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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.06.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-06-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960602023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896060202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896060202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-06
- Tag1896-06-02
- Monat1896-06
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Größere Schriften laut unserem Preis, »«rzeichniß. Tabellarischer und Zissernsatz nach höherem Tarif. krtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbefördrrung ^l SO.—, mrt PostbesördenlUg 70.—. Ärmahmeschluß für Anzeigen: Abend-Au-gabe: Vormittag- 10 Uhr. Margen-Au-gabe: Nachmittags 4Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eia« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» aa dir Expedition zu richten. Druck und Derlaq von E. P olz in Leipzig 276. Dienstag den 2. Juni 1896. 96. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 2. Juni Heute nimmt der Reichstag nach einer zweiwöchigen Pause seine Sitzungen wieder auf. Wir haben dieser Tage eine Zusammenstellung der Arbeiten gegeben, die er noch zu er ledigen hat. Von ihnen sind außer dem Bürgerlichen Gesetzbuch, daö unserer Meinung nach nicht mehr an gegensätzlichen Anschauungen scheitern kann und nur noch von der sommerlichen Ungeduld bedroht ist, die wichtigsten die Vorlage über die vierten Bataillone, die Novelle zur Gewerbeordnung und das Börsengesetz. Bei der Berathung des HeeresgesetzeS in der Commission und im Plenum wird viel geredet werden und zwar meist über Dinge, die mit dem Gegenstände keinen Zusammenhang haben. An der schließlichen Annahme ist nicht zu zweifeln, da selbst das Centrum nicht vor seine Wähler treten könnte, nachdem es sich geweigert, einer unbestritten der Erhöhung der Schlag fertigkeit der Armee dienenden, nennenSwerthe Geldopfer nicht erfordernden Maßregel seine Zustimmung;» geben. Der Freisinn, der sich in der glücklichen Lage befindet, das Zustandekommen des Gesetzes durch ein ablehnendes Volum nicht verhindern zukönnen, darf sich deshalb, aber auch nur deshalb, auch hier das her kömmliche Nein gestalten; ob er eS in seinen beiden Linien thut, steht aber noch dabin. Gegenstand ernstlicher Kämpfe wird die Gewerbenovelle werden. Die Minderheit wird sich alle Mühe geben, das Verbot des Detailreisens, soweit eS schädlich wirken muß, und die Beschränkung des Hansir- handelS in Sämereien u. dergl. zu beseitigen oder enger zu begrenzen. Die Mehrheitsparteien selbst halten an ihrem Werke zweiter Lesung nicht mehr fest, da sie beantragen, das Aufsuchen von Bestellungen bei der Privat kundschaft sei zu gestatten, wenn der Aufsuchende dazu auf gefordert ist. Der Vorschlag ist moralisch wertbvoll, weil er zeigt, daß eS auch dem Centrum und den Conservativen nicht wohl bei ihren Beschlüssen ist; praktisch bedeutet der Antrag jedoch keine nennenSwerthe Erleichterung, namentlich nicht für den kleinen Gewerbtreibenden. Dürfte dieses Gewerbe gesetz, das anfänglich — nach der erfolgten Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse deS Buchhandels — glatt durchgeben zu wollen schien, noch stark umstritten werden, so wird die am heißesten befehdete Gesetzesbestimmung der Session, das Verbot des börsenmäßigen Getreide-Termin- Handels, dieGemüther kaum mehr erregen. Es ist merkwürdig, wie ruhig eS selbst in der Presse des „SchutzvcrbandeS" davon geworden ist, während doch noch vor wenigen Wochen der Ruin des Handels einerseits und die Unmöglichkeit der Verprovian- tirung Deutschlands andererseits als unausbleibliche Folgen des Verbots bezeichnet wurden. Nur ein kleiner Theil der Manchesterpresse, und nicht der klügere, sucht noch dadurch Schrecken zu verbreiten, daß er die Verödung Berlins und eine ungeahnte Blüthe Antwerpen- und anderer Städte, wohin der Börsenterminhandel in Getreide auswandern werde, in Aussicht stellt. Wenn etwa- den Antrag Kanitz auf Ver staatlichung des Getreideverkaufs zu patronisiren ver mochte, so wären es diese Politiker, die nicht eifrig genug versichern können, alle Mißstände im Gctreidehandel, die man in Berlin beklagt hat, würden im Au-lande mit der bi-berigen Wirkung für d,e deutschen Getreideproducenten und Brodesser fortdauern. Als vor einiger Zeit bekannt wurde, ein Bürgermeister im Osten habe sich polnischen Uebergriffen nickt pflichtgemäß widersetzt, da erfolgte allsogleich auch die halbamtliche Mit theilung, e- sei gegen den Beamten dir Di-ciplinarunter- snckung eingeleitet. Die letztere Nachricht erregte allgemeine Befriedigung, denn es war ein starkes Stück, dessen der Bürgermeister beschuldigt war. Jetzt ist ein unvergleich lich ärgerer Vorfall gemeldet worden, die officiöse Presse hat jedoch nichts zur Aufklärung oder Beruhigung beizu tragen gewußt. Der bekannte Fall, der sich in einer Schule des Posener Kreises Jarotschin zugetragen hat, ist typisch für die polnische Agitation. An ihm tritt der ungezügelte Deutschenhaß der polnischen VolkSfübrer, ihr ungesetzlicher Sinn und die Bereitwilligkeit der polnische» Geistlichen, die religiösen Interessen den nationalen zu opfern, wie in Rein- culiur gezüchtet hervor. Ein katholischer Priester nennt das heiligste christliche Gebot und den Gruß im Namen Cbristi, wenn sie in deutscher Sprache gesprochen werden, Sünde, die mit der Verweigerung von Heilsmitteln bestraft werden müsse. Er schließt die Deutschen von der Psingstbolschaft au-, die Kalholicität der römischen Kirche existirt für ibn nicht, wenn das verhaßte Volk in Frage kommt, das Vaterunser ist ihm kein Gebet, sondern ein politisches PropagationSmittel, wie eS etwa die Marseillaise für die französischen Revolutionaire gewesen. Der Priester zwingt endlich Schulkinder zum Un gehorsam gegen den ihnen von der Obrigkeit bestellten Lehrer, macht in den Augen der Kleinen die Sprache des Landes, dem sie angehören, und die die seines Herrschers ist, verächtlich und erfüllt die Kinderberzen mit der Vorstellung, daß die Feindschaft gegen das Deutsche ein gottgefälliges Gefühl sei. Die Schluß folgerung, daß Handlungen, die aus diesem Gefühl heraus unternommen werden, gottgefällig seien, drängt sich den so Erzogenen von selbst auf, und das ist selbstverständlich auch der Zweck dieser Art von „christlicher" Propaganda. Was immer von der polnischen Agitation bekannt wurde, Großes und Kleines, Alles bestätigt die vom Fürsten Bismarck eindringlich genug gelehrte, aber leider nicht genugsam eingedrungene Wahrheit, daß das letzte Ziel der polnischen Verhetzung die Losreißung von Preußen und Deutschland sei. Der Fall im Kreise Jarotschin gehört nicht zu den kleinen Cbarakterzügen der großpolnischen Bewegung, man darf deshalb sehr gespannt sein, wie die Organe, deren Pflicht eS ist, über den Besitzstand der Krone Preußen unausgesetzt zu wachen, sich zu ihm ver halten haben. In dem von uns mitgrtbeilten Berichte wird gesagt, daß der Lehrer, der auf Wunsch seines Vorgesetzten, des Kreisschulinspectors, daS deutsche Gebet neben dem polnischen bat sprechen lassen und von dem Geistlichen deswegen in Gegenwart der Schulkinder brüskirt worden ist, von der königlichen Negierung zu Posen versetzt worden sei, der Geistliche aber nach wie vor die Leitung des Religions unterricht- an der betreffenden Schule wahrnehme. Wir können und wollen daran vorerst nicht glauben, obwohl, wenn die Meldung falsch ist, genug Zeit war, sie richtig zu stellen. Ist sie wahr, so bat der preußische Staat der polonisirenden deutschfeindlichen Geistlichkeit in den Ost provinzen den Weg gezeigt, wie sie sich aller Lehrer, die das Deutschthum nicht auSgemerzt wissen wollen, zu entledigen vermag: sie braucht nur die Be folgung der Anordnungen der Lehrer durch die Schul kinder mit der Entziehung der kirchlichen Gnadenmittrl zu bedrohen. Ist der Hergang in der Presse des Ostens wirk lich richtig dargestellt worden, so hat man eS mit der staat lichen Anerkennung eine- Jnterdicts zu thun. Der artiges halten wir selbst unter der Amtsführung des Herrn Or. Bosse für ausgeschlossen. Im Abgeordnetenhause wird sich ja Herausstellen, ob dieses Mindestmaß von Vertrauen noch gerechtfertigt ist oder nicht. Zu den Anschuldigungen des Advocate» Lothaire'S gegen die deutsche Verwaltung in Lftafrika schreibt die „Köln. Ztg." anscheinend osficiöS: Heute schon sind wir in der Lage, auf Grund der bisher ver- öffentlichlen Ermittelungen, wie sie insbesondere auch bei den Ver handlungen über den Fall Lothaire von der deutschen Regierung gemacht und durch unsere eigenen Berichte aus Afrika ergänzt und bestätigt wurden, Folgende- zu bemerken: Daß StokeS im deutschen Dienste gestanden und gar Osftciere unter seinem Befehl gehabt habe, ist di» unverschämteste Lüge, die je aus gesprochen wurde. Er ist in der That der grötzte Kaufmann im ostafrikanischen Schutzgebiete gewesen, hat als solcher viel zu dessen Hebung beigetragen und bei den Kämpfen der Araber gegen die deutsche Herrschaft letztere durch Rath und That kräftig unterstützt. Seine Dekoration mit dem Kronen-Orden 4. Classe ist deshalb von dem Gouvernement aufs Lebhafteste befürwortet worden. Wie alle anderen deutschen Karawanensührer ball Stokes nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht, diedeutscheFlaggezu führen. Ganz aus der Luft gegriffen aber ist, daß seine Träger deutsche Uniform getragen hätten oder daß an ihn Waffen verkauft worden seien, die nach der Brüsseler Acte nicht verkauft werden durften. Das Waffenmonopol des deutschen Gouvernements ist gerade die beste Controle für dir Beobachtung der Vorschriften der Brüsseler Acte, und es wird auch nicht der Schatten eines Beweises dafür bcigebracht werden können, daß moderne Waffen von der deutschen Küste aus verkauft und in das Innere gelangt sind. Die deutsche Regierung brauchte die Araber gegen die Congoregierung nicht zu unterstützen. Die Maßnahmen der letzter» reichten vollständig aus, um den Ausstand gegen sie hervorzurufen. Ihre Beamte» und Officiere, die bis zu dem Falle Stokes mit 10 Procent an dem Er werb von Elfenbein und Kaut schrick betheiligt waren, haben einfach Araber und Eingeboren« geplündert. Sie haben insbesondere die Araber, welche Elfenbein-Karawanen von der Eongogrenze her, wie seit Jahrhunderten, an die deutsche Küste führen wollten, mit Gewalt daran gehindert und vielfach derartige Karawanen, die ost einen Werth von vielen Taufenden hatten, in Beschlag genommen. Die Congoregierung war genöthigt, den größten Therl der hierauf erhobenen Beschwerden als begründet anzuerkennen, Entschädigungen zu zahlen und Abhilfe zu versprechen. Anscheinend aber haben entgegengesetzte Weisungen die Beamten und Officiere de- Eongo- staate« in ihrem vertrag»- und völkerrechtswidrigen Verhalten be stärkt. Räubereien von Eongosoldatrn auf demdeutschen Tanganikagebirte waren keine Seltenheit, und die angeblich gegen die Sclaverei dienenden Eongotruppen haben Weiber und Kinder in die Sclaverei geführt. Erinnert darf noch werden an da» gewiß einwandsfreie Zeugniß des Paters van der Borght, der bezeugte, daß zur Aufhebung der Sclaverei in Afrika da- Meiste von der deutschen Regierung geschehen sei. Die amtliche Widerlegung von deutscher Seite wird nach einer Andeutung der „Köln. Ztg." um so weniger aus bleiben, als glücklicherweise Gouverneur v. Wissmann in Europa eingetroffen ist und am besten in der Lage sein wird, seine seit Beginn seine- Gouvernement- zahlreich erhobenen Beschwerden gegen die Congoregierung und die Unzuverlässig keit ihrer Berichte zusammenfassend darzulegen. „Er lügt wie der Congo" ist m Belgien sprichwörtliche Redensart. Die entsetzliche Katastrophe auf dem Ehodyn-kifeldc in Moskau Hal einen unsagbar tiefen Mißklang in den bellen FcsteSjubel gebracht, welcher das junge Zarenpaar bei seiner feierlichen Krönung umgab. Eine halbe Million Menschen, Männer, Weiber und Kinder, war nach Moskau gewandert, um auf bunt geschmücktem Festplatz Liebesgaben des Herrscher-, Speise, Trank und Krönung-angedenken in Empfang zu nehmen, eine ganze Nacht hatten sie auf freiem Feld campirt, um ja am Sonnabend Morgen den Augenblick der Vertheiluna nicht zu versäumen — nun ist ihnen der freundliche Wunsch deS neugekrönten Zaren, auch dem Aermsten an seinem höchsten Ehrentag eine Freude zu bereiten, zu schwerem, düsterem Berhängniß geworden: gegen 1300, nach anderer, aber noch nicht beglaubigter Version 2000 (man spricht sogar von 3000) sind nicht an den heimischen Herd zurückgekehrt, erdrückt, erstickt, zertreten und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt liegen sie in un heimlich langen Reihen ausgebabrt in Leichengewändern, der Bestattung harrend. Wohin die Kunde von dem bei spiellosen Unglück gedrungen ist, hat sie das schmerzlichste Bedauern mit den Opfern der Katastrophe und deren An gehörigen erweckt, denen noch so reiche Geldspenden nicht Las zu ersetzen vermögen, was sie auf dem verhängnißvollen Ehodynskiplatz in Moskau verloren haben; aber zugleich wendet sie auch dem jugendlichen Zaren, der ohne seine schuld einen düsteren Schalten auf den so glänzend begonnenen Weg seiner Regierung geworfen sieht, die innigste Theilnahme zu. In grauenvollen Zügen hat das Schicksal ihm inmitten des höchsten irdischen Prunkes, der reichsten menschlichen Macht fülle die alte Wahrheit vor die Augen hingeschrieben, daß über dem Mächtigsten noch ein Allmächtiger wacht und waltet, dessen Gedanken nicht unsere Gedanken, dessen Wege nicht unsere Wege sind und dessen Gang unerforscblich ist. Das gräßliche Un glück erinnert an das Vorkommniß bei der Hochzeit Marie Antoi- nelte'S mit dem Dauphin von Frankreich, dem nachmaligen König Ludwig XVI. Bei dem Feuerwerk, welches die Stadt Paris zur Feier dieses Ereignisses am 16. Mai 1770 ver anstaltete, entstand ein ähnliches Drängen, wobei 300 Per sonen getödtet und sehr viel mehr verwundet wurden. Aber die Moskauer Katastrophe übertrifft die französische an Umfang und Furchtbarkeit weitaus und dürfte zu den schrecklichste» Vor kommnissen dieser Art zählen, von welchen die Annalen aller Länder und Zeiten berichten. Die Frage, wem die Schuld an der Katastrophe bei,Finessen ist, wird schwer zu beant worten sein. Bei den früheren analogen russischen Feierlich keiten, zuletzt bei der Krönung Kaiser Alexanders II., ist es bei der Verthcilung von Speisen und Getränken auf dem nämlichen Chodynskifeldc ebenfalls zu heftigem Drängen und Stürmen, aber nicht zu erheblichen Unglücksfällen gekommen. Man hatte indessen die damaligen Erfahrungen berücksichtigt und diesmal Vorsichtsmaßregeln, namentlich durch Anlage von Gräben getroffen, welche indessen, wie dies häufig der Fall zu sein pflegt, mehr geschadet als genutzt haben, ja geradezu verbängnißvoll geworden ist. Das einzige wirksame Mittel zum Schutz gegen derartige große Unglückssällc: die Massen nicht abzusperren, sondern circuliren zu lassen, scheint im Moskauer Falle nicht anwendbar gewesen zu sein. Wenn die Volksmenge, wie man nach Angabe der Depeschen annehmen muß, etwa eine halbe Million betrug und sie lagerartig campirte, hätte es aber doch nicht allzuschwcr sein können, sie nut Aufgebot ge nügender milikairischer Macht zu reguliren und durch Ein- theilung in kleinere Gruppen mittels Cordons vor sich selbst zu schützen. Wahrscheinlich klingt die Version des Telegraphen, daß daS Drängen durch die Schwäche Einzelner, die sie umgebenden Leute durch vorzeitige Austheilunz von Gaben zu beschwichtigen, hervorgerusen ist, wodurch bei den weiter hinten befindlichen Massen der Glaube erzeugt wurde, daß die Vertheilung schon begonnen babe und sie zu kurz kommen würden, wenn sie nicht vordrängten. Der Polizei wird zum Vorwurf gemacht, daß sie noch um Mitternacht, alS bereit- Hunderttausende auf dem ChorynSkiplatze lagerten, nicht in Sicht war; aber auch an rechtzeitigem militairischcu Aufgebot hat es gefehlt, für das der Gehilfe deS Oberpolizei- meisterS, dem, wie verlautet, die Leitung de- Ganzen über tragen war, unbedingt hätte sorgen müssen. FeuNletsn. Die Tochter des Millionärs. 26s Roman aus dem Englischen von L. Bernfeld. (Nachdruck verboten.) Es War fast mehr, als die arme Beatrix zu tragen ver mochte. Wie konnte ihr eigener Vater so grausam gegen sie sein! DeS Abends wiederholte sich dieselbe Geschichte, nur in etwas anderer Form. MrS. Hopley pflegte, wenn Trixie sich zur Ruhe begeben hatte, in ihr Zimmer zu kommen und sich auf den Bettrand setzend, marterte sie daS arme Mädchen manchmal stundenlang. „Bin ich nicht stet- gut zu Dir gewesen, Trixie? Habe ich nicht Alles getban, waS ich Dir an den Augen abseben konnte?" sagte sie. „Und zum Dank dafür brickst Du Deiner Mutter das Herz. Du bist unser einziges Kind und alle Hoffnungen, die wir noch im Leben haben, ruhen auf Dir, und wenn Du dieselben vereitelst, können wir un- nur gleich hinlegen und sterben! Und so ging e- fort bis inS Unendliche. Tbränen, Bitten und Vorwürfe wurden zu Hilfe genommen, bis die arme Trixie fast der Verzweiflung nahe war. Sanfoine führte natürlich seine Sache bei jeder sich dar bietenden Gelegenheit ebenfalls, wenn auch in anderer Weise, und der alte Mayblow stimmte in den Cbor mit ein, indem er die Vorzüge seines Freundes in den lebhaftesten Ausdrücken pries, und immer neue loben-werthe Eigenschaften an ihm entdeckte. Dieses ununterbrochene Drängen und Urberreden würde möglicher Weise den beabsichtigten Zweck ganz und gar ver fehlt haben, wenn nicht zur rechten Zeit ein ganz besonderer Umstand eingetreten wäre. Eines Tage-, al- Trixie nicht mehr wußte, wie sie den auf sie eindringenden Stürmen widerstehen wollte und müßig im Wohnzimmer saß, griff sie mechanisch nach einer auf dem Tische liegenden Zeitung. Plötzlich fielen ihre Augen auf einen nur zu wohlbekannten, zärtlich geliebte» Namen. „Wie wir hören", la- Trixie, und da« Herz klopfte ihr zum Zerspringen, sie war vor Erregung kaum fähig, den Sinn dessen, wa« sie la-, zu erfassen, „wie wir hören, hat Sir Victor Greville England verlassen und ist von Neuem auf Reisen gegangen. Es verlautet, daß dieser unermüdliche Reisende, welcher bereit- eine Reise um die Welt gemacht hat, sich von dem Leben und den Gewohnheiten des Orient- so angezogen fühlt, baß er kaum im Stande ist, demselben auf die Tauer zu entsagen. Es ist unter diesen Umstanden nicht unwahrscheinlich, daß er für eine lange Reihe von Jahren England fern bleiben wird." Der Artikel enthielt gerade so viel Wahrheit, wie solche Artikel gewöhnlich zu enthalten pflegen. Sir Victor hatte sich einen gewissen Ruf al« Reisender erworben und seiner Zeit ein Buch berauSgegeben, welche« die Sitten und Gebräuche de« persischen Lebens schilderte. Da Victor thatsächlich Eng land wieder verlassen hatte, erfand der betreffende Reporter sogleich eine kleine Geschickte, ohne Rücksicht darauf, ob ihr Inhalt der Wahrheit entsprach oder nicht. Der Artikel wäre wahrscheinlich für keinen Menschen auf der Welt von irgend welchem Belang gewesen, hätten ihn nicht die Augen de« kleinen weichherzigen Mädchen« entdeckt, da« dieser Nachricht «ine nur zu große Bedeutung beimaß. An dem Tage, an welchem Beatrix die Notiz über Victor gelesen hatte, legte sie die Waffen nieder und ergab sich auf Gnade oder Ungnade. Zu welchem Zweck sollte sie nun noch länger streiten und kämpfen! Die Freiheit, die sie eifrig bestrebt war, sich zu bewahren, batte ja doch keinen Werth mehr für sie! Weshalb sollte sie noch länger gegen ein Schicksal ankämpfen, dem sie nicht entrinnen konnte! Sie nahm den Antrag de« Grafen von Sanfoine an, und die Freude, die darüber ganz Hodden-Hall empfand, war unbeschreiblich, wenn sie auch) nicht von langer Dauer sein sollte. Nock an demselben Tage, an welchem Beatrix dem Grafen ihr Jawort gegeben hatte, erkrankte sie be denklich. AlS sie nach Beendigung de- Diner« sich erheben wollte, fiel sie plötzlich ohnmächtig auf ihren Stuhl zurück. E« war keine gewöhnliche Ohnmacht, von der sie befallen war, denn sie blieb Stunden lang in diesem Zustande und e« schien fast, als wollte sie überhaupt nicht mehr zum Bewußtsein erwachen. Nach vielen Bemühungen gelang e« rndlich dem sofort herbeigerufenen Hausarzt, sie in- Leben zurückzurufen. Da« war der Anfang der Krankheit gewesen. Diese Ohn mächten kehrten fast täglich mit mehr oder weniger Heftig- eit zurück, bis dieselben endlich so überband nahmen, daß ich da- znnge Mädchen überhaupt nicht mehr bewegrn onnte, ohne diesen Zufällen unterworfen zu sein. Der Hausarzt erklärt« schließlich, daß er hier mit seiner Weisheit zu Ende sei und rieth dringend, die Kranke, so lange dieselbe überhaupt noch transportfähig sei, nach London zu bringen. Dies geschah. Sanfoine und sein trener Gefährte Or. Mayblow be gleiteten die Familie; bewährte Londoner Aerzte wurden hier sogleich zu Rathe gezogen, und man gab sich in der ersten Zeit den besten Hoffnungen in Bezug auf die Kranke bin. Doch als die Zeil verging, ohne daß eine Besserung in Beatrix' Zustand eingetreten wäre, wußte man nicht mehr, was man anfangen sollte. Der arme Sanfoine gab sich der tiefsten Verzweiflung hin. Es wurde ihm nicht gestattet, die Kranke zu seben, aber mit mitleiderregender Ausdauer kehrte er immer wieder nach dem Hause zurück, in welchem sie sich befand. Er wurde nickt müde, wenn er oft Stunden lang warten mußte, ehe er MrS. Hopley zu Gesicht bekam. Schon da- Bewußtsein, mit dem Mädchen, welches er so innig liebte, in einem Hause weilen zu dürfen, war ihm eine gewisse Be ruhigung. Jeden Tag brachte er ihr ein herrliches Bouquet der auserlesensten Blumen; dock man hatte ihm schonend die Mittheilung gemacht, daß Trixie einst beim Anblick eine« solchen, welches ganz au« weißen Rosen zusammengestellt war, leise gemurmelt hätte: „Ich mag diese Weißen Blumen nicht, sie kommen mir vor wie Kirchhof-blumen!" Nach einer kleinen Pause hatte sie dann noch hinzugefügt: „Ja, wenn e« Veilchen wären!" Von nun an sandte der Graf an jedem Morgen ein prächtiges Veilckenbouquet, und der Aerinste war vollständig zufrieden gestellt, als er erfuhr, daß seine Gabe mit Zu stimmung der Kranken auf einem neben ihrem Lager befind lichen Tische ihren Platz fand. Endlich, als man zu der Ueberzeugung gelangt war, daß auch die beiden Londoner Aerzte, welche Trixie behandelten, keine Veränderung zum Besseren bei ihr zu bewirken ver mochten, wurde beschlossen, noch einen anderen Arzt — eine Autorität auf medicinischem Gebiete — zu Rathe zu ziehen, und eine Zeit bestimmt, wo Sir Augustu« Rcll« zur Bc- rathung mit seinen beiden College» im Hopley'schen Hause Zusammentreffen sollte. Zur festgesetzten Zeit, auf die Minute pünktlich, rollte der Wagen deS berühmten Manne- vor da- Hoplcy'scke Hau« und Sir AugustuS Rolls wurde in da- Wohn zimmer geführt, wo die beiden anderen Aerzte ihn bereit erwarteten. Nack einer langen Beratbung begaben sich die drei Herren nach oben, und nachdem sie Mr-. Hopley und die Wärterin ersucht batten, das Zimmer zu verlassen, und diese gegangen waren, blieben sie mit der Kranken allein. Trixie nahm gar keine Notiz von den Aerzten, ihre Augen starrten inS Leere, und sie schien sich dessen, was um sie her vorging, gar nicht bewußt zu sein. Sie war in einem vollständig apathischen Zustande. Sir Augustu« batte die beiden anderen Aerzte ersucht, außerhalb des Gesichtskreise« der Kranken zu bleiben, und ihm dieselbe allein zu überlassen. Nachdem dies geschehen war, nahm er dicht neben Beatrix Platz und sagte in einem aufmunternden Ton zu ihr: „Nun, Miß Hopley, möchte ich gern, daß Sie aufstehen und bis zum Fenster gehen!" Beatrix blickte zum ersten Male zu Sir Augustus auf, während die beiden anderen Aerzte ihm verstohlen Zeichen gaben, von seinem Vorhaben abzustehen, und ihm anzudeuten versuchten, daß dasselbe unausführbar wäre. Doch Sir Augustus nahm keine Notiz davon. „Stehen Sie auf, Miß Hopley, und versuchen Sie, bis zum Fenster zu gehen!" wiederholte er. Beatrix strengte sich auf's Aenßcrste an, um der an sie gerichteten Aufforderung nachzukommen. Es gelang ihr, sick zu erheben, doch batte sie noch nicht zwei schritte zurück gelegt» als sie strauchelte und in die Arme des eilig berzu- springenden Sir AuguftuS sank. Darauf wurde sie wieder aus ihr Lager zurückgetragen; in aller Eile rief man die Wärterin herbei und wandte Belebungsmitrel an, um die Kranke rum Bewußtsein zurückzurnfen, waS jedoch erst nach vielen Mühen von Seiten der Aerzte gelang. Nachdem sich Sir Augustus noch einige Augenblicke liebe voll und besorgt um die Kranke bemüht batte, überließ er dieselbe der Sorgfalt der beiden anderen Herren und kehrte wieder in da« Wohnzimmer zurück, wo ibn MrS. Hopley voller Angst und Besorgniß erwartete. Sir AugustuS war kein Mann, der überflüssige Worte machte, sondern immer gerade auf da« Ziel loSging. Er war sich vollkommen klar, wa- er von dem Zustande Beatrix' zu halten hatte. „Madame", sagte er daher ganz kurz zu MrS. Hvpleg, „die Krankheit Ihrer Tochter ist mehr eine geistige al« «ine körperliche zu nennen. Ihr Gemütb ist krank." „Oh, Sir AugustuS", rief die arme Frau, die Hände ringend, auS, „Sie wollen doch nicht sagen, daß meine Trixie im Begriffe ist, den Verstand zu verlieren?" „Ich muß offen sein, MrS. Hopley, und kann Ihnen daher
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