Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.09.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-09-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960903016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896090301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896090301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-09
- Tag1896-09-03
- Monat1896-09
- Jahr1896
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis Hauvtrxpedition oder den im Stadt» "ud den Vororten errichteten Au«- ^bestellen abgebolt: vierteljährlich bei zweimaliger täglicher Zustellung in« L""?. b bo. Durch dir Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich b.--. Directe tägliche Areuzbandiendurrg mt Ausland: monatlich 7.ÜO. Die Morgen-AoSgabe erscheint um V,? Uhr, die Abend-Au-gabe Wochentag« um b Uhr. Nr-actio« «n- ErveMon: JohanneSgasse 8. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen gr^iknet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Filialen: Dtt« Klemm'« Sortim. (Alfred Huhn). UniversitätSstraße 3 (Paultnum), Lotti« Lösche, Katbarmenltr. 14, vart. und KönigSpkatz 7. Morgen-Ansgave. Kip,rigcrTageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Natljes und Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen Preis die 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Neclamen unter dem Redactionsstrich s4 ge spalten) öO^z, vor den Familiennachrichtei, (6gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem Preis- vrrzeichniß. Tabellarischer und Zisfernja- nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Ännalfmelchluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 448. Donnerstag den 3. September 1896. SV. Jahrgang. Bestellungen auf Ncistabonnemcnts nimmt entgegen und führt für jede beliebige Zeitdauer aus üle Expedition des I^eip/ixer laxeidattes, Johannisgasse 8. -Für die Arbeiter. Man ist von jeher gewohnt gewesen, die Engländer als ein Volk zu betrachten, das praktisch pur exevllvucs ist. Daß etwas an diesem den Engländern nachgerübmten Vorzüge ist, daß das Praklischsein dort zu einer Nationaleigeusckast ge worden ist, zeigt auch das Verhalten der dortigen Ardener gegenüber den socialrevolutwnairen und sonstigen „Führern". Man wird sich der Kämpfe erinnern, die in Eng land seit längeren Jahren von der dortigen Social demokratie geführt wurden, um die Gewcrkvereine unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. Als es mit den alten festgefügten und vermögenden Unionen nickt gelingen wollte, weil diesen ihre Cassenbestände zu lieb waren, um sie auf dem „Altar" der Socialdemokratic zu opfern und dem beutelustigen Agilatorenthum preiSzugeden, gründete man „neue" Gewerkvereine, meist aus ungelernten Arbeitern, Tagelöhnern, wozu die großen Dockarbeiterstreiks her balten mußten, und ließ diese dann der allgemeinen Gewerkvereins-Uuion beitreten, um auf deren Eongressen das Feld zu beherrschen. Der Eoup glückte, und groß war der Jubel im svcialdemokratischen Lager auch diesseits des EanalS, als es vor zwei Jahreu gelungen war, dem in Norwich abgehaltcnen Gewerkschaftskongreß einen rein communistischeu Beschluß aufzudrängen, nach dem ganz im Sinne Pes social- rcvolutionairen Programms, alle ErzeugungS-, Vertheilungs- uud Verkehrsmittel verstaatlicht werden sollten. Eine Anzahl Mitglieder der eigentlichen Gewertvcrcine hakle sich, als der Beschluß angenommen wurde, allerdings bereits von dem Eongresse entfernt; aber das lhal dem Jubel der Inter nationalen keinen Abbruch, war cs doch nunmehr an scheinend sonnenklar bewiesen, daß die Mehrzahl der eng lischen Gewertvereine sich zu den Lehren des Karl Marx be kehrt hätte. Keir Hardie war es, der in Norwich als Führer der „neuen" Gewcrkvereine jenen Beschluß durchsetzte. Damals noch UnterbauSmitglied, wurde er jedoch von den Arbeitern bei den Neuwahlen fallen gelassen. Bei dem demnächst in Edinburgh zusammcntretendeu diesjährigen Eongresse soll nun jener collectivistische Beschluß wieder aufgehoben werden, und Keir Hardie wird nicht einmal zugegen sein können, um sein Geisteskind zu verlheidigeu. Tie englischen Arbeiter haben nämlich wieder einmal gezeigt, daß sie eminent prak tische Leute sind, indem sie in der Zwischenzeit in Cardiff neue Normen für die Zulassung von Delegirten zu den Gewerkschaftscongressen beschlossen haben, nach denen in Znknnft nur wirkliche Arbeiter als Bevollmächtigte zum Gewerkschaftscongresse entsendet werden können. Dadurch werden nickt nur Keir Hardie, sondern auch Jobn Burns, Burk, Broadburst, Tom Man, Shipion und Andere, die ent weder niemals Arbeiter waren oder cs schon lange nicht mehr sind, weil der Agitatorenberuf sie besser nährt als die Arbeit, von den Gewerkschaftscongressen ausgeschlossen, und bei diesen werden künftig die Arbeiter unter sich sein. Schon aus diesem Grunde wird es sehr interessant sein, den Ver lauf des Edinburgher Eongresses zu beobachten, weil dort die Vertreter der englischen Arbeiter ihre Meinung über den Londoner Eongreß des internationalen social-rcvolutionairen Proletariats, unbehelligt von den „Akademikern", zur Geltung bringen können. Nack dem „Evangelium" des Marxismus sind zwar die Gewerkvereine an sich schon eine „Sünde", weil sie den Classen- kricg principiell nicht wollen, sondern auf dem Wege der Ver einbarung mit den Arbeitgebern die wirthschaftliche Lage der Arbeiter zu heben trachten und nach dieser Richtung auch recht erhebliche Erfolge aufzuweisen haben. Nichtsdestoweniger bat der „alte" Liebknecht — vermuthlich um das llrtbeil des Edinburgher Eongresses über den Londoner günstig zu beeinflussen und die Disharmonie wenn möglich zu ver schleiern — den Gewerkvereinen in einem aus Paris an das Londoner Socialdemotratenblatt „Jnslicc" gerichteten und von diesem veröffentlichten Briefe geschmeichelt. Obwohl Herr Liebknecht, wie er in jenem Briefe kräftig versichert, unausgesetzt mit dem „Classenkriege" beschäftigt ist und die Gewerkvereine von diesem grundsätzlich nichts wissen wollen, so gewinnt er es doch über sich, „die bewundcrnswerthen Ge werkvereine, diese mächtige Organisation", zu feiern und be sonders die so „einzig in ihrer Art eingerichteten englischen Gewerkvereine" zu bewundern. Wie wäre es, wenn der internationale Herr Liebknecht die neueste Einrichtung der „bewundernswertben" englischen Gewertvereine nach Deutschland übertrüge und den Vorschlag machte und durchsetzte, daß auch auf svcialdemokratischen Eou- grcssen, Gewerkschaftsversammlungen und sonstigen Veran staltungen, bei denen unsere Socialdemokratie die Hände im Spiel hat, nur wirkliche Arbeiter das große Wort führen und Beschlüsse fassen dürfen? Bei seiner hohen Bewunderung der Weisheit der englischen Ge- werkvercine und Arbeiter kann es Herrn Liebknecht gewiß nicht schwer fallen, dem Hasse zu trotzen, den freilich die socialrevolutionairen „Akademiker" und das Agita- torenlbum mit Bebel, Singer, Auer u. s. w. aus ihn werfen würden. Aber Liebknecht hat dock stets versichert, baß er sein Leben dem Wohle der Arbeiter gewidmet hätte; mehr könnte er niemals für den deutschen Arbeilerstand thun, als wenn er veranlaßte, daß die Arbeiter unter sich ihre An gelegenheiten betrieben und nicht mehr wie bisher nur bas Stimmvieh gewisser hoher „Herren" bildeten. Bei der Stimmung, die in der socialdcmokratischeu Gesellschaft ohne hin gegen die „akademischen" und sonstigen „Pfründner" herrscht, könnte Herr Liebknecht, wenn er unseren Vorschlag ausführte, einmal feines Erfolges ganz sicher sein und gäbe obenein baS Beispiel einer wirklich schönen Uneigennützigkeit. Zur Vorgeschichte des Zorenbesuches in Paris geht dem „Hamb. Eorr." von einem Pariser Mitarbeiter ein höchst interessanter Beitrag zu, der dadurch, daß er vor dem plötzlichen Tode des Fürsten Lobanow versaßt ist, eher an Interesse gewinnt, als verliert. Er lautet: „Von der Brust der Franzosen ist eine viele Centncr schwere Last genommen. Der Kaiser von Rußland oder der Zar, wie man hier namenttich in republikanischen Kreisen mit einer nicht mißzuver- stcheiiden Afsectation, trotz aller russischen Rectificationen, beharrlich sagt, um die Massen nicht an den gehaßten Ruf „Vivo l'empsreur" zu gewöhnen, wird kommen. Ter russische Selbstherrscher wird nicht nur nach Frankreich kommen, was immer be absichtigt war, sondern er wird nach Paris kommen; er wird sogar seine» Besuch so gestalten, daß er in Paris länger als bei den ihm verwandten und befreundeten Dreibundkaiscrn bleibt; er wird ferner von der Kaiserin begleitet sein, obwohl noch vor wenigen Wochen ein französischer Botschafter, zwei französische Botschafter sogar, Graf Montebello und Herr de Boisdesfre, sich unterstanden haben, eben dieser Zarin „als einer deutschen Prinzessin" den Handkuß zu verweigern. Zar und Zarin werden endlich, obwohl sie in der russischen Bot schaft, also „bei sich" wohnen, die Gaste der Republik, die Gäste des Herrn und der Frau Faure sein. Stur zwei Kümmernisse hat man noch augenblicklich in Paris: Man hätte den russischen Kaiser gar so gern der französischen Armee ganz intim bei den Manöver» vorgestellt, und daraus scheint nichts werden zu sollen, und man hätte sich so gern den Spaß gemacht — anders kann man das Ding doch kaum bezeichnen —, den Selbstherrscher aller Reußen auch in das Pariser Stadthaus, in die Höhle der augenblicklich allerdings etwas räudig gewordenen, aber allezeit gut revolutionairen, nach Tyrannenblut durstenden Pariser Communal-Löwen zu schleppen; und auch dazu scheint sich Nicolaus II. bei all feinem sehr guten Willen, Len Leuten, die seiner Regierung so viel Geld geborgt haben und die in seinem politischen Spiel eine so gute Karte Larstellen, gefällig zu sein, noch nicht entschließen zu können. Der russische Zarenbejuch hat übrigens eine ganz interessante Vorgeschichte. Discrctiou ist nicht Sache der Politiker der dritten französischen Republik. Das kann auch bei dem DurcheinanLerlauscn der Politik und dec Journalistik hier gar nicht anders sein. Und so ist denn von Dem, was dec jetzigen Zusage des Zaren, sich „seinen lieben Parisern", die ihn bisher nur in Esfigie verehren konnten, auch von Angesicht zu Angesicht zu zeigen, vorausgegangen ist, und was zu dieser Zusage geführt hat, Manches durchgesickert. Ich stelle Las hier kurz zusammen. Seil der allerersten Zeil nach der Thronbesteigung Kaiser Nicolaus' II. slaud fest, daß sich der Zar in Begleitung der Zarin, wenn einmal die Kröuungsfeier überstanden und sobald es die Gesundheit de: Kaiserin erlauben werde, zu einer großen Besuchstour bei den verwandten und befreundeten Höfen ausmachen werde. Es kamen dabei in Frage die Hose von Kopenhagen, London, Darmstadt, Berlin und Wien. Die Form und die Dauer der Besuche bei diesen einzelnen Hösen wären sehr leicht zu regeln gewesen; Eifersüchteleien waren so gut wie ausgeschlossen; der Zar und die Zarin hätten sich ohne viel Federlesen auf die Reise begeben können, die in erster Linie eine gesellschaftliche Höslichkeits- und eine Herzenssache für das Äaiscrpaar gewesen und bei der die hohen Herrschaften zwar natürlich der Politik nicht ganz fern, aber doch „unter sich" geblieben wären. Leider für die Harmlosigkeit und Gemütblichkeit der Reise lagern nun einmal von Alters her zwischen den übrigen Völkern Mitteleuropas, von denen man als Regel wirklich sagen kann, daß sie nichts Besseres verlangen, als in Ruhe und Frieden mit einander zu leben, als ewige „Troudle-tvte^' die Franzosen. Dieses keltisch-germanisch- romanische Bastardvolk kann nun einmal in seinem aus Eitelkeit und Neid als hervorragendsten Charaktereigenschaften zusammen gesetzten Temperament nicht Ruhe hallen. Ter Gedanke, der Zar, d. h. der Mann, der den Galliern dazu dienen soll, früher oder später, unter allen Umständen aber bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ihnen zu ihrer Rache für gekränkte Eitelkeit und zur Befriedigung ihres Neides, ihrer Eifersucht an Deutschland zu verhelfen und gegen dieses, gegen den Drei bund oder unter Hinzufügung Englands gegen den Vier bund das russische Schwert in die Waagschale zu werfen, — der Gedanke, sage ich, der Zar könne mit seiner jungen Gemahlin die bitter gehaßten Drei- oder Vierbundsländer besuchen und nicht gleichzeitig auch nach Frankreich und nach dessen Haupt stadt kommen, hat die Leute hier einfach rasend gemacht. Tie Regierung, der das passirt wäre, hätte nur gleich einpacken können. Leider für die französischen Wünsche stand aber dieselbe Regierung, von der man jetzt verlangte, sie solle, ganz gleich wie und um welchen Preis, unbedingt den Zaren herbeischaffen, mit diesem selben Zaren auf gar keinem sehr vertrauten Fuße. Es kam das zum Theil von der Erbschaft her, die Las liberale Ministerium Möline-Honotaux von seinem Vorgänger, dem radicalen Cabinet Bourgeois, übernommen hatte, zum Theil aber war die in Petersburg herrschende Mißstimmung von der gegen wärtigen Regierung und zwar durch die bereits vorstehend er- wähnten Vorgänge bei der Moskauer Krönung, die in dem der Zarin verweigerten Handkuß ihren Gipfelpunct erreicht und die auch wieder gallische Eitelkeit und gallischen Neid zum Motive hatten, herbeigeführt. Kurz, als der Zar im Verein mit der Zarin und dem Leiter der russischen auswärtigen Politik, dem Fürsten Lobanow, an die Feststellung der Dispositionen für seine große Visitentour ging, wurde anfangs Frankreich glatt übergangen. Es wäre auch wohl bei diesen Dispositionen geblieben, wenn nicht den schreckensbleichen französischen Diplomaten in Petersburg und Paris drei mächtige Bundesgenossen erstanden wären in der Person der Zarin-Mutter, deren dänischer Deutschenhaß bekanntlich dem französischen Chauvinismus nichts nachgiebt, in der Person des russischen Ministers des Aeußern, der das blinde Vaiallen- thum der französischen auswärtigen Politik sehr zu würdigen wußte, und in der Person des russischen Finanzminislers, der sich zwar wohl keine allzu großen Illusionen mehr über eine weitere Aufnahmefähigkeit des französischen Geldmarktes für russische Anleihen macht, der aber mit Recht vermeiden möchte, daß die sranzösischen Capitalisten in Mißtrauen oder in Uebel- wollen sich ihrer russischen Schuldtitel zu entäußern suchen könnten. Diese drei Factoren, die Zariu-Wirtwe und die Minister des Aeußern und der Finanzen, gut secundirt natürlich von der sehr mächtigen francophilen Clique am russischen Hofe und in der russischen Staatskanzlei, haben zunächst dahin gewirkt, den Zaren zu ver anlassen, die Franzosen nicht ganz zu umgehen und ihnen einen Besuch auf ihrem Territorium, aber nicht in Paris abzustatten. Französischerseits hat man dann sofort die mildere Stimmung und das Entgegenkommen des russischen Kaisers dazu benutzt, um nun auch noch den Rest der gallischen Forderung, den Besuch in Paris, durchzudrücken. War das einmal geschehen, jo konnte es einem so von Herzen liebenswürdigen, so von allen, die ihn näher kennen, als ungemein ritterlich geschilderten, loyalen Manne gegen über, wie Kaiser Nicolaus cs ist, nicht schwer fallen, sich auch über das Programm der ihm, dem Gast des französischen Volkes, zu gebenden Feste zu einigen." Man kann nur wünschen, daß diese Enthüllung zur Kenntniß aller Franzosen kommt. Sie macht die Sorge be greiflich , mit welcher die Nachricht von dem Tode des Fürsten Lobanow die Eingeweihten erfüllt, und ist, auch wenn dieser Tod eine Aenderung in dem Programm des Zaren Frnillston. In Galata. Von Carl Theodor Machert. Nachdruck verboten. Ans dem Marmarameere biegt das Dampfboot in die tiefblaue, hier etwa 600 m breite Rbede des Goldenen Horns. Zn unserer Rechten, hinter einem Walde von Masten und Flaggen aller Nationen erhebt sich eine Terrassenstadt in der Form eines ausgebrciteten Fächers. Ein bunter Anblick: Kuppeln und Minarets, moderne Paläste und türkische Moscheen ragen aus dem Häusermeere hervor, und aus der Ferne winkt ein trotziger alter Rundthurm. Hügel abwärts aber zum Gestade des Goldenen Hornes und hügel auswärts über die Brücke, die ans der Türkenstadt Stambul zum anderen Ufer führt, braust und tost ununterbrochen ein gewaltiger Strom von Menschen und Verkehr. DaS ist Galata. Galata — die City von Konstantinopel. Wunderliche Schicksale bat dieser Fleck Erde erlebt. Einst prangte er im reichen Schmucke von Feigenbäumen und Weinbergen und wurde der Platz „bei den Feigen" oder „unter den Wein bergen" genannt — dann wurde er der Begräbnißplatz der Byzantiner; es ist, als ob dem Platze von diesem Charakter bis zum heutigen Tage noch ein unseliges Erbe geblieben wäre. Dann stritten sich Venetianer und Genuesen im Mittel- alter um diesen für den Handelsverkehr so wichtigen Vunct; die verschmitzten Genuesen behielten die Oberhand, und Galata wurde Genuesenstadt. Nock heute zeugen von dieser Epoche alte Mauerwerke und Befestigungen, ein genuesisches Wappen hier, ein italienisches Thor dort, und vor Allem der mächtige Galata-Tburm, auf dessen Hohe heut der Feuerwärter wohnt, der die zu seinen Füßen liegende Stadt nur zu häufig durch den gellenden Ruf: ckaukin rvnr (Feuer ist) erschreckt. Die Frembenherrschaft in Galata hat längst aufgehört; geblieben ist ihm die Jnternationalität seiner Bewohner und der Charakter als Miltelpuncr des Handels. Die City von Konstantinopel: in mehr als einer Hinsicht ist die Aehnlickkeit mit dem Herzen Londons unverkennbar. Auf kleinem Raume ist auch hier der ganze Großhandel ver sammelt. Hier liegen Börse, Banken, Eomptoire; die in Pera wohnenden europäischen Kaufleute haben hier ihre Geschäfts stätten. Packhöfe und Zollämter liegen in Galata. Und wie in London, so ist auch hier das HandclScentrum voll von engen, winkeligen Gassen und Straßen, es ist dunkel, naß, schmutzig, und erst die neue Zeit bat unter Aufopferung Tausender von kleinen türkischen Häusern einige große Straßen züge geschaffen, Tramways und unterirdische Balm eingesübrt. Sonderbare Gegensätze: neben der Börse und der Tramway linie alte Moscheen, mitten im modernsten Leben ein türkischer Schreiber, neben dem europäischen Großkausmann der Grieche, der Perser, der Armenier. Wohl an keiner Stelle der Erde treffen die Nationen in so buntem Gewimmel aufeinander. Hier wohnen Italiener und Juden, Maltheser, Türken und Europäer. Hier klingt französisch, englisch, deutsch, türkisch, italienisch, armenisch durcheinander. Hier schreien uns der türkische Lastträger oder Eseltreiber, der armeniscke Wasser träger, der griechische Zeitungsbändler, der fränkische Rosselenker in den verschiedensten sprachen an. Ganz besonder« erinnert an die Londoner City die Enge der Straßen und der ungeheuer liche Verkehr. In diesen finsteren, krummen Gaffen tobt un aufhörlich eine sich drängende, schreiende, wühlende Menge, auf offener Straße nisten Geldwechsler, Handwerker treiben vor den Tbüren ihr Gewerbe, betrunkene Matrosen schwanken unter den Geschäftigen, und Alles schreit, schachert und drängt. Dann schwankt ein Wagen durch diese Uebersüllung, die er nur unter Lebensgefahr der Passanten theilen kann. Oder ein Gefangenentransport bricht sich Bahn, schimpfend und stoßend treiben die Polizisten ihre Leute durch die Menge, die sich hinter ihnen sofort wieder schließt. Hier tönen Fiedelklänge au« einem Hause: böhmische Musikanten sind-, die vor dem gemischtesten Publicum ihre Weisen zum Besten geben. Dort winken deutsche Worte: es ist bas WirtbshauS „Zur Antilope", das Absteigequartier der deutschen Bettler, der „Pennbrüder", die sich von Stadt zu Stadt und von Land zu Land bis zum Goldenen Horne durckgebettelt haben. Tann schlagen wieder eigenartige Gerüche au die Nase: Gar küchen sinds, in denen, halb auf offener Straße, Gerichte für den Geschmack dieser verschiedenen Nationen bereitet werden. So aus den mannigfaltigsten Elementen zusammengesetzt, tobt das Leben tagsüber durch GalataS enge Straßen mit verwirrender Hast, mit ohrenbetäubendem Lärm, und eS ruht auch Abend- nicht, wo e« sich in übelberücktigte Quartiere verlegt, in deren Dunkel schon manch Einer blieb, ohne daß je von ihm noch eine Spur sich gefunden hätte. DaS ist der Schauplatz, den der Leser vor Augen haben muß, um die jüngsten Ereignisse ganz zu verstehen. In dies unentwirr bare Gedränge von Menschen fallen Banden, in diesen Gassen, deren beiderseitige Häuserreihen wir mit ausgestrccktcn Armen berühren können, toben zügellose Volksmassen, in diesem Dunkel knallen Schüsse, die offenen Läden werden ge plündert — alle Schrecken scheinen dann hier vereinigt zu sein. Schon manches Mal haben GalataS blutgedrängte Straßen Aelmlickcs gesehen, und gerade die Armenier waren es besonders häufig, gegen die sich die Wuth des osmanischen Pöbels richtete. Und dabei ist der Armenier aus dem Volksgewühle Kon stantinopels nicht gerade leicht bcrauSzusinden. Es ist ein ganzes armenisches Volk, das in Konstantinopel lebt, aber, wie AmiriS treffend sagt, die Pflanze hat die Farbe Les Düngers angenommen. Früher trugen sie große Filzmützcn mit bestimmten unterscheidenden Farben, aber dies Kennzeichen ist jetzt verschwunden und wären sie nickt etwas größer, kräftiger und korpulenter als die Türken, hätten sie nicht eine hellere Gesichtsfarbe, so wären sie kaum von ihnen zu unterscheiden. Und doch sind sie in Konstantinopel fast überall; auf beiden Seiten veS Goldenen Horns giebt cs Armenierviertel. Die Türken nennen sie „die Kameele des Reiches"; ein anderes Wort sagt von ihnen, sie würden als Reckenmeister geboren. Wie kamen die Armenier anS Goldene Horn? Wie sie fast überall hin im ganzen Oriente kommen. Sie sind fleißig, stark, ausdauernd, sie haben eine sanfte Gcmütbsart, eine Schmiegsamkeit und Fügsamkeit, die sie überall Platz finden läßt, und sie sind zum Handel geboren. Sie ermüden nicht, ihre Dienste anzubicten, der ankommende Fremde wird von ihren Zudringlichkeiten im höchsten Maße belästigt, und sie scheuen sich nicht, zu betrügen, und wer in GalataS Winkelgaffen bei ihnen Einkäufe macht, mag sich vorsehen. So sind sie, wie jedes im fremden Lande den Handel an sich reißende Volk, dem Hasse der Eingeborenen leicht ausgesetzt, dock der Türke ist — soll man sagen indolent, soll man sagen tolerant? Auf dem armenischen Friedhöfe von Toxien befindet sich (so erzählt DukaS) das Grab eines heiligen Mannes, daS auch die Türken ihrerseits mit Verehrung behandeln. Was ist der Armenier in Konstantinopel? Alles, kann man fast sagen. Der Armenier ist stark und stellt daher uir Zunft der Konstantinopler Lastträger — eine bochansebnliche Zunft, an deren Spitze ein Großwürdenträger siebt — ein an sehnliches Contingcnt. Hockgcwachsen und lanzbärlig, trottet der armenische bamal durch GalataS Straßen oder bietet als Wasserträger mit dem lauten Rufe „Vaiuv su!" sein labendes Naß aus. Der Armenier ist geduldig und geschickt und nimmt in den meisten Handwerken einen großen Platz ein. Wo Las Zeichen der Barbiere herausbängt — eine Menge auSgerisfener Zähne, die an einem Bindfaden auf gereiht sind —, da finden wir höchst wahrscheinlich einen Armenier, der seinem Landsmann den Kopf scheert, den Türken wäscht, den Franken rasirt, dem Griechen das lange Haar glatt kämmt und den Schnurrbart wichst. Der Ar menier ist intelligent und hat es verstanden, als Arzt, als Ingenieur, als Baumeister Position zu gewinnen. Er ist verschlagen und bat sich zum Großbanquier des Orients auf zuwerfen vermocht. Diese armenischen Banquiers sammeln ungeheure Vermögen, verschließen ihr Haus sorgfältig gegen den Fremden, und leben häufig in großem Luxus und großer Vornehmheit. So finden wir den Armenier in den Straßen GalataS in allen Ständen. Wollen wir ibn ganz kennen lernen, so müssen wir noch zum Baluk-Bazar von Galata — zum Fisch markt, denn auch die Balukdschi (Fischverkäufer) sind zum großen Tbeil Armenier, die rohesten Kerle übrigens in der ganzen Stadt, berüchtigt durch ihre Grobheit und durch ihre ordinairen Witze. Konstantinopels Straßen- und Sladtleben ist ohne die Armenier gar nicht zu denken; und diesen Um stand, sowie die Thatsacke, daß die Armenier alle Zweige deS Lebens fast gleichmäßig durchsetzen, muß man gleichfalls in Rücksicht ziehen, um alle Schrecken der gegenwärtigen Greuel zu ermessen. Fremdartiger Anblick, wenn GalataS Gassen unter dem Eindrücke des Entsetzlichen zeitweilig ver öden. Allmählich dringt daS Leben wieder in sie ein, bald donnert der Lärm wieder mit alter Macht, und über die frischen Blutspurcn hin wälzt sich der Strom LeS Verkehrs. Wie ein^ Zeuge aus längst vergangenen Tagen blickt ter Galata-Thurm über die Terrassenstadt hernieder zum Goldenen Horn. Er weiß mehr blutige Geschichten, die dies seltsame Leben von Konstantinopel schnell wieder zuscküttete, — Geschichten von hingemordeten Patriarchen, Geschichten von Tausenden vertriebenen Armenier. Trotz des neuen Pracht baues der Ottoman-Bank, trotz Tramways und englischen Consulats ist Galata eben doch immer noch ein Stück Orient, in dem Menschenleben leicht wiegen.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite