „Was wir thun werden", antwortete endlich ihr Vater, »Weiser Prediger, der aus den Steinen redet, der jedenfalls »uch zu der begüterten Kaste gehört und vielleicht sogar Der jenige ist, der da meint, all' diese Leute in Händen zu halten — «r soll fich hüten k Hier sind wir Alle gegen EinenI Wa« stehende Rückkehr zu der früheren Einrichtung auslauchcn, nach welcher der Reichskanzler zugleich preußischer Minister präsident ist. Mit solchen Gerückten verknüpft sich zugleich die Frage, wer wohl von den beiden gegenwärtigen ZNihabern beider Aemter dem Anderen weichen werte. Die „Köln. Ztg." ist nun augenscheinlich in Sorge, Graf Eaprivi könne der Unterliegende sein; daS dem jetzige» Kanzler treuer als seinem Vorgänger ergebene Blatl bemüht fick daher, in erster Linie nach- zuweiscn, daß die Trennung der Geschäfte deö Reichskanzlers und dcS preußische» Ministerpräsidenten, weit davon entfernt, Nach tbeile berbeizufübre», gerade in den augcnblicklickcn Zeit läuften ihre sehr gute Seile babe, und sodann darznthu», daß, wenn trotz dieser sebr vortheilhaften Trennung noch etwas z» wünschen übrig bleibe, nur der preußische Miiiister- präsidcut Graf Eulenburg daran die Schuld trage. Von ihm wird gesagt: „Er ist ein Man» von unermüdlicher Arbeitskraft, von rastlosem Eiser, von reichen Ersahrunge», von einem ruhige» und nüchternen Urtheil, von strenger Gerechtigkeit, von voriiehnicr Beredtiaiiikcit; aber iiiimcr deutlicher tritt eS zutage, daß ihm die rücksichtslose Entschiedenheit, die Raschheit des Entschlusses fehlen, welche die Vorbedingungen jedes Erfolges, auch des politischen, sind. Seit Jahren leidet unsere innere Verwaltung an einer gewissen Altersschwäche und Abstündigkeit; als Gras Eulenburg in daS Ministerium trat, hoffte man, daß er endlich einmal mit scharfem Besen kehren würde, wie e-s so nachdrücklich und zeitgemäß in der Heeresverwaltung geschehen ist. Nach 2 Jahren sahen wir kaum die ersten Spuren der Beamteiiverjüngung. Dagegen erleben wir es, daß selbst active Regierungspräsidenten sich nicht scheuen, durch die Uuterschrist unter den Antrag Kunitz zu beweisen, wie sehr ihre Kenntnisse in den Grundzügcn gesunder Vvlks- wirthschast zurückgeblieben sind. Der Mangel an gesunder Rück- sichtslosigkeit in solchen Pcrsonensragen trägt mehr den» alles andere dazu bei, die Autorität der Regierung zu schwächen. Diese Autorität muß aber um so mehr gekcästigt und gestärkt werden, je mehr das Ansehen der Parlamente in den letzten Jahren gesunken ist. Auch die jüngste Entscheidung in Sachen des Rhein-Dortmund-Canals steht nicht aus dem Boden dcS sachlichen Urtheils, sondern wurzelt ausschließlich in politischen Kämpfen um parlamentarische Macht. Um jo mehr beklagen wir, daß das preußische StaatSminisicrium in diesem Kampfe, der sich bedauerlicherweise zu einem scharfen Jnteressen- kampse zwischen Westen und Osten unseres Vaterlandes zujpitzen kann, unterlegen ist." Daß ein solcher Mann, der nicht einmal mit Preußen fertig werden kann, nicht z»m Reichskanzler paßt, braucht die „Köln. Ztg." „ach dem hier Gesagten nicht ausdrücklich hervorzuhebcu. Man wird an maßgebender Stelle schon verstehen, was daS rheinische Blatt und seine Hinter männer sagen wollen und warum sic für den Fall, daß an dieser Stelle die Wiederübernahme dcS preußischen MinistcrpräsidiuinS durch den Grafen Eaprivi pcrhorrcScirt wird, die Trennung der Geschäfte dcS Reichs kanzlers und dcS preußischen Ministerpräsidenten als sehr zeitgemäß und vortheilhaft preisen. Es fragt sich nur, ob daS gewäblte Mittel seinen Zweck auch erreicht oder ob man nicht an maßgebender Stelle verstimmt wird, weil die Absicht gar zu deutlich erkennbar wird. Guillotine. Pulver und Blei haben gestern in Frankreich bczw. in Lpanicn die menschliche Gesellschaft wieder von einigen anarchistischen Mordgcsellen befreit, deren Ideal die Herbeiführung dcS allgemeinen Ehaos, deren zielsükrendeS Mittel die Massentödtung Unschuldiger bildete. Sie sind ihres Zeichens nicht die erste» gewesen und werden auch schwerlich die letzten sein, welche das auf seine kulturellen Errungenschaften stolze Geschlecht der Gegenwart daran erinnern, daß die Bestie im Menschen noch nickt todt, und daß die Menschheit noch unendlich weit entfernt ist von dem Ziele harmonischer Vollendung: ein Vorwurf, der nicht nur jene mit Unrecht den Name» Mensch tragenden Mortbanditen trifft, an dem vielmehr alle Schichten der Gesellschaft, alle Perioden der Geschichte mebr oder minder participircn. Aber je dringender man wünsche» muß, daß diese Einsicht in immer weitere Kreise dringe, um so weniger darf sich die Gesellschaft in dem zielbewusste» Strebe» nach möglichstem Ausgleich der Elasseiiunterschiede bindern lasse» durch bornirlc Ebarlatane, welche das Allbeilmittcl gegen die unleugbaren Schäden der modernen Eullur in der radicaleu Vernichtung dieser trotz aller Schattenseiten im- ponirciiken Errungenschaft erblicken. Glücklicherweise bat die uiiheimliche Häusiuig anarchistischer Attentate, von denen kaum ein Land der Erde verschont gebliebe» ist» überall zu der freilich bicr und da etwas spät aufgcgangenen, Uebcr- zcugung gcsübrt, daß die Gescllschast in dem ibr ausgezwungeucn Kampfe wider de» Anarchismus keinen Pardon geben dürfe, obnc sich selbst a»S Messer zu liefern, sich selbst als Gcsammtbcit wie jedes ciuzelnc ibrcr Glieder. Mit Dynamit, Revolver und Dolch sübrt der Anarchismus den Krieg gegen die Gesellschaft, äußerste Rotbwehr ist solchen Feinden gegenüber nicht bloS Recht, sondern geradezu Pflicht. Die Gesellschaft müßte wirklich so durch und durch verfault und verkommen sein, wie die Anarchisten und ihre Gönner, die Socialisteu, unaufhörlich schmäkcii, wenn sie z» feig oder zu schwach wäre, ihr Nothwcbrrecht bis zur letzten Eousegucn; zu üben. Wie in de» Vcrzeiltagcii zwischen Mensch und Raubtbier, so steht beute die Frage zwischen Gesellschaft und Anarchismus — nur für eines von beide» ist Raum, und wie auö jener vorgeschichtlichen Periode der Mensch als Sieger bervorgcgangen ist, so wird er auch beute Sieger bleiben i» dem Kampf gegen die verthicrte anarchistische Rcaction. Dazu gehört aber in erster Linie, daß die Parteien, welche den Fortschritt als Panacce aus ibre Fahne geschrieben babcu, nicht dadurch sich zu Helfershelfern der schlimmsten aller Rcaclionäre machen, daß sie deren Verbrechen als „politische" Vergehe» der Executive des Scharfrichters zu entziehe», zu entschuldigen, ja zu verherrlichen suchen. In Frankreich ist man von diesem Wahnsinn, wie eS scheint, glücklich gekeilt, und hoffentlich werden auch die sortgeschrittenen spanischen Republikaner, welche für die sechs gestern in Barcelona erschossenen Attentäter die Gnade der Rcgentin anriescn, noch eines Besseren belehrt. Am Sonnabend bat die sraiizösischc Kammer den Gesetz entwurf, betreffend den "Ausschluß der Dessen tlichkeit bei Hinrichtungen, der augenscheinlich im Hinblick aus die bevorstehende, »uumcbr vollzogene Enthauptung dcS Anar chisten Henry cingcbracht worden war, i»it 207 gegen 232 Stimme» abgelebut, nachdem unmittelbar vorher ein Gesetzentwurf auf Abschaffung der Todesstrafe ebenfalls, und zwar mit 353 Stimuicu Mehrkcit und 150 Stimmen Mintcr- beit, demselben Schicksal verfallen war. Die "Abschaffung der Oesfentlichkeit steht schon seit neun Jahren aus der Tages ordnung der französischen Parlamente. Im Iabre 1885 be schloß der Senat die Abschaffung der Ocfsenllichkcit; die Kammer stimmte jedoch diesem Beschlüsse nicht ;» und bat sich ablehnend verhalten bis beule. Diesmal stimmten so wohl die Radicalcn als auch die Conservativen für Ableh nung, diese, weil sie fürchten, daß der Aushebung der Oessentlichlcil die Abschaffung der Todesstrafe überhaupt bald Nachfolgen werde, jene in der cntgegcngesctzlcn Mei nung, daß tie Verbannung der Guillotine hinter die Gesäiigiiißmaucrn die von ihnen erstrebte Abschaffung der Todesstrafe verzögern könnte. Wenn die Anhänger der Ocssentlichkeit der Hinrichtung geltend machen, daß auf diese Weise die "AbschrcckungStbcoric wirksam werde, so wird gerade wir wollen — Austern und Champagner wollen wir, wie sic ihm so gut schmecken!" „Nein", ries ein alter Mann mit grauem Haar, „das wollen wir nicht. Rur meinen einzigen «obn möchte ick gern studircn lassen! Er hat einen so klugen Kops und wir sind so arm! Er will so gern Pfarrer werden!" „Bah, ein Pfarrer! Schämt Euch, alter Mann!" riefen ein paar junge Burschen mit schmetternder Stimme. „Aber Du, komme doch hervor, der Du Dich da hinter dem Felsen verkriechst, elender Feigling, der Tu unfern Schlupfwinkel glücklich auSspionirt hast, heraus, wenn Tu Muth hast, unsere Klagen und Forderungen anzuhorcn, heraus mit Dir Samiel erscheine!" Rose besann sich noch eine Minute. Ein wenig fürchtete sie sich dock vor der Gesellschaft. Schließlich aber mußte sic doch ihres Vater« Gegenwart schützen, und die Wuth der Leute gegen Franz Bergen, den sie dock hinter dem Felsen vcr- inuthcten, wurde nur noch gesteigert, wenn sie unsichtbar blieb — so trat sie endlich auf den vorspringendcn Stein hinaus. Die Wirkung war eine ungeheuere. Zunächst schiene» "Alle erstarrt zu sein ob der imcrwarteten Erscheinung. Grell siel daS Licht der Fackeln aus ibr schönes unbewegtes Gesicht. Mit ruhiger Hoheit übersah sie die Bcrsammlung. — Ta erhob sich ein rasender Tumult und Rose dachte einen Augen blick, man würde sie in Stücke reißen. Tie Ucberrasckung war jedenfalls unbeschreiblich. Endlich schüttelten sie sich in tollem Lachen und schrieen alles Mögliche durcheinander, von dem indeß Rose glücklicherweise kein Wore verstand. Nun rief ihr Vater: „Bist Tu toll, Mädel? — Wie kommst Du hierher? — Wer hat Dir unser Versteck ver- rathcn?" „Niemand; ich kam zufällig bis in die Nähe, sah den Schein der Fackeln und ging ihm nach." „Niemand! — Zufällig!" höhnte einer der Burschen, welche vorhin den Alten verspottet batten, „Ibr Schatz bat sie wohl aus Kundschaft auSgeschickt? Sie machten mit ihm eine späte Promenade? Dagegen können wir nicht- einzuwenden haben, denn die Liebe ist frei! Aber wenn Sie eS wagen sollten, mein verehrtes Fräulein, Ihrem Liebsten, unfern sogenannten Herrn, mit dem Sie jüngst so ein allerliebste« Schäferstündchen im Albertstollen batten, das Geringste zu verrathen — dann — Gnade Gott! — Sie sind ein schönes Mädchen, weiß der Teufel! aber eines Tage-wird er Sie doch sitzen lassen! — Vielleicht finden sie dann auch, daß wir Recht haben, uud sind froh, wenn wir Ihr zertretene« Recht ihm mit aufs Kerbkolz schlagen! Im klebrigen ist meine Liebe nicht geringer als die seinige, mein Täubchen, und die Liebe ist sehr veränderlich und die Liebe ist frei! Wie wär'S, Ihr Burschen, wenn des alten Müller stolze Tochter mein Schatz würde! Isl'S nicht zum Todtlachen, daß sie eS mit den Reichen bält?!" „Natürlich, die Weiber seben initiier nach dem blinkenden Golde", gab ihm ein langer, wüster Mensch zur "Antwort. „Aber sie gekört dennoch zu uns", wagte der alte Mann wieder turchzudringen, „hat sie nicht wunderbar für unsere Weiber, unsere Kinder gesorgt?" „Ja, daS bat sie", bestätigte der erste Sprecher, „deshalb soll sie auch den Lump, den Kerl fahren lassen!" „Aber Ter, den Ihr meint, geht mich ja gar nichts an", versuchte Rose einzuwenden, und dachte mit Schaudern an DaS, was in Straßberg jede« Kind wissen sollte und waS sie doch »ur für boSbaste Verleumdung gehalten. „Lüge nicht", schrie der Mensch von vorbin, „wir wissen es Alle!" „Lüge nicht!" schrie auch ibr Vater. „Hast Du nicht schon als Kind für ibn geschwärmt? Und wäre er ein Mensch von Ehre und Gewissen gewesen, so hätte er Dich gcbeirathet und nicht deS alten Thoma« Krause häßliche Tochter! Wie konnte er daS gelbe, magere Geschöpf Dir verziehen — Dir?!" ES lag so viel Stolz und Zärtlichkeit in eeS Alten Worten. „Aber beruhige Dich doch, Vater", sagte Rose herzlich, „er hat ja niemals auch nickt die allergeringste Verpflichtung mir gegenüber gehabt! Nicht einen Kuß hat er je von mir bekommen!" „Beschönige nichts", eiferte er; „ich hasse ihn und er soll seine Strafe baden!" „Und Tu nahmst dock die Stelle an, die er Dir bot, und issest daS Brod, daS er Dir giebt!" „Ach WaS; ich arbeite für DaS, WaS ich verdiene und ich nahm die Stelle nur an, um ihn beobachten und Dich an ihm rächen zu können!" „DaS war unnöthig und schlecht." „Nein, daS ist Recht, und wenn er anständig wäre» ließe er sich morgen am Tage scheiden und beirathete Dich!" „Ich wurde schön danken! Auch liebe ich ihn gar nicht." „Da- wäre ein Grund", lachte der rohe Sprecher von vorhin, „aber wir glauben S nicht. Doch das ist Privatsachr, in die mengen wir un« nickt. Und jetzt werde ich Sie nach Hause bringen» ich liebe Sie auch und di« Liebe ist frei! durch die bei der Hinrichtung Henrv'S wieder vorgekommeneu Seciic» erhärtet, daß weit eher das Beispiel der aiiarchistischeii Verbrecher sich ansteckend erweise. IcdcnsallS wird die von Seilen der Anarchisten drobente Gefahr durch die mit der Oeffenllichkcit verbundene Propaganda wesentlich verschärft. Welckcr "Art das Publicum ist, auf daS durch die „Abschreckung" »aä, der seltsame» Vorstellung der.Kammcrmebrbeit eingewirlt werte» soll, erbelll auö folgender Schilderung deS „TcmpS": „Ich luil't sie gesehen, diese abscheuliche» Hausen von Dirnen und Mordgejelleii, Zuhälter», Gauner», Landstreichern und leider auch halherwachseneu Jungen, die das Laster schon gegen jedes Mitleid gewappnet hat: ick habe gesehen, wie die Massen sich schon von Mitternacht an auf der Place de la Roquette tummeln, schiede» und stoßen, Witze reißend und Zoten auStauschend: ich habe ihre Lieder, ihr heiseres Lachen und ohrzerreißendes Geschrei mit angchort und mich überzeugt, daß nur eine verthicrte grausige "Neugier diese Menge zusammenhält. Nach der Vollstreckung deS Urtheils habe ich auch beobachtet, wie diese Menge au-seinanderslrömte mit demselben bestialischen Lachen, den- selben Zoten und rohe» Witze». Und da ist mir klar geworden, daß der Schrecke» vor dein Verbreche» und seiner Sühne, den uns die Eriniiiialisicn als so heilsam preisen, mir in deren Einbildung besieht. Tbatiachlich geht die Menge zur Guillotine wie zum Theater, und sie lehrt von der grausigen Scene zurück, ganz wie von einer Orgie, die die Sinne reizte." Die bedeutende Minorität, welche am Sonnabend für die Abschaffung der Ocssentlichkeit votirtc, läßt bossen, daß die Angelegenheit, wenn sie daS nächste Mal wieder vor das Parlament kommt, in ikrcm Sinne entschieden wird; dafür dürsten schon die Anarchisten selber sorgen. Tie neuesten Ereignisse i» Lrrbie» erscheinen sebr verschiedenartiger Deutung fähig. Soviel kann wohl keinem Zweisel unterliegen, daß den grundsätzlichen Widersachern des intcrnationalen «»»»ns guu der AuSbruch ernsterer Unruhen in Serbien sehr gelegen kommen würde. In den fran zösische» Ebauvinistenblättern wurde schon seit Wochen die wachsende Spannung zwischen den Radicalcn und der Regierung dcS Königs Alexander in behaglichster Breite uud unter steter Wiedcrkolung deö Satzes, daß Serbien einer Katastrophe unrettbar ciitgcgcntreibe, com- menlirt, natürlich unter der Voraussetzung, baß wie immer sich die Entwicklung der Tinae gestalten möchte, sie sich im Interesse der Gegner des Bestehenden würde verwertbcu lassen. Durch de» Staatsstreich deS Königs Alexander nun ist offenbar eine Aetion eingcleitct worden, welche bezweckt, die Macht der Dnnaftie zu befestigen. Bei Bcurlbeiluug der augenblicklichen Lage i» Serbien wird man genau zwischen dem spccisisch serbische» Standpunct uud dem inter nationale» Staiirpuuet untcrscheiren müssen. Den inneren Angelegenheiten Serbiens steht Europa als solches durchaus fern. Solange nicht Serbien zu einem Brandherde von VolkSleidcnscbasteii wird, dessen Nachbarschaft für die anderen Balkanstaale». wo cS ja an Zündstoffen auch nicht gänzlich mangelt, sich bedrohlich gestatten könnte, entfällt für Europa jeder Grund zur tircetcn Eiiimischnng in die inneren Dinge deö Königreichs. Es wird also vor "Allem ab- zuwartcn sein, ob die Urheber dcS serbischen Staatsstreichs ihr Untcrnebmcn reiflich genug erwogen baden, um sicher zu sein, daß ihnen die Folgen desselben nickt etwa über den Kops wachsen. In erster Linie kommt es auf die Haltung der Armee a», welche srükcr dem König Milan, selbst uaa, dem serbi'cb bulgarischen Kriege, noch zugctba» war. Ob sein Verhalten i» der Zwischenzeit hieran nichts geändert, muß abgewartct werden. Ein günstiges Zeichen für die "Auffassung der Lage in den RcgicruugSkreisen ist eS jeden falls, daß die Minister sämmtlick im Amte geblieben sind. Für alle Fälle ist der Mann der rücksichtslosen Schärfe, Wir haben hier noch mancherlei z» besprechen, wobei wir Ihre weise» Reden nicht gebrauchen können." Und damit war der Mensch mit ein paar langen Sätzen die Schlucht kinan und stand schnell wie ein Gedanke neben ibr und faßte ihren "Arm und seine blitzenden Augen waren dicht neben den ihren und sein heißer Athem streifte ihre Wange. „Laß sic nach Hause gehen, Wagner", rief der alte Müller; „ich bürge dafür, daß sie »icktS verrätb!" „Ich werde sie »ach Hause bringen", ries Wagner zurück, „das ist sicherer und angenehmer für unS Beide." „Das wirst Du nicht!" donnerte der Alte. „Beim Satan, ich werte eS!" schrie Jener zornig. Aber er hatte sich z» sehr aus die Festigkeit dcS morschen Steines verlassen, er batle auch Rose'S Kraft unterschätzt; während er mit dem Vater sprach, versuchte sie ibre Hand frei zu »lachen, und in dem doppelten Bestreben, sich fest zu kalten und den Vater abzuscrtigc», achtete er der Kleinheit dcS Steines nicht, kam dem Rande desselben zu »abe und stürzte binab, während kleine FclSstiickc ibm »achpeltertcn. Rose verlor fast das Gleichgewicht und wankte einen Augenblick, doch war sie frei. Ibre Hand hatte er beim Sturze loSlasscn müssen. Sie lauschte, ob ihm ein Unglück rugcstoßcu sei. doch da sie ibn schelten und fluchen hörte, wandte sie sich zur Flucht. Die FclSplalte nahm sie von Neuem aus, sic durcheilte, so schnell sie konnte den schmalen Psad und dann den Berg binab, immer z»; ohne Aufenthalt ohne Rast, di: Verfolger im»ier hinter sich wähnend, bis sie schließlich halblott zu Hause ankam. Tic Mutter nickte >m Lehnstuhl; sie wackle erschrocken aus; Rose erzählte ihr athemloS Alles, was sic gesehen unk gehört. „Aber Kind, wie kannst Tu Dich auch in solche Geschichten einmischcn", sagte die Mutier müde und langsam. „Zu meiner Zeit wußte ein Mädchen nur von Kochen und Scheuern und Flicken und Stopfen und hatte einen ehrbaren Liebsten. Du aber machst Alles anders — hast eine» vcrheiratbetcn Liebsten —" „Aber Mutter» das ist ja nicht wahr", schrie Rose aus. „Du weißt ja, wer mein Liebster ist, und gewiß, bald, bald wird er kommen!" „Ja, ja, Kind, da« sagst Du, und ich will e« Dir glauben! Aber sieh, die Leute erzählen so ganz andere Sach» un» Dein Vater auch, und Du hast Deine« Vater« tollen Kops,
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